Aussageverweigerung und Verhörmethoden - Broschüre Rote Hilfe e.V.

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Bundesvorstand der Roten Hilfe e.V. Bundesarbeitstreffen »Aussageverweigerung« (Hrsg.)

Aussage Verweigerung

Thema:

und verhörmethoden

Rote Hilfe e.V.


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Als Angler liebe ich die Stille und die Schweigsamkeit der Fische Auch am Haken hört man sie nie quaken Funny van Dannen (»Der Fisch«, Album Basics)

V.i.S.d.P. M. Krause über Bundesvorstand der Roten Hilfe e.V.

Postfach 3255

37022 Göttingen

Druck Eigendruck im Selbstverlag Stand September 2007 Nachdruck, auch auszugsweise, ausdrücklich erwünscht (bitte Belegexemplar zusenden).


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inhalt Vorweg • 04

3 … Verhalten als Zeugin / Zeuge Polizei • 23 Staatsanwaltschaft /RichterIn • 23

1 … Polizei und Staatsanwaltschaft Nichts sagen – aber auch nichts unterschreiben! • 06 Im alltäglichen Konflikt mit der Polizei • 07 Während einer Freiheitsentziehung • 08 Hausdurchsuchung • 09 Nach einer Festnahme • 09 Ermittlungen gegen Beschuldigte/Angeklagte • 09

Vor Gericht • 23 L Verhalten als ZeugIn der Verteidigung • 24 L Das Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 der Strafprozessordnung • 24 L Das Aussageverweigerungsrecht nach § 52 StPO • 24 Erzwingungshaft (›Beugehaft‹) als Zwangsmittel • 26 L Venceremos! • 28 L Aussage konsequent verweigert – was erwartet eine/n im Knast? • 21

Im Fall einer drohenden DNA-Analyse • 10 Im Verhör • 10

In Haft • 12

4 … Verhalten bei Anquatschversuchen des Verfassungsschutzes

Vorladungen • 12

Der Verfassungsschutz • 32

Vorbereitet sein! • 13

Anquatschversuch • 32 L Wer wird angesprochen? • 32 L Wie verhalte ich mich,

›Entlastende‹ und ›harmlose‹ Aussagen • 11

2 … vor Gericht Aussageverweigerung als BeschuldigteR vor dem Haftrichter • 15

wenn ich angesprochen werde? • 33 L Grundsätzliches zum Umgang mit dem Verfassungsschutz • 35

Situation als BeschuldigteR/AngeklagteR vor Gericht • 16 Die Rolle von Aussagen in laufenden Verfahren • 16

5 ... Fazit

Aussageverweigerung und die Anforderungen an RechtsanwältInnen • 16

Es gibt keine harmlosen Aussagen! • 37

Es gibt keine entlastenden Aussagen! • 37

Es gibt keine banalen Fragen! • 38

EntlastungszeugInnen • 17 Politisch geführte Prozesse • 17 Aussageverweigerung in Schnellverfahren / Hauptverhandlungshaft • 19 L Wie verhalte ich mich, wenn ein Schnellverfahren auf mich zukommt? • 20 Umgang mit der Jugendgerichtshilfe • 20

Begriffserklärungen • 39 Literatur + Quellen • 44 Die Rote Hilfe e.V. • 45 Mitglied werden! • 48 Anhang: Dokumentation • 49


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Vorweg ••• Die Erkenntnis, dass jede fortschrittliche politische Bewegung, die gegen die herrschenden Zustände kämpft, über kurz oder lang mit den Repressionsorganen des Staates konfrontiert wird, ist so alt wie die Geschichte dieser Bewegungen selbst. Denn Proteste und Widerstand – etwa gegen Kriegspolitik, Abschiebungen, die kapitalistische Globalisierung oder Atomtransporte – werden auch immer wieder dazu führen, dass Menschen nicht nur gegen diese Missstände angehen, sondern sie als Resultat aus dem kapitalistischen System begreifen und damit auch beginnen, die bestehenden Machtverhältnisse zu hinterfragen. Ebenso wie aber Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse zwangsläufig aus der vorherrschenden kapitalistischen Profitwirtschaft resultieren, sind auch die Angriffe des Staates auf diejenigen, die sich der bestehenden Ordnung entgegenstellen, systemimmanent. So ist auch die Linke in der BRD seit eh und je mit Einschüchterungsversuchen, Hausdurchsuchungen, (politischer) Strafverfolgung und Knast konfrontiert. Um den Repressionsorganen des Staates keinen Einblick in die eigenen Strukturen zu gewähren und sich selbst und andere vor Repression zu schützen, galt in der Linken lange Zeit strömungsübergreifend das »Anna und Arthur halten’s Maul«-Prinzip. Seit einigen Jahren aber nehmen wir als Rote Hilfe zur Kenntnis, dass viele Menschen bei der Polizei Aussagen machen, um entweder ihre eigene ›Unschuld‹ zu beweisen oder weil sie eingeschüchtert sind. Auch bei der Staatsanwaltschaft wird geredet, vor Gerichten werden Zeugenaussagen gemacht. Beispielhaft hierfür sind sowohl die Einlassungen im Berliner Verfahren gegen mutmaßliche Mitglieder der Revolutionären Zellen (03/2001–03/2004), als auch Aussagen, die im Zusammenhang mit den Anti-Globalisierungsprotesten in Göteborg oder Genua (2001) gemacht wurden. Doch auch nach lokalen Aktionen gegen

Naziaufmärsche, Bildungsreform o. ä. sehen sich Anti-Repressionsgruppen immer häufiger damit konfrontiert, dass zu dem Zeitpunkt, an dem jemand zur Beratung kommt, der /die Betroffene sich bereits zur Sache eingelassen und Aussagen gemacht hat. Dann ist das Kind quasi schon in den Brunnen gefallen. Gefördert wird ein solches Verhalten von Gruppen die einen »kreativen Umgang mit Polizei und Justiz« propagieren und damit von Repression Betroffenen das Gefühl vermitteln, die Polizei mit harmlosen Aussagen im Verhör ›austricksen‹ zu können. Aber: Es gibt keine ›harmlosen‹ Aussagen! Jede Äußerung hilft der Polizei bei ihren Ermittlungen, entweder gegen dich oder gegen andere. Scheinbar ›entlastende‹ Aussagen können entweder andere belasten, oder der Polizei Tipps geben, nach weiteren Beweisen gegen dich zu suchen oder sie zu erfinden. Deshalb: Bei Polizei und Staatsanwaltschaft konsequente Aussageverweigerung! Der Trend sich bei der Polizei, der Staatsanwaltschaft oder vor Gericht zur Sache einzulassen zeigt, dass Wissen und Bewusstsein über den richtigen Umgang mit Polizei und Justiz nicht selbstverständlich sind. Das liegt vor allem daran, dass die Linke in ihrer Vielfältigkeit eher über lose als verbindliche Strukturen verfügt und damit eine generationsübergreifende Vermittlung bestimmter Grundsätze in der Regel nicht stattfindet. Deshalb muss das Thema Aussageverweigerung ein permanenter Bestandteil der politischen Arbeit sein. Nur wenn wir diesen Grundsatz kontinuierlich an die neuen GenossInnen weitergeben, können wir uns und unsere Strukturen schützen. Die vorliegende Broschüre soll ein Beitrag hierfür sein. Sie soll aufzeigen welche Rechte wir als BeschuldigteR oder ZeugIn gegenüber Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichten haben, welche Konsequenzen eine Aussageverweigerung haben kann und warum es trotzdem richtig ist, die Klappe zu halten.


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1 ... Polizei und Staatsanwaltschaft


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••• Grundsätzlich empfiehlt es sich, mit PolizeibeamtInnen nur das allernotwendigste zu reden (Verlangen nach Anwaltstelefonat, Toilettengang etc.) bzw. am besten einfach durchgängig zu schweigen. Es empfiehlt sich dringend, jeden Kontakt auf eine ausschließlich formale Ebene zu ziehen, das heißt z.B. sich nicht duzen zu lassen und die BeamtInnen zu siezen. Der Polizei gegenüber besteht lediglich die Verpflichtung, »Angaben zur Person« zu machen. Das sind: • Name, ggf. Geburtsname • (Melde-)Adresse • Familienstand (z.B. »ledig«) • Staatsangehörigkeit • allgemeine Berufsbezeichnung (z.B. »Angestellte«, »Student«). Diese Angaben kannst du natürlich verweigern, nur wird den PolizistInnen damit ein Vorwand gegeben, dir Fingerabdrücke abzunehmen, dich zu fotografieren und zur Identitätsfeststellung festzuhalten. Generell ist die Verweigerung der Personalien eine Ordnungswidrigkeit und kostet ein paar Hunderter Bußgeld. Auch wenn dir Sachen vorgeworfen werden, mit denen du gar nix zu tun hast, möglicherweise auch Sachen, die du nie tun würdest – halte bitte trotzdem die Klappe. Was dich entlastet, kann jemanden anderes belasten. Hat von zwei Verdächtigen eine/r ein Alibi, bleibt der /die andere übrig. Auch Informationen darüber, was du nicht getan hast, helfen dem Staatsschutz, ein Gesamtbild gegen dich und andere zu konstruieren. Zu schweigen ist nicht nur ein Gebot der Solidarität gegenüber anderen und der Vernunft im Hinblick auf ein eventuell anstehendes eigenes Strafverfahren. In einer solchen Situation ist es darüber hinaus auch schlichtweg am einfachsten, am bequemsten und am schmerzlosesten, von vorneherein den VernehmerInnen klar zu machen, dass du umfassend die

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Aussage verweigerst. Wenn sie merken, dass du auf ganz ›unverfängliche‹ Fragen – vielleicht auch widerwillig – noch eingehst und antwortest, werden sie ihre Chance wittern und auch dann gnadenlos weiterbohren, wenn du auf andere Fragen schon nicht mehr antworten willst: Sie werden keine Ruhe geben, solange du überhaupt auch nur auf das Gespräch eingehst. Völlig anders ist die Situation, wenn du unmissverständlich klar machst, dass du die Aussage verweigerst: Auf jede, aber auch jede Frage Schweigen oder eintönig wie eine kaputte Schallplatte wiederholen: »Ich verweigere die Aussage!«. »Wollen Sie eine Zigarette?« »Ich verweigere die Aussage!« »Regnet es draußen?« »Ich verweigere die Aussage!« Keine Angst, niemand wird dich für blöd halten, auch wenn dein Gegenüber so tun wird. Er /sie wird im Gegenteil sehr schnell kapieren, dass es dir ernst ist, dass du nicht zu übertölpeln bist und genau weißt, was du tust. Das heißt für dich auf jeden Fall erstmal raus aus der Verhörmühle und im besten Fall, dass du nach Hause gehen kannst.

Nichts sagen – aber auch nichts unterschreiben! Du bist nicht verpflichtet, Beschlagnahmeprotokolle, Verhörprotokolle usw. zu unterschreiben. Nichts unterschreiben heißt, nicht zu bestätigen was dir angeblich gehört oder was du gesagt oder getan haben sollst. Auch nichts »zur Kenntnisnahme« unterschreiben! Im Zweifelsfall werden solche Angaben nur gegen dich verwendet. Falls du beschlagnahmte Gegenstände zurückhaben möchtest, kannst du dich immer noch später bzw. nach Rücksprache mit deiner Anwältin oder deinem Anwalt darum kümmern, wenn die Risiken besser abschätzbar sind.


