Julia Korbik: Schwestern

Die Macht des weiblichen Kollektivs

Inhalt

«Sisterhood is powerful!, und es gibt viele Beispiele, die das belegen. Die zeigen, was passiert, wenn Frauen sich zusammentun und solidarisch füreinander eintreten, wenn sie gemeinsam für ihre Anliegen kämpfen. Denn, das lehrt die Geschichte: Tun es Frauen nicht selbst, tut es im Zweifelsfall auch niemand anderes für sie.»

Eine Darstellung des Feminismus, wie er sich in den letzten Jahren entwickelt hat, die Vorstellung einzelner Feministinnen und Strömungen. Eine Analyse der Schwierigkeiten, die ihn seit jeher begleiten, allen voran die Konzentration auf das Trennende, die Exklusion statt Integration von unterschiedlichen Bedürfnissen und Kampfthemen. Und nicht zuletzt ein Aufruf zu mehr Miteinander, zu emphatischem Hinhören und gemeinsam Einstehen für die Sache, die allen gemeinsam ist: Eine gerechtere Welt mit mehr Gleichberechtigung – für alle.

Gedanken zum Buch

«Feminismus, das ist kollektive Stärke, ist schwesterliches Handeln. Das Wir kommt dort vor dem Ich. Für Feministi:innen ist es deshalb wichtig, sich nicht vereinzeln zu lassen – und sich daran zu erinnern, dass das Kollektiv Macht besitzt.»

Schaut man auf den Feminismus – nicht mal nur heute, die Tendenz gab es immer -, sieht man nicht nur eine Spaltung desselben, sondern eine regelrechte Zerstückelung. Jeder ist in eigener Sache unterwegs, wirft dem anderen vor, dass dieser nur seine sieht und hält es ja eigentlich genauso. Es wird sich zu stark an den Unterschieden aufgerieben, statt das Verbindende zu sehen, nämlich den Kampf für eine Gesellschaft, in der jeder und jede in seinem Sosein mit ihren Anliegen, Fähigkeiten und Bedürfnissen adäquate Chancen und Möglichkeiten hat. Es wäre viel mehr getan, sich zusammen um das gemeinsame Ziel zu kümmern, als sich in Kleingrüppchen persönlichen Einzelinteressen zu verschreiben.

«Sprache kann dabei helfen, verschiedene Aspekte des Frauseins auszudrücken… Allerdings, das müssen wir uns bewusst machen, ist Sprache nichts, das eins zu eins repräsentieren kann. Wir werden sprachlich nie alles ausdrücken, alle Menschen ansprechen können.»

Ein sehr präsentes Thema ist die Sprache. Die Frage, ob der Genderstern nun relevant ist oder nicht und alles, was damit zusammenhängt, nimmt unglaublich viel Raum ein, so dass es oft scheint, die lebenszentralen Themen wie Armut für Frauen, ungleiche Chancen auf dem Arbeitsmarkt, Gewalt gegen Frauen und viele mehr treten dagegen zu sehr in den Hintergrund. Bei Lichte betrachtet mag an den Sprachregelungen etwas sein, impliziert man, dass Sprache Realität abbildet und mit einer Veränderung derselben auch die Realität in den Köpfen verändert würde, was zu einem anderen Verhalten führen würde. Ich wage das zu bezweifeln. Wer Hunger hat und sein Kind nicht ernähren kann, wird sich nicht vertreten fühlen von um Sterne kämpfenden Feministinnen. Die, welche dort stehen und sich nicht vertreten fühlen durch falsche Verwendung von Worten, tun das oft von einem bildungshohen Stuhl aus und mit vollem Magen.

Das gleiche Problem sieht man in der Politik generell: Die aktuellen Themen der Linken sind selten die, welche die Menschen betreffen, für welche die Linke einmal stand: Arbeiter, Armutsgefährdete, sozial Benachteiligte, etc. Diese fühlen sich in der Folge nicht mehr gesehen und gehört von ihren Parteien und suchen welche, die ihnen aus dem Herzen zu sprechen scheinen – die rechten Parteien mit all ihren Versprechungen.

Wir müssen da dringend umdenken und uns primär wirklich relevanten Themen zuwenden. Schlussendlich ist das Argument, wenn man früher in der männlichen Form kommunizierte, sei die Frau nicht mitgemeint gewesen, deswegen bräuchten wir heute andere Wörter, obsolet, da wir wissen, dass sie heute mitgemeint ist (sein muss).

«Ein winziger Stein, aus dem viele Steine werden. Die dann, irgendwann, hoffentlich zu konkreten Veränderungen führen.»

Wie oft denkt man, dass alles, was man tun kann, nichts bringt. Wie oft resignieren wir, statt für uns einzustehen. Wir mögen nicht die Welt retten können, schon gar nicht von heute auf morgen, denn Veränderungen brauchen Zeit, aber: Es ist möglich. Langsam, in kleinen Schritten, kontinuierlich. Ich bin überzeugt, dass Dinge sich verändern, langfristig, wenn Menschen sich einsetzen, in ihrem Umfeld dafür sorgen, dass die Welt so aussieht, wie sie gewünscht ist. Das wird Kreise ziehen, wird sich ausweiten. Und immer daran denken: Gemeinsam sind wir stark.

«Die Andere ist nicht die Grenze meiner Freiheit, sondern ihre Basis: Sie erlaubt mir, mich zu verändern. Nur Differenz ermöglicht neue Perspektiven, ermöglicht neues Denken und Handeln. Feministisches Denken und Handeln. Nur so können wir wachsen – einzeln und gemeinsam.»

Fazit
Intelligent, aufschlussreich und anregend geschrieben – Wie sich Feminismus über die Zeit entwickelt hat und was wir uns von ihm wünschen und erhoffen für die Zukunft. Nichts Neues, aber das Alte gut zusammengefasst.

Zur Autorin
Julia Korbik ist freie Journalistin und Autorin in Berlin. Bei Rowohlt erschien von ihr zuletzt Oh, Simone! Warum wir Beauvoir wiederentdecken sollten sowie die Graphic Novel Simone de Beauvoir. Ihre journalistischen Schwerpunkte sind Politik und Popkultur aus feministischer Sicht. Für ihre Arbeit wurde sie mit dem Luise-Büchner-Preis für Publizistik ausgezeichnet.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Rowohlt Buchverlag; 1. Edition (30. Januar 2024)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 256 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3498003722

Zum Weltfrauentag – Gedanken und Bücher

Ich würde gerne behaupten und auch sehen, dass es keinen Weltfrauentag braucht, weil jeder Tag für alle da ist, doch leider ist dem an den meisten Tagen nicht so. Darum sind solche Tage wichtig, sie sollen wieder ins Bewusstsein rufen, was viel zu einfach vergessen gehen kann.

