Produktionsplanung, Lean Production

Schnittstellenmanagement bei kundenindividueller Produktion

Lesedauer:  7 Minuten

Bei der kundenindividuellen Produktion ist ein durchgängiger Informations- und Materialfluss entlang der gesamten Wertschöpfungskette eine besonders wichtige Erfolgsvoraussetzung. Schnittstellenprobleme im Informations- und Materialfluss führen zu Störungen bei den Prozessabläufen und wirken sich negativ auf die angestrebten Leistungen und Kosten der beteiligten Partner aus. Es ist daher erforderlich, Schnittstellen in den Informations- und Materialflüssen bei den relevanten Lieferanten, Produzenten und Abnehmern systematisch zu analysieren, zu planen, zu gestalten und zu überwachen. Ein integriertes Schnittstellenmanagement hilft, die Prozessperformance entlang der Supply Chain zu steigern und die Zielsetzungen der kundenindividuellen Produktion zu realisieren.

Unter kundenindividueller Produktion wird in der Regel die Herstellung von variantenreichen Erzeugnissen in größeren Stückzahlen verstanden, wobei die unterschiedlichen Kundenbedürfnisse meist durch eine konfigurierbare Produktkonzeption realisiert werden sollen. Dazu ist in der Praxis eine Vernetzung mehrerer an der Leistungserstellung beteiligten Unternehmen mit leistungsfähigen IT-Systemen zwingend erforderlich. Weiterhin ist eine koordinierte Produktionsplanung und –steuerung bei der Komponentenherstellung sowie der Montage der Produkte notwendig. Damit die dabei auftretende Komplexität zu beherrschen ist, werden in der Praxis häufig Plattformkonzepte, Gleichteile- und Postponementstrategien sowie die Modul- und Systembildung angewendet. Beispiele für Unternehmen, die kundenindividuelle Produkte in Serie herstellen und anbieten, sind z.B. in der PC- und Notebook-, Automobil- und Küchenmöbel-Industrie vorzufinden.

Winkler, Schnittstelle, Bild 1
Bild 1: Schnittstellenprobleme in der kundenindividuellen Produktion

Zur Realisierung der kundenindividuellen Produktion stellt auch die weltweite Zusammenarbeit mit verschiedenen Partnern, wie Zulieferern und Logistikdienstleistern und deren Integration in die auftragsbezogenen Leistungsprozesse, eine wichtige Voraussetzung dar [1]. Dies führt zu einem starken Anstieg der Schnittstellenanzahl und einer hohen Schnittstellenkomplexität. Zusätzlich vergrößert sich damit auch das Risiko, dass bei der arbeitsteiligen Zusammenarbeit beträchtliche Schnittstellenprobleme auftreten, wodurch die Versorgungssicherheit gefährdet wird, Fehler beim Produkt entstehen, erhöhte Herstell- und Logistikkosten anfallen und letztlich vereinbarte Liefertermine nicht eingehalten werden. Durch eine integrierte Analyse, Planung, Gestaltung und Überwachung der interorganisationalen Schnittstellen entlang der Wertschöpfungskette ist es möglich, die Prozessperformance stark zu steigern sowie die Zielsetzungen der kundenindividuellen Produktion zweckmäßig zu unterstützen [2].

Schnittstellenanalyse für die kundenindividuelle Produktion

Schnittstellen sind allgemein als Verbindungen von sozio-technischen Systemen anzusehen, die bestimmte Aufgaben bei der Leistungserstellung übernehmen und aufgrund der Arbeitsteilung, innerhalb und zwischen Unternehmen, entstehen [3]. Aufgrund einer gezielten Interaktion im Rahmen der kundenindividuellen Produktion, z.B. bei der Produktkonfiguration oder der Materialversorgung, findet zwischen diesen Systemen eine Übertragung, ein Austausch oder ein Zugriff auf bestimmte Güter oder Informationen über die Schnittstellen hinweg statt. Nur wenn diese Interaktionsprozesse an den Schnittstellen gezielt ablaufen können, ist ein reibungsloser Informations- und Materialfluss möglich. Andernfalls entstehen Schnittstellenprobleme [4].