... Polizei und Staatsanwaltschaft

Ein blick in die Fachliteratur ... »Trotz entscheidender Fortschritte der Kriminaltechnik zur Optimierung des Sachbeweises hat der Personalbeweis nicht an Bedeutung verloren. Insbesondere zur Erforschung des subjektiven Tatbestandes hat er nach wie vor große Bedeutung. Dazu sind Aussagen des Beschuldigten direkt oder aber auch Aussagen, die er gegenüber Zeugen gemacht hat, eine wichtige Erkenntnisquelle.« (aus Brockmann/Chedor, Vernehmung – Hilfe für den Praktiker, Hilden 1999)

Im alltäglichen Konflikt mit der Polizei Die meisten von euch werden die häufigsten Erfahrungen mit Polizei und Repression auf Demonstrationen machen – um hier gut vorbereitet und geschützt zu sein, empfiehlt es sich: • die Nummer des Ermittlungsausschusses (EA) zu notieren • auf Durchsagen der Demo-Leitung zu achten und • sich möglichst innerhalb seiner Bezugsgruppe zu bewegen – es hilft im Falle eines Falles ungemein, von Menschen umgeben zu sein, die du kennst! • kein Alkohol und keine Drogen vor und während der Demo, du brauchst einen klaren Kopf und gefährdest sonst dich und andere. Dabei gibt es vielfältige Situationen, in denen die Gefahr besteht, Informationen preiszugeben. Am Rande von Kundgebungen und Demonstrationen, bei Vorkontrollen und bei Alltagseinsätzen wie z. B. Verkehrskontrollen – immer wieder ist ein sorgloser Umgang mit den polizeilichen Einsatzkräften zu beobachten. Fröhliche Plaudereien,

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politische Diskussionen, aber auch Versuche, die PolizistInnen zu verarschen, sind einfach unangebracht und gehen nach hinten los. Beispiel Vorkontrolle: Die bei einer Vorkontrolle offensichtlich scherzhaft geäußerte Bemerkung »Wir wollen zum Winterschlussverkauf« – über die die BeamtInnen ebenfalls lachten – fand Eingang in den polizeilichen Bericht über den Vorgang und wurde vom erstinstanzlichen Gericht als Täuschungsmanöver interpretiert, das die wahren Absichten verschleiern sollte. Neben den Verhörsituationen nach einer Festnahme oder Vorladung versuchen die Ermittlungsbehörden über vielfältige Anquatschversuche an Informationen zu kommen. JedeR kennt sie wohl, die ›Deeskalationsbeamten‹, die mittlerweile bei jeder größeren Demo aufkreuzen und nett ihre Flugis verteilen. Und während den einen in Arbeitsteilung das Prügeln und Dreschen überlassen wird, labern die anderen dich voll: Demo und so sei ja ein gutes Recht, der Zweck legitim, aber bitte ohne Gewalt usw. usf. ... und dann, so nebenbei: »Von welcher Schule seid ihr denn?«, »Wie viele seid ihr denn?«, »Wohin geht’s denn?«. Leider fallen immer noch zu viele auf diese Masche rein, aber mach dir nichts vor: Es handelt sich hier um psychologisch besonders geschulte PolizistInnen, die die erhaltenen Informationen sammeln und auswerten. Und nur darum geht es: Informationen! Informationen! Und die sollten sie von dir nicht bekommen. Nichts spricht dagegen, sich ein Flugblatt zu sichern bevor ein Argloser darauf reinfällt, aber rede nicht mit ihnen! Denn auch wenn kein Ermittlungsverfahren läuft, du nicht gerade festgenommen wurdest usw. ist es ratsam, sich einen bewussten Umgang mit der Polizei anzugewöhnen, wobei das Prinzip der »Aussageverweigerung« eine gute Richtschnur ist, denn alles was bei Polizei und Staatsanwaltschaft gesagt wird, kann gesammelt und als Beweismittel


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in einen zukünftigen Prozess eingeführt werden. Niemand ist gezwungen, Polizei und Staatsanwaltschaft bei ihrer ›Arbeit‹ auch noch zu unterstützen! Auch untereinander empfiehlt es sich, in Anwesenheit der Polizei keine Plaudereien zu führen – nicht darüber, wo man solche Kontrollsituationen schon mal erlebt hat, ob die anwesenden Polizeikräfte freundlicher/unfreundlicher, schlauer/dümmer usw. usf. als anderswo sind – denn all das werden diensteifrige BeamtInnen bei Bedarf vermerken und evtl. gegen euch verwenden. Auch Anspielungen von Seiten der Polizei auf die gleiche regionale Herkunft oder auf ›gemeinsame‹ Überzeugung und ›Betroffenheit‹ (»... wir sind doch auch gegen Nazis.«) und damit einhergehende ›Verbrüderungsangebote‹ bzw. Drohungen sind besser zu ignorieren. Bei »alltäglichen« Kontrollsituationen fällt es in der Regel noch schwerer als z.B. in Festnahmeoder Verhörsituationen, sich nicht auf Kommunikationsversuche seitens der Einsatzkräfte einzulassen. Gerade hier ist es äußerst wirkungsvoll, sich betont distanziert und formal höflich zu geben, sich z.B. nicht duzen zu lassen, Wert auf das formelle »Sie« zu legen und ein »lockeres Gespräch« mit den Repressionsorganen abzulehnen.

Während einer Freiheitsentziehung Bei einer Festnahme während einer Demonstration, auf der Fahrt zum Gefangenensammelplatz oder dem Polizeirevier sprich ggf. mit den anderen Festgenommenen über eure Rechte, aber mit keinem Wort über das, was ihr oder du gemacht habt/hast. Das wäre nun wirklich nicht das erste Mal, dass da ein Spitzel unter euch ist, auch wenn du ein gutes Gefühl zu allen hast. Achte auf andere und zeige dich verantwortlich, wenn jemand mit der Situation noch schlechter klarkommt als du, das beruhigt auch dich. Redet darüber, dass es Sinn macht, ab

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sofort konsequent die Schnauze zu halten. Tausche mit deinen Mitgefangenen Namen und Adressen aus, damit der /die zuerst Freigelassene den EA informieren kann. Dass die PolizistInnen dabei IMMER auf der anderen Seite stehen, wird manchmal schnell übersehen. Es ist unmöglich, sich einem Verhörversuch nach einer Festnahme zu entziehen – das Verhalten in der Situation ist entscheidend. Das Wissen um eigene Rechte (auch auf der Wache bist du gegenüber der Polizei nur verpflichtet, Angaben zu deiner Person zu machen, siehe oben) wird überlagert und beeinflusst vom Verhalten der PolizistInnen. Nach einer Verhaftung kann es sein, dass die PolizistInnen dich gleich in der Wanne in die Mangel nehmen – vielleicht mit der Zusicherung, dass sei ja noch kein Verhör (... sie nennen das dann später Informelle informatorische Befragung – VORSICHT!). Auch sonst keine ›harmlosen‹ Plaudereien ›außerhalb‹ des Verhörs, z.B. beim Warten auf dem Flur o. ä., keine politischen Diskussionen mit den PolizeibeamtInnen, denn: Jedes Wort nach deiner Ingewahrsamnahme / Festnahme ist eine Aussage!


... Polizei und Staatsanwaltschaft

Hausdurchsuchung Während einer Hausdurchsuchung werden die PolizistInnen vielleicht fragen »Wer wohnt hier denn noch?« und in dieser beschissenen Situation, im Gefühl des Ausgeliefertseins, der Angst, entsteht das Bedürfnis nach einem Gespräch – genau darauf warten die darauf ausgebildeten ErmitterInnen. Auch werden Betroffene – vor ›Zeugen‹ und in Situationen, in denen es ihnen sehr übel ergehen kann – massiv unter Druck gesetzt um sie zu Eingeständnissen bringen. Dies sind Situationen, die die PolizistInnen bestimmen, in denen es aber besonders darauf ankommt, einen klaren Kopf zu bewahren und um seine formalen Rechte wisssen. Entscheidend ist: • Ruhig bleiben, auf Provokationen und Beleidigungen nicht reagieren, • jeden Kontakt auf eine ausschließlich formale Ebene ziehen: Sich nicht duzen lassen, • den Durchsuchungsbeschluss verlangen und lesen, • nach Telefonaten mit Anwalt oder Anwältin verlangen, • auf der Hinzuziehung von Zeugen bestehen (am besten des eigenen Vertrauens – auch wenn dies verweigert wird) – hierbei sind Polizeibeamte oder Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft nicht als Zeugen zugelassen! • in einer WG: Die einzelnen Zimmer namentlich kenntlich machen (damit nicht alle Zimmer durchsucht werden dürfen). Das Wissen um formale Rechte kann dir Selbstsicherheit verschaffen und einen ersten Schutz bieten!

Nach einer Festnahme Sollte es dir nicht gelungen sein, Freundinnen und Freunde von deiner Festnahme zu informieren, so

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hast du das Recht, auf der Wache ein erfolgreiches Telefongespräch zu führen! • Informiere Menschen deines Vertrauens oder den Ermittlungsausschuss (EA) von deiner Festnahme, damit du Kontakt zu zuverlässigen AnwältInnen bekommst. Ist ein Kontakt aus bestimmten Gründen unmöglich oder willst du ausschließen, evtl. irgendwelche Leute als deine Kontaktpersonen in das Visier der Ermittler zu ziehen, so besteht in einigen Regionen und Großstädten die Möglichkeit, eine Anwältin /einen Anwalt über den ›Rechtsanwaltlichen Notdienst‹ zu bekommen. Diese VerteidigerInnen können dir erst einmal helfen, bis du Kontakt zu Freunden und/oder AnwältInnen deines Vertrauens bekommen hast; sie können diesen Kontakt auch herstellen. Nach einer Festnahme hast du das Recht, die Gründe zu erfahren – die Behörden sind verpflichtet, dir den Tatvorwurf bekanntzugeben. • Gebe Widerspruch gegen die Festnahme zu Protokoll, aber unterschreibe nichts!

Ermittlungen gegen Beschuldigte/ Angeklagte Beschuldigte (so heißt das im Ermittlungsverfahren) oder Angeklagte (im Strafprozess) haben das Recht, die Aussage zu verweigern, und zwar in jeder Phase des Verfahrens. Das solltest du zu Beginn der Verfolgung auch auf jeden Fall tun, nach Festnahme, Hausdurchsuchung, beim Verhör niemals ein Wort »zur Sache«! Wirst du von der Polizei vorgeladen, bist du nicht verpflichtet zu erscheinen, zur Staatsanwaltschaft und zum Ermittlungsrichter (und natürlich ggf. zu deinem eigenen Prozesstermin) musst du erscheinen, aber nichts sagen. Ob du in einem Prozess eine Erklärung, »politisch« oder »zur Sache«, abgeben willst, kannst du später immer noch in Ruhe mit Genoss-


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sInnen, Ermittlungsausschuss (EA), Roter Hilfe und Rechtsanwältinnen / Rechtsanwälten besprechen (siehe Seite 15ff, »... vor Gericht«). Alle möglichen Verteidigungsstrategien, wirklich alles ist auch nach umfassenden Gesprächen und nach Akteneinsicht durch deine VerteidigerInnen noch möglich! Das verfrühte Ausplaudern von Alibis oder entlastenden Tatsachen kann dir selbst und anderen ein Bein stellen – und den Genossinnen und Genossen die dich unterstützen sowie der Verteidigung kostbare Zeit nehmen.

RichterIn oder StaatsanwältIn angeordnet werden (bei »Gefahr im Verzug« auch Anordnung von DNAAnalysen durch die Polizei.1 Dieses Vorgehen ist umstritten – insbesondere nach der höchstrichterlichen Feststellung, dass die bei der Polizei ausufernde Anwendung der »Gefahr im Verzug«-Eingriffbefugnisse rechtswidrig ist). Die Blutentnahme muss von einem Arzt/ einer Ärztin durchgeführt werden.