In seinem Buch „Die Würde ist antastbar“ behandelt Ferdinand von Schirach in einem Essay die Frage der Gleichstellung der Frau. Er zeigt fragwürdige Haltungen in der Politik zu diesem Thema auf (kurze Hoffnungsschimmer durch einzelne Personen werden mehrheitlich zunichte gemacht durch die oft erfolgreichen Versuche, diese zu verunglimpfen) und listet Zahlen aus Vorständen und Führungspositionen. Und man sitzt da und fragt sich, wie es möglich ist, dass der Frauenanteil in Vorständen grosser Firmen nur 3% beträgt, in Führungspositionen ist der Satz etwas höher, aber bei weitem nicht annähernd ausgeglichen. Nur mangelnder Einsatz und fehlende Bereitschaft kann nicht der Grund dafür sein.

Als Aristoteles seine Idee einer guten Gesellschaft formulierte, sprach er von gleichen Rechten für alle. Damals war klar, dass „alle“ nur freie Männer einer gewissen Klasse meinte. Sklaven, Arbeiter und Frauen waren ausgeschlossen aus diesem „alle“. Wenn man seine Schriften heute liest, denkt man, diese Bewertung sei antiquiert, doch die tatsächlichen Zahlen sprechen eine andere Sprache – immer noch. Die Aussage von Mary Shear:

„Feminismus ist die radikale Auffassung, dass Frauen Menschen sind.“

ist also nicht obsolet, sondern offensichtlich noch nicht in allen Köpfen in ihrer ganzen Tragweite angekommen. Zwar erkennt man Frauen durchaus als Menschen im Sinne des Menschseins, aber eben nicht im Sinne eines teilhabenden, gleichwertigen Menschen. Frauen sind eher „die Anderen“, die auch noch da sind, wenn die Welt verteilt ist unter denen, die eben „die Einen“ sind. Aus dieser Haltung leitet Simone de Beauvoir den Titel ihres Hauptwerkes ab („Das andere Geschlecht“) und das Buch ist aktuell wie eh und je und auch heute noch Pflichtlektüre sein sollte.

Wir haben also noch viel zu tun, um auch zu den Einen zu gehören. Denn: Es steht uns zu. Alles andere spräche uns unsere Würde als Mensch ab. Wobei der Konjunktiv falsch gesetzt erscheint…

Wenn es ums Lesen geht, zeigt sich ein ähnliches Bild. Viele Frauen wurden und werden vergessen, sie hatten früher zwar die grösseren Hürden, schreiben zu dürfen/können, aber auch heute noch zeigt sich in vielen Bereichen (Schule, Universität, Literaturbetrieb…) eine Ungleichbehandlung. (Sehr empfehlenswert dazu: Nicole Seifert, Frauenliteratur). Wenn ich zurückdenke, habe ich als Kind mehrheitlich Frauen gelesen (unbewusst), ab der Schule und auch im Literatur- wie Philosophiestudium kamen die kaum (schon das ist fast eine Übertreibung) mehr vor. Auch wenn ich nach wie vor sage, dass es nicht draufankommt, wer ein Buch geschrieben hat (rein vom Geschlecht her), merke ich, dass mich Literatur von Frauen oft mehr anspricht heutzutage (es gibt natürlich Ausnahmen, Autoren, die ich hochhalte und liebe). Heute möchte ich zehn Bücher von Frauen nennen, die ich für lesenswert halte, immer im Bewusstsein, dass dies eine persönliche Auswahl ist, die nicht mal über die Zeit gleich lauten würde:

Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht (und alles andere von ihr)
Ein Buch darüber, wie Frauen in die zweite Reihe gestellt werden durch die Sicht auf sie als andere, während der Mann die Norm darstellt. Da diese Hierarchie rein sozial und nicht biologisch begründet ist, ist sie veränderbar. Es ist an uns, dies zu tun.

Hannah Arendt: Denken ohne Geländer
Das Buch vereint zentrale Texte aus Hannah Arendts Schaffen sowie Auszüge aus Briefen, die ihr Denken offenlegen – ein Denken, das wirklich ohne Geländer frei floss, das vor nichts Halt machte, sondern sich auch (und oft) unbequemen Dingen stellte.

Elizabeth Strout: Am Meer
Lucy Barton befindet sich im Lockdown mit ihrem Exmann, sie denkt über ihr Leben nach, über die Brüche und Umbrüche, ihre Beziehungen zu Männern und ihren Töchtern. Ein Buch zum Mitfühlen, Mitdenken, eine Anregung, das eigene Leben Revue passieren zu lassen.

Caroline Emcke: Weil es sagbar ist
Was lässt sich erzählen und wer kann es tun? Für wen erzählen wir und wem wollen wir erzählen? Für wen können wir sprechen und wieso sollen wir es tun? Carolin Emcke zeigt den Wert der geteilten Geschichten für das Leben und das Überleben, denkt über die Sprache als Verbindung zwischen den Menschen nach.

Vigdis Hjorth: Die Wahrheit über meine Mutter
Die Auseinandersetzung einer Frau mit ihrer Mutter, zu welcher der Kontakt abgebrochen wurde und die sich weigert, ihn wieder aufzunehmen. Gedanken dazu, wie Menschen werden, wie sie sind, was es bedeutet, Mutter oder Tochter zu sein, zu den eigenen Gefühlen, schmerzhaften Erfahrungen und Sehnsüchten.

Annie Ernaux: Erinnerungen eines Mädchens
Die Geschichte eines Mädchens und einer jungen Frau auf der Suche nach dem richtigen Platz im Leben, ihr Heranwachsen mit Wünschen, Träumen, Verletzungen und Scham. Der Blick von Heute auf das Gestern, der Versuch, sich selbst in der eigenen Vergangenheit zu finden und zu durchleuchten, schreibend, und dabei dieses Schreiben selbst immer wieder zu hinterfragen

Susan Sontag: Tagebücher 1964 – 1980
Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke – so beschreibt Susan Sontag ihr Schreiben selber. Die Tagebücher sind das Zeugnis einer intelligenten, nachdenklichen, oft vom Leben enttäuschten Frau.

Virginia Woolf: Ein Zimmer für sich allein
Ein Buch darüber, wie wichtig es ist für eine Frau, ihr eigenes Zimmer, den Raum für sich zu haben.

Deborah Levy: Was das Leben kostet
Die Ehe ist zerbrochen, das alte Leben ist vorbei. Es gilt, ein neues aufzubauen, in einem neuen Zuhause und im neuen Leben anzukommen und sich da einzurichten. Deborah Levy erzählt aus dieser Zeit des Umbruchs, erzählt von den Gedanken, Gefühlen, Herausforderungen und immer wieder auch vom Schreiben.