Winkler, Schnittstelle, Bild 2
Bild 2: Interface Domain Analysis

Unter Schnittstellenproblemen werden Störungen oder Unterbrechungen verstanden, welche bei der Übertragung, dem Zugriff oder dem Austausch von Objekten zwischen den interagierenden Zulieferer, Produzenten und Abnehmer der kundenindividuellen Produkte entstehen. Diese führen meist zu unbefriedigenden betriebswirtschaftlichen Ergebnissen, z.B. erhöhten Kosten, reduzierter Flexibilität, Qualitätsproblemen oder zeitlichen Verzögerungen. Im Allgemeinen sind Schnittstellenprobleme in organisatorische, personelle, prozessuale, kulturelle und technische Schnittstellenprobleme zu unterteilen.

Zu den organisatorischen Schnittstellenproblemen zählen z.B. Komplexität, Wissensbarrieren, der Verlust der gemeinsamen Zielsetzung und schlecht definierte Zuständigkeiten bei den an der kundenindividuellen Produktion beteiligten Partnern. Unter personellen Schnittstellenproblemen werden Konflikte sowie Unsicherheit und Misstrauen bei der Zusammenarbeit verstanden. Prozessuale Schnittstellenprobleme sind häufig auf technische, organisatorische oder personelle Fehler zurückzuführen, wodurch Qualitäts- und Zeitprobleme auftreten. Zu den kulturellen Schnittstellenproblemen zählen Ausbildungsunterschiede sowie unterschiedliche Wert- und Orientierungsmuster in den Unternehmen. Unter technischen Schnittstellenproblemen werden Störungen in den Informationsflüssen, z.B. durch Kompatibilitätsprobleme der eingesetzten Software sowie in den Materialflüssen, beispielsweise bei den verwendeten Transportsystemen, verstanden. Die genannten Schnittstellenprobleme werden in Bild 1 anhand der kundenindividuellen Produktion von PCs überblicksmäßig dargestellt.

Ansätze für die Schnittstellengestaltung in der kundenindividuellen Produktion

Zur zielorientierten Gestaltung von Schnittstellen bei der kundenindividuellen Produktion sind die einzelnen Schnittstellen zu lokalisieren und zunächst unabhängig von Zielen oder Prozessabläufen abstrakt abzubilden und zu beschreiben. Dazu ist die Interface Domain Analysis zweckmäßig zu nutzen. In dieser Analyse werden die Eigenschaften und Funktionen der Schnittstelle auf mehreren Ebenen statisch und situationsunabhängig abgebildet. Die Interface Domain Analysis bildet damit die Basis für die weitere Schnittstellengestaltung. Bild 2 zeigt allgemein die Vorgangsweise bei der Durchführung der Interface Domain Analysis.

Zur gezielten Schnittstellengestaltung sind jedoch insbesondere auch die Aktivitäten der Schnittstelle bzw. die Transaktionen über die Schnittstelle hinweg zu betrachten. Dafür ist die Interface Activity Flow Map zu nutzen. Durch die Interface Activity Flow Map werden analytisch die verschiedenen Aktivitäten und Zustände an der Schnittstelle bestimmt. Zudem erfolgt eine Erhebung aller Aktivitäten unabhängig von der Aufgabenverantwortung und ihrer Relevanz [5]. Dabei werden die Aktivitäten als Rechtecke, die Zustände als Kreise und die Schnittstellenprobleme als gestrichelte Rechtecke dargestellt. Durch diese Erfassung wird eine lineare Abfolge an Aktivitäten und potentiellen Problemen in den Abläufen einer bestimmten Schnittstelle erstmalig sichtbar. Zur detaillierten Planung der Schnittstellenabläufe wird anschließend die Interface Operation Flow Map genutzt. In der unternehmerischen Praxis gibt es häufig unterschiedliche Varianten zur Erbringung der Aktivitäten an der Schnittstelle. Dabei sind oft auch verschiedene Ressourcen einzusetzen und Prozessvariationen durchführbar. Damit gelingt es Schnittstellenprobleme zu reduzieren oder sogar zu vermeiden (Bild 3) [6].

