Die Spreißel im Hirn der Überlebenden

Normalerweise gebe ich auf sogenannte Blurbs, also die Stimmen von Leuten aus dem Literatur- oder angrenzenden Betrieben, die zur Bewerbung noch nicht erschienener Bücher genutzt werden, nicht wahnsinnig viel und Radio Sarajevo, das neue Buch von Tijan Sila, dessen Coming-of-age Roman Krach! mir der ehrlichste und beste der Gattung ist, hätte ich eh lesen wollen, doch als ich gesehen habe, was Jagoda Marinić beisteuerte, war klar, das wird heftig, aber sehr gut. Da ich bereits zwei Bücher von Sila gelesen habe, ihm auf Instagram folge, wusste ich ungefähr, was ich zu erwarten hatte. Sein zweites Buch „Die Fahne der Wünsche“ ist mir bis heute ein noch ungelöstes Rätsel, nicht weil es schlecht war, bewahre nein, sondern weil mir Hintergrund fehlt(e). Radio Sarajevo hat mir nun einiges an Hintergrund und Verständnis beschert, manchmal auf die harte Tour, aber das ist genau richtig so. Denn auch Sila hat einiges auf die harte Tour erfahren müssen und war damals gerade mal 10 Jahre alt. Ich war zu dem Zeitpunkt bereits Anfang 20 und hatte keinen Plan davon, was da auf dem Balkan abging, noch hatte ich den Ansporn, mich schlau zu machen. Im Nachhinein und aus der heutigen Sicht auf den Krieg in der Ukraine sträfliche Ignoranz.

Viele von uns Menschen, die in Friedenszeiten aufgewachsen sind, denken zu wissen, was Krieg bedeutet. Viele von jenen, gerade in Deutschland, haben Großeltern oder – wie ich – Eltern, die den Zweiten Weltkrieg als Kinder erlebt haben. Ihre Erzählungen waren für mich eindeutig ein Grund dafür, mich in meiner Jugend Jahr für Jahr an den Ostermärschen, die dem Frieden dienen sollten, zu beteiligen. Die Westalliierten hatten Westdeutschland finanziell mehr als nur unter die Arme gegriffen, es ging der Masse der Bürger gut, die Demokratie war am Leben (zumindestens hatten wir so ein Gefühl) und deshalb protestierten wir gegen die Aufrüstung durch zum Beispiel die Stationierung der Pershing 2 Raketen. Meine Jugend war geprägt vom Kalten Krieg und dem Damoklesschwert des berühmten roten Knopfes, der mindestens Europa, aber auch die ganze Welt in Brand setzen konnte. Deshalb war ich wohl immer der naiven Meinung, man könne jegliche Situation, die zumindest nicht durch religiösen Fanatismus hervorgerufen wurde, diplomatisch ohne Waffen klären. Weit gefehlt, wie mir heute klar ist. Schade nur, dass es dazu den Angriffskrieg der Russen gegen die Ukraine brauchte, um zu dieser späten Einsicht zu kommen. Tatsächlich hätte ich es doch schon in den 1990er Jahren merken können, was passiert, wenn ein großer Staatenbund in seine Einzelteile zerfällt.

Als die ersten Bomben fielen, lag ich bäuchlings auf dem Schlafzimmertreppich und hörte Radio – der Sender spielte David Bowies Suffragette City, als plötzlich ein metallisches Kreischen die Luft zerriss und eine Explosion unsere Vorhänge aus den Schienen blies. Ihr Druck war so gewaltig, dass mir schwarz vor Augen wurde, als hätte ich mich zu lange kopfüber vom Turnreck hängen lassen.