Im Fall einer drohenden DNA-Analyse

Ein Verhör ist eine kommunikative Situation, in der die Verhaltensweisen des zu Vernehmenden beobachtet werden und die jeweilige Vernehmungstechnik bestimmen. Es ist kaum möglich, sich dieser Situation zu entziehen und selbst wenn du nichts sagst, keinen Kaffee und keine Zigaretten annimmst, so lieferst du damit doch ein Bild von dir, auf das sich die PolizistInnen in aller Regel schnell einstellen. Da, wo die Betroffenen die Aussage total verweigern, ist es für die PolizistInnen entscheidend, die Beschuldigten zum Reden zu bringen – egal, über was. Ist erst einmal der Anfang gemacht und aus der Sicht der PolizistInnen der Durchbruch geschafft, ist schnell nichts mehr zu retten. Diese Einschätzung wird so auch in Bezug auf politische Verfahren in der entsprechenden Fachliteratur der Polizei vertreten. Die Schwierigkeit liegt darin, dass du einerseits nicht einfach nur dasitzen und den Mund halten kannst. Du willst den Grund der Festnahme erfahren, willst Angehörige, Rechtsbeistand oder Bekannte anrufen, brauchst vielleicht einen medizinische Versorgung ... und andererseits sind das genau die Punkte, an denen die PolizistInnen

Zunehmend wird versucht, Festgenommenen DNAProben zu entnehmen. Wie immer gilt: Keine Ausssagen, keine Unterschriften! Besonders keine Einwilligung zur freiwilligen Speichelprobe unterschreiben! • Wie gegen jede erkennungsdienstliche Behandlung, legt explizit auch gegen eine Speichelprobe Widerspruch ein und lasst diesen schriftlich festhalten, unterschreibe aber nichts! • Anwesende AnwältInnen können solche rechtlich fragwürdigen Maßnahmen manchmal verhindern. Informiere eine Anwältin/ einen Anwalt deines Vertrauens oder den EA über eure Festnahme und die geplante DNA-Analyse. • Lass dich von eventuellen Drohungen der PolizeibeamtInnen nicht einschüchtern, sondern behalte einen klaren Kopf. Bedenke die Konsequenzen einer Speicherung in der DNA-Datei. • Und das war’s dann aber auch maximal! Keinen Ton mehr! Nichts über Eltern, Schule, Firma, Wetter ...; einfach: Gar nix! Wenn die PolizeibeamtInnen mit einer zwangsweisen Blutentnahme drohen: Dies stellt einen Eingriff in die gesetzlich geschützte körperliche Unversehrtheit dar und muss deshalb von einem/r

Im Verhör

1 • Beachte: Hier gelten auf polizeirechtlicher Ebene unterschiedliche Bestimmungen in den einzelnen Bundesländern!


... Polizei und Staatsanwaltschaft

ansetzen und eine kommunikative Situation nach ihren Vorstellungen beeinflussen und aufbauen können. Die ErmittlerInnen kommen dir nur entgegen, wenn sie dies als günstig erachten – deine Rechte kümmern sie nämlich einen Scheiß. Wie die BeamtInnen mit dir umgehen ist immer auch eine Frage des Tatvorwurfs und des Interesses der Repressionsorgane an deinem Fall. Unter Umständen kannst du die PolizistInnen solange nerven, bis sie ein Telefonat mit deiner Anwältin / deinem Anwalt erlauben. Bei Festnahmen oder in Situationen, bei denen du misshandelt wurdest, wirst du dagegen alles vermeiden, was als Provokation ausgelegt werden könnte. Bei geringen Vorwürfen wird oft nur kurz gefragt, ob der Tatbestand eingeräumt wird. Bei gravierenden Anlässen ist die Lage um einiges schärfer und bedrohlicher. Dann hilft nur eins: Gib ihnen zu erkennen, dass sie mit ihren Methoden nicht durchkommen werden.

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›Entlastende‹ und ›harmlose‹ Aussagen Im Verhör können Fragen gestellt werden, bei denen das Gefühl entsteht, wenn du das jetzt nicht beantwortest, bekommt jemand anderes Schwierigkeiten. Dadurch wird ein enormer Druck aufgebaut und eine Hoffnung erzeugt, mit einer Aussage zu entlasten. Aber scheinbar entlastende Aussagen während der Ermittlungen führen nur dazu, dass die Ermittlungsbehörden sich bessere Konstrukte ausdenken können oder dass die Ermittlungen auf die übrigen Verdächtigten beschränkt werden können. Alibis bieten den Ermittlungsbehörden eine Art ›Negativ-Auslese‹. Wenn klar ist, wer nicht bei einer Aktion dabei gewesen sein kann, schränkt sich für Staatsschutz und Polizei die Zahl der Tatverdächtigen ein. So wächst die Gefahr, dass Zusammenhänge klar und andere erwischt werden.


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Auch passiert es immer wieder, dass Leute auf Fragen Antworten geben, wo jedeR denkt, »die Informationen haben die eh’ schon« und damit scheinbar Bekanntes bestätigen. Das Problem dabei ist, dass überhaupt nicht klar ist, wo die Staatsanwaltschaft Informationen her hat, und ob diese überhaupt offiziell verwertbar sind. Es kann auch sein, dass sich die Staatsorgane einfach was zusammenreimen. Und oft genug stochert die Staatsanwaltschaft im Trüben und braucht die Bestätigung von uns. Selbst wenn es so aussieht, als hätten die Fragen gar nichts mit dem Thema zu tun – es gibt keine banalen Fragen in Verhörsituationen! Alle Fragen haben für die ErmittlerInnen einen Sinn, ansonsten würden sie nicht gestellt. Eine Möglichkeit, der psychischen Drucksituationen bei Verhören zu entkommen ist, sich die wesentlichen Ziele und Aspekte von Vernehmungen zu vergegenwärtigen: • dass die Justiz belastendes Material sammelt, • dass jede Frage die sie dir stellen nur mit dem Ziel gestellt wird, die erlangten Informationen gegen dich und andere verwenden zu können, • dass sie keine harmlosen Fragen stellen, sondern nur versuchen, in ein Gespräch einzusteigen. Und generell gilt: • Lass dich im Verhör nicht einwickeln. • Lass dich weder von Brutalos einschüchtern noch von verständnisvollen Onkel-Typen weichlabern. • Glaube nicht, die BeamtInnen austricksen zu können. Um sich was Schlaues zu überlegen ist jede Situation günstiger als die, wenn du auf der Wache sitzt. Auch wenn dir die PolizistInnen erzählen, dass es besser für dich wäre, jetzt sofort Aussagen zu machen: Das ist gelogen! Alles – wirklich alles (an Verteidigungsstrategie) – ist auch nach Absprache mit GenossInnen und AnwältIn noch möglich.

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In Haft Bei Leuten im Gefängnis ist die Verhörsituation in der Regel noch einmal mehr zugespitzt: Das Gefühl des Ausgeliefertseins, das Gefühl, dass sie alles mit dir machen können was sie wollen, verschärft sich. Meist wirst du unerwartet aus der Zelle geholt und dem vernehmenden PolizistInnen oder der Staatsanwaltschaft vorgeführt. Die bekanntesten und immer noch häufig angewandten Methoden seien hier kurz noch einmal erwähnt: Die PolizistInnen machen dich glauben, sie wüssten sowieso schon alles, erzählen dir, ein Genosse hätte ausgesagt oder sie hätten den Steinwurf gefilmt. Das sind billige Tricks! Und selbst wenn sie gefälschte Geständnisse deiner Genossinnen und Genossen oder von Mitgefangenen vorlegen – fall nicht drauf herein ... und verweigere alle Aussagen! Bei Jüngeren wird oft noch die Methode ›Guter Bulle-Böser Bulle‹ (einer droht, der andere schützt dich vor seinem Kollegen: »Der dreht leicht durch, sag’ mir lieber, was wir wissen wollen, sonst lass ich dich mit ihm alleine ...«). Mach dir in dieser Situation klar, dass dies eine erprobte und häufig angewandte Verhörmethode ist – du wirst keine PolizistInnen treffen, die Interesse daran hätten, dir zu helfen! Dabei dürfen wir nicht vergessen: Die Liste verbotener Verhörmethoden ist lang! Essens- und / oder Schlafentzug, Blenden mit Schreibtischlampen, Bedrohen und Täuschen, körperliche Übergriffe etc. kommen nicht nur im Kino vor!

Vorladungen Oft Wochen oder Monate nachdem du dich an einer Aktion oder Demo beteiligt hast, manchmal aber auch völlig ohne offensichtlichen Zusammen-


... Polizei und Staatsanwaltschaft

hang, kann es vorkommen, dass Post von den PolizistInnen oder der Staatsanwaltschaft im Briefkasten liegt. Hierbei kann es sich um ganz unterschiedliche Schriftstücke handeln, die auch eine unterschiedliche Reaktion erfordern: • Es kann ein polizeilicher Anhörungsbogen sein (muss nicht ausgefüllt werden), • eine Vorladung als ZeugIn oder als BeschuldigteR (sorgfältig lesen), • ein Strafbefehl (Beachte: Formaljuristische Fristen laufen ab Datum der postalischen Zustellung – auch wenn du im Urlaub bist! Rechtzeitig Einspruch einlegen!) • oder aber auch nur ein Bußgeldbescheid (Frist beachten und Widerspruch einlegen!). • Manchmal rufen die Ermittlungsbehörden aber auch zu Hause an. Egal welches Schreiben dir zugeht, es ist wichtig, nicht in Panik zu verfallen und sich nicht einschüchtern zu lassen. Zunächst sollte frühzeitig (!) das Gespräch mit der Roten Hilfe e.V. oder einer Anti-Repressionsgruppe gesucht und das weitere Vorgehen besprochen werden. Vielleicht bist du ja nicht die/der einzige Betroffene. Dabei sollte überlegt werden, ob es bereits jetzt sinnvoll wäre, Öffentlichkeit herzustellen und Solidarität einzuwerben. Grundsätzlich gilt, dass du zu Vorladungen der Polizei nie erscheinen musst. Bei Vorladungen durch die Staatsanwaltschaft sollte unterschieden werden, ob du als BeschuldigteR oder ZeugIn vorgeladen bist. Einer Vorladung zur Staatsanwaltschaft solltest du Folge leisten, da du sonst unter Umständen zwangsweise vorgeführt werden kannst. Gehe aber nie alleine und ohne Absprache mit deiner Anti-Repressionsgruppe, dem örtlichen Ermittlungsausschuss (EA) oder der Roten Hilfe zu einer Vorladung. Bereite dich vor! Besprich dich mit AnwältInnen! Aber auch bei Vorladungen gilt: Keine Aussagen vor der Staatsanwaltschaft (siehe 4)!

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Vorbereitet sein! Wichtig ist, dass du die Rahmenbedingen, mit denen die ErmittlerInnen dadurch, dass sie dich festhalten, Druck ausüben können, so weit wie möglich selbst reduzierst. Dafür solltest du im Voraus all die in dieser Situation beunruhigenden Bereiche soweit wie möglich regeln: • Kläre vor einem Termin ab, wer sich um eure Kinder kümmert. Du wirst ruhiger sein, wenn du weißt dass deine Kinder bei Leuten sind, bei denen sie sich wohl fühlen, • Check’ ab, wer sich um deine FreundInnen oder (wenn dir deine Familie wichtig ist) um deine Verwandtschaft kümmert, • Organisiere jemanden, die /der sich um Fristen bei Schriftkram, um Wohnung, Arbeit, Arbeitsagentur, Ämter usw. kümmert, • Überlege, wer wichtige Sachen erledigt, wenn du verhindert sein könntest.

Ermittlungsakte Hier wollen wir kurz auf die Ermittlungsakte eingehen; bei vielen Verfahren mag der Anlass und der Vorwurf ja auf der Hand liegen, aber generell kann bis zur Einsicht in die Ermittlungsakte (über Anwältin / Anwalt) NIEMAND wissen, in welchem Zusammenhang genau ermittelt wird. Erst nach Einsicht in diese (manchmal – natürlich aus Versehen – unvollständig (!) oder nachlässig geführte) Akte kannst du und deine Anwältin /dein Anwalt ermessen, was wann Bedeutung erlangen kann.


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2 ... Vor Gericht


... Vor Gericht

••• Vor Gericht gibt es unterschiedliche Möglichkeiten der Betroffenheit: • als BeschuldigteR/ AngeklagteR • als ZeugIn der Anklage • (als ZeugIn der Verteidigung) Je nach der Rolle im Prozess bestehen unterschiedliche Rechte und Einschränkungen. Um eine sinnvolle Anti-Repressionsarbeit vor Gericht zu machen, sehen wir zwei mögliche Herangehensweisen: 1. Die konsequente Weigerung, vor Gericht Einlassungen zu machen bzw. überhaupt vor Gericht zu agieren, 2. Ein zielgerichteter, politisch geführter Prozess.

Aussageverweigerung als BeschuldigteR vor dem Haftrichter Bei bestimmten Vorwürfen besteht nach einer Festnahme die Gefahr der Untersuchungshaft, die durch einen Haftrichter verhängt werden muss. Spätestens achtundvierzig Stunden nach einer Inhaftierung muss eine so genannte Haftprüfung stattfinden: Hier entscheidet ein/e RichterIn, ob du in Untersuchungshaft kommst oder freigelassen wirst. Hier ist zu beachten: Selbst wenn eine Aussage vor dem Haftrichter die U-Haft abwenden könnte – es ist zu diesem Zeitpunkt nicht klar, ob die bisherigen Ermittlungen überhaupt genug verwertbare Erkenntnisse für einen späteren Prozess hergeben. Wenn alle Betroffenen schweigen, kommt es eventuell gar nicht zu einem Prozess. Ein Haftbefehl kann »außer Vollzug« gesetzt werden. Das heißt jedoch nicht, dass damit die Tatvorwürfe aus der Welt geschafft wären, sondern der Haftbefehl wird gegen Auflagen – regelmäßige Meldung bei der Polizei, kein Kontakt zu anderen Mitbeschuldigten (§ 116 Strafprozessordnung) oder Kaution – zunächst nicht ausgeführt.

