Warum ich überzeugt bin, dass Effectuation in den Werkzeugkoffer der agilen Verwaltung gehört

Echte Unsicherheit und öffentliche Verwaltung? Das ist kein Thema, oder doch? Eine gute Frage, die mich in jüngerer Zeit etwas intensiver beschäftigt. Und dabei bin ich über das Thema Effectuation gestolpert. Es mag verwundern, beschäftigt sich dieser Zweig der Forschung doch eigentlich mit der Frage, wie Unternehmen unter echter Unsicherheit erfolgreich agieren können. Echte Unsicherheit: gibt es diese für die öffentliche Verwaltung überhaupt? Wenn wir annehmen, dass die Welt da draußen hochgradig komplex ist, dann mit Sicherheit. Davon bin ich überzeugt.

Echte Unsicherheit

Stacey-Matrix

Vielleicht sollte ich erst einmal erklären, was mit echter Unsicherheit gemeint ist. Echte Unsicherheit bedeutet, dass wir weder die Rahmenbedingungen noch das Ziel kennen. Wir wissen also weder genau, wohin die Reise geht, noch wie die Rahmenbedingungen aussehen. Mit Blick auf die Stacey-Matrix bewegen wir uns in einem „chaotischen“ Umfeld.

In diesem Zusammenhang habe ich die PAVE-Matrix aus der Effectuationforschung entdeckt:

PAVE-Matrix

Echte Ungewissheit bedeutet, dass wir weder die Rahmenbedingungen kennen noch die Wirkung unseres Handelns prognostizieren können. Wir müssen rein explorativ vorgehen. Dies unterscheidet sich insofern von den meisten agilen Vorgehensweisen, als wir dort zumindest eine grobe Vorstellung davon haben, wohin wir wollen und zumindest grob die Rahmenbedingungen kennen. Jetzt mag der eine oder andere einwenden, dass wir als öffentliche Verwaltung eine solche Konstellation überhaupt nicht kennen. Ist dem so? Ich habe lange darüber nachgedacht. Im Ergebnis: Die Grenzen zwischen Komplexität und vollständiger Ungewissheit verschwimmen sehr schnell. Mir ist irgendwann aufgefallen, wie viele Akteure in der Verwaltung – ich hatte in dem Moment den/die eine/n oder andere/n Bürgermeister*in oder Amtsleiter*in vor Augen – Dinge initiieren und gestalten, bei denen sie noch nicht genau sagen können, wohin die Reise geht. Sie agieren, obwohl sie die Rahmenbedingungen kaum kennen. Sie effektuieren. Ganz intuitiv. Es ist also doch ein Thema, auch für die Verwaltung.

Aber was ist dieses Effektuieren überhaupt?

Ich möchte mich heute darin versuchen, dies zu erklären. Und ich glaube, es ist gar nicht so schwer. Denn ich sehe in Effectuation keinen Gegensatz, sondern eine Erweiterung der Handlungsfähigkeit. Effectuation gibt Werkzeuge für den Umgang mit echter Unsicherheit an die Hand, die sich durch folgende Merkmale auszeichnet:

  • ungewisse Zukunft
  • verhandelbare Ziele
  • gestaltbare Umwelt

Da steckt viel Gestalten drin. Verwaltung ist eben nicht nur „verwalten“, sondern auch gestalten. Auch diese gehört zum Auftrag der Verwaltung dazu. Und was ich noch viel spannender finde, Effecutation hilft dabei, aus der echten Ungewissheit durch sein Vorgehen immer näher aus dem Chaos ins „Komplexe“ und sogar „Komplizierte“ zu kommen. Es ist also eine sehr gute Ergänzung zum bestehenden „Werkzeugkoffer“. Effectuation versteht sich daher nicht als „Gegensatz“, sondern als Ergänzung.

Wie funktioniert Effektuieren?

Interessanterweise basiert Effektuieren auf vier simplen, hochgradig intuitiven Prinzipien.

  • Mittelorientierung
  • Leistbarer Verlust
  • Umstände und Zufälle
  • Vereinbarungen und Partnerschaften

Das Prinzip der Mittelorientierung besagt einfach, die eigenen, vorhandenen Mittel als Ausgangspunkt zu nutzen. Das, was vorhanden ist, nehmen und verwenden, um zu gestalten. Man wirft einfach die Frage auf, welche Mittel stehen uns zur Verfügung, was können wir, was wissen wir und welche Kompetenzen haben wir?

