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Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Gutachten des Sachverständigenrats für Verbraucherfragen“
POLICY BRIEF Onlinehandel im S pannungsfeld von Verbraucherschutz und Nachhaltigkeit HANS W. MICKLITZ NIKOLA SCHIEFKE CHRISTA LIEDTKE PETER KENNING LOUISA SPECHT-RIEMENSCHNEIDER NINA BAUR
Zitierhinweis für diese Publikation: Micklitz, H. W., Schiefke, N., Liedtke, C., Kenning, P., Specht-Riemenschneider, L., Baur, N. [2020]. Onlinehandel im Spannungsfeld von Verbraucherschutz und Nachhaltigkeit. Veröffentlichungen des Sachverständigenrats für Verbraucherfragen. Berlin: Sachverständigenrat für Verbraucherfragen. Berlin, Dezember 2020 Veröffentlichungen des Sachverständigenrats für Verbraucherfragen ISSN: 2365-919X Herausgeber Sachverständigenrat für Verbraucherfragen beim Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz Mohrenstraße 37 10117 Berlin Telefon: +49 (0) 30 18 580-0 Fax: +49 (0) 30 18 580-9525 E-Mail: info@svr-verbraucherfragen.de Internet: www.svr-verbraucherfragen.de Gestaltung: Atelier Hauer + Dörfler GmbH © SVRV 2020
POLICY BRIEF Onlinehandel im S pannungsfeld von Verbraucherschutz und Nachhaltigkeit HANS W. MICKLITZ NIKOLA SCHIEFKE CHRISTA LIEDTKE PETER KENNING LOUISA SPECHT-RIEMENSCHNEIDER NINA BAUR Hans W. Micklitz Peter Kenning Sachverständigenrat für Verbraucherfragen (SVRV), Sachverständigenrat für Verbraucherfragen Europäisches Hochschulinstitut in Florenz und (SVRV), Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Finland Distinguished Professor, University Helsinki Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Nikola Schiefke Louisa Specht-Riemenschneider Geschäftsstelle des Sachverständigenrats für Sachverständigenrat für Verbraucherfragen (SVRV), Verbraucherfragen (SVRV), Bundesministerium der Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV), Berlin Nina Baur Christa Liedtke Sachverständigenrat für Verbraucherfragen (SVRV), Sachverständigenrat für Verbraucherfragen (SVRV), Institut für Soziologie der Technischen Universität Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie, Berlin Folkwang Universität der Künste in Essen Anmerkungen Die Sprache in diesem Text ist grundsätzlich geschlechterneutral gemeint. Auf eine durchgehende Nennung der Geschlechter wurde zugunsten der besseren Lesbarkeit verzichtet.
2 Dank Der Sachverständigenrat möchte sich bei Frau Dr. J utta Kemper (Unterabteilungsleiterin im BMJV), Herrn Dr. Thomas Weber (Leiter des für Nachhaltig- keit zuständigen Referats im BMJV) und der Leiterin der Geschäftsstelle des SVRV, Frau Barbara Leier, LL.M. (Duke University) für die wertvollen Anregungen und Diskussionen bedanken, sowie bei Herrn Dr. Björn Asdecker (Otto-Friedrich-Universität Bamberg) für die Überlassung relevanter Forschungsergebnisse der For- schungsgruppe Retourenmanagement.