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HaftrichterInnen erlassen den Haftbefehl wegen »dringenden Tatverdachts« (dringender Tatverdacht besteht dann, wenn nach dem gegenwärtigen Stand der Ermittlungen die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass der/die Beschuldigte schuldigeR TäterIn oder TeilnehmerIn ist). Zu den Tatvorwürfen, die auf den Ermittlungen der Repressionsorgane beruhen und die zum Haftbefehl führen können, kommen noch so genannte ›Haftgründe‹ dazu. »Haftgründe« gibt es vier: »Fluchtgefahr«, »Verdunkelungsgefahr« (damit sind Versuche gemeint, Beweise verschwinden zu lassen oder Zeugen unter Druck zu setzen), »Wiederholungsgefahr« oder besonders schwere Tatvorwürfe (bei Vorwürfen wie »Mord«, »Totschlag« oder 2Unterstützung einer terroristischen Vereinigung« wird oft grundsätzlich Haftbefehl erlassen). Für eine angenommene Fluchtgefahr spricht »ohne festes soziales Umfeld«, ohne Kinder, keine eingetragene Partnerschaft / Ehe etc. Sagst du etwas zu den Punkten Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr, dann hast du ruck-zuck eine Diskussion über die Tatvorwürfe am Hals. Sagst du etwas zum Thema Fluchtgefahr, zu deinen Partnern, Bindungen oder deiner Wohngemeinschaft, liegt die Gefahr auf der Hand: Du nennst Namen und gibst Hinweise. Sollten diese »Haftgründe« nicht in dem für eine Inhaftierung notwendigen Maß zutreffen, wird als Argument gerne angeblich fehlendes soziales Umfeld bzw. fehlende polizeiliche Meldeadresse (»Ohne festen Wohnsitz« – OfW) genommen. Aber aufpassen, es kann so ablaufen, dass der Haftrichter sagt, »erzählen Sie mir etwas oder Sie bleiben hier«. Es besteht immer die Gefahr, dass man dir die Freilassung gegen Aussage anbietet – was zwar rechtswidrig ist, aber erst Mal verlockend erscheint. Verlange hier am besten eineN Rechtsanwalt / Rechtsanwältin deines Vertrauens! Wie


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schon ausgeführt haben sie durch diese Aussagen möglicherweise erst genug ermittelt um dich zu verurteilen, so dass du dann im Nachhinein – für lange Zeit – in den Knast musst. Nach einer Verurteilung auf Grund deiner Aussage merkst du dann, dass es der größte Fehler war, ein Paar Tage U-Haft gegen eine eventuell lange Freiheitsstrafe eingetauscht zu haben. Denk’ mal drüber nach ... Es ist immer sinnvoller, nach umfassender Information über den eigentlichen Sachverhalt über Anwälte deines Vertrauens gegen einen erlassenen Haftbefehl Beschwerde einzulegen, als sich in dieser fremdbestimmten, beängstigenden Situation um Kopf und Kragen zu reden. Glasklar ist: Eine Aussage zur Sache wendet keine U-Haft ab! Deshalb gilt auch hier: Keine Aussagen machen.

Situation als BeschuldigteR/ AngeklagteR vor Gericht Es besteht die Möglichkeit mit einem Rechtsbeistand vor Gericht zu erscheinen. Der /die Beschuldigte hat das Recht die Aussage zu verweigern. Aussageverweigerung darf vom Gericht nicht gegen eineN BeschuldigteN ausgelegt werden. Ein besonderes Problem stellt das oft von der Justiz geforderte Formulieren einer Reueerklärung dar. Diese gefährdet beim ersten Hinsehen keinen anderen Menschen und mag als nebensächliches Blabla erscheinen. Eine Reueerklärung bedeutet aber konkret das öffentliche Ausdrücken des Bedauerns über das eigene Handeln, also die offizielle, öffentlichkeitswirksame Distanzierung von linkem, eigenem, z. B. antifaschistischem Handeln. Anders ausgedrückt: Es handelt sich um einen Schritt der Entsolidarisierung mit linken Strukturen und Zusammenhängen und einen öffentlich formulierten Bruch mit der eigenen Geschichte. Bei Unterstützungsanträgen in Fällen,

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wo vor Gericht Reueerklärungen abgegeben wurden, lehnt die Rote Hilfe die Unterstützung aus genau diesen Gründen in der Regel ab.

Die Rolle von Aussagen in laufenden Verfahren Anders als gegenüber Polizei und Staatsanwaltschaft ist die Strategie der konsequenten Aussageverweigerung vor Gericht differenzierter zu betrachten. Am Anfang sollte immer die Frage stehen, ob Aussagen wirklich notwendig sind, welches politische und persönliche Ziel hinter einer Aussage vor Gericht steht und zu welchem Ergebnis ein solches Verhalten führen soll. Auch alle Stellungnahmen vor Gericht sollten auf dem Grundsatz beruhen: Keine Zusammenarbeit mit der Justiz.

Aussageverweigerung und die Anforderungen an RechtsanwältInnen Bei der Wahl des Anwalts / der Anwältin muss unbedingt darauf geachtet werden, dass dieseR nicht nur juristisch fit ist, sondern den /die Angeklagte und sein Umfeld auch in politischen Entscheidungen wenn nicht unterstützt, dann wenigstens respektiert. RechtsanwältInnen sollten die


... Vor Gericht

Entscheidung zur Aussageverweigerung akzeptieren, auch wenn sie in ihren Augen juristisch von Nachteil sein mag! Außerdem muss klar sein, dass Aussagen von VerteidigerInnen im Prozess, die nicht in der festgelegten Prozessstrategie eingebettet sind, ebenso gefährlich sein können wie Aussagen des/der Beschuldigten. Sie sollten daher unbedingt vermieden werden. Das Vorgehen und die Ziele müssen schon im Vorfeld mit der Verteidigung abgeklärt und besprochen werden. Die gesetzliche Regelung, dass bei einem Verfahren mit mehreren Angeklagten keine gemeinsame Vertretung durch eine Anwältin /einen Anwalt möglich ist, zwingt zu teuren und komplizierten Einzelvertretungen durch mehrere AnwältInnen. In solchen Fällen ist eine genaue Absprache unter allen Beteiligten und ihren VerteidigerInnen sehr wichtig – sollten die einen die Aussage verweigern, die anderen aber munter drauflos plaudern, geht dies mit Sicherheit für alle Beteiligten schief!

EntlastungszeugInnen »EntlastungszeugInnen« zu benennen ist grundsätzlich abzulehnen und meist gefährlich! Erstens hilft das ohnehin nichts, und zweitens werden nur andere mit in die Ermittlungen hineingezogen. Es haben schon ZeugInnen, die von unverteidigten, unvorsichtigen Angeklagten benannt wurden, genau dasselbe Verfahren bekommen und außerdem noch eins wegen »Meineides« in dem Verfahren, in dem sie ZeugInnen waren (siehe 4).

Politisch geführte Prozesse Unklare Zuständigkeiten, Konkurrenzdenken unter Diensten, Behörden und / oder Funktionsträgern, Profilierungsversuche usw. können zu unterschiedlichen Reaktionen des Machtapparates führen: Staatliche Repression ist zwar eine feste Größe, in

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ihrem Auftreten aber nicht berechenbar. Die Art und Weise sowie der Grad ihrer Schärfe hängen von vielerlei Umständen ab; sie ist nicht wirklich vorhersehbar, etwa in dem Sinne von »für dieses und jenes gibt es das und das«. Je nach RichterIn, StaatsanwältIn, politischer Großwetterlage, Ort (Bundesland) des Verfahrens, Prozessstrategie und deinem persönlichem Verhalten vor Gericht kann das Strafmaß für gleiche Vorwürfe völlig unterschiedlich ausfallen. Es will gut überlegt sein, ob und wie ein Rechtsstreit geführt werden soll. Weil in gewisser Weise jedem Gerichtsverfahren ein ›politischer Kern‹ innewohnt – sei es im sozialen Sinn als Repression gegen Arme, Widerständige und Unangepasste oder weil es im Zusammenhang steht mit Polizeiaktionen gegen politische Strukturen oder Widerstandszusammenhänge – sprechen wir im Folgenden nicht von »politischen Prozessen«, sondern von »politisch geführten Prozessen«. Damit wird deutlich, dass bewusst entschieden wurde, den Prozess zu führen. Zentrales Ziel des Prozesses ist das Öffentlichmachen bzw. das Durchsetzen bestimmter politischer Positionen und Forderungen (z.B. »Wir lassen uns keine Parole verbieten! Wir nennen Kriegstreiber auch so«). Im Vordergrund steht hier nicht unbedingt ein möglichst geringes Strafmaß oder gar ein Freispruch. In einem politisch geführten Prozess entschließen sich die Angeklagten gezielt in Absprache mit ihrem politischen Umfeld mittels Gerichtsverfahren eine Öffentlichkeit anzusprechen, zu informieren, etwas zu erkämpfen, zu verändern bzw. zu erhalten. Es lohnt oft, für bestimmte kriminalisierte Parolen und Meinungsäußerungen oder gegen Beschneidungen der Demonstrationsfreiheit vor Gericht zu kämpfen, auch wenn es dabei häufig ›nur‹ um geringe Geldstrafen geht. Die Höhe des zu erwartenden Strafmaßes – egal ob Geldstrafe oder


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Knast – sollte bei der Beantwortung der Frage, ob und wie ein Prozess politisch geführt wird, nicht im Mittelpunkt stehen. Es darf keine Unterschiede im gemeinsamen Umgang mit Aussageverweigerung und dem Auftreten vor Gericht, auch nicht festgemacht an der ›Wichtigkeit‹ oder ›Schwere‹ des Repressions-Fallles, geben. Bei einem einfachen Verstoß gegen das Versammlungsrecht muss ebenso gemeinsam diskutiert, überlegt und bewusst entschieden und gehandelt werden wie bei mehrfach angedrohter Beugehaft wegen kollektiver Aussageverweigerung von Zeuginnen und Zeugen, einem Ermittlungsverfahren wegen §129a StGB (›Bildung‹, ›Unterstützung‹ oder ›Werbung‹ für eine ›terroristische‹ Vereinigung) oder bei skandalösen Massenverhaftungen. In jedem Fall ist absolut wichtig, dass die Betroffenen nicht alleine dastehen und dass ihnen nicht isoliert von den politischen Zusammenhängen stellvertretend für alle anderen der Prozess gemacht wird. Kollektive politische Prozessarbeit ist sozusagen Pflicht! Es hat sich einfach gezeigt, dass es sehr viel weiterhilft, vorher mit FreundInnnen zu reden, alle Ängste zu besprechen, Hoffnungen zu diskutieren, mitzukriegen, wie es den einzelnen geht und alles anzusprechen, was euch in den Kopf kommt, auch wenn es blöd erscheint. Es sind solche Dinge, die uns in Verhörsituationen auf die Füße fallen, wenn wir alleine oder nur mit Anwältin/Anwalt vor Staatsanwaltschaft und RichterIn sitzen. In der Praxis zeigt sich, dass bei politisch geführten Prozessen mit der Frage, ob und welche Aussagen, Einlassungen und Erklärungen vor Gericht gemacht werden, sehr differenziert umgegangen werden muss. Alle Äußerungen, die von Seiten der / des Angeklagten gemacht werden, besitzen eine politische Tragweite, sowohl in der Prozessführung als auch nach außen. Dabei muss

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immer bedacht werden, dass Aussagen hier auch besonders viel Schaden anrichten können. Unter politisch geführten Prozessen verstehen wir (im Idealfall): • kollektiv vorbereitete, durchgeführte und nachbereitete Prozesse, und zwar durch Soli- und Prozessgruppen, EA oder Rote Hilfe, • die juristische Vertretung erfolgt durch RechtsanwältInnen, die mit dem politischen Umfeld des / der Angeklagten konstruktiv zusammenarbeiten, • vor, während und nach dem Prozess wird Öffentlichkeitsarbeit gemacht, • Voraussetzung dafür ist eine Grundübereinstimmung zwischen Angeklagten, Rechtsbeistand und Unterstützungsgruppen. Um eine passende und möglichst erfolgreiche Prozesstaktik zu entwickeln, ist eine Vielzahl von politischen und individuellen Aspekten zu klären: • Wer strebt den Prozess an – die eigenen politischen Zusammenhänge oder die Gegenseite? • Vor welchem politischen Hintergrund findet der Prozess statt? (Antifa, Sozialabbau, Anti-Atom ...) • Welche persönliche, juristische und politische Zielsetzung gibt es – was soll /kann erreicht werden? (z.B. Schadensbegrenzung, Freispruch, Aufdecken von Konstrukten oder Vertuschungen von Repressionsorganen und / oder Geheimdiensten, Widerstand, Zuspitzung oder Nutzen für die Linke) • Wie ist die politische und persönliche Situation, wie sehen die persönliche Bereitschaft und die Kapazitäten des /der Angeklagten aus? • Welche juristischen und politischen Möglichkeiten bieten sich nach eingehender Analyse und Abwägung der bekannten Fakten? • In welchem Maße soll Öffentlichkeitsarbeit gemacht werden? • Gibt es Presse- und Bündnisarbeit? • Welches Verhältnis hat die Prozessführung zum Grundsatz der Aussageverweigerung?