Darauf aufbauend folgt das Prinzip des leistbaren Verlusts. Statt die Frage aufzuwerfen, wie hoch ist das Risiko und steht dieses Risiko im Verhältnis zum erwarteten Ergebnis, wirft man die Frage auf, was können wir ggf. verschmerzen, wenn es schief geht. Denn unter Unsicherheit kennen wir weder das Risiko noch können wir auch nur ansatzweise erahnen, was wir dabei gewinnen.

Das Prinzip der Umstände und Zufälle bedeute ganz simpel: nur mit offenen Augen und Ohren durch die Welt zu gehen und Gelegenheiten, die sich zufällig ergeben, beim Schopfe zu packen.

Hinzu kommt das Prinzip der Vereinbarungen und Partnerschaften, dieses ist quasi die Verbindung zwischen den anderen drei Prinzipien. Wir schauen uns dabei um, wer ähnliche Interessen hat wie wir, tun uns zusammen, erweitern gemeinsam unsere verfügbaren Mittel und schauen, was wir damit tun können. Dabei spielt häufig eben auch der Zufall mit einer Rolle. So verdichten wir Schritt um Schritt durch die Erweiterung unserer Möglichkeiten in Form von Mittel und Gestaltung der Rahmenbedingungen in iterativen Schleifen, in einem stetigen Prozess unsere Erkenntnisse.

Das Forum Agile Verwaltung entstand durch Effektuieren

Genauso ist das Forum Agile Verwaltung entstanden. Zu Beginn gab es eine Handvoll Agilisten verstreut in verschiedenen Verwaltungen, die durch Zufall zusammengekommen sind. Wir kannten uns vorher nicht oder kaum. Wir haben unsere verfügbaren Mittel zusammengetan, weil uns ein gemeinsames Thema umgetrieben hat. Ohne zu diesem Zeitpunkt auch nur ahnen, wohin die Reise gehen würde. Danach haben wir die nächste Schleife gedreht, den nächsten Schritt gewagt und unsere erste Konferenz geplant und durchgeführt. Und unser Kreis wurde größer. Unser Mittel und Möglichkeiten größer, wir konnten weitere Mitstreiter finden, einen Trägerverein gründen und mit jeder Schleife haben wir Schritt für Schritt das Thema verdichtet, bis wir zum heutigen Zustand gelangt sind. Wir kennen zwischenzeitlich die wichtigsten Rahmenbedingungen, haben wir eine klarere Vorstellung, was wir erreichen wollen. Wir haben den Zustand der vollständigen Unsicherheit überwunden, in dem wir effektuiert haben. Und dabei immer nur so viel eingesetzt, wie wir auch tatsächlich bereit waren zu setzen, sollte es schief gehen. Erstaunlich, was hierbei entstanden ist.

Der eine oder andere mag einwerfen, dass dies für Verwaltungsarbeit nicht geht. Schließlich braucht Verwaltung auch immer einen Auftrag, bevor sich handeln kann. Wenn dem so wäre, dann dürften wir allerdings nicht in einen Austausch der Ideen treten. Aber genau dies tun wir jeden Tag. Wir haben Agilität entdeckt, wir haben angefangen, agile Methoden in die Verwaltung zu tragen und auszuprobieren. Wir haben begonnen, uns mit anderen Agilisten zu vernetzen und wir haben festgestellt, dass wir mit Agilität Probleme der Verwaltung lösen können. Und dies durch Effektuieren. Und dies, ohne den konkreten Auftrag gehabt zu haben, Agilität in die Verwaltung zu tragen.

Mein persönliches Fazit

Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass eine beidhändige Organisation (Ambidextrie), die Stabilität und Agilität kann, den methodischen Dreiklang aus Lean, Agile und Effecuation situativ auswählt. Sie weiß, wann welcher Methodenkoffer zielführend ist, und damit ist sie wirklich agil. Und ich bin nach wie vor überzeugt, die Verwaltung kann das.

Autor: Thomas Michl

Agilist aus Überzeugung - Lean-Enthusiast und Kanban-Fan - Veränderungsbegleiter - Dipl.-Verw.Wiss. - MBA - 🇮🇪 Irland-Fan - Mitgründer Forum Agile Verwaltung

2 Kommentare zu „Warum ich überzeugt bin, dass Effectuation in den Werkzeugkoffer der agilen Verwaltung gehört“

  1. Danke Thomas, ich hatte schon vor 2 Jahren überlegt, ob Effectuation nicht eine wunderbare Ergänzung zum Vorgehen in der Verwaltung ist. Ich bin sogar davon überzeugt, dass die Prinzipien des leistbaren Verlusts und der Partnerschaft von Menschen, die wirklich überzeugt sind, genau die Faktoren sind, die zu ökonomisch sinnvollen Ergebnissen und zugleich im Sinne von Open Governmetn, zu mehr Engagement führen werden. Klasse!

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