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David Schnell
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31. August – 21. Oktober 2023
Galerie EIGEN + ART Berlin

„An jedem Tag soll der Mensch aus Ägypten gehen.“1

Als ich die neuen Arbeiten von David Schnell vorab im Atelier zu sehen bekam, fuhr mir dieses Diktum des Koschnitzer Lehrers ins Gemüt. Es kam diesmal wortlos zu mir. Es schlang sich hindurch, zwischen den allochromatischen Elementen und Formationen, die teils wolkig, teils geometrisch und fragmentiert in den Bildräumen aufsteigen und sich aus unbekannten, himmlischen Wettern in sie herabsenken. Was aber hat diese Aufforderung mit den Städten und Gegenden zu tun, die wir hier abgebildet zu finden glauben und die offensichtlich nichts mit Ägypten zu tun haben? Architektonisch besehen, wollen wir Europäisches erkennen, und von dort her hat David Schnell augenscheinlich seine Motive bezogen, ob aus dem Süden oder dem Norden des Kontinents, aus urbanen Ballungen oder ländlichen Lagen. Jedenfalls kann die Versuchung, hier geografische Einordnungen vorzunehmen, gar nicht so rasch abgetan werden wie sie im Ganzen recht nutzlos ist. Nutzlos dann, wenn sich zeigt, dass sich die Bildgegenstände gar keiner Verortung hingeben wollen. Nutzlos, wenn sich offenbart, dass keine Wand fest auf der anderen steht, Dächer nicht mehr auf tragenden Konstruktionen ruhen möchten, kein Strauch mehr seinen Halt im Erdreich findet, und dass dieses anmutige Erdreich selbst die feste Tiefe unter sich verloren hat. Auch die Himmelsfesten werden aufgetrennt, durchätzt von chemischen Reaktionen, die nur im gemalten Übertrag sichtbar sind, durchragt von schroffen Stelen, den dröhnenden Orgeln der Zeit. Selbst wenn uns David Schnell verraten würde, woher er seine Vorlagen genommen, wo er sie skizziert oder fotografiert hat, so ist das daraus Entstandene, das vom Künstler Wiedergegebene, doch ebenso sehr Figur, Zeichen und Metapher wie die Rede vom Auszug aus Ägypten. Wo befinden wir uns, wenn wir in diese Bildwerke hineinschauen? Noch in der Geschichte? In einer Erinnerung? In einem Gelände, das noch vor uns liegt? Wie durch metallografische Methoden oder Wärmebildkameras entblößt, erscheint mir hier dasjenige so wunderbar malerisch aufbereitet, was sich, unseren Augen sonst verborgen, zeitgleich in den von uns vereinnahmten und bewohnten Welträumen ereignet.

Als der berühmte Exodus aus Ägypten stattfand, aus dem Land, das reich, hochzivilisiert und wissenschaftlich in Bestform war, standen die Wohnungen wohl plötzlich ebenso verlassen, die Türen offen, die Gassen so still und die Flussufer, Anhöhen und Feldraine so menschenleer da wie auf David Schnells Bildern. Die Frage nach Parallelereignissen und Bildern, die nicht aus dem Fixierbad der handfesten Geschichte gezogen werden können, bedrängt mich fast jedesmal, wenn ich in die Bildbühnen von David Schnell hineingerate. Der von mir bemühte Auszug aus Ägypten wird in der hebräischen Bibel als historisches Ereignis vermerkt, er ist jedoch mitnichten geschichtswissenschaftlich abgesichert. Es wurden bis heute keine belastbaren archäologischen Beweisstücke, keine ägyptischen Quellen (die alles aufzeichneten) gefunden. Einige Bilder von David Schnell aber sind für mich eine solche Aufzeichnung. Allerdings, ebenso wie die Erinnerungsfigur vom Exodus, ohne konkreten historischen Marker. Mit „Ägypten“ ist nicht allein das nordafrikanische Land gemeint. Es ist eine Metapher im geistigen Sinn. Ihre Bedeutung ist: Der Mammon, die überschwängliche Fülle der materiellen Welt, die Goldwüste des Dämons, der uns durch irdischen Pomp und die Ankettung an ihn festsetzt. Eine üppige Stätte voller Fleischtöpfe und Paläste, auf das Trefflichste eingerichtet, mit elegantem Mobiliar, bemalten Wänden, poliertem Basalt und mystischen Maschinen. Die Tempel sind klarer Stein, die Fluchten und Anlagen wie Kristall, glitzernde Oden der Selbstgewissheit. Eine saturierte Zivilisation. Die lange Schmach der menschlichen Schwäche liegt endlich hinter uns. Et in Aegyptia ego.