... Vor Gericht

Aussageverweigerung in Schnellverfahren/ Hauptverhandlungshaft Das Schnellverfahren (oder auch »Beschleunigte Verfahren« §§417ff. StPO) gibt es in dieser Form seit 1994. Es wurde hauptsächlich für so genannte »reisende Gewalttäter«, also für DemonstrantInnen, eingeführt. Es wurde bisher beispielsweise bei Anti-Castor-Aktionen und Antifa-Aktionen angewandt. Das deutsche Rechtssystem wirbt für dieses Verfahren, da es angeblich schnell, einfach und billig sei. Diese Verfahren werden bei einfachen Tatvorwürfen praktiziert, wie z. B. bei Verstößen gegen das Versammlungsverbot, Haus- und Landfriedensbruch und Sachbeschädigung. Auf »frischer Tat« erfasste StraftäterInnen sollen nach Möglichkeit sofort nach der Festnahme, häufig am nächsten Tag, vor Gericht gestellt und verurteilt werden können. Nur so könnten die Strafen »erzieherisch wirksam« und »abschreckend« sein. Bei Schnellverfahren werden die Verteidigungsrechte der Angeklagten massiv eingeschränkt, da u. a.

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keine schriftliche Anklage vonnöten ist. Außerdem haben die Angeklagten keine angemessene Vorbereitungszeit für ihre Prozessführung. Die Anklage wird vom Staatsanwalt erhoben, muss aber nicht schriftlich erfolgen. Auch ist die Beweiserhebung eingeschränkt, weil ZeugInnen nicht unmittelbar aussagen müssen, sondern die Angeklagten auf Grund von vorgelesenen Vernehmungsprotokollen verurteilt werden können. Dies gilt aber NUR dann, wenn der /die Angeklagte damit einverstanden ist. Deshalb: Der Verlesung widersprechen, damit mehr Zeit zur Verfügung steht und die Möglichkeit zur Beratung gegeben ist! Seit 1997 gibt es dazu noch die Hauptverhandlungshaft (§ 127b StPO), da viele Angeklagte nicht zum Prozesstermin erschienen sind, weil sie diesen ›kurzen Prozess‹ nicht freiwillig mitmachen wollten. In der Hauptverhandlungshaft kann der / die Festgenommene, welche/r für das Schnellverfahren vorgesehen ist, ohne einen Haftgrund wie z. B. Flucht- und/ oder Verdunklungsgefahr bis zu eine Woche in Haft genommen werden.


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Voraussetzungen für das beschleunigte Verfahren sind: • ein nach Meinung von Staatsanwaltschaft und/oder Gericht einfacher Sachverhalt • angeblich klare Beweislage • ein, wie behauptet, nicht allzu schweres Delikt.

• Wie verhalte ich mich, wenn ein Schnellverfahren auf mich zukommt? Du solltest auf jeden Fall immer einen Anwalt/eine Anwältin deines Vertrauens verlangen! Es steht dir ein Telefonanruf zu. Diesen solltest du nutzen um jemanden draußen zu verständigen, eventuell eine Anwältin / einen Anwalt (auch über Anwaltsnotdienst), eine Rechtshilfegruppe wie den EA oder die Rote Hilfe oder FreundInnen, die sich um rechtliche Unterstützung kümmern können. Auch im Rahmen von Schnellverfahren kann es sehr gefährlich sein irgendwelche Aussagen zu machen. Eine konsequente und umfassende Aussageverweigerung ist auch hier allemal besser, selbst wenn ein gestellter Anwalt etwas anderes rät! Du

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brauchst während des Schnellverfahrens nur Angaben zu deiner Person zu machen. Wenn es zur Verhandlung kommt, solltest du auch nichts sagen (auch nicht zum Tatvorwurf oder zur Festnahmesituation) und nichts unterschreiben. Du solltest keine Anträge stellen und auch keine Einverständniserklärung abgeben, aber unbedingt Widerspruch gegen eine Verlesung von Zeugenaussagen etc. einlegen. Wirst du verurteilt, kannst du innerhalb einer Woche Berufung dagegen einlegen. Danach ist genügend Zeit, dich auf den Berufungsprozess vorzubereiten.

Umgang mit der Jugendgerichtshilfe Zunächst solltest du dir bereits bei der Vorbereitung von Aktionen die Frage stellen, was du deinen Eltern erzählst, falls die Sache anders verläuft, als du es dir vorgestellt hast. Denn unter 18 bzw. teilweise bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres weichen einige Punkte eines Strafprozesses bei Jugendlichen (14 bis 17 Jahre) und Heranwach-


... Vor Gericht

senden (18 bis 21 Jahre) von dem Erwachsener ab. Für alle gilt zwar die Strafprozessordnung (StPO), bei Jugendstrafverfahren werden jedoch Teile der StPO durch das Jugendgerichtsgesetz (JGG) ersetzt. Bei Strafverfahren von Jugendlichen, also von 14- bis 17jährigen, werden die Eltern oder der erziehungsberechtigte Elternteil von dem Verfahren informiert und auch zur Verhandlung geladen. Deshalb macht es Sinn, sich hiermit bei Zeiten auseinanderzusetzen. In der Regel wird das Jugendgerichtsgesetz JGG auch für Heranwachsende im Alter von 18 bis 21 Jahren angewandt, hier besteht aber keine Anwesenheitspflicht der Eltern während des Verfahrens und sie werden von den Justizbehörden auch nicht über das Verfahren informiert. Neben dir als angeklagter Person sind dann evtl. deine Erziehungsberechtigten, die Jugendgerichtshilfe, die Staatsanwaltschaft und der / die RichterIn während des Prozesses anwesend. Die Verhandlungen sind bei Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren nicht öffentlich. Die Jugendgerichtshilfe (JGH) ist verpflichtender Teil des Verfahrens. Sie hat die Aufgabe der Ermittlungshilfe, der Betreuung und der Überwachung. Sie klärt nicht die Tat auf, sondern sie erforscht deine Persönlichkeit, deine Lebensumstände und Familienverhältnisse, deine Biografie und alle anderen Umstände, die für eine Beurteilung deiner ›seelischen und geistigen Eigenart‹ von Bedeutung sein könnten. Das Ergebnis dieser Ermittlungshilfe hat die JGH in einem Bericht zusammenzufassen; hier soll sich die JGH auch zu den zu ergreifenden Maßnahmen und ›Zuchtmitteln‹ äußern. Bei den Betreuungsaufgaben geht es z.B. darum, bei der Suche nach einer Lehrstelle zu helfen und bei Problemen im Elternhaus beratend zur Seite zu stehen. Vor allem bei der Überwachung von gerichtlichen Auflagen hat die JGH die Aufga-

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be, dem Gericht von dir begangene Verstöße zu melden. Die JGH ist ein ausgefeilter Teil des Kontroll- und Überwachungssystems und hat die Aufgabe, dich wieder in die Gesellschaft ›einzugliedern‹ und zu verhindern, dass du weiter an den Aktivitäten festhältst, die dir den Ärger mit den Strafverfolgungsbehörden erst eingebracht haben. Es ist nicht auszuschließen, und auch schon vorgekommen, dass die Ergebnisse der Ermittlungen der Jugendgerichtshilfe dem Verfassungssschutz als Arbeitsgrundlage dienen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der JGH haben vor Gericht kein Zeugnisverweigerungsrecht, dass heißt, falls sie gefragt werden, sind sie zur Aussage über alles, was sie über dich zusammengeschnüffelt haben, verpflichtet. Deshalb gilt: Auch beim Umgang mit der Jugendgerichtshilfe: Mach keine Aussagen zur Sache. Die MitarbeiterInnen der JGH haben sogar das Recht, sich in der Verhandlung selbstständig zu äußern, auch wenn sie nicht gefragt werden. Die ›Nachforschungen‹ anstellenden MitarbeiterInnen sollen während der Verhandlung anwesend sein. Alles, was du den ›netten Leuten‹ von der JGH vielleicht im Vertrauen erzählt hast, kann vor Gericht für dich von Nachteil sein – vielleicht ist dann plötzlich von ›Verwahrlosung‹ die Rede oder von einem ›geschlossenen politischen Weltbild‹ ... Das bedeutet, dass du gegenüber der JGH am besten keinerlei Aussage zur Sache oder zu betrofffenen Personen machst. Distanz zu den Vertreterinnen und Vertretern der JGH ist daher dringend geboten – sie sind Teile des Repressionsapparates und auch als solche zu behandeln. Deshalb solltest du auf gar keinem Fall etwas zu einem vermeintlichen Tatgeschehen sagen. Wir legen dir nahe, dich gerade als JugendlicheR von einer Rechtshilfegruppe bzw. deiner Rote-HilfeOrtsgruppe beraten zu lassen, bevor du zur JGH gehst.


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3 ... Verhalten als Zeuge / Zeugin


... Verhalten als Zeuge / Zeugin

••• Zeuglnnenbefragungen finden in der Regel als Frage- und Antwort-Spiel statt, d.h. die Zeuglnnen bekommen keinen Fragenkatalog vorgelegt, wo sie von vornherein einen Überblick über die einzelnen Fragen und deren mögliche Bedeutung haben und eventuell in Ruhe entscheiden können, welche Frage sie beantworten. Die Vernehmenden bemühen sich um die Atmosphäre eines Gespräches. Blockieren ZeugInnen an einzelnen Punkten dieses Gespräches, müssen sie dies häufig begründen. Diese zermürbende Situation hat z. B. im Falle eines Hamburger Zeugen drei Stunden gedauert. Die wenigsten Zeuglnnen werden sich nach einer solchen Prozedur noch erinnern können, welche Informationen sie dem Staatsschutz gegeben haben. Als ZeugIn besteht – außer bei der Polizei – grundsätzlich die Pflicht zur Aussage. Die Konsequenzen einer Aussageverweigerung als ZeugIn reichen von Ordnungsgeldern über Zwangsvorführung bis hin zur Beugehaft (zur Beugehaft siehe unten). Es ist unbedingt notwendig, sich durch die Rote Hilfe, andere Rechtshilfegruppen und eine Rechtsanwältin / einen Rechtsanwalt beraten zu lassen! Darüber hinaus ist ein Öffentlichmachen der Repression sinnvoll.

Polizei Auch als ZeugIn solltest du in der ersten Phase des Verfahrens – unmittelbar nach der Aktion, nach Festnahme, Durchsuchung, im Verhör – die Aussage verweigern (s.o.). Bei polizeilichen Vorladungen zur Zeugenvernehmung besteht nicht die Pflicht zu erscheinen – deshalb noch mal der dringende Rat: Nicht hingehen!