Elisabeth Wellershaus: Wo die Fremde beginnt
Gedankenräume über erfahrenen Rassismus, Nachdenken über blinde Flecken bei sich und in der Gesellschaft, eine persönliche Lebensreise durch verschiedene Stationen der eigenen Biografie, pendelnd zwischen Spanien und Deutschland, zwischen verschiedenen Identitäten und Zuschreibungen. Ein persönliches, ein augenöffnendes Buch, ein Buch über systemische, strukturelle und individuelle Diskriminierung.

Gedankensplitter: Die eigene Haltung ergründen

«Es hiess…. sie sei ein gefallenes Mädchen… Von gefallenen Männern hörte man bei uns nie. Männer konnten wahrscheinlich nicht fallen.» Emmy Hennings

Hat sich wirklich so viel verändert? Wenn zwei dasselbe tun, ist es wirklich dasselbe im Auge der Gesellschaft? Sind nicht noch immer die Frauen die Beäugten in einer von Männern definierten und von vielen (auch Frauen) weiter verteidigten Welt? Und immer wieder schauen wir weg, weil das Hinschauen die Forderung stellte, aufzubegehren. Und wir fragen uns: Was bedeutet das für uns? So hier und heute? Es ist einfacher, gegen die heute definierten Täter der Vergangenheit zu richten und sich gegen sie zu stellen. Im Hier und Jetzt gehen wir oft den Weg der Norm, den der Anpassung, weil wir denken, keine Wahl zu haben. Die Wahl haben wir wohl, nur gefallen uns die Konsequenzen oft nicht. Und dann sagen wir, dass wir nicht konnten, aber schon gewollt hätten. 

Kann man es verübeln? Muss man es? Ist es feige? Oder einfach lebenspraktisch? Das sind alles Wertungen, die von aussen draufgestülpt werden. Ich glaube, der erste Schritt wäre das Eingeständnis: Ich hätte gekonnt, hatte aber zu viele persönliche Gründe, die mich hinderten. Wenn diese Ehrlichkeit schon mal da wäre, wäre ein zweiter Schritt viel einfacher: Sich anders zu entscheiden, weil ja ganz viele sich eingestehen würden, dass sie eine Wahl hätten. Und ehrlich würden. Und damit vielleicht auch gemeinsam einstehen würden, so dass die Konsequenzen teilweise wegfielen. 

Eine Utopie? Ein Weg?

Simone Scherger, Ruth Abramowski, Irene Dingeldey, Anna Hokema, Andrea Schäfer (Hg.): Geschlechterungleichheiten in Arbeit, Wohlfahrtsstaat und Familie

«Tatsächlich verringern sich jedoch die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern in vielen Bereichen nur langsam… Mit diesen Ungleichheiten sind jeweils unterschiedliche soziale Risiken und günstige oder ungünstige Lebenslagen, mithin meist Benachteiligungen von Frauen verknüpft.»

Der Kampf gegen Ungleichheit, die immer einher geht mit Ungerechtigkeit, ist nicht neu. Über die Jahre konnten viele Fortschritte erreicht werden, die Gesetzeslage hat sich mehr und mehr in Richtung Gleichheit verändert und auch im Selbstverständnis vieler Menschen kam es zu einer Entwicklung hin zu einer gleichberechtigteren Sicht auf die Unterschiedlichkeiten der Menschen. Leider sind wir weit davon entfernt, am Ziel zu sein, im Gegenteil, alles Erreichte ist immer in Gefahr, durch Rückschritte zunichte gemacht zu werden (wir sehen es aktuell bei Diskussionen rund um die Abtreibung). Der Kampf um Gleichberechtigung ist ein fortlaufender Prozess gegen Beharrungstendenzen und Rückfälle, die Fortschritte aber zeigen sich nur langsam.

«Sie werden durch das Zusammenspiel verschiedener institutioneller, etwa sozialpolitischer und rechtlicher Strukturen[…], organisatorischer Einflüsse (etwa an Arbeitsplätzen) und normative Leitbilder direkt oder indirekt geprägt, die auch in sich widersprüchliche Arrangements bilden können.»

Ungleichheit und Diskriminierung aufgrund solcher ist nie ein nur individuelles Problem, sondern eines, das in Strukturen stattfindet. Indem es eine Sicht von normal und anders gibt, werden Machtverhältnisse definiert, die fortan das Zusammenleben bestimmen. Dies gilt es, bewusst in den Blick zu nehmen und nach neuen Wegen für ein gleichberechtigtes Miteinander zu suchen, ist auch heute noch wichtig (selbst wenn einige Stimme gerne das Gegenteil behaupten, wohl mehrheitlich aus der Motivation heraus, die eigenen Privilegien zu schützen).

Die im vorliegenden Buch zusammengetragenen Aufsätze diskutieren die geschlechtsbezogenen Ungleichheiten im Hinblick auf Arbeitsverhältnisse, Wohlfahrtsstaat und Familie. Ziel ist es, durch die Analyse geschlechterbezogener Einstellungen und Verhaltensmuster ein Bewusstsein für die gemachten Fortschritte wie auch die noch offenen Problemfelder und Rückschritte zu schaffen, aufgrund dessen dann Wege für neue Veränderungsprozesse eröffnet werden können.

Die Qualität der Aufsätze ist durchzogen, von sehr fundierten, informativen, weiterführenden über interessante bis hin zu wissenschaftlich fragwürdigen (nicht repräsentative Proben, zu offensichtliche Ergebnisse, etc.) ist alles dabei. Trotzdem ist das Buch sehr empfehlenswert, behandelt es doch ein Thema, das wichtig ist und vor dem wir unsere Augen nicht verschliessen dürfen.

Über die Herausgeberinnen und Autorinnen
Simone Scherger, Prof. Dr., Soziologin und Leiterin der Arbeitsgruppe »Lebenslauforientierte Sozialpolitik« am SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen.
Ruth Abramowski, Dr., Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe »Arbeit, Wohlfahrtsstaat und Gender« von Prof. Dr. Karin Gottschall am SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen.
Irene Dingeldey, Prof. Dr., Sozialwissenschaftlerin und Direktorin des Instituts Arbeit und Wirtschaft der Universität Bremen.
Anna Hokema, Ph.D., Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung (DIFIS) der Universität Duisburg-Essen und der Universität Bremen.
Andrea Schäfer, Magistra, Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Sonderforschungsbereich 1342 »Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik« an der Universität Bremen

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Campus Verlag; 1. Edition (13. Oktober 2021)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Broschiert ‏ : ‎ 484 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3593514413

Tagesgedanken: Haben und Sein

Früher sprach man von der Dritten Welt. Darin steckt eine Hierarchie von Welten, von den Siegerländern und den Verlierern, von denen, die etwas haben, und denen, die nichts oder zu wenig haben. Es steckt eine Arroganz in dieser Zuschreibung, die dem Missstand der Armut zu einem Versagen in westlichen Massstäben erklärt. Diese Massstäbe greifen auch innerhalb unserer Gesellschaften: Die Schere zwischen arm und reich ist nicht nur eine finanzielle, es ist auch eine soziale, eine der Zugehörigkeit. Klasse ist nicht einfach eine Hierarchie, sondern auch ein Indikator dafür, wo man hingehört, welche Möglichkeiten man hat und mit welchen Diskriminierungen man konfrontiert ist. Das Haben entscheidet über das Sein.

Weltlauf

Hat man viel, so wird man bald
Noch viel mehr dazu bekommen.
Wer nur wenig hat, dem wird
Auch das wenige genommen.

Wenn du aber gar nichts hast,
Ach, so lasse dich begraben –
Denn ein Recht zum Leben, Lump,
Haben nur die etwas haben.

(Heinrich Heine)

Das Bild, man könne alles schaffen, wenn man sich nur anstrenge, ist noch in vielen Köpfen. Dieses Bild sorgt dafür, dass die, welche arm sind, oft mit Verachtung gestraft werden: Sie haben sich nicht genug angestrengt, sie sind selbst schuld an ihrem Schicksal. Das ist nicht nur eine stark vereinfachte Sicht auf die Welt, es ist auch eine ungerechte. Gründe für Armut können vielfältig sein. Krankheiten können eine Ursache sein, aber auch Alter, Herkunft, Geschlecht, familiäre Situation spielen eine grosse Rolle. Gerade aus diesem Grund wäre es dringend nötig, unsere sozialen Systeme zu überdenken und sie so anzupassen, dass kein Mensch aus dem sozialen Leben ausgeschlossen ist, weil er aus finanziellen Gründen nicht mehr daran teilhaben kann. Auch Bildung und Gesundheitsvorsorge hängen stark an der sozialen Klasse. Zu beiden sollte ein gleichberechtigter Zugang für alle geschaffen werden. 

Noch immer sind es mehrheitlich Frauen, die unter all dem leiden. Sie leisten mehr unentgeltliche Haushalts- und Betreuungsarbeit, sie werden schlechter entlöhnt (aus diversen Gründen, die im Detail klar zu definieren sind), sie erhalten weniger Rente (mehrheitlich aus den vorher genannten Gründen). Das geht alle an, nicht nur die Betroffenen. 

„Ich denke nicht, dass wir Zustände der Ungleichheit und Ungerechtigkeit ändern, wenn sie immer nur von denen kritisiert werden dürfen, die darunter am meisten zu leiden haben. Unrecht muss von allen, von jede rund jedem, kritisiert werden, ganz gleich, ob es einen selbst oder die eigene Familie bevorteilt oder nicht.“ (Carolin Emcke)

Eigentlich geht es nicht um Mann oder Frau, es geht darum, dass wir in einem System leben, das nicht gerecht ist. Nur wirkt sich dieses System aktuell mehrheitlich auf Frauen aus, die über Jahrzehnte und Jahrhunderte unterdrückt und ausgebeutet wurden und heute noch werden. Das Ziel ist eine Gesellschaft, in der keiner unterdrückt oder ausgebeutet wird, egal, welches Geschlecht, welche Hautfarbe, Herkunft, Religion oder andere zum Ausschluss qualifizierende Eigenschaft er hat.

Tagesgedanken: Nach eigenen Überzeugungen leben

Wenn man an Simone de Beauvoir denkt, steht einem oft das Bild einer starken, selbstbewussten Frau vor Augen, die eines der grossen Standardwerke für/über die Frau geschrieben hat: „Das andere Geschlecht“. Simone de Beauvoir ging ihren Weg, und sie wählte einen, der für Frauen damals nicht üblich war.

Sie studierte Philosophie an einer angesehenen Universität unter vorwiegend Männern, und sie schloss als eine der Besten ab. Sie wählte für sich ein Leben, das unabhängig und selbstbestimmt war, und sie widmete es dem, was sie tun wollte: dem Schreiben. Sie kämpfte für das, was ihr wichtig war, allem voran ihre Freiheit. Sie nahm sich das Recht heraus, ihr Leben als die, die sie sein wollte, zu leben, ohne Rücksicht auf Konventionen und gesellschaftliche Ansprüche. Dass sie damit immer auch aneckte, Argwohn und Kritik auf sich zog, liegt auf der Hand. Auch wurde sie als Frau oft nicht ernst genommen, stand als Philosophin mehrheitlich im Schatten ihres Lebensgefährten Sartre (dieser sah das nie so und verdankt bei Lichte betrachtet einige der ihm zugeschriebenen Gedanken Simone de Beauvoir) – das traurige Los vieler Frauen der (wirklich nur?) damaligen Zeit.

Doch da war eine andere Seite: Als sie sich in der Mitte ihres Lebens in den Schriftsteller Nelson Algren verliebte (wohl ihre grosse Liebe, auch wenn sie Sartre immer an erster Stelle in ihrem Leben behielt), wurde sie bei ihrem gemeinsamen Leben plötzlich zur fürsorglichen Frau, stellte ihm Apfelschnitze hin, sorgte für ein ansprechendes gemeinsames Liebesnest, übernahm also wie selbstverständlich die typischen Frauenaufgaben. Sie hörte damit nur dann auf, wenn Sartre sie plötzlich brauchte, dann liess sie alles stehen und liegen (eigenes Schreiben, Ferienpläne mit dem geliebten Mann, etc.) und folgte seinem Ruf.

Es scheint, ihr ging es wie vielen von uns im Leben: Wir wissen tief drin, was wir wollen, was wir fühlen, haben Ideale und Vorstellungen, Theorien und Ansprüche – und lassen diese im tatsächlichen Miteinander sausen, indem wir in althergebrachte Muster verfallen, patriarchische Rollenmuster übernehmen und leben. Wir wollen den eigenen Vater nicht vor den Kopf stossen, keinen Streit mit dem Partner, keine Diskussion mit dem guten Freund – und schlucken Dinge runter, die eigentlich für uns nicht in Ordnung sind, die dann wie ein Kloss im Magen sitzen und das Gefühl hinterlassen: Wieso bloss? Wieso lebe ich immer wieder entgegen meiner eigenen Überzeugungen? Und über allem steht die Frage: Wie reagiere ich das nächste Mal besser?

Nicht für den Profit

Die Gefühle der Ohnmacht und der Hilflosigkeit sind wohl zwei der am schwierigsten auszuhaltenden. Um ihnen zu entgehen ist man oft zu vielem bereit, macht Zugeständnisse, die einem eigentlich nicht entsprechen. Zwar ist das Resultat davon nur eine Folge der Ohnmacht und nicht etwa eine Befreiung, aber zumindest fühlt sich die Situation für den Moment besser an. Ein selbstbestimmtes Leben ist auf diese Weise nicht möglich. Durch jedes Zugeständnis, durch jedes Aufgeben der eigenen Position gibt man ein Stück der eigenen Würde auf, weil man sich etwas unterordnet, wozu man bei Lichte betrachtet nicht stehen kann. Stück für Stück wird man aus Angst und gefühlter Schwäche zum Gehorchenden, statt das Leben in die eigene Hand zu nehmen.

In der Literatur findet sich eine Gegenposition zu dieser Haltung: Christa Wolf hat mit ihrer Kassandra eine Figur geschaffen – angelehnt an die griechische Mythologie -, für welche die Selbstbestimmung an oberster Stelle steht. Die mit der Sehergabe versehene Kassandra wird aus verschmähter Liebe mit einem Fluch belegt: Sie sieht alles voraus, aber niemand glaubt ihr. Sie muss zusehen, wie Menschen in ihr Unglück rennen trotz ihrer Warnung. Da sie nicht nur in Bezug auf das Schicksal anderer hellsichtig ist, sondern auch auf das eigene, sieht sie ihren eigenen Tod voraus. Auch das kann sie nicht zum Einlenken und Nachgeben bewegen, sie geht dem Tod mutig entgegen mit dem Vorsatz, bis zum Schluss ihre Bewusstheit und Autonomie zu wahren. 

Das Buch zeichnet anhand einer griechischen Sage das abendländische Patriarchat nach, es zeigt die Macht zur Unterdrückung und die Forderung nach Gehorsam. Bleibt dieser aus, folgen Konsequenzen. Es zeigt aber auch einen Weg des Widerstandes auf. Kassandra entscheidet sich für ihre Selbstbestimmtheit, sie nimmt ihre Rolle als Aussenseiterin an, um authentisch leben zu können, sie unterwirft sich nicht der Macht eines Mannes, um ihr Schicksal zu drehen. 


„Ich will die Bewusstheit nicht verlieren, bis zuletzt.“

Es ist wohl menschlich, ab und zu den Weg des geringsten Widerstands zu gehen. Zudem ist es sicher nicht zu empfehlen, sehenden Auges in den Tod zu gehen. Zum Glück haben die meisten Entscheidungen im Leben keine so weitreichenden Folgen, doch auch schon bei weniger gravierenden Konsequenzen sind viele bereit, eigene Werte aufzugeben. Vor allem, wenn der eigene Erfolg auf dem Spiel steht, verschliesst man gerne die Augen vor einer weitreichenderen Gerechtigkeit, man nimmt eigene Vorteile in Kauf, obwohl man weiss, dass sie anderen zum Nachteil reichen. Für die eigene Bequemlichkeit ignoriert man auch zu oft die weitreichenden Auswirkungen des eigenen Tuns. Das ist wohl menschlich, führt aber weder zu einer gerechteren und gleichberechtigteren Gesellschaft, noch werden wir auf diese Weise finanzielle und ökologische Probleme abwenden.  

Wir werden nicht von heute auf morgen die Welt verändern (wieso eigentlich nicht?), aber wir können zumindest hinschauen, wo wir uns selbst im Leben aufgeben, wo wir unsere Werte verraten, wo wir unseren Überzeugungen widersprechend handeln. Indem wir das eigene Tun hinterfragen und vielleicht auch ändern, tragen wir immerhin unseren Beitrag zu einem grossen Ganzen bei. Tun wir das nur alleine, müssen wir vielleicht auf einen Erfolg verzichten zugunsten eines moralischen Verhaltens, aber: Tun es mehr und immer mehr, wird dieses Verhalten die alten Strukturen überwinden helfen, und dann geht es uns allen besser. So oder so bin ich der festen Überzeugung, dass es dem eigenen Gewissen und damit auch Wohlbefinden dienlich ist, sich nicht zum Preis des Gehorsams und den daraus resultierenden Profit zu verkaufen.

Tagesgedanken: Wenn der Spass aufhört

Da sitzt man in geselliger Runde, ist in ein Gespräch vertieft, und plötzlich kommt ein Gefühl auf: Irgendwie passt das so nicht. Das, was der andere gesagt hat, beleidigt, verletzt mich. Nur: Was nun? Wie reagieren? Soll ich es ihm sagen? Soll ich einfach schweigen, das Gesagte ignorieren und die aufkeimenden Gefühle runterschlucken?

Grundsätzlich müsste man es wohl ansprechen, doch wenn man das tut, hört man oft „das war doch nur ein Witz“ (hahaha), „sei doch nicht so empfindlich“ (Augenrollen) und fühlt sich dadurch nur noch schlechter. Wenn man es dann immer noch nicht witzig findet, ist man humorlos oder eine Mimose.

Nun mag es sein, dass viele Witze und Bemerkungen nicht verletzend gemeint sind, nur: Wenn man merkt, dass es doch verletzt, finde ich es angebracht, damit aufzuhören. Wie sagte schon Schiller:

„Wohl lässt der Pfeil sich aus dem Herzen ziehn,
Doch nie wird das verletzte mehr gesunden.“

Witze, die nur der eigenen Belustigung (und eventuell der Dritter) dienen, sind nicht lustig, sondern ein Zeichen von persönlicher Profilierung. Sie schaffen Hierarchien von denen, die wissen, was lustig ist, und denen, die diese für den eigenen Spass instrumentalisieren. Zu viele haben sich angewöhnt, das stillschweigend hinzunehmen, um noch mehr Verletzungen zu vermeiden. Zu viele wurden genau dazu erzogen, zu viele wurden dahingehend geprägt. Ich denke nicht, dass das ein guter Weg ist. Die Verletzung ist trotz allem da, sie wühlt einfach im Innern, die Möglichkeit, dass das Gegenüber sensibler wird, ist so nicht gegeben.  Und: die gefühlte Ohnmacht ist immer wieder eine zusätzliche Verletzung des eigenen Selbstwerts. Zudem:

„Wer die Schlechten schont, verletzt die Guten.“ (Publius Syrus)

Kate Manne thematisiert das in ihrem Buch „Down Girl“:

„Daraus folgt, dass wir Grund haben, kritisch zu sein und an unseren Instinkten zu zweifeln, wenn wir den Eindruck haben, eine Frau „spiele das Opfer“, ziehe die Gender-Karte oder sei allzu dramatisch… Ihr Verhalten mag deshalb herausstechen, weil wir es nicht gewöhnt sind, dass Frauen in diesen Zusammenhängen das ihnen Zustehende einfordern.“

Misogynie findet oft im Kleinen statt, in so genannt witzigen Bemerkungen, die bei näherem Betrachten aber eigentlich abwertend sind. Wir Frauen werden oft dazu erzogen, still zu sein, diese Dinge hinzunehmen, nicht zu laut aufzubegehren. Und: Werden wir beleidigt und klagen das lautstark an, werden wir belächelt und gar verspottet, wir hören Aussagen wie „Nun hab’ dich doch nicht so!“,  oder „Das war doch nur witzig gemeint“ und dergleichen mehr. Wir werden in die Ecke der Spassbremsen gestellt, der Humorlosen und Verbissenen. Und viel schlimmer noch: Wir fühlen uns auch so.