3 Mitglieder und Mitarbeitende des SVRV Mitglieder des SVRV Prof. Dr. Peter Kenning (Vorsitzender) Prof. Dr. Christa Liedtke Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, Leiterin der Abteilung „Nachhaltiges Produzieren insbesondere Marketing, an der Wirtschaftswissen- und Konsumieren“ am Wuppertal Institut für Klima, schaftlichen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Umwelt, Energie und Professorin für Nachhaltigkeit Düsseldorf im Design, Fachbereich Industrial Design an der Folkwang Universität der Künste in Essen Prof. Dr. Louisa Specht-Riemenschneider (Stellvertretende Vorsitzende) Prof. Dr. Dr. h. c. Hans W. Micklitz Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Professor für Wirtschaftsrecht am Robert Schuman Informations- und Datenrecht an der Rechts- und Centre für Advanced Studies des Europäischen Hoch Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen schulinstituts in Florenz und Finland Distinguished Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Professor, University Helsinki Prof. Dr. Nina Baur Sven Scharioth Leiterin des Fachgebiets Methoden der empirischen Bereichsleitung Marktbeobachtung und Mitglied Sozialforschung am Institut für Soziologie der der Geschäftsleitung im Verbraucherzentrale Technischen Universität Berlin Bundesverband e. V. Susanne Dehmel Prof. Dr. Dr. h. c. Gert G. Wagner Rechtsanwältin und Mitglied der Geschäftsleitung Max Planck Fellow am MPI für Bildungsforschung von Bitkom e. V. in Berlin, Research Associate beim Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft in Prof. Dr. Veronika Grimm Berlin und Senior Research Fellow bei der Längs Inhaberin des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre, schnittstudie Sozio-oekonomisches Panel (SOEP) insbesondere Wirtschaftstheorie, an der Rechts- und am DIW Berlin Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich- Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Mitarbeitende des SVRV Leiterin der Geschäftsstelle: Wissenschaftlicher Stab der Geschäftsstelle: Barbara Leier, LL.M. (Duke University) Dr. Christian Groß Sarah Sommer, M.A. Dr. Patrick Weber
4 Executive Summary Immer mehr Verbraucherinnen und Verbraucher inte- Der Umsatzanteil des Onlinehandels betrug 2019 be- ressieren sich für die Bedingungen, unter denen Kon- reits 10 Prozent des gesamten Einzelhandelsumsat- sumgüter und Dienstleistungen entstehen. Sie möchten zes in Deutschland. Absolut liegt er derzeit bei 72,6 möglichst nachhaltig konsumieren. Gleichzeitig wün- Mrd. Euro. Mehr als 80 Prozent der Deutschen im Al- schen sie sich aber auch einen ungestörten, möglichst ter zwischen 14 und 69 Jahren kaufen online ein. Alle sorglosen Konsum. Daraus entstehen Konflikte, die Prognosen unterstellen ein weiteres Wachstum dieser nicht nur gesellschaftlich diskutiert werden, sondern Vertriebsform. Mit der steigenden Bedeutung des On- sich auch in rechtlichen Problemen widerspiegeln. linehandels steigt aber auch die Anzahl der Retouren. Denn während Nachhaltigkeit bislang im Umweltrecht Circa 12 Prozent aller bestellten Artikel und sogar ca. verankert ist, finden sich im Verbraucherrecht hingegen 45 Prozent der online bestellten Textilien und Schuhe nur wenige, erste Ansätze. Die daraus resultierende wurden im Jahr 2018 von den Verbrauchern retourniert. Problematik eines auf den Vertragsschluss konzen Die Gesamtkosten der Branche für die Retouren liegen trierten Verbraucherrechts in Zeiten einer zunehmenden bei geschätzten 5,46 Mrd. Euro. Dies entspricht in etwa Bedeutung des nachhaltigen Konsums soll im vorlie- dem jährlichen Bruttogehalt von 138.000 Arbeitneh- genden Papier an einem Beispiel veranschaulicht wer- mern. Ein zentraler Grund für diese hohe Summe ist, den: der Retourenproblematik im Onlinehandel. dass Verbraucher binnen 14 Tagen ab Erhalt, also physi- scher Entgegennahme der Ware, den Vertrag grundlos widerrufen können und im Anschluss den Verkaufspreis und in der Regel die Versandkosten von den Unterneh- men zurückerhalten. Meistens übernehmen die Unter- nehmen sogar die Rücksendekosten.
5 Eine holistische Betrachtung aller Regelungen entlang Bei der Suche nach dem Weg in eine, so widersprüch- der Produktzyklen von der Produktion bis zur erhofften lich es klingen mag, nachhaltige Konsumgesellschaft Wiederverwertung zeigt, dass die nicht im Mittelpunkt sind die Verantwortlichkeiten der Unternehmen, des stehenden Phasen weit vor und nach Vertragsschluss Gesetzgebers und des Verbrauchers neu auszutarie- national und international unterschiedlichen recht- ren. Gefordert ist eine Verantwortungsübernahme al- lichen Anforderungen unterliegen. Für den Verbrau- ler Beteiligten. Der SVRV diskutiert das Für und Wider cher ist es derzeit nahezu ausgeschlossen, sich über möglicher Wege zur Förderung des nachhaltigen Kon- die Regeln einen Überblick zu verschaffen und vor al- sums: Anreizsysteme, Befähigung zu einem verantwor- lem herauszufinden, unter welchen Bedingungen die tungsbewussten Handeln (sogenanntes Boosting oder im Onlinehandel gekauften Produkte hergestellt und Nudging), Besteuerung von Ressourcen, Selbstver- transportiert werden sowie ob und in welcher Form sie pflichtungen, Einführung einer Kostentragungspflicht in den Produktkreislauf zurückgeführt werden. für Retouren von mangelfreien Produkten, technologi- sche Lösungen zur Reduzierung von Retouren und die Ein Ausbau des bisherigen Verbraucherrechtssys- Einführung eines Lieferkettengesetzes. Wofür auch im- tems hin auf einen nachhaltigen Konsum lässt sich mer man sich entscheiden wird, die Transformation der allerdings nicht allein mit weiteren Informations- und Wirtschaft im Hinblick auf Nachhaltigkeit bedarf einer Aufklärungspflichten bewältigen. Notwendig ist eine umfassenden politischen und gesellschaftlichen Dis- Verzahnung der umweltrechtlichen mit den verbrau- kussion, um die Voraussetzungen für die notwendigen cherrechtlichen Regeln. Diese Herkulesaufgabe möch- gesetzlichen Änderungen zu schaffen. Diese Transfor- te der SVRV mit diesem Policy Brief anstoßen. mation sollte dabei nicht nur auf einer supranationalen Ebene stattfinden, sondern auch auf nationaler Ebene vorangetrieben werden. Keywords SUSTAINABLE DEVELOPMENT GOALS / VERBRAUCHERRECHT / NACHHALTIGKEIT / VERBRAUCHERVERANTWORTUNG / ONLINEHANDEL / RETOUREN / PRODUKTZYKLUS / INFORMATIONSPFLICHTEN / UMWELTRECHT / LIEFERKETTEN / MENSCHENRECHTE
6 ONLINEHANDEL IM S PANNUNGSFELD VON VERBRAUCHERSCHUTZ UND NACHHALTIGKEIT Inhalt I. Problemaufriss.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 II. Empirische Grundlagen des Onlinehandels. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Umsatz, Produktgruppen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2. Retouren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 III. Onlinehandel im Spiegel der rechtlichen Regelungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1. Verbrauchervertragsrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 a) Vertragsschluss. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 b) Widerruf des Vertrages. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 c) Zwischenfazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2. Rechtsgrundlagen von der Produktion zur Verwertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 a) Rohstoffanbau/-gewinnung und Anforderungen an die Produktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 b) Vorvertragliche Phase, Werbung und vorvertragliche Informationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 c) Transport, insbesondere von der Produktion zum (Groß-)Händler und vom (Groß-)Händler zum Kunden. . . . . . . . . . . . . . . 23 d) Nachvertragliche Phase, insbesondere After-Sales-Promotion und Nutzung des Produkts.