Staatsanwaltschaft / RichterIn Vorladung der Staatsanwaltschaft, der Richterin / des Richters solltest du befolgen, sonst können sie

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dich zwangsweise vorführen. Wir raten dringend dazu, mit einem Rechtsbeistand dort zu erscheinen. Die Aussagepflicht (gegenüber Gericht und Staatsanwaltschaft) kann mit Ordnungsgeld und Beugehaft durchgesetzt werden. Daher dürfen gerade ZeugInnen der Anklage nicht alleine stehen. Solidarität und Unterstützung sind wichtige Bedingungen. Aber trotz allem: Auch als ZeugIn kein Wort zur Staatsanwaltschaft! Lassen wir sie ruhig im Dunkeln tappen! Es gibt immer bessere Momente für entlastende Aussagen als während einer staatsanwaltlichen Vernehmung – so z. B. bei einem politisch geführten Prozess! Grundsätzlich gilt: Informationen, wer mit wem in einer Gruppe ist, wer mit wem welche Art von Kontakt hat, wie bestimmte linke Zusammenhänge oder Strukturen aufgebaut sind etc. gehen den Staat nichts an! Solche Infos sollten niemals freiwillig (oder versehentlich) preisgegeben werden. Schweigen ist Gold! Auch solltest du keine irrationale Angst vor Strafen bzw. Beugehaft haben. Von der Androhung eines Ordnungsgeldes durch die Staatsanwaltschaft bis zur Verhängung von Beugehaft (dies ist nur durch Richterin / Richter möglich) vergehen immer ein paar Tage, in denen du dich mit AnwältInnen, FreundInnen und GenossInnen beraten kannst und solltest.

Vor Gericht Wirst du später als ZeugIn zum Gerichtsprozess geladen, solltest du dich im Vorfeld genau mit deinen VerteidigerInnen beraten, welche Konsequenzen eine Aussage oder eine Aussageverweigerung haben könnte. Weil die Staatsschutzjustiz in politischen Prozessen nicht nur die Überführung und Verurteilung Einzelner sondern immer auch das Ausforschen von Widerstandszusammenhängen,


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Spaltung durch das Fordern von Unterwerfungsgesten usw. usf. zum Ziel hat, ist auch während des Prozesses konsequente und umfassende Aussageverweigerung oft das einzige richtige Verhalten als ZeugIn. In den Fällen, in denen sich Betroffene nicht an die zwischen ihnen gemeinsam getroffenen und gemeinsam beschlossenen Absprachen halten und damit eine Entsolidarisierung unter den Beteiligten fördern, kann die Rote Hilfe eine Unterstützung ablehnen.

• Verhalten als ZeugIn der Verteidigung Es gibt keine ungefährlichen Aussagen! Daher ist es immer heikel, für die Verteidigung ZeugInnen in den Prozess einzuführen. Vor allem Alibi-Aussagen von ZeugInnen der Verteidigung sind gefährlich. Sollte sich trotzdem für die Benennung von Zeuginnen für die Verteidigung entschieden werden, muss dies sehr gut überlegt werden. Aussagen von ZeugInnen der Verteidigung sollten ausschließlich gemacht werden, wenn dies wirklich notwendig und unumgänglich erscheint, also nur für zielgerichtete, unvermeidliche Aussagen. Und: ZeugInnen der Verteidigung sollten grundsätzlich NUR mit Einverständnis der Betroffenen benannt werden! Bitte denkt daran: Auch Zeuginnen oder Zeugen der Verteidigung können in Situationen geraten, in denen von ihnen die Preisgabe von Informationen verlangt wird, die sie nicht geben wollen. Auch die Staatsanwaltschaft und eventuell auftretende gegnerische AnwältInnen können Fragen stellen, die dann beantwortet werden müssten ...

• Das Auskunftsverweigerungsrecht nach §55 der Strafprozessordnung Bei Antworten auf Fragen, die dich selbst oder deine Angehörige eventuell belasten und damit der Gefahr aussetzen könnten (nicht: würden!),

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Ach übrigens ... Falschaussagen Zeuginnen und Zeugen sind zu wahrheitsgemäßer Aussage verpflichtet. Vor der Staatsanwaltschaft gibt es zwar keinen Straftatbestand der »Falschaussage«, möglich ist aber, dass sie euch dann »Strafvereitelung« anhängen wollen! (Tatbestand: Falsche uneidliche Aussage, Strafrahmen laut Gesetz: Drei Monate bis fünf Jahre. Meineid vor Gericht: Nicht unter einem Jahr.) Von ›Falschaussagen als Verteidigungsstrategie‹ raten wir ab. Falschaussagen sind immer ein Wagnis und können unter Umständen zu Verwicklungen oder gar Namensnennungen führen, sie sind gefährlich und können schnell nach hinten losgehen! Die PolizistInnen sind auch nicht so blöde, wie sie gerne dargestellt werden; angesichts ihrer Möglichkeiten – gerade auch technischer Art – können Falschaussagen zu einer enormen Gefahr werden.

wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden, besteht nach §55 Strafprozesssordnung (StPO) das das sog. Auskunftsverweigerungsrecht. Beispiel: In einem §129a-Verfahren (K.O.M.I.T.E.E.Verfahren) 1994 beriefen sich z. B. ZeugInnen auf den § 55. Begründet wurde dies mit der Unübersichtlichkeit eines 129 a-Verfahrens, damit, dass die Aktenlage nicht bekannt sei und deshalb unklar wäre, ob eine ZeugIn sich nicht selber belasten würde. Insbesondere, weil in 129 a-Verfahren auch gegen das Umfeld ermittelt würde. Daraufhin wurde die Befragung abgebrochen und die Reaktion der Bundesanwältin ließ fünf Wochen auf sich warten. Obschon Ordnungsgeld verhängt wurde, war der Vorteil in diesem Fall ein Zeitgewinn von fünf Wochen.


... Verhalten als Zeuge / Zeugin

Welche Spielräume wir durch solche juristischen Finessen gegenüber der Bundesanwaltschaft (BAW) haben, ist schwer einzuschätzen, am Schluss stehen wir dann doch wieder vor der Frage, ob wir die Aussage konsequent verweigern. Einige empfehlen den §55 als Mittel, um Aussagen zu vermeiden und trotzdem einer drohenden Beugehaft zu entgehen. Da aber unter Umständen begründet werden muss, warum die Antwort auf diese Frage dich belasten würde, wird meist doch ähnlich viel ausgesagt wie bei der direkten Beantwortung der Frage. Im Gegenteil werden damit der Gegenseite sogar meist weitere Informationen geliefert. Außerdem gibt es immer Fragen, bei denen eine Selbstbelastung völlig undenkbar ist und bei denen eine Antwort verlangt wird, die du bei dieser ›Taktik‹ also beantworten müsstest. Und schon bist du im Gespräch und die Praxis zeigt, dass in dieser Situation niemand mehr eine selbstbestimmte Grenze ziehen kann. Schließlich lieferst du der Staatsschutzjustiz damit auch die von ihr geforderte Unterwerfungsgeste und trägst ggf. zu einer Spaltung innerhalb der Gruppe der ZeugInnen und Angeklagten bei, denn eine gemeinsame Prozessstrategie ist dann meist nicht mehr möglich. Daher warnen wir vor dem Versuch, sich mit der Methode »Aussageverweigerung wegen Selbstbelastung« leichtfertig aus der Affäre ziehen zu wollen! Jede kleine Mitteilung, auch im Zusammenhang mit dem §55, kann ein Stück in ihrem Puzzle sein. Deswegen: Je stärker wir uns in unseren Positionen fühlen, desto sicherer können wir die Aussage ohne eine solche Begründung verweigern. In jedem Fall aber nie ohne vorherige Rücksprache mit deinem Rechtsbeistand bzw. der Roten Hilfe oder dem EA eine solche Entscheidung treffen.

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• Das Aussageverweigerungsrecht nach § 52 StPO Von der Aussagepflicht gibt es noch eine Ausnahme: Die ZeugIn ist mit dem /der Angeklagten verwandt oder würde sich oder seine Angehörige durch die Aussage in die Gefahr bringen strafrechtlich verfolgt zu werden (§ 52 StPO). Nach §52 der StPO genießen mit dem / der Beschuldigten verlobte, verheiratete, in einer gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft lebende oder verwandte Personen ein Zeugnisverweigerungsrecht. In der Vergangenheit wurde in einigen Fällen bei politischen Verfahren auch von diesem Paragrafen Gebrauch gemacht, so dass eine anderenfalls vielleicht bevorstehende ZeugInnenvorladung und sich daraus eventuell ergebende Zwangsmittel abgewendet werden konnten. Wir freuen uns über jede und jeden, die /der nicht in den Knast muss und wir finden, dass diese Möglichkeit, da wo es geht, auch genutzt werden sollte. Aber: Manchmal wundern wir uns doch, wie schnell politische Kriterien ausgerechnet an dieser Stelle zugunsten eines eher »flexiblen« Umgangs mit der Justiz über Bord geworfen werden, wo doch bei vielen anderen Entscheidungen zu Recht die Notwendigkeit einer politischen Haltung betont und eine entsprechende Konsequenz eingefordert, zumindest aber eine politische Erklärung erwartet wird. Der Gebrauch des §52 und das damit verbundene Beziehen auf eine Institution, die patriarchale und heterosexistische Verhältnisse aufrechterhalten soll, bleibt eine zwielichtige Sache. Es können nur wenige den § 52 nutzen: Es kann sich immer nur die oder der Verlobte darauf berufen. Es kann also keine ganze WG sagen, sie wäre verwandt, verlobt oder verschwägert, selbst wenn mehrere Personen ein näheres Verhältnis zu der beschuldigten Person haben als die Familie.


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Gut – wir müssen nicht immer zu jeder Zeit und in jeder Situation 100%ig unsere ganze politische Einstellung zum Ausdruck bringen. Wir können auch taktisch vorgehen. Einem taktischen Verhalten geht eine Entscheidung für einen bestimmten Zweck voraus. In diesem Fall heißt der Zweck: Schutz der eigenen Person und der, über die ausgesagt werden soll, Schutz vor ZeugInnenvorladung, Schutz vor Knast. Die Voraussetzung, eine solche Entscheidung fällen zu können, ist allerdings eine solidarische Diskussion. Hierbei muss offen diskutiert werden, ob die Berufung auf den §52 StPO lediglich die Entscheidung für den Weg des geringsten Widerstandes ist. Geht es doch darum, Aussageverweigerung politisch zu begründen und durchzustehen, und nicht darum, dass jedeR sofort jeden sich bietenden Strohhalm ergreift.

Erzwingungshaft (›Beugehaft‹) als Zwangsmittel Wer nicht als ZeugIn aussagt, obwohl er /sie müsste, wer weder Zeugnis- noch Auskunftsverweigerungsrecht hat, kann mit dem Zwangsinstrument eines einmaligen Ordnungsgeldes (abhängig vom Einkommen – ersatzweise Haft) oder Beugehaft belegt werden, beides nach §70 der Strafprozessordnung. Damit sollen Aussagen erzwungen werden. Beugehaft wird aber auch als reine Schikane und Repressionsmaßnahme genutzt, gerade wenn die Ermittelnden sehr wohl wissen, dass sie auch nach der Beugehaft keine Aussagen bekommen werden. Wenn eine Zeugin/ ein Zeuge erst zu einem und dann zu einem anderen Komplex Angaben machen soll, und auch für diesen zweiten Komplex die Angaben verweigert, so darf die Erzwingungshaft zwar mehrmals verhängt werden. Sie darf aber die Obergrenze von sechs Monaten für das gesamte

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Ermittlungsverfahren, in dem die Zeugin / der Zeuge Aussagen machen soll, nicht übersteigen. Beugehaft wird manchmal bereits von der Staatsanwaltschaft angedroht. Aber auch hier gilt: Ruhe bewahren. Nur der/die RichterIn darf Beugehaft anordnen, nicht die Staatsanwaltschaft. Vor einer eventuellen Beugehaft steht also in der Regel die Möglichkeit, sich darauf vorzubereiten, mit FreundInnen und GenossInnen zu reden, VerteidigerInnen zu Rate zu ziehen, eine Kampagne zu planen und auch ganz praktisch für Miete u.ä. zu sorgen, die Folgen für Arbeitsplatz, Schule etc. zu minimieren. Oftmals bleibt es jedoch bei der Androhung der Beugehaft. In den vergangenen Jahren wurde diese Drohung unseres Wissens nach hauptsächlich in großen politischen Prozessen umgesetzt, genauer gesagt bei solchen, bei denen (hohe) Haftstrafen zu erwarten waren. Trotzdem muss davon ausgegangen werden, dass RichterInnen weiterhin von diesem Mittel Gebrauch machen werden – auch um der Diskussion um Aussageverweigerung etwas entgegen zu setzen. Deshalb sollten sich alle, die als ZeugInnen in politischen Ermittlungen befragt werden mit dem Thema Beugehaft auseinandersetzen – v.a. wenn es um §129a geht.