Witze, die Menschen herabsetzen (oder von denen sich Menschen herabgesetzt fühlen), sind nicht lustig. Sie sind beleidigend und unnötig. Humor ist eine Tugend und das Leben ist schöner damit, dies gilt aber nur, wenn die Witze nicht dazu dienen, Hierarchien zu schaffen, den einen über den anderen zu stellen. Witze sollten nie verletzen, sie sollten nie beleidigen. Tun sie das, sind es keine Witze, sondern Gemeinheiten. Und das muss gesagt werden dürfen. Wer das nicht begreift, hat nicht nur ein Humor-Problem, sondern auch eines im respektvollen Umgang mit Menschen. Dies dem Frieden zuliebe zu ignorieren, mag eine lange eingeübte Verhaltensweise sein, aber keine, welche auf lange Frist jemandem dient. Schon gar nicht den so Herabgesetzten.

Tagesgedanken: Scheinkämpfe

Ich bin müde. So viele Missstände in der Welt, es gäbe viel zu tun. Und immer höre ich: Ach, das ändert sich nie. Ach, deine Gedanken sind doch Utopien. Gerechtigkeit? Abschaffung von Armut? Träum weiter. Und ja, ich wünsche mir, dass aus den Träumen Realität wird. Für alle. Und höre die Stimme: «Bist du eine Philosophin…»

Ich bin müde. Bei Diskussionen um den Feminismus höre ich oft, den brauche es nicht, Männer seien auch Arme, alle Fragen beträfen nicht nur Frauen. Das ist wohl wahr und ich bin überzeugt, dass die feministischen Ziele allen dienen würde. Ich solle es Humanismus nennen, wenn es alle beträfe. Aber das würde die jahrzehntelange Unterdrückung von Frauen ausblenden, die es anzugehen gilt. Es würde ausblenden, dass Frauen mehrheitlich betroffen sind bei Ungleichheiten. Das Ziel des Feminismus ist es, diese zu beseitigen, damit alle in einer Welt leben können, in welcher sie als die, welche sie sind, gleiche Chancen, Möglichkeiten und Rechte haben, unabhängig von Geschlecht, Rasse, Hautfarbe, Sexualität, etc. 

Das Argument, dass im Begriff «Feminismus» die Frau drinstecke, kommt oft gleich hinterher als Erklärung, wieso dieser nicht taugt. Und oft kommt er von denselben, welche die gendergerechte Sprache belächeln, finden, bei der männlichen Form sei die Frau mitgedacht, das müsse reichen. Wieso ist es dann ein Unding, beim Feminismus den Mann mitzudenken?

Ich verstehe das alles nicht. Ich verstehe nicht, wieso man gegen Begriffe kämpft, wieso man Unterdrückung schönreden will. Ich verstehe nicht, wieso man so viel Energie in Scheinkämpfe legen, wieso man sich für Träume rechtfertigen muss. Und manchmal denke ich: Ach, lass es doch sein, Sandra, vielleicht haben sie alle recht und du bist schlicht eine idealistische, verblendete Philosophin, die sich in überflüssigen Gebieten bewegt. Und dann schaue ich auf die Welt und denke: Nein!

Vielleicht hatte Rilke recht, als er sagte:

„Du musst das Leben nicht verstehen, 
dann wird es werden wie ein Fest.“

Tagesgedanken: Es recht machen wollen

Ich staune immer wieder, wie tief gewisse Prägungen sitzen. Was ich als kleines Mädchen gelernt habe, leitet auch heute noch oft mein Denken, Fühlen, Handeln. Der Gedanke, ja nichts falsch zu machen, nur bloss nicht aufzufallen, der Anspruch, genügen zu wollen und das Gefühl, doch nicht (gut) genug zu sein – all das sitzt tief. Im Bemühen, es allen recht zu machen, ignoriere ich oft meine eigenen Bedürfnisse oder bin ihrer gar nicht wirklich bewusst, ich versuche mich anzupassen, mich passend zu machen, und merke oft zu spät, dass es für einen mindestens nicht passt: Mich. Erich Fromm schreibt in seinem Buch „Authentisch leben“,

„[…] dass wir Gedanken, Gefühle, Wünsche, ja sogar Sinnesempfindungen haben können, die wir subjektiv als unsere empfinden, obwohl sie uns von aussen suggeriert wurden und uns daher im Grunde fremd sind und nicht das, was wir wirklich denken, fühlen und so weiter.“

Eigentlich weiss ich selber, dass das Bemühen, mich zu verbiegen, um alles richtig zu machen, unsinnig ist, da ich mich so eigentlich verleugne und auf diese Weise sowieso keine wirkliche Begegnung mit einem anderen Menschen zustandekommen kann, denn: Der findet mich ja gar nicht in mir. Eine Beziehung bedingt ein gegenseitiges Interesse am Anderen, auch oder gerade in seinem Anderssein. Trotzdem ich das alles weiss, fällt es schwer, danach zu handeln, die Angst vor Ablehnung ist gross, weil ich das Verhalten ja durch ebendiese gelernt habe. Es braucht Mut, auszubrechen und zu lernen, dass ich genug bin, wie ich bin, dass ich es nicht recht machen muss, dass es in Beziehungen und im Sosein kein richtig oder falsch gibt. Dazu gibt es einen schönen Spruch von Rumi:

„Jenseits von richtig und falsch gibt es einen Ort. Hier können wir uns begegnen.“

Tagesgedanken: Feminismus überflüssig?

Feminismus braucht es nicht mehr, alle Probleme sind gelöst, wir leben in einer gleichberechtigten Welt (zumindest in den meisten westlichen Ländern).

Klar, noch immer versucht jeden Tag ein Mann, seine (Ex-)Partnerin umzubringen und jeden dritten Tag gelingt es. Sterben muss sie, weil sie eine Frau ist und nicht so gehorcht, wie Frauen das in den Köpfen dieser Täter sollen. Und ja, häusliche und sexuelle Gewalt findet mehrheitlich gegen Frauen statt. Und ja, der Gender pay gap ist noch immer vorhanden und Haus- und Sorgearbeit sind noch immer ignoriert oder abgewertet. Auch Armut betrifft weltweit mehrheitlich Frauen.

Wenn man diese Dinge schreibt, kommt sicher jemand daher und findet:

Männer aber auch.

Ja, es gibt auch Ungerechtigkeit gegen Männer, auch Männer werden umgebracht, erleben sexuelle Gewalt, werden unterdrückt, sind arm. Aber weniger, und: Sie blicken nicht auf eine Jahrhunderte dauernde Geschichte der Unterdrückung zurück. Diese steckt im Feminismus drin, drum ist er kein Humanismus, zumal dieser alles andere als eine frauenfreundliche Denkrichtung war. Man denke nur an Rousseau in „Emile“:

„Ihnen [den Männern] gefallen und nützlich sein, ihnen liebens- und achtenswert sein, sie in der Jugend erziehen und im Alter umsorgen, sie beraten, trösten und ihnen das Leben angenehm machen und versüßen: das sind zu allen Zeiten die Pflichten der Frau, das müssen sie von ihrer Kindheit an lernen. Geht man nicht bis auf dieses Grundprinzip zurück, so entfernt man sich vom Ziel, und alle Vorschriften, die man ihnen macht, können weder zu ihrem noch zu unserem Glück dienen.

All das macht nicht im Kleinen Halt, es hat globale Auswirkungen. Länder mit autokratischen Regierungen und patriarchalen Strukturen sind mehr betroffen von Armut und Hunger (es gibt keine Demokratie mit Hungersnöten), es gibt in ihnen mehr innerstaatliche Gewalt und Unterdrückung, und sie sind mehr in internationale Konflikte verwickelt. Menschenrechte werden da mit Füssen getreten und es sind mehrheitlich Frauen, die sich für diese einsetzen.

Vielleicht braucht es den Feminismus doch noch? Ich bin davon überzeugt.

Tagesgedanken: Würde als Frau

In seinem Buch „Die Würde ist antastbar“ behandelt Ferdinand von Schirach in einem Essay die Frage der Gleichstellung der Frau. Er zeigt fragwürdige Haltungen in der Politik zu diesem Thema auf (nicht ganz aktuell, es gibt in Deutschland durchaus Hoffnung auf eine Verbesserung durch die aktuelle Koalition, allen voran Annalena Baerbock) und listet Zahlen aus Vorständen und Führungspositionen. Und man sitzt da und fragt sich, wie es möglich ist, dass der Frauenanteil in Vorständen grosser Firmen nur 3% beträgt, in Führungspositionen ist der Satz etwas höher, aber bei weitem nicht annähernd ausgeglichen. Nur mangelnder Einsatz und fehlende Bereitschaft kann nicht der Grund dafür sein.

Als Aristoteles seine Idee einer guten Gesellschaft formulierte, sprach er von gleichen Rechten für alle. Damals war klar, dass „alle“ nur freie Männer einer gewissen Klasse meinte. Sklaven, Arbeiter und Frauen waren ausgeschlossen aus diesem „alle“. Wenn man seine Schriften heute liest, denkt man, diese Bewertung sei antiquiert, doch die tatsächlichen Zahlen sprechen eine andere Sprache – immer noch. Die Aussage von Mary Shear:

„Feminismus ist die radikale Auffassung, dass Frauen Menschen sind.“

ist also nicht obsolet, sondern offensichtlich noch nicht in allen Köpfen in ihrer ganzen Tragweite angekommen. Zwar erkennt man Frauen durchaus als Menschen im Sinne des Menschseins, aber eben nicht im Sinne eines teilhabenden, gleichwertigen Menschen. Frauen sind eher „die Anderen“, die auch noch da sind, wenn die Welt verteilt ist unter denen, die eben „die Einen“ sind. Aus dieser Haltung leitet Simone de Beauvoir den Titel ihres Hauptwerkes ab („Das andere Geschlecht“) und das Buch ist aktuell wie eh und je.

Wir haben also noch viel zu tun, um auch zu den Einen zu gehören. Denn: Es steht uns zu. Alles andere spräche uns unsere Würde als Mensch ab. Wobei der Konjunktiv falsch gesetzt erscheint…


Interessantes Buch zum Thema Sichtbarkeit von Frauen im Literaturbetrieb:

Nicole Seifert: Frauenliteratur

Tagesgedanken: Haltung bewahren

Nach einer etwas nachdenklichen Phase, weil ich mit mir und dem Gefühl, (gewissen Ansprüchen) nicht zu genügen, haderte, kam ich zum Schluss, mir ein neues Motto zu setzen:

„Ich bin nicht auf dieser Welt, um so zu sein, wie du mich gerne hättest.“

Ich erkannte, dass diese Haltung die einzig heilende sein kann, denn ansonsten würde ich mich aufreiben an den von aussen gesetzten Ansprüchen und Forderungen, die bei Lichte betrachtet wenig mit mir persönlich zu tun haben, sondern mit verschiedenen Rollen, in die mich andere zwängen (wollen). Bei näherem Hinsehen, fiel mir auf, dass ich mit meinem Bestreben, es allen recht zu machen, zu gefallen, mich einzufügen, genau das mache, was von Frauen so oft erwartet wird und womit sie auch über Jahrhunderte klein gehalten wurden: Bloss nicht auffallen, nett lächeln, gefallen, sich kümmern, lieb und brav sein. Sonst wurde man schnell kritisch beäugt und mit netten Sprüchen wie „oho, die hat die Hosen an“, „Mannsweib“, „Emanze“ und ähnlichem bedacht (und das sind noch die harmlosen Formen).

Ich habe vor einiger Zeit (und damit eher spät in Anbetracht meines Alters) begonnen, mich mit Feminismus auseinanderzusetzen und erkannt, dass dies meine Themen sind, dass ich da einiges auch an eigenen Erfahrungen und Gedanken beizutragen habe. Ich war wenig erstaunt über die Reaktionen, die von Belächeln über abgedroschene Sprüche bis hin zu offener Ablehnung reichten. Und ich fing für mich an, Ausflüchte zu suchen und schlussendlich „gewichtigere Themen“ – im Nachhinein wohl, um die Konfrontationen zu umgehen und: gefälliger zu sein. Ich bin zum Schluss gekommen, dass es nun endlich reicht. Ich hoffe, in Zukunft mit einem gepflegten „scheiss drauf“ souveräner hinstehen und meine Sicht mit mehr Selbstvertrauen vertreten zu können. Wem das nicht passt, der kann das gerne äussern, ich muss lernen, damit umzugehen, frei nach Kant als mein eigener Gesetzgeber. Wem sonst sollte ich die Macht über mich und mein Denken und Tun übergeben?

Tagesgedanken: Freiheit

Als Simone de Beauvoir jung war, gab es einen zentralen Wunsch: Sie wollte frei sein (und schreiben). Der Wunsch entsprang wohl vor allem dem Umstand, dass sie sehr eingeschränkt aufwuchs, mit vielen Verboten und Geboten, von aussen aufgestellte Mauern gegen die eigene freie Entfaltung. Es gibt aber auch die eigenen Schranken, die, welche man sich selber errichtet. Oft haben sie ihren Ursprung in eingeprägten Mustern, die aus der Kindheit stammen, sie äussern sich in Stimmen, die einen selber geformt haben. Das meint Simone de Beauvoir wohl mit diesem Satz aus dem Buch „Memoiren einer Tochter aus gutem Hause“:

„Das Schlimmste aber, wenn man ein Gefängnis mit unsichtbaren Mauern bewohnt, ist, dass man sich den Schranken nicht bewusst ist, die den Horizont versperren.“

Was heisst Freiheit? Ich würde sie so definieren, dass mir ein Leben möglich ist, in welchem ich meine Fähigkeiten nach meinen Wünschen und Absichten entwickeln kann, mir die Möglichkeiten dazu offenstehen. Vielen Menschen auf dieser Welt ist das nicht möglich, sie haben keinen Zugang zu ausreichender Ernährung, Bildung, Gesundheit. Noch immer sind es mehrheitlich Frauen, die darunter leiden. Auch wenn es in unseren Breitengrade sicher besser ist, so finden sich auch hier immer noch strukturelle Benachteiligungen von Frauen, Ungleichbehandlungen, die die Freiheit massgeblich einschränkten. Simone de Beauvoir sah uns hier in der Pflicht:

„Der Frau bleibt kein anderer Ausweg, als an ihrer Befreiung zu arbeiten. Diese Befreiung kann nur eine kollektive sein.“

Es geht nicht an, nur für uns selber zu schauen, denn Unterdrückung ist selten ein individuelles Problem, sondern ein strukturelles. Es ist ein Problem, das in den Köpfen der Menschen sitzt und da ersetzt werden muss durch eines der gleichberechtigten Mitmenschlichkeit oder wie Hannah Arendt es ausdrückt: Weltgestaltung. Schön wäre es, wenn wir uns dieses verinnerlichen würden:

„Das eigene Leben hat einen Wert, so lange man dem Leben anderer einen Wert zuschreibt.“ (SdB)

Lohnungleichheit Frauen und Männer

Ich habe mich in der letzten Zeit in Ökonomie-Bücher gestürzt – eine neue Welt, die für mich zwar anstrengend war durch die doch trockenen Fakten, die mir aber auch ganz neue Einblicke ins Leben und in die Welt eröffnet haben. Mir wurde einmal mehr bewusst, wie wertvoll es ist, die eigenen Pfade ab und an zu verlassen und Neues zu entdecken. Ich kam zum Schluss, dass eigentlich ökonomische Zusammenhänge ganz viel von unserem (Zusammen-)Leben bestimmen, dass diese Zahlen und Fakten viel mehr sind als nur das. Sie bestimmen Lebensumstände.

Es gibt den Spruch, dass das, was einer hat, bestimmt, was einer ist. Das ist ein Denken, das man gerne ablehnt, weil man findet, den Mensch mache viel mehr aus als sein Besitz. Man liest den Ausspruch in der Weise, dass das Haben wichtiger ist als das Sein und ist darüber moralisch empört, da das Sein doch viel zentraler ist. Nur: Um sein zu können, muss man etwas haben, denn ohne die grundlegende Finanzierung dieses Seins wird dieses Sein nicht nur kein befriedigendes sein, sondern sogar ein leidvolles. Und das ist es in der heutigen Zeit immer noch für viele Menschen auf dieser Welt.

Befasst man sich intensiver mit der Thematik der Geldverteilung auf dieser Welt, sieht man, dass diese alles andere als gleich oder gerecht ausfällt. 1 % der Menschen am oberen Ende der Skala besitzt mehr als 50 % am unteren zusammen. Die Menschen am ganz unteren Ende haben von allem zu wenig, ihr Überleben ist auf menschenwürdige Weise oft nicht mehr möglich. Hier möchte ich eine andere Ungleichheit herausgreifen: Die Gehaltsunterschiede zwischen Männern und Frauen. Die Zahlen dazu habe ich aus dem Buch „Der Sozialismus der Zukunft“ des französischen Ökonomen Thomas Piketty. Es versammelt seine Kolumnen aus Le Monde aus den Jahren 2016 – 21.

Im Alter von 25 arbeiten beide Geschlechter in vergleichbaren Stellen, da beträgt der Einkommensunterschied zwischen 10 und 20 %. Im Laufe der Jahre werden Männer mehr befördert als Frauen, der Unterschied steigt an, liegt bei 50 Jahren bei 60 & und kurz vor der Rente bei 64 %. Das sind die Zahlen aus Frankreich im Jahr 2016, ich denke aber, viel hat sich da noch nicht geändert und auch in anderen Ländern wird es nicht komplett anders sein. Piketty hat berechnet, dass dies aber schon eine Verbesserung zu früher darstellt, und da, wenn die Entwicklung so weiter geht, wir im Jahr 2102 Lohngleichheit haben werden.

Ich frage mich, ob wirklich jemand mit einem Ansatz von Gewissen in einer solchen Welt leben möchte?! Oft heisst es, das patriarchalische System hänge noch in den Köpfen, diese Umstände seien den Ängsten der Männer vor Macht- und Jobverlust geschuldet, weshalb sie die alten Strukturen leben liessen. Ich kann (will) nicht glauben, dass jemand am Abend wirklich noch in den Spiegel schauen könnte, wenn er das bewusst so geplant hätte. Sind uns diese Zahlen zu wenig bewusst? Müssten wir uns mehr dafür einsetzen, diese Missstände aufzuzeigen? Wer? Wo? Auf welche Weise? Was können wir tun? Mir war das alles nicht in dem Ausmass bekannt (in Ansätzen aber schon). Das Thema will ich weiter verfolgen, vor allem auch, weil ich denke, dass mit dieser Ungleichheit noch ganz viele andere Probleme dieser Welt zusammenhängen, Piketty spricht in dem Zusammenhang auch von er weltweiten Armut sowie dem Klimaschutz.