Winkler, Schnittstelle, Bild 3
Bild 3: Interface Activity Flow Map und Interface Operation Flow Map am Beispiel des Wareneingangs von PC Komponenten

Der Einsatz der vorgestellten Methoden führt zu einem besseren Verständnis der Abläufe und potentiellen Schnittstellenprobleme zwischen Zulieferer, Produzenten und Abnehmer. Zur anschließenden zielorientierten Schnittstellengestaltung stehen eine Reihe von Integrations- und Koordinationsinstrumenten zur Verfügung. Zur unternehmensübergreifenden Schnittstellengestaltung eignen sich insbesondere sogenannte „nicht-hierarchische“ und „informations- und kommunikationstechnische“ Schnittstellenmanagementinstrumente (Bild 4). Dies liegt daran, dass an den Schnittstellen häufig keine hierarchische Koordination der Abläufe möglich ist und die Informations- und Materialflussprozesse meist mit geeigneten IuK-Systemen gut zu unterstützen sind. Die nicht-hierarchischen Schnittstellenmanagementinstrumente werden in hierarchie-neutrale, hierarchie-ergänzende und hierarchie-ersetzende Instrumente unterteilt. Mit diesen Schnittstelleninstrumenten soll eine Stärkung der persönlichen, organisatorischen und/oder technischen Transferpunkte an den Schnittstellen ermöglicht werden.

Die hierarchie-neutralen Schnittstellenmanagementinstrumente basieren auf kultur- und individualorientierten Mechanismen und umfassen z.B. Anreizsysteme, Job Rotation sowie die Vorbildfunktion von Vorgesetzten. Zu den hierarchie-ergänzenden Schnittstellenmanagementinstrumenten zählen z.B. Teams, Projektgruppen oder Verbindungspersonen. Hierarchie-ersetzende Schnittstellenmanagementinstrumente hingegen umfassen z.B. Standardisierung durch Programme und Regeln, Simultaneous Engineering und Quality Function Deployment [7]. Weiterhin können Informations- und Kommunikationstechnologien wie, Workflow Applications, Electronic Data Interchange und das Internet als Instrumente genutzt werden, um Schnittstellenprobleme bei der kundenindividuellen Produktion zu reduzieren und/oder zu vermeiden [8].

Winkler, Schnittstelle, Bild 4
Bild 4: Ausgewählte Schnittstellenmanagementinstrumente für die kundenindividuelle Produktion.

Zusammenfassung

Bisher wurde der Schnittstellengestaltung und -überwachung bei der kundenindividuellen Produktion zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die Transaktionsprozesse zwischen Zulieferer, Produzenten und Abnehmer müssen an den Schnittstellen ohne Unterbrechung und fehlerfrei ablaufen, um gleichzeitig Kosten-, Zeit-, Qualitäts-, Flexibilitäts- und Servicevorteile zu erzielen. Wenn organisatorische, personelle, prozessuale, kulturelle oder technische Schnittstellenprobleme auftreten, führt dies zu einer Beeinträchtigung der Prozessperformance und der geplanten Kosten. Deshalb ist es für alle beteiligten Unternehmen erforderlich, ein integriertes Schnittstellenmanagement zu entwickeln und einzusetzen. Es sind damit alle relevanten Schnittstellen für die kundenindividuelle Produktion gemeinsam zu planen, zu gestalten und zu überwachen, um Schnittstellenprobleme frühzeitig zu erkennen und zu lösen.

Literatur:

[1] Piller, F. T.: Mass Customization, Wiesbaden 2006.
[2] Winkler, H./Kaluza, B.: Überlegungen zu einem integrierten Supply Chain Performance- und Risikomanagement, in: Vahrenkamp, R./Siepermann, Ch. (Hrsg.): Risikomanagement in Supply Chains, Berlin 2008, S. 319-335.
[3] Lawrence, P. R./Lorsch, J. W.: Differentiation and Integration in Complex Organizations, in: Administrative Science Quaterly, 12(1967)1, S. 1-47.
[4] Hauschildt, J. : Innovationsmanagement, 3. völlig überarb. und erw. Auflage, München 2004.
[5] Rasmussen, J./Pejtersen, A. M./Goodstein, L. P.: Cognitive Systems Engineering, New York et al. 1994.
[6] Jenkins, D. P./Stanton, N. A./Walker, G. H./Salmon, P. M./Young, M. S.: Applying cognitive work analysis to the design of rapidly reconfigurable interfaces in complex networks, in: Theoretical Issues in Ergonomics Science, 9(2008)4, pp. 273-295.
[7] Herbst, C.: Interorganisationales Schnittstellenmanagement, Frankfurt am Main 2002.
[8] Specht, G.: Schnittstellenmanagement: Marketing und Forschung & Entwicklung, in: Herrmann, A./Hertel, G./Virt, W./Huber, F. (Hrsg.): Kundenorientierte Produktgestaltung, München 2000, S. 265-285.


Tags: Prozessoptimierung Schnittstellengestaltung Schnittstellenprobleme

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