... Verhalten als Zeuge / Zeugin

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Schnüffelparagraf 129 Der §129 Strafgesetzbuch (StGB) ist ein Kern des politischen Strafrechts in der Bundesrepublik. Mit dem §129a wurde 1976 ein Organisationsverbrechen eingeführt. Es muss nun keine konkrete Straftat mehr nachgewiesen werden, sondern die bloße »Mitgliedschaft« in einer Organisation, die für bestimmte Straftaten verantwortlich gemacht wird, reicht aus. Es handelt sich um einen »Vereinigungstatbestand«, d.h. die »Mitgliedschaft« oder lediglich die »Unterstützung« bzw. »Werbung« für eine als »kriminell« oder »terroristisch« definierte Gruppierung kann strafrechtlich verfolgt werden. Mit dem §129 a als Ermittlungsparagrafen wurde ein strafprozessuales Sonderrecht mit Erweiterung der Ermittlungsbefugnisse und der Einschränkung der Verteidigerrechte entwickelt. Es reicht aus, einen Verdacht gegen eine Person oder eine Gruppe zu konstruieren, um willkürlich Telefone abzuhören, Wohnungen zu durchsuchen, Material zu beschlagnahmen sowie Menschen zu schikanieren und zu inhaftieren. Mit dem Strafrechtsänderungsgesetz vom 30.08.2002 wurde der §129b in das Strafgesetzbuch aufgenommen und damit der ohnehin umstrittene §129 a StGB auf Vereinigungen im Ausland ausgeweitet. Damit kann die BRD gegen Vereinigungen, die es in Deutschland nicht gibt und die in Deutschland nicht aktiv sind, vorgehen und deren Mitglieder überwachen und bestrafen, ohne selbst im Ausland ermitteln zu können. In Verfahren nach §129 b StGB können die Ermittlungsbehörden und die Gerichte eine Organisationsstruktur nur mit Hilfe von Beweismitteln feststellen, die von ausländischen Strafverfolgungsbehörden oder Geheimdiensten ermittelt wurden. Dies führt dazu, dass z.B. die Erkenntnisse türkischer Polizei oder Geheimdienste, auch durch Einsatz von Folter in Verhören gewonnene Informationen, in Verfahren nach §129b ohne Überprüfung übernommen werden. Von diesem Paragrafen sind in erster Linie MigrantInnen betroffen. Eine Verfolgung setzt immer eine Qualifikation einer bestimmten Gruppe als »terroristisch« voraus. Dies ist schon im Inland problematisch und bei einer Organisation im Ausland erst recht willkürlich. Schon immer haben Machthaber Oppositionsgruppen aller Art als »terroristisch« bezeichnet, um sie zu delegitimieren. In der Praxis dient eine solche Vorschrift vor allem dazu, Solidaritätsarbeit mit ausländischen Oppositionsgruppen zu kriminalisieren. Dazu kommen ausländerrechtliche Sanktionen gegen Flüchtlinge und MigrantInnen, die für eine ›falsche‹ Gruppe politisch aktiv sind.

Die Aussageverweigerung als ZeugIn geht daher aller Erfahrung nach nicht ohne Ängste vor persönlichen Konsequenzen über die Bühne. Wir sind alle nur zu gerne bereit, unser bisschen Freiheit hier draußen unter allen Umständen zu behalten. Trotzdem bzw. gerade deshalb gilt es, den persönlichen Bedürfnissen die politischen Notwendigkeiten entgegenzusetzen.

Anders als oft unterstellt wird, bedeutet ein solches Vorgehen keinesfalls, die Ängste und Schwierigkeiten zu leugnen, die angesichts einer drohenden Inhaftierung auftauchen, oder sie gar einfach als »bürgerliche Kacke« abzutun. Es geht vielmehr darum, sie nicht zur Grundlage der Debatte zu machen und damit den Anschein zu erwecken, das jeweilige Verhalten von »ZeugIn-


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nen« sei Ergebnis ihrer persönlichen Lebensumstände – denn ob sich jemand entscheidet, in Beugehaft zu gehen oder mit so genannten ›begrenzten Aussagen‹ den Weg zur Kooperation zu beschreiten, ist in erster Linie eine Frage des politischen Kopfes. Und so muss das Ganze vor dem Hintergrund möglicher Probleme und Folgen für das Leben der/des Betroffenen diskutiert werden. Wie sinnvoll ein gemeinsames und entschlossenes Vorgehen bei ZeugInnenvorladungen vor Gericht ist, zeigt sich am Beispiel des Magdeburger §129a Verfahrens. Hier sollten 2005 zwölf Leute vor Gericht als ZeugInnen gegen zwei beschuldigte Genossen aussagen. Die Betroffenen verweigerten kollektiv mit einer gemeinsamen Erklärung die Aussage. Die angedrohte Beugehaft wurde aufgrund der gelebten Solidarität und der geschaffenen Öffentlichkeit nicht angeordnet. Einzig ein bereits verurteilter und erneut vorgeladener Genosse musste in Erzwingungshaft.

• Venceremos! Wir müssen davon ausgehen, dass nicht alle selbstverständlich die praktische Zusammenarbeit bei Verfahren und Aburteilungen verweigern. Um die Konfrontation mit den Repressionsorganen aufzunehmen brauchen wir eine ehrliche Diskussion über unsere Ängste, z.B. in Zusammenhang mit möglichen Verlusten von Beziehungen und / oder Arbeitsplatz, Sorge um Kinder, persönliche Unsicherheiten etc. Aussageverweigerung als bloße politische Direktive ist zu wenig. Um dahin zu kommen, konsequente Aussageverweigerung möglich zu machen, bedarf es einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit FreundInnen und dem politischen Umfeld über sich selbst und die momentane Situation, in der jedeR gerade steckt. Dazu gehören auch Ängste, Fragen der materiellen Absicherung, der eigenen politische Identität und

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Solidarität. Zu dieser Solidarität gehört auch, dass wir die Beugehaft als ein Druckmittel zur Denunziationspflicht gesellschaftlich ins Gerede bringen und sie schlussendlich kippen. Unsere Erfahrungen in der letzten Zeit haben aber auch gezeigt, dass eine Auseinandersetzung über Knast und mit Leuten, die schon mal längere Zeit in Haft waren, das Schreckgespenst Beugehaft etwas relativiert hat. Die Berichte haben uns gezeigt, dass der Druck auszuhalten ist. Es gibt auch ein Leben im Knast, auch wenn der einen oder dem anderen die vermeintliche Einsamkeit schwer fällt. Gut ist es, wenn Freundinnen und Freunde eineN im Vorfeld, während der Knastzeit und auch noch danach begleiten. Wer in diese miese Situation gerät, sollte sofort Kontakt zur Roten Hilfe aufnehmen. Wir lassen niemanden, der /die in Beugehaft sitzt, alleine! • FÜR EINE OFFENE UND SOLIDARISCHE AUSEINANDERSETZUNG! • AUSSAGEVERWEIGERUNGSRECHT FÜR ALLE! • SOLIDARITÄT IST EINE WAFFE!

• Aussage konsequent verweigert – was erwartet eine/n im Knast? Gefangene im Knast werden mit einer ungeheueren Bürokratisierung der Abläufe konfrontiert. Grundsätzlich gelten in der Beugehaft laut Strafvollzugsgesetz (StVollzG) hauptsächlich die Bedingungen der Strafhaft (Vollzug der Freiheitsstrafe, §§ 3–122 StVollzG), was bedeutet, dass die Bedingungen in der Beugehaft gegenüber den Bedingungen für die U-Häftlinge lockerer sind. Es ist aber auch schon vorgekommen, dass der zuständige Ermittlungsrichter die Haftbedingungen festgelegt hat. Ausnahmen regeln die §§ 171–175 StVollzG, die besondere Rechte für Beugehäftlinge beinhalten. So unter anderem, dass kein Zwang zur Arbeit besteht, dass eine »Unterbringung« zusammen mit


... Verhalten als Zeuge / Zeugin

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anderen Gefangenen nur mit Zustimmung erfolgen kann und dass der Einkauf im Knast (Lebensmittel, Tabak, etc.) mit »Eigengeld« erlaubt ist, d. h. über ein persönliches Knastkonto erfolgt, auf das Geld von außen überwiesen werden darf. Für diese ›Vorzugsbehandlung‹ müssen die Betroffenen aber auch zahlen: Für Unterkunft und Verpflegung 20,– Euro/Tag. Nach dem Strafvollzugsgesetz bestehen außerdem bei Verheirateten besondere Besuchsrechte für Gefangene. So können Kontakte nach außen gewährleistet und emotionale Wärme nach drinnen transportiert werden. Das Strafvollzugsgesetz (StVollzG) bestimmt Pflichten und Rechte von gefangen gehaltenen Menschen. Über die Pflichten werden die Betrofffenen, wenn auch unzureichend, informiert. Mit den Informationen über die gesetzlich festgelegten Rechte wird dagegen richtig gegeizt bzw. sogar regelrecht desinformiert. Durch das StVollzG in Verbindung mit den (vor der Föderalismusreform noch bundeseinheitlichen) Verwaltungsvorschriften und der »Hausordnung« der jeweiligen Anstalt ist der alltägliche Ablauf und die Rahmenbedingungen peinlich genau geregelt. Die Unterschiede von Knast zu Knast können deshalb sehr groß sein. Dies betrifft vor allem Anzahl, Ablauf und Dauer von Besuchen, ob ein zweiwöchentlicher oder wöchentlicher Einkauf gestattet wird etc. Im Knastalltag werden permanent die Rechte von Gefangenen verletzt. Um sich dagegen wehren zu können und die bestehenden Rechte durchzusetzen gehört das Wissen um diese Rechte zur Grundausstattung. Es ist wichtig sich auf jeden Fall vorher zu informieren, was im Rahmen von angedrohter oder zu erwartender Beugehaft möglich ist. Und ein paar konkrete Fragen sollten schon vorher gestellt bzw. mit FreundInnen durchgesprochen werden. Z.B. wäre es bei der ärztlichen Eingangsuntersuchung von Vorteil zu wissen, was »sie«

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genau wollen (Welche Fragen werden gestellt? Welche Untersuchungen werden durchgeführt?) und welche Konsequenzen kann eine, auch teilweise, Verweigerung mit sich bringen. Wichtig ist auch, sich vorher zu überlegen, welche Informationen gleich in der ersten Zeit im Knast wichtig sind. Hier nur ein Beispiel: Der Einkauf ist nur an einem festgelegten Wochentag möglich, meist auch zu einer bestimmten Uhrzeit – wird dieser versäumt, weil der Einkauf z.B. direkt am Morgen vor der Einlieferung ist, muss sich ausschließlich mit dem Knastfraß zufrieden gegeben werden. Empfehlenswert für die Vorbereitung auf den Gefängnisalltag sind der »Ratgeber für Gefangene« (nicht mehr erhältlich, also nach alten Exemplaren rumfragen) und Gespräche mit Leuten, die Knasterfahrung haben. Zum einen nimmt es ein Stück Unsicherheit, schwarz auf weiß zu sehen, welche Rechte bestehen. Zum anderen hilft eine gute Vorbereitung, sich bei den gerade am Anfang vermehrt zu führenden Auseinandersetzungen mit der Knastbürokratie zu behaupten. Und es besteht die Möglichkeit, sich Respekt gegenüber Wachpersonal und PolizeibeamtInnen zu verschaffen, wenn klar ist, dass nicht jeder Mist geglaubt und gefressen wird, mit dem sie eineN abspeisen wollen.