Erste Sätze, die mich trafen wie eine Explosion aus dem Nichts. Denn so scheint das mit Kriegen zu sein, die sich vielleicht schon länger angekündigt hatten, deren Vorzeichen man aber einfach nicht wahrhaben möchte. Man lebt Tag für Tag sein Leben und hofft, dass es zu keiner Konfrontation kommt, auch nach den ersten Bomben. Ich denke, wer Kinder hat, kennt dieses Verhalten, Dinge, die schwer erklärbar sind oder die Katastrophen heraufbeschwören könnten, vor den Kindern herunterzuspielen, um sie nicht zu ängstigen. Menschlich absolut nachvollziehbar für mich, ob es richtig ist, ich weiß es nicht. Kinder leben im Hier und Jetzt, sind anders im Denken, was Konsequenzen angeht, nehmen aber häufig viel mehr wahr, als Erwachsene sich eingestehen, vor allem Stimmungen. Das zeigt Sila ganz deutlich, indem er die Tage nach dem ersten Bombenangriff nachzeichnet. Sein Vater versucht die Lage weniger bedrohlich darzustellen und verbreitet Optimismus, was das Ende der Bomben angeht, aber daran, dass er am Tag nach den ersten Bomben beim Bäcker nicht nur Brötchen sondern auch Plunderteilchen holt, bevor er Sila und dessen kleinen Bruder aus dem Keller mit in die Wohnung holt, merkt er, dass dieser Optimismus nicht auf stabilen Beinen stehen kann. Auch das Nervenkostüm des gerade mal 10 Jährigen hat unter der Nacht im schützenden Keller gelitten. Es ist – verständlicher Weise – dünn geworden, der Vater jedoch kann ihn zunächst beruhigen. Kurz darauf jedoch schlagen weitere Raketen in der Nähe ein. Sila schildert diese Situation so genau und eindringlich, dass man sie direkt vor Augen hat:

Weitere Einschläge folgten und sie flogen dichter als gestern. Etwas pfiff an unserem Balkon vorbei – ich glaubte ein schwarzes Reiskorn in der Luft gesehen zu haben, und eins der weißen Hochhäuser, auf die man von unserer Küche aus blickte, ging mit einem seltsamen Zirgen in flammen auf. Der Einschlag trag das Novi-Grad Krankenhaus in unserer Nähe.Diese Detonation ließ die Wände unserer Wohnung schaudern. In ein paar Monaten würden wir gelernt haben, das Kaliber des Geschosses an der Heftigkeit des Einschlags zu erkennen […]

Nach mehreren Monaten des Bombardements, begannen sich die Menschen, so auch Sila, an die so plötzlich veränderte Lebenswirklichkeit zu gewöhnen, obwohl sie natürlich schrecklich war. Und schon kurz zu Beginn des Buches scheint durch, was dieser Krieg, eigentlich alle Kriege – mit den Menschen machen: Sie lassen sie sich an die Qual gewöhnen, die sie nicht mehr loslässt, der Krieg nistet sich in ihren Leben ein, tötet Gefühle ab, was notwendig ist, um all das einigermaßen zu überleben, doch die Spreißel, die der Krieg in den Köpfen, in den Gehirnen, der Überlebenden hinterlässt, verändern alles.

Dass der Mensch sich an jede Qual gewöhnt, stimmt nämlich. Es stimmt jedoch auch, dass es eine Qual ist, sich wieder zu entwöhnen. Also verbrachte ich Jahre damit, meine Gefühle niederzukämpfen und mir dabei einzureden, dass ich auf diese Weise meine Willenskraft unter Beweis stelle.

Diesen Weg sind so viele Menschen, die Kriege oder andere traumatische Erlebnisse erleben mussten, gegangen. Viele haben sich dazu entschieden, alles wegzupacken und nicht an der Büchse der Pandora zu rühren – schlussendlich öffnet sie sich aber häufig kurz vor dem Tod von alleine. Ich habe das schon oft erlebt, dass Traumata kurz vor dem Lebensende wieder aufbrechen. Mein Vater, der als 16 Jähriger das sog. „Tausendjährige Reich“ hätte verteidigen sollen, es aber vorgezogen hatte, bei der ersten Gelegenheit, die sich ihm in den letzten wirren Kriegstagen bot, mit ein paar Kumpels zu flüchten (wobei sie einen leider durch eine Granate verloren), hat sich als über 80 Jähriger bei mir am Telefon dafür entschuldigt, dass er sich selbst früher aus dem Krankenhaus entlassen hatte, weil es ihm wieder besser ging. Dabei fielen die Worte „weißt Du, ich war in diesem elenden Trakt, den die Nazis hingestellt haben. Das habe ich nicht ausgehalten, ich musste da weg.“ Mein Vater hatte Zeit seines Lebens eine positive Einstellung, hat erzählt von den Erlebnissen, sie in die richtige Verbindung bringen können im Nachhinein und half jedem, der seine Hilfe benötigte. Er war für mich einer der geistig stabilsten Menschen, der immer nach Lösungen suchte, nicht schnell jammerte, eine Balance zwischen etwas Durchziehen, Zähne zusammenbeißen und auch mal alles hinschmeißen lebte, die ich als unglaublich resilient gegenüber Schicksalsschlägen erlebte. Das half mir oft ungemein. Und dennoch schlummerte da etwas, das ihn niemals verließ – das merkte ich in diesen paar Worten am Telefon.