Diejenigen aber, die ausziehen, abziehen, verschwinden, in ein anderes, versprochenes und ersehntes neues Land, heraus aus der Sklaverei, die dieses Welt-Reich erst groß gemacht hat, diese Abtrünnigen schaffen den Blick auf die Leere dieses Imperiums. Sie erzeugen die Erinnerungsfigur, bereiten ein ewiges Gedächtnis, welches den Abstand, die Differenz zur innerweltlichen Befangenheit aufrichtet. Gibt es ein neues Land? Vielleicht ein Land des Geistes? Wo ist es? Die Bilder von David Schnell geben mir keine Auskunft. Sie sind mir eher ein Ausdruck dieser Frage. Eine Frage nach der fragilen Stelle, nach dem Moment des Zerbrechens, des Aufbrechens. Aus der Welt selbst kommt man nicht heraus. Doch sie kann durchsichtig werden. „There is a crack in everything. That’s how the light gets in“.2 Das Licht in David Schnells Bildern drückt von überall her durch die Kulissen.

Doch aus dieser Wüste des Irdischen geht es in eine neue Wüste. Denn außerhalb der Sicherheit, außerhalb des Reiches gibt es erst einmal nichts als heißen Sand und dieses grelle Licht! Die bis an den Rand gefüllte, alte Welt wird plötzlich leer und fad. Das ägyptische Reich erscheint, von der hohen Abbruchkante des Niltales aus betrachtet, als großer Sarkophag (griech. sarkophágos: Fleischverzehrer). Man schafft sich Abstand, bringt sich auf Distanz, blickt auf die Welt herüber oder hinunter. Einmal aus Ägypten, aus der anhaftenden Knechtschaft der Materie aufgebrochen, steckt man nicht mehr völlig in ihr fest. Dazu gehört aber die brenzlige Frage: Wohin soll es denn eigentlich gehen? In das gelobte Land?

Es ist und bleibt das Unterscheidungsversprechen, die notwendige Bewegung zur Aufrechterhaltung von Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit. Der Auszug ist deswegen das wahre Bild zum (oder im) Falschen. Es wäre, denke ich, mehr als bedauerlich, ja sogar tragisch, fänden sich doch noch historische Beweise für den „Auszug aus Ägypten“. Die Metapher könnte so schwach werden, dass wir dieses entscheidende Bild der Differenz verlören. Wäre diese Denkfigur nicht vorhanden, wären wir womöglich auf ewig in Ägypten mumifiziert. Man muss diese Figur erzeugen, erzählen, denken, malen, um nicht in den Farbschichten der Geschichte festzukleben. Die Frage also, wohin man gehen soll, nichts weniger, gibt uns auch die Kunst, geben mir die Bilder von David Schnell zu sehen und zu denken auf.

Die Perspektiven in den Bildern von David Schnell haben sich verändert: Was einst der Blick vor sich sah, der von allen Raumkanten geführte, strenge Sog mitten in die strahlende Welt hinein, eine Ansicht aus dem zentralen Auge der Betrachtenden, das wird nun abgelöst durch eine Schau von oben hinab. Vom Turm, von der Pyramidenspitze, von einer am Himmel kreisenden, unerbittlichen Kamera? Eine dem menschlichen Blickwinkel enthobene Observation, wie sie die Maschinen vornehmen. Es ist der Blick des Engels der Geschichte. Und vor diesem Auge verwandeln sich die verlassenen Orte - wir selbst nehmen diesen nichtmenschlichen Blick hier ein - in Zustände, die den Grundwahrheiten von Raum und Zeit nicht mehr gehorchen. Das Gefüge entkleidet sich. Elemente gesellen sich dazu, verlieren ihre Dichte, wandeln sich um. Und: Je mehr sich unsere Augen den Oberflächen der bemalten Leinwand nähern, umso mehr entzieht sich das, was wir gerade noch als geometrisch organisiert wahrgenommen hatten. Wir geraten in luzide Untiefen und schwebende Schächte, aus denen die Erdanziehungskraft höchstselbst ausgezogen ist. Das architektonisch Bestimmte fügt sich nicht mehr, es schwindet oder vertieft sich in eigensinnig verlängerte, weit in den Raum hineingetriebene Fluchten und Kammern, die ihre Funktionen vor uns verbergen, sich im Zustand der Verlassenheit wie wucherndes Kristall gebärden. Es bilden sich reflektierende Flächen aus raumlosen Platten. Als leuchtende Elemente blättern sie von den Kubaturen ab, steigen und schweben einem Urstand oder einem Endknall entgegen, von dem keiner, der auszog, etwas wusste. Die Verbindungen innerweltlicher Ordnung sind gesprengt. Eine von Menschenhänden und der Schwerkraft erlöste, interferierende, gelockerte Materie. Wir sehen, dass sich in der Malerei von David Schnell „die unmittelbare Wirklichkeit der Dinge auflöst und ihre Elemente zur Verwirklichung [malerischer] Ziele verwendet werden – ohne Rücksicht auf irgendwelche Unantastbarkeiten...“ - genauso wie der Mensch am Ende der von ihm so bezeichneten Neuzeit „die unmittelbare Wirklichkeit der Dinge auflöst und ihre Elemente zur Verwirklichung seiner Ziele verwendet – ohne Rücksicht auf irgendwelche Unantastbarkeiten, wie sie sich aus dem früheren Menschen- und Naturbild ergaben.“3