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4 Verhalten bei Anquatschversuchen des Verfassungsschutzes


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Der Verfassungsschutz Die Aufgabe des Bundesamtes für Verfassungssschutz (BfV) und der sechzehn Landesämter für Verfassungsschutz (LfV) ist es, möglichst viele Informationen über echte oder vermeintliche ›Verfassungsfeinde‹ und ›Extremisten‹ zu sammeln. Während die Verfassungsschutzbehörden keinerlei polizeiliche Befugnisse haben, steht ihnen jedoch ein breites Spektrum an Überwachungs- und Ausforschungsmöglichkeiten zur Verfügung. Sie arbeiten auch mit der politischen Polizei und der Justiz zusammen. Der Verfassungsschutz liefert Informationen und bastelt sich Material für die staatliche Repression zusammen. Als einfache und kostengünstige Möglichkeit, linke Zusammenhänge auszuforschen, nutzt der Verfassungsschutz Spitzel und InformantInnen in allen möglichen politischen Zusammenhängen und deren Umfeld.

Anquatschversuch Am Anfang jeder Informationssuche steht die Kontaktaufnahme. Meist arbeiten Verfassungsschutzbeamte zu zweit, nicht selten Mann und Frau. Sie lauern potentiellen Opfern an deren Wohnungstür auf, aber auch manchmal auf dem Weg zum Arbeitsplatz, in der Kneipe, beim Sport etc. Manchmal rufen sie auch an und wollen ein Trefffen vereinbaren. Sie stellen sich oft als MitarbeiterInnen einer Bundesbehörde vor, können sich aber auch als was ganz anderes ausgeben, z.B. als freieR MitarbeiterIn einer Arbeitsagentur. ›Heroische‹ Versuche auf die Spitzelwerbung zum Schein einzugehen, um was »raus zu finden« sind prinzipiell falsch und gefährlich. Erstens weiß niemand, was bei einem ›Scheingespräch‹ alles gequatscht wurde, zweitens ist das erstmalige Eingehen auf Kontaktsuche für sie ein Zeichen zum Weiterbohren. Dann steht der Vorwurf im Raum,

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mit Spitzeln längere Gespräche geführt zu haben. Wenn dich Verfassungschutz-MitarbeiterInnen ansprechen, ist es ihr Ziel, von dir Informationen über konkrete Aktionen, politische Zusammenhänge und Strukturen zu erhalten. Und zwar möglichst umfangreich, lange und kontinuierlich. Dabei werden sie sich nicht scheuen, zu bestechen, dir zu drohen oder Verständnis und Sympathie vorzuheucheln.

• Wer wird angesprochen? JedeR kann von interessierten Behörden (Verfassungsschutz, Landeskriminalamt oder Staatsschutz der Polizei) angesprochen werden. Gerne werden jüngere Leute angequatscht, die einem politischen Umfeld zugerechnet werden. Es ist aber durchaus auch schon vorgekommen, dass langjährige PolitaktivistInnen angequatscht wurden (siehe Kasten). Die VerfassungsschützerInnen nutzen die individuelle Situation der Angesprochenen. Vor einer Kontaktaufnahme informiert sich der Verfassungsschutz in der Regel sehr gut über seine Opfer. Es wird versucht »Schwachstellen« ausfindig zu machen. Soziale und private Probleme, persönliches Umfeld, die ›offizielle‹ Strafkartei, Geld- und Drogenprobleme werden als Aufhänger für Anquatschversuche genommen. Die BehördenmitarbeiterInnen zeigen, dass sie umfassend informiert sind und geben bei Anquatschversuchen gezielt Informationen aus dem privaten Bereich preis. Das soll die angesprochene Person einschüchtern und verunsichern. Sie bieten dann zuerst Hilfe an, sei es bei Behördengängen, bei finanziellen Problemen (so wird einer/m Erwerbslosen, die / der Schulden hat, vielleicht eine Arbeitsstelle in Aussicht gestellt). Sie bieten an, bei laufenden Ermittlungsverfahren z. B. wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz, ein Auge zuzudrücken. Auch die Minderung einer


Anquatschversuche des Verfassungsschutzes

Haftstrafe wurde schon angeboten – obwohl es zweifelhaft ist, ob der Verfassungsschutz darauf überhaupt Einfluss hat. Wer auf Bestechung nicht reagiert, wird dann auch unter Druck gesetzt, z. B. damit, eineN in der nächsten Zeit genau ins Visier zu nehmen, Eltern oder Arbeitgeber zu informieren. Als Gegenleistung für ihre ›Hilfe‹ fordern sie Informationen über linke Strukturen und das politische Umfeld.

• Wie verhalte ich mich, wenn ich angesprochen werde? Meistens kommt der Anquatschversuch überraschend. Bevor der Verfassungsschutz (VS) jemanden anspricht, werden genaue Erkundigungen über die Zielperson eingeholt. Deshalb wissen die BeamtInnen im Gespräch oft viele Details, die eine/n im ersten Augenblick überraschen und verunsichern. Sie hoffen so, die angesprochene Per-

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son leichter zum Reden zu bringen. Die MitarbeiterInnen des Verfassungsschutzes sind psychologisch geschult und können auch durch scheinbar harmlose Gespräche Erkenntnisse über Personen und linke Strukturen gewinnen. Wenn also der Verfassungsschutz plötzlich vor euch steht, ist es erst einmal wichtig ruhig Blut zu bewahren. Wer von den Schnüfflern angesprochen wird, hat nichts falsch gemacht! Das ist erstmal nichts Tragisches und nichts, wofür Betroffene sich schämen müssten. Auch wenn VSler im Auftreten anders agieren als PolizistInnen, auch sie wollen Informationen gegen dich und deine Zusammenhänge sammeln. Sie wollen dich benutzen und aushorchen. Wenn du durch VerfassungsschützerInnen angesprochen wirst, beende das Gespräch sofort. Schlag ihnen die Tür vor der Nase zu oder geh einfach weg. Macht den VS-BeamtInnen klar, dass du mit ihnen in keinerlei Hinsicht zusammenarbeiten wirst und


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• Verfassungsschutz wieder unterwegs: Ein typisches Beispiel. Als ein seit Mitte der 70er Jahre aktiver Genosse aus autonom-antifaschistischen Zusammenhängen morgens seine Wohnung verließ, um mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren, spielte sich eine Szene aus einem drittklassigen Actionfilm ab. Mit hoher Geschwindigkeit überholte ihn ein Auto und setzte sich wenige Meter vor ihm quer. Zwei Männer sprangen aus dem Wagen und gingen auf ihn zu. Der Wagen fuhr ums Carré und parkte in Sichtweite. Der ältere Mann – Ende vierzig, Anfang fünfzig – sprach den Genossen an. Der jüngere – höchstens Mitte zwanzig – schwieg während der ganzen sich nun abspielenden Szene. »Guten Morgen Herr ..., wir kommen vom Verfassungsschutz und möchten Ihnen ein Angebot machen.« Als der Genosse meinte, dass dies nicht in Frage käme, setzte der Beamte nach. »Wir wissen, dass es Ihnen beruflich nicht gut geht und sind bereit, Sie finanziell großzügig zu unterstützen.« Noch bevor der Genosse reagieren konnte, wurde das Angebot konkreter. Er könne zwischen einer höheren einmaligen Zahlung oder regelmäßiger Zahlung wählen. Wenn es zu knapp wäre, könne man darüber reden noch mal 10 000 Euro draufzulegen. Als der Genosse abweisend reagierte und bemerkte, wie billig diese Anmache sei, folgten peinliche Ausführungen über vermeintliche Schnittpunkte im Denken und über punktuelle Gemeinsamkeiten. Dabei gab sich der Beamte scheinbar harmlos. Erst als der Genosse wieder losradeln wollte, gab es einen schwachen Versuch der Einschüchterung. Man wisse, mit wem er arbeitet, wo er wohnt und wo er sein Mittagessen einnimmt. Dies ist eine typische Methode solcher Anquatschversuche um zu signalisieren, dass man Bescheid wisse und dass man schon länger beobachte. Insgesamt machte der Verfassungsschützer einen harmlosen, nicht besonders engagierten Eindruck. Auch die Gesamtsituation, mitten auf der Strasse im Berufsverkehr und viele Fußgänger in der Nähe, war nicht gerade furchterregend. Das ist allerdings kein Grund, diese Geschichte auf die leichte Schulter zu nehmen. Verfassungsschützer geben sich manchmal ganz anders als sie sind oder haben mehrere Varianten drauf. Oft gibt es auch einen oder mehrere weitere Versuche, die sich dann anders abspielen. Um dagegen gewappnet zu sein, ist es sinnvoll sich vorher über die Möglichkeit eines Anquatschversuches Gedanken zu machen!

sie schleunigst zu verschwinden haben. Lasst euch keine Angst machen. Wenn es geht, den Ausweis zeigen lassen, den Namen, das Aussehen der Person, gegebenenfalls Auto und Autokennzeichen möglichst genau einprägen. Dies schützt zwar nicht davor, dass sie ihren Namen und das Auto wechseln, macht es ihnen aber bei Veröffentlichung schwerer, weiterhin Leute zu belästigen und herumzuschnüffeln. Prinzipiell ist es sehr nützlich nach dem Vorfall ein schriftliches Gedächtnisprotokoll anzufertigen.

Und ganz wichtig: Redet mit FreundInnen, Bekannten und GenossInnen über den Anquatschversuch. Unsere wirksamste Waffe ist ein offener, vertrauensvoller und solidarischer Umgang miteinander. In einer solidarischen Atmosphäre unter GenossInnen sollte es dabei auch möglich sein einzugestehen, wenn Fehler gemacht wurden – der Verfassungschutz eventuell etwas erfahren hat. Ein solcher Vorfall macht Angst, und auch wenn ihr euch nicht vorbildlich verhalten habt: Es ist nie zu spät, mit jemandem darüber zu reden.


Anquatschversuche des Verfassungsschutzes

Um dich und deine Zusammenhänge vor Repressalien zu schützen ist es sinnvoll, den Anquatschversuch nach Rücksprache mit GenossInnen öffentlich zu machen. Öffentlichkeit ist der einzige Schutz vor Anquatschversuchen. Es ist wichtig, dass diese Vorfälle nicht verschwiegen werden – geheime Dienste scheuen das Licht!

• Grundsätzliches zum Umgang mit dem Verfassungsschutz 1. Als von staatlicher Repression Betroffene trifft euch keine Schuld, ihr habt nichts falsch gemacht; ihr seid nicht mit den ›falschen‹ Leuten zusammmen gekommen; ihr seid aus den unterschiedlichsten Gründen vom staatlichen Repressionsapparat ›ausgewählt‹ worden. 2. BeamtInnen des Verfassungsschutzes, deren Arbeit sich im Gegensatz zum polizeilichen Staatsschutz ausschließlich auf geheimdienstliche Erkenntnisse bezieht, haben keinerlei Befugnisse, eine Aussage oder Mitarbeit zu verlangen; sie haben keine Macht, juristischen oder sonstigen Druck auf dich auszuüben (auch wenn sie in Extremfällen damit drohen); deshalb verweist sie am Besten gleich des Hauses. 3. Bei VS-BeamtInnen handelt es sich immer um geschultes, professionell ausgebildetes Personal, das euch in jeder Hinsicht immer um mehrere Schritte voraus ist. Zu denken, ihnen bei einem Gespräch etwas ›vorspielen‹, sie auf falsche Fährten locken zu können, ist fatal – ihr wurdet ja eben deshalb ausgewählt, weil sie genauestens über euch, euren (ehemaligen) Freundeskreis und über Freizeitverhalten etc. Bescheid wissen. Ihr werdet niemals zufällig ausgewählt. 4. Übertriebene Vorsicht oder gar Verfolgungswahn bei der politischen Arbeit sind genau so schädlich wie Arglosigkeit und Naivität. Unbewiesene Spitzelvorwürfe und Gerüchte schaden und

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sind um keinen Deut besser als Spitzeltätigkeit selber. Angst vor totaler Überwachung, vor Spitzeln und Provokateuren können die politische Arbeit hemmen und der Bewegung schaden und fügen sich nahtlos in das Konzept polizeilicher und geheimdienstlicher Zersetzungsarbeit! 5. Macht den Anquatschversuch öffentlich, denn der Verfassungsschutz ist ein Geheimdienst und scheut nichts so sehr wie die Öffentlichkeit! Sonst versuchen sie es auch immer wieder. Auch sollten lokale Antirepressionsstrukturen, der Ermittlungsausschuss (EA) und soweit vorhanden auch die Ortsgruppe der Rote Hilfe informiert und gegebenenfalls auch aufgesucht werden. Wie bei allen anderen Strafverfolgungsbehörden gilt auch beim Verfassungsschutz: