Ein lustiges Experiment: Warum Arztpraxen auf alte Zeitschriften setzen sollten und stille Stunden im Supermarkt möglich sind – Autorengespräch mit Armin Nagel zu seinem neuen Buch „Schöner Warten“ #Notizzettel

Ursula Wintgens ist Deutschlands lustigste Supermarktchefin. „Ich bin Mitglied ihrer Facebook-Fangruppe, wo sie mehrere Tausend Kundinnen und Kunden mit viel Humor bei Laune hält. Sehr gerne warte ich an der Kasse ihres Supermarktes in Bensberg“, schreibt Armin Nagel in seinem Buch „Schöner Warten: Über den Umgang mit einem unvermeidlichen Zustand“, erschienen im Lübbe-Verlag.

„Rudi Carell meinte einmal: ‚Wenn du ein Ass aus dem Ärmel holst, musst du es vorher in den Ärmel hineinstecken.‘ Mit welchen Assen überrascht ihr eure Kunden beim Warten?“, fragt Armin Nagel. Antwort von Ursula Wintgens: „Wenn jemand an der Kasse hustet, bekommt er sofort ein Hustenbonbon überreicht, und wir wünschen gute Besserung. Am Muttertag haben wir einen Wecker an der Kasse. Immer wenn der klingelt, bekommt eine Mutter eine Blumenampel und die Väter am Vatertag ein Fünf-Liter-Fässchen Bier. Am Welttag des Schlafes machen wir Videos oder Fotos für unsere Facebook-Fangruppe. Da siehst du, wie die Mitarbeiter schlafend auf dem Kassenband liegen, hinter der Fleischtheke oder in den Regalen. Wir weisen darauf hin, dass es heute beim Bezahlen länger dauern kann, weil alle müde sind.“

„Bei euch im Supermarkt gibt es eine ‚Stille Stunde‘. Was ist das?“

„Die ist dienstags von 16–18 Uhr. Da schalten wir die Beschallung und einen Teil der Beleuchtung aus, fahren das Piepen an den Kassen runter und verräumen keine Ware. Das ist ein Service für Menschen, die Probleme haben, wenn in ihrer Umwelt zu viel los ist, die sich wohler fühlen, wenn alles leiser ist. Ich selber merke in diesen zwei Stunden, wie angenehm es ist, wenn du ein bisschen runterkommst.“

Weitere Ideen:

„Was uns vorschwebt, ist ein ‚Plauderbänkle‘, eine Bank, die wir im Markt aufstellen, wie so ein kleiner Minitreffpunkt. Da können sich die Leute hinsetzen und plaudern, auch mal eine Stunde mit mir oder dem Bürgermeister“, erläutert Wintgens. Sehr gute Idee.

„Frühmorgens begrüße ich die ersten Kunden mit ‚Guten Morgen, Sonnenschein‘ von Nana Mouskouri und abends als Rausschmeißer spielen wir Reinhard Meys ‚Gute Nacht, Freunde, es wird Zeit für mich zu geh’n‘.“

Exkurs:

Industriekapitäne, Verbandsfunktionäre und Politiker misstrauen immer noch dem Trend zur Wissens- und Service-Ökonomie. Ihr Standardargument seit Jahrzehnten: „Vom Haare schneiden alleine kann eine Volkswirtschaft nicht leben“. Diese Industrielogik erinnert ein wenig an eine Bemerkung von Adam Smith in seinem 1776 veröffentlichten Werk „The Wealth of Nations“: „Die Arbeit einiger der respektabelsten Berufsgruppen – Kirchenmänner, Anwälte, Ärzte – ist unproduktiv und ohne Wert“. Das waren die alten Zeiten der Dampfmaschine. Ein Blick in die Statistik belegt, dass der Konsum von Dienstleistungen in Deutschland inzwischen rund 69 Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausmacht. Die Wertschöpfungsketten in unserem Land werden schon lange nicht mehr von der industriellen Produktion getaktet. Der ehemalige Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit hat das gut in Szene gesetzt: Alleine mit Partys, Tourismus, Vergnügung, Theater oder Unterhaltung macht Berlin über ein Drittel des Umsatzes. Rund 21.000 Unternehmen stellt die Kulturwirtschaft: TV-Produktion, Design-Ateliers, Softwarefirmen oder Musiklabels. Mit 100.000 sozialversicherten Stellen ist dieser Sektor inzwischen so groß wie die kümmerlichen Reste der Berliner Industrie.

Das soll hier kein Industrie-Bashing sein. Wichtig: Die Produktion und der Absatz der Güter müssen durch intelligente Service-Konzepte angereichert werden.

Die amerikanische Soziologin Shoshana Zuboff beschreibt diese Entwicklung treffend als „Support-Ökonomie“. „Diese Tendenz lässt sich mittlerweile auch an den privaten Konsumausgaben ablesen. Seit 2003 geben die Deutschen zum ersten Mal mehr Geld für Dienstleistungen als für Produkte aus. Wir verabschieden uns vom Produkt-Paradigma und schwenken ein in eine Epoche, in der immaterielle Dienstleistungen die Märkte antreiben werden. Allerdings müssen Dienstleistungen in Zukunft mit der gleichen Akribie konzipiert und ‚gebaut’ werden wie die technologischen Innovationen des industriellen Zeitalter“, fordert Birgit Mager, Professorin für Service Design in Köln.

Die Dienstleistungsökonomie könne nur mit mehr Forschung und Entwicklung vorangebracht werden. „Deutsche Unternehmen der verarbeitenden Industrie investieren pro Jahr und Mitarbeiter im Schnitt rund 3.215 Euro in Forschung und Entwicklung. Dienstleister dagegen bringen es im Vergleich dazu gerade mal auf 67 Euro“, moniert Mager. Das Service-Design müsse einem Drehbuch folgen aus Sicht des Kunden. Wenn allerdings Führungskräfte im öffentlichen Dienst oder der Wirtschaft 70 Prozent ihrer Arbeitszeit mit dem Rücken zum Kunden verbrächten, sei es kein Wunder, dass bei Dienstleistungen häufig der Erlebnischarakter fehle.

Dazu ein Interview mit Professorin Mager im Buch von Armin Nagel:

„Was kann ich als Service-Designer von der Kunst lernen?“ Mager: „Service-Design ist eine Choreografie von Menschen, Technologien und Prozessen. Das ist ästhetisch, kunstvoll, ein Tanz durch Zeit und Raum, der im besten Fall überraschende Momente hat.“

Lustiges Experiment in einer Arztpraxis:

„Am Ende des vierwöchigen Experiments waren knapp die Hälfte aller ausgelegten Hefte weg, und zwar fast ausschließlich die neueren Exemplare. Der tägliche Verlust betrug 1,32 Stück. Die Wahrscheinlichkeit, dass Qualitätspresse überlebte, war deutlich höher: Alle Ausgaben des Time Magazine waren zum Schluss noch vorhanden. Die aktuellen Klatschtitel mit mehr als fünf Prominenten auf dem Cover gingen weg wie Botox auf der Schönheitsfarm: Am Ende des Monats war nur noch ein Heft übrig. Fazit: Arztpraxen legen nicht absichtlich alte Magazine aus, sondern die neuen verschwinden. Um Verluste zu minimieren, sollten Ärzte in ihren Wartezimmern nur noch uralte Qualitätspresse zum Lesen anbieten. Oder am besten gleich hochwertige, anspruchsvolle Bücher, wie dieses hier.“

Warteschleifen-Musik – eine unendliche Geschichte.

Die meistgespielte Warteschleifenmusik der Welt stammt nicht von den Beatles, sondern von Darrick Deel, wie die amerikanische Journalistin Sara Corbett für die Radiosendung This American Life recherchierte. Deel komponierte sein 5,40 Minuten langes „Opus No. 1“ 1989 mit seinem Freund Tim Carleton.

Oder:

Flugzeuge im Bauch, im Blut Kerosin, kein Sturm hält sie auf, unsere Air Berlin. Die Nase im Wind, den Kunden im Sinn und ein Lächeln stets mit drin.

„Lieber Anrufer. Herzlich willkommen in der Hotline von Familie Nagel. Dein Anruf ist uns wichtig. Leider sind alle Familienmitglieder derzeit im Gespräch. Wir sind aber gleich für dich da. Das nächste freie Familienmitglied ist für dich reserviert. Willst du mit Armin Nagel sprechen? Wähle bitte die Eins. Willst du mit Imke, Jakob

oder Till Nagel sprechen? Wähle bitte die Zwei. Ein Hinweis in eigener Sache: Der kleine Till schreibt demnächst einen Deutschtest. Deshalb werden alle Gespräche mit ihm zu Trainingszwecken aufgezeichnet. Piep …“

Ein Telefonat mit Reiner Calmund.

Fünf Minuten im Fußball können sich lang oder kurz anfühlen, je nachdem ob ein Team führt oder hinten liegt. Was waren die längsten fünf Minuten in deinem Fußballleben? „Im WM-Endspiel 2014 war ich auf einem Kreuzfahrtschiff und habe das Finale mit 1500 Menschen gemeinsam gesehen. In der Nachspielzeit der Verlängerung habe ich mich auf einer Toilette eingeschlossen, weil meine Nerven nicht mehr mitspielten. Es war eine schlimme Warterei, bis wir endlich jubeln konnten.“

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