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Zentralbahnhof 1

Zentralbahnhof
1972
Gnter Kunert

An einem sonnigen Morgen stt ein Jemand innerhalb seiner Wohnung auf ein
amtliches Schreiben: es liegt auf dem Frhstckstisch neben der Tasse. Wie es dahin
kam, ist ungewi. Kaum geffnet, berfllt es den Lesenden mit einer Aufforderung:
Sie haben sich, befiehlt der amtliche Druck auf dem grauen, lappigen Papier, am
5. November des laufenden Jahres morgens acht Uhr in der Herrentoilette des
Zentralbahnhofes zwecks Ihrer Hinrichtung einzufinden. Fr Sie ist Kabine 18
vorgesehen. Bei Nichtbefolgung dieser Aufforderung kann auf dem Wege der
verwaltungdienstlichen Verordnung eine Bestrafung angeordnet werden. Es empfiehlt
sich leichte Bekleidung, um einen reibungslosen Ablauf zu garantieren.
Wenig spter taucht der solchermaen Betroffene verzagt bei seinen Freunden
auf. Getrnke und Imbi lehnt er ab, fordert hingegen dringlich Rat, erntet aber nur
ernstes und bedeutungsvolles Kopfschtteln. Ein einscheidender Hinweis, ein
Hilfsangebot bleibt aus. Heimlich atmet man wohl auf, wenn hinter dem nur noch
begrenzt Lebendigen die Tr wieder zufllt, und man fragt sich, ob es nicht schon zuviel
gewesen ist, sie ihm berhaupt zu ffnen. Lohnte es denn, wer wei was alles auf sich
zu laden fr einen Menschen, von dem in Zukunft so wenig zu erwarten ist?
Der nun selber begibt sich zu einem Rechtsanwalt, wo ihm vorgeschlagen wird,
eine Eingabe zu machen, den Termin (5. Nov.) aber auf jeden Fall einzuhalten, um
Repressalien auszuweichen. Herrentoilette und Zentralbahnhof hre sich doch ganz
ertrglich und vernnftig an. Nichts werde so hei gegessen wie gekocht. Hinrichtung
Wahrscheinlich ein Druckfehler. In Wirklichkeit sei "Einrichtung" gemeint. Warum nicht?
Durchaus denkbar findet es der Rechtsanwalt, da man von seinem frisch gebackenen
Klienten verlage, er solle sich einrichten. Abwarten. Und vertrauen! Man mu Vertrauen
haben! Vertrauen ist das wichtigste.
Daheim wlzt sich der zur Herrentoilette Beorderte schlaflos ber seine
durchfeuchteten Laken. Erfllt von brennendem Neid lauscht er dem unbeschwerten
Summen einer Fliege. Die lebt! Die hat keine Sorgen! Was wei die schon vom
Zentralbahnhof?! Man wei ja selber nichts darber... Mitten in der Nacht lutet er an
der Tr des Nachbarn. Durch das Guckloch glotzt ihn ein Auge an, kurzfristig,
ausdruckslos, bis der Klingelnde kapituliert und den Finger vom Klingelknopf lst.
Pnktlich um acht Uhr morgens betritt er am 5. Nov. den Zentralbahnhof,
frstelnd in einem kurzrmeligen Sporthemd und einer Leinenhose, das leichteste, was
er an derartiger Bekleidung besitzt. Hier und da ghnt ein beschftigungsloser
Gepcktrger. Der Boden wird gefegt und immerzu mit einer Flssigkeit besprengt.
Durch die spiegelnde Leere der Herrentoilette hallt sein einsamer Schritt: Kabine
18 entdeckt er sofort. Er schiebt eine Mnze ins Schliewerk der Tr, die aufschwingt,
und tritt ein. Wild zuckt in ihm die Gewiheit auf, da gar nichts passieren wird. Gar
nichts! Man will ihn nur einrichten, weiter nichts! Gleich wird es vorber sein, und er
kann wieder nach Hause gehen. Vertrauen! Vertrauen! Eine euphorische Stimmung
steigt ihm in die Kehle, lchelnd riegelt er das Schlo zu und setzt sich.


Zentralbahnhof 2
Eine Viertelstunde spter kommen zwei Toilettenmnner herein, ffnen mit
einem Nachschlssel Kabine 18 und ziehen den leichtbekleideten Leichnam heraus,
um ihn in die rotziegeligen Tiefen des Zentralbahnhofes zu schaffen, von dem jeder
wute, da ihn weder ein Zug jemals erreicht noch verlassen hatte, obwohl oft ber
seinem Dach der Rauch angeblicher Lokomotiven hing.

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