Kinder, wie Sila es damals eines war, überstehen solche Situationen wie er sie beschreibt, indem sie einfach sind, vieles wird ausgeblendet, das hat das Gehirn gut eingerichtet. Und so zieht Sila die nächsten Jahre, die von immer wiederkehrenden Bombaredements, Mangel an fast allem und andereseits einer (gefährlichen) Freiheit mit seinen Freunden durch das Plattenhochhausviertel, das sich binnen kurzer Zeit komplett verändert hat. Dabei schreibt er nie von etwaigen Gründen für diesen Krieg – denn welch anderen kann es geben als unbegründeten Hass oder die wahnwitzige Idee einer Ethnie, die andere wolle ihr Schlechtes, um dann diesem drohenden Unheil ebenso zuvorzukommen, indem man das, was man für sich vermeiden will, anderen antut – sondern zeigt, wie man darin überlebt.

Die letzte Hürde ist die Flucht nach Deutschland, wohin die Familie 1994 wegen der Sprachkenntnisse der Mutter (sie ist Germanistin) geht.

»Man reist nicht nach Deutschland«, sagte mein Vater später, als wir hundert Kilometer vor Zagreb auf dem grasüberwuchterten Parkplatz einer tankstelle rasteten.»Man kämpft sich nach Deutschland und schleppt sich halb tot über die Grenze.«

Ich habe eine Theorie, was Schriftsteller angeht: Einige, für mich sind es die Besten, schreiben nicht, weil sie das wollen. Sie schreiben, weil in Ihnen ein Roman, eine Erzählung, eine Geschichte steckt, die unbediingt raus muss. Häufig ist dieses Buch dann nicht ihr erstes, sondern braucht Zeit, weil die Ereignisse, die es füllen nur unter (körperlichen) Schmerzen niedergeschrieben werden können. Die Bücher davor sind sicherlich genauso gut und wichtig, bereiten uns Leser und die AutorInnen selbst aber darauf vor, das erzählen zu können, was erzählt werden muss, wenn die Zeit dafür reif ist. Radio Sarajevo ist in meinen Augen genau ein solches Buch. Es ist kein im landläufigen Sinn schönes Buch, denn es erzählt ja vom Krieg. Aber wie Sila das macht, ist mutig, offen, schonungslos, ehrlich und verdammt gut. Er bewahrt seine Leserschaft sogar davor, die Lektüre frühzeitig abzubrechen, indem er kleine wunderbare Szenen einbaut, die manchmal sogar sehr witzig sind. Das ist große Kunst und ich bin sehr dankbar dafür, dass es Zeit für dieses Buch war und Sila sich dem gestellt und damit den Fokus der Kriegserlebnisse darauf gelegt hat, wie es uns ganz normalen Menschen ginge, müssten wir einem Bombardement stand halten. Hier stimmt einfach alles vom vorangestellten Zitat von Thelonios Monk bis hin zum Epilog:

Jeder von uns trank einen Schluck, dann sagte Sead:
»Du kannst es dir wahrscheinlich nicht vorstellen, aber der Krieg hat niemals aufgehört.«
»Du irrst dich,« sagte ich. »ich weiß genau, was du meinst.«

Radio Sarajevo von Tijan Sila erscheint heute, am 21.08.2023 im Hanser Verlag. Für mehr Informationen zum Buch über Doppelklick auf das im Beitrag abgebildete Cover oder direkt auf der Verlagsseite.

2 Gedanken zu “Die Spreißel im Hirn der Überlebenden

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  2. Hallo Bri,
    danke für Deine Radio-Sarajewo-Sendung zu den schrecklichen Vergangenheiten und Gegenwarten sowie eigene biografische Einsprengsel samt Romantheorie.
    Herzliche Grüße aus Nürnberg
    und friedliche zukünftige Wünsche
    Bernd

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