Und so wie sich die städtischen Bauten, die großen Innenräume und sakralen Hallen ihrer Bestimmung entledigen, so lösen sie sich auch ab von der ihnen eingeprägten Strenge des Stils. Ein weiterer Exodus: Der Auszug des Raumes aus dem Kanon der Form. Die Abschälung vom Bau-Konzept erreicht Transformationsstufen, die sich, so wie die Formensprache der Architektur hin zur Moderne und ihrer Auflösung, der Zucht entziehen. Siedlungen entsiedeln sich selbst, Landschaften entrücken sich selbst. Die Morphologie gerät in einen chemisch zitternden Zustand, der zwar in seiner Ausgangskonstruktion noch erkennbar ist, doch es türmen sich neue Ordnungen auf: Eine neue Welt? Ein gelobtes Land? Oder nur die Verdampfung und Zersetzung der alten, bewohnbaren Erde? Die toxischen Farben, die sich im schillernden Licht schweigender Flusstäler verbeißen, die aufsteigenden und herabsinkenden Schläge der tönenden Turmaline, sie machen jeden Wunsch, wieder zurückzukehren, zum Alptraum - obwohl doch gerade eben noch Teppiche, Decken, Handtücher und Vorhänge zum Trocknen (?) aus den Zimmern gebracht wurden. Sie liegen als farbenfrohe Gedanken, vielleicht sogar als Erinnerungen an letzte Zärtlichkeiten, noch hier und da auf den Dächern. Als ob sie, Winkzeichen des Lebendigen und eines humorvoll gewendeten Aberglaubens, schnell noch - für ein göttliches Auge? - dort abgelegt worden wären.

Jetzt schon zerfasern, klirren und dehnen sich unsere Welträume - in denen wir uns weitschweifig verlustieren, oder duldsam ausharren, oder aus denen wir stets ausziehen - ebenso wie die tückischen Schwaden in David Schnells Bildern. Der Raum, so fühlt es sich für mich an, entlässt uns, da auch wir ihn verlassen haben. Die Erde stößt uns ab. Neue, von niemandem mehr beschreibbare Schönheit bricht an. Wir müssen jetzt ausziehen, ohne dass wir es selbst so gewollt haben. Ausziehen, ohne vom gelobten Land eine Ahnung zu haben? Es sirrt und dröhnt in den gemalten Lüften, die mir verdächtig sauerstoffarm vorkommen. Das Haus da am Fluss wird wohl kaum noch neue Sommergäste beherbergen, es brennt, weiß wie Eiweiß. Es brennt wie das Haus, von welchem Buddha seinen Schülern erzählte4 : Die Leute im glimmenden Haus fragen und stellen Scheinfragen, auch dann noch, als der Brand schon den Dachstuhl frisst. Wie es denn draußen wäre, fragen sie, ob es da auch fröhlich zuginge oder ob es nur langweilig wäre, ob es in der Wüste denn überhaupt genügend Badewasser gäbe? Im Niltal und in Berlin fließt noch Wasser. Doch es ist so heiß und trocken, die Inseln zwischen Berlin und Luxor brennen im Meer. Die Wimpel und Drachen steigen unbeobachtet und schnurlos empor, spiegeln jetzt das Mondlicht. Die Obelisken unserer Gedanken wanken. Kleine Zettel liegen auf den Gassen, voller Wissen, doch mehr ist uns nicht zu sagen - keine weitere Deutung, keine Botschaft, die nicht schon ausgerichtet wäre, ergeht an uns, von diesen ruhigen Abzeichen des Auszugs.

Bertram Haude, 2023

1 Rabbi Israel ben Schabtai Hapstein von Koschnitz, in: Martin Buber, Schriften zum Chassidismus, Kösel/ Lambert-Schneider, 1963

2 Leonard Cohen, „Anthem“, Album „The Future“, Colombia, 1992 (Thema aus der kabbalistischen Lehre des Isaak Luria)

3 Romano Guardini, Das Ende der Neuzeit, Werkbund-Verlag, 1950

4 Bertolt Brecht, Das Gleichnis des Buddha vom brennenden Haus, Gesammelte Werke, Suhrkamp,1967

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