Wie das Gehirn funktioniert: Neue Erkenntnisse zur Dynamik neuronaler Netze

Anlässlich des Kongresses für Klinische Neurowissenschaften in Hamburg fasste der Neurowissenschaftler Prof. Andreas K. Engel, Präsident und Kongresspräsident der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung (DGKN) e. V., die neuesten Erkenntnisse aus den Netzwerk-Neurowissenschaften zusammen.

Das Gehirn ist ein faszinierendes und rätselhaftes Organ: Es verarbeitet Sinneseindrücke, steuert unseren Körper, speichert Informationen und formt unser Bewusstsein. Wie genau das hochkomplexe dynamische Netzwerk aus rund 100 Milliarden Nervenzellen räumlich und zeitlich zusammenarbeitet, ist immer noch eines der größten Rätsel der Wissenschaft. „Nur wenn wir neuronale Funktionen auf allen Komplexitätsebenen verstehen, können wir innovative Therapien neurologische und psychiatrische Erkrankungen entwickeln“, sagte Engel.

Die Rolle kortikaler Netzwerkdynamik für kognitive Funktionen

Die bisherigen Ergebnisse aus Modellberechnungen, neurowissenschaftlicher Bildgebung und Elektrophysiologie weisen darauf hin, dass dynamische Kopplungen der Signale im Kortex eine Schlüsselrolle bei der Entstehung von Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnisleistungen, Sprache, Denken und Problemlösefähigkeiten haben. „Aus dem Vergleich von Daten zur Dynamik neuronaler Signale im gesunden und im erkrankten Gehirn konnten auch Hinweise darauf gewonnen werden, welche Rolle die veränderte Netzwerkdynamik bei Erkrankungen wie der Schizophrenie spielt“, erläuterte Engel.1

Netzwerkdynamik als Biomarker für den Verlauf psychiatrischer Erkrankungen

Bei Personen mit ersten Symptomen oder dem Risiko einer Psychose haben MEG-Experimente zur Messung der Hirnaktivität krankheitsbedingte Defizite im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen sichtbar gemacht. „Die charakteristischen Veränderungen der Hirnaktivität im primären auditorischen Kortex kommen sogar als potenzielle Biomarker für die Vorhersage zum klinischen Verlauf von psychiatrischen Erkrankungen wie Psychosen infrage“, ergänzte Engel.1

Gleichzeitige Verarbeitung von Sinneseindrücken beruht auf Netzwerken

Bei der Verarbeitung von Sinneseindrücken laufen viele Prozesse parallel ab. Der Mensch ist multitaskingfähig und kann zum Beispiel gleichzeitig aufräumen und Radio hören. Im Alltag ist der Prozess der multisensorischen Integration von großer Bedeutung, der den Informationsaustausch zwischen den jeweils beteiligten Sinnessystemen ermöglicht. Bei Erkrankungen kann die gleichzeitige Verarbeitung von Sinneseindrücken verändert sein. Am Beispiel der Verarbeitung von visuellen und akustischen Signalen haben Berliner Forscher mittels EEG-Messungen der Gehirnaktivität herausgefunden, dass die multisensorische Integration dabei helfen kann, Aufmerksamkeitsdefizite auszugleichen, die bei der Verarbeitung in einzelnen Sinneskanälen bei Personen mit Schizophrenie bestehen.2

Pupillenerweiterung zeigt den Einfluss neuromodulatorischer Aktivität auf Gehirnnetzwerke

In einer sich verändernden Umwelt müssen wir unser Verhalten ständig flexibel anpassen. Möglich wird dies unter anderem durch die Freisetzung von Neuromodulatoren aus subkortikalen Kerngebieten, die die neuronale Erregbarkeit im Rest des Gehirns dynamisch steuern. Dies ließ sich bisher nur schwer nichtinvasiv erfassen. Neuere Forschungen weisen nun auf einen engen Zusammenhang zwischen Pupillenerweiterung und der Wirkung neuromodulatorischer Signale auf Aktivitätsmuster der Hirnrinde hin. „Die Forschungsergebnisse zur Verbindung zwischen Neuromodulation, kortikaler Dynamik und Verhalten schaffen eine Grundlage für ein besseres Verständnis der Anpassung kognitiver Prozesse an eine Umwelt, in der sich Reize immer schneller verändern“, kommentierte Engel.3

Modelle der Netzwerkdynamik könnten helfen, Bewusstsein zu erklären

Weitere Forschungsaktivitäten zielen auf unterschiedliche Netzwerkdynamiken im Gehirn ab, die im Wachzustand, im Schlaf oder unter Narkose auftreten. Die fortlaufende elektrische Hirnaktivität erzeugt reproduzierbare EEG-Muster auf der Kopfhautoberfläche, die Veränderungen des Bewusstseinszustands widerspiegeln. Der Veränderung dieser EEG-Muster ist charakteristisch für verschiedene Formen des reduzierten Bewusstseins im Schlaf oder unter Narkose. Um diese Veränderungen genau zu erfassen, sind aber sehr wahrscheinlich komplexe Modelle der Aktivität des gesamten Gehirns erforderlich.4

„Die komplexe Netzwerkdynamik in den Schaltkreisen der Hirnrinde ist ausschlaggebend für unsere kognitiven Fähigkeiten, wie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnisleistungen, Sprache und Intelligenz. Wie die Netzwerk-Kommunikation auf unterschiedlichen räumlichen und zeitlichen Skalen abläuft, wird aktuell intensiv erforscht, und wir erhoffen uns hiervon substantielle Fortschritte im Verständnis von Erkrankungen des Gehirns“, resümierte Engel.

Über
1. Grent-'t-Jong T et al. 40-Hz auditory steady-state responses characterize circuit dysfunctions and predict clinical outcomes in clinical high-risk for psychosis participants: a magnetoencephalography study. Biol Psychiatry 2021;90:419–429. 2. Moran JK et al. Multisensory processing can compensate for top-down attention deficits in schizophrenia. Cereb Cortex 2021;31:5536–5548. 3. Pfeffer T et al. Coupling of pupil- and neuronal population dynamics reveals diverse influences of arousal on cortical processing. Elife 2022;11:e71890. 4. Cofré R et al. Whole-brain models to explore altered states of consciousness from the bottom up. Brain Sci 2020;10:626.
Quelle
Deutsche Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung e. V.
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