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 e) Ende der Nutzung durch den Kunden, insbesondere Entsorgung und Wiederaufbereitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 f) Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 IV. Lösungsansätze für eine nachhaltige Entwicklung des O nlinehandels. . . . . . . . . . . . . . . . 30 1. Ausgangslage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 a) Verteilung von Verantwortlichkeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 b) Regelungsebenen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2. Ansätze für eine nachhaltige Entwicklung des Onlinehandels. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 a) Für und Wider einer Kostentragungspflicht.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 b) Für und Wider technologischer Lösungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 c) Für und Wider einer Selbstverpflichtung zum Zwecke der Reduktion des „Free Shipping Effect“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 d) Technologische Ansätze für eine nachhaltigere Produktauswahl in Onlineshops.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 3. Ansätze für eine n achhaltige Entwicklung des Verbrauchervertragsrechts.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 4. Ansätze außerhalb des V erbrauchervertragsrechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 a) Lieferkettengesetz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 b) Beteiligung der Hersteller an den Kosten des Recyclings. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 c) Reduzierung des Primärrohstoffverbrauchs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 V. Schlussbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
I. Problemaufriss 7 I. Problemaufriss Verbraucherpolitik und Umweltpolitik, Verbraucher- ten des Verbrauchervertragsrechts in den §§ 312 ff., recht und Umweltrecht, so wie sie heute die politische 355 ff. und 310 Abs. 3 BGB sowie die bei den einzel- Diskussion bestimmen, sind nahezu zeitgleich in den nen Vertragstypen angefügten Sonderregeln wie zum 60er Jahren des vorherigen Jahrhunderts entstanden. Beispiel §§ 474 ff., 491 ff. und 651a ff. BGB. Darüber VerbraucherRECHT geht zurück auf die Verbraucher- hinaus finden sich eine Vielzahl hoheitlich-präven- botschaft von Präsident Kennedy im Jahre 1962.1 Die tiver Verbraucherschutzvorschriften im öffentlichen Politik und die Ideologie finden ihren Ausdruck in der Recht,2 so zum Beispiel Regelungen zu verbraucher- Consumer-Rights-Rhetorik, der Idee, dass Verbrau- schützenden Standards und deren Durchsetzung im cher mit Rechten ausgestattet werden müssen, um sich Verwaltungsrecht, wie unter anderem im Arznei- und in der Konsumgesellschaft behaupten zu können. Die Lebensmittelrecht. Das nicht eben konfliktfreie Ver- letzten sechs Jahrzehnte haben einen erheblichen Aus- hältnis zwischen Verbraucherrecht und Umweltrecht bau der Verbraucherrechte mit sich gebracht und das ist spätestens seit den 90er Jahren hinlänglich be- Verbraucherrecht zu einem eigenständigen Rechts- kannt.3 Verbraucherrecht und Verbraucherpolitik ba- gebiet ausgeformt. Eine allgemeingültige Definition sieren ursprünglich auf der Idee eines ungestörten für den Begriff des Verbraucherrechts ist bisher nicht Konsums. Verbraucherrechte sollen garantieren, entwickelt worden und es ist nicht trennscharf ab- dass defekte Produkte repariert oder ausgetauscht grenzbar von anderen Rechtsgebieten. Dies insbeson- werden können. Widerrufsrechte im Direktvertrieb, dere deshalb, weil es in Deutschland kein eigenstän- im Fernabsatz, im Timesharing und im Verbraucher- diges Gesetzbuch für Verbraucherrecht gibt, sondern kredit bieten dem Verbraucher die Möglichkeit, un- die jeweiligen Vorschriften verteilt sind auf viele unter- erwünschte Verträge aus der Welt zu schaffen, und schiedliche Gesetze. Selbst in den EU-Mitgliedstaaten, sei es aus dem Grund, dass der Verbraucher nach in denen es ein eigenes Verbrauchergesetzbuch gibt, Abschluss des Vertrages ein besseres, weil billigeres wie etwa Frankreich und Italien, fehlt es an einer kon- Angebot gefunden hat. zeptionellen Durchdringung eines eigenständigen und für sich selbst stehenden Verbraucherrechts. Über- Umweltpolitik und Umweltschutz sowie Umweltrecht wiegend handelt es sich um eine Gesetzessammlung, stehen für ein anderes Weltbild und verfolgen eine an- die in ihren Grundfesten auf den Regeln der nationalen dere Intention. Hier geht es um den Schutz der Na- Zivilgesetzbücher aufruht und ohne dieses Referenz- tur vor möglichen Risiken der Produktions- und Kon- system nicht auskommt. sumgesellschaft.4 Sowohl das Umwelt- als auch das Verbraucherrecht sind Querschnittsmaterien, deren Eine gewisse Orientierung bietet die Definition von Regelungen bisher weitestgehend ohne Bezug zuein- Verbraucherschutzgesetzen in § 2 Abs. 1 UKlaG als ander erlassen wurden. Der Aufstieg der Nachhaltig- „Vorschriften […], die dem Schutz der Verbraucher keit als Politikkonzept – seit dem Brundtland-Bericht dienen“. Nach allgemeinem Verständnis zählen zum 1987 bis zur Formulierung und Verabschiedung der Verbraucherrecht insbesondere die Sondervorschrif- internationalen Nachhaltigkeitsziele 2015 (der Agenda 1 Schrader/Liedtke/Lamla/Arens-Azevêdo/Hagen/Jaquemoth/Kenning/Schmidt-Kessel/Strünck, Verbraucherpolitik für nachhaltigen Kon- sum – Verbraucherpolitische Perspektiven für eine nachhaltige Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft, 2013; Hippel, Verbraucherschutz, 1. Auflage 1974 mit dem Abdruck der für die Entstehungsgeschichte einschlägigen Dokumente. 2 Schmidt-Kessel, Lehrbuch Verbraucherrecht, 2018, S. 6. 3 Krämer/Micklitz/Tonner, Law and diffuse Interests in the European Legal Order, Liber amicorum Norbert Reich, 1997. 4 Vgl. hierzu auch Liedtke/Baur/Dehmel/Grimm/Kenning/Micklitz/Specht-Riemenschneider/Scharioth, Nachhaltigen Konsum und Nachhaltige Pro- duktion ermöglichen – Empfehlungen für die Verbraucherpolitik, 2020; Europäische Kommission, Aktionsplan für Nachhaltigkeit in Produktion und Verbrauch und für eine nachhaltige Industriepolitik, 2008.
8 ONLINEHANDEL IM S PANNUNGSFELD VON VERBRAUCHERSCHUTZ UND NACHHALTIGKEIT 2030) – hat an der fehlenden gedanklichen und sys- müssen beide Rechtsmaterien zusammengedacht, tematischen Verbindung beziehungsweise fehlenden aufeinander abgestimmt und miteinander verknüpft gegenseitigen Durchdringung beider Rechtsmaterien werden. Das verlangt, sich mit den Grenzen der nichts Grundlegendes geändert. Damit soll nicht ge- Rechterhetorik auseinanderzusetzen. Diejenigen Ver- sagt werden, dass es nicht Ansätze im Verbraucher- treter der Rechtswissenschaft, die die Ansätze der recht gibt, die Umwelt und die Nachhaltigkeit in den Verknüpfung im geltenden Recht suchen beziehungs- Bestand der bisherigen Regeln einzubauen.5 Je nach- weise in einer Weiterentwicklung und Überformung dem, welchen Stellenwert man den Nachhaltigkeits- des Verbraucherrechts mit umweltpolitischen Ziel- zielen beimisst, ist jedoch weit mehr erforderlich als setzungen, plädieren für einen Ausbau der Verbrau- die Fortschreibung der bisherigen „Ansätze“ hin auf cherrechte hin auf die Sicherstellung eines nachhalti- nachhaltige Konsumentenrechte. Das gesamte über gen Konsums.9 In einer solchen Perspektive hängt die Jahrzehnte hinweg immer weiter ausgebaute Ver- Realisierung von Nachhaltigkeit an der Wahrnehmung braucherrecht ist neu zu durchdenken.6 und Ausübung der Verbraucherrechte. Die Rechte rhetorik wird sozusagen in die Nachhaltigkeit hinein Nachhaltigkeit wird als Transformationsziel im Sinne verlängert. Für eine wirkliche Veränderung ist mehr der Agenda 2030 verstanden. Eine nachhaltige Ent- erforderlich. Der Verbraucher muss aktiv Verantwor- wicklung ist demnach eine Entwicklung, die den Be- tung für seinen Konsum übernehmen, ebenso wie dürfnissen der jetzigen Generation dient, ohne die der Hersteller für die nachhaltige Produktion und der Möglichkeit künftiger Generationen zu gefährden, ihre Gesetzgeber für die Bereitstellung eines rechtlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Sie hat drei Dimensio- 7 Rahmens.10 Im Verbraucherrecht hat weder die Ver- nen – eine wirtschaftliche, eine soziale und eine ökolo- antwortung des Verbrauchers noch die des Herstellers gische. Obwohl seit 2015 mit den internationalen Nach- für einen nachhaltigen Konsum bislang Niederschlag haltigkeitszielen konkrete politikbereichsübergreifende gefunden. Eine der Kernfragen der Verbraucherpoli- weltweit anerkannte Ziele vorliegen (die sogenannten tik ist, wie verantwortliches und verantwortungsbe- SDGs: Sustainable Development Goals), sind diese bis- wusstes Verbraucherhandeln im Sinne der Nachhal- her allenfalls rudimentär in die verbraucherrechtlichen tigkeit gefördert werden kann. Hier rücken weithin Grundlagen eingeflossen. Die SDGs 8 „Nachhaltiges diskutierte Anreizsysteme (Boosting11 und Nudging12) Wirtschaftswachstum“ und 12 „Nachhaltige Produk- in den Vordergrund, die oftmals mit der Verbraucher- tions- und Konsummuster sicherstellen“ nehmen die bildung und Bildung für Nachhaltige Entwicklung ver- nachhaltige Entwicklung der Produktions- und Kon- knüpft werden.13 sumgesellschaft in den Blick. 8 Die SDGs adressieren das Verbraucherrecht an keiner Das Schlagwort vom nachhaltigen Konsum ist auf Stelle direkt. Als Querschnittsmaterie liefern sie je- den ersten Blick ein Oxymoron, das nach tradiertem doch Ansatzpunkte für eine Neuausrichtung des Ver- Verständnis einander entgegengesetzte Ziele zu ver- braucherrechts.14 Das Bundesministerium der Justiz einen sucht. Will man diesen Widerspruch auflösen, und für Verbraucherschutz (BMJV) als in erster Linie 5 Überblick bei Halfmeier, Nachhaltiges Privatrecht, AcP 215, 2016, S. 717. 6 Micklitz, Squaring the Circle? Reconciling Consumer Law and the Circular Economy, in: Keirsbilck/Terryn (Hrsg.), Consumer Protection in a Circular Economy, 2019, S. 321. 7 Diese Definition geht insbesondere zurück auf den Brundtland-Bericht der UN World Commission on Environment and Development. 8 Liedtke et al., Nachhaltigen Konsum und Nachhaltige Produktion ermöglichen, 2020. 9 Tonner/Gawel/Schlacke/Alt/Bretschneider, Gewährleistung und Garantie als Instrumente zur Durchsetzung eines nachhaltigen Produktumgangs, VuR 2017, S. 3; sowie im Europäischen Kontext: Keirsbilck/Terryn (Hrsg.), Circular Economy and Consumer Protection, 2019. 10 Schrader et al., Verbraucherpolitik für nachhaltigen Konsum, 2013, S. 6 und 17. 11 Max-Planck-Institut (MPI) für Bildungsforschung, Stärkung von Entscheidungskompetenzen („Boosting“). 12 Sunstein/Reisch, Trusting Nudges: Toward a bill of right for nudging, 2019; Umweltbundesamt (UBA), Nudge-Ansätze beim nachhaltigen Konsum: Ermittlung und Entwicklung von Maßnahmen zum „Anstoßen“ nachhaltiger Konsummuster, 2017. 13 Schrader et al., Verbraucherpolitik für nachhaltigen Konsum, 2013, S. 17. 14 Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV), Ressortbericht Nachhaltigkeit, Bericht zum Stand der Integration der Rechts- und Verbraucherpolitik in die Agenda 2030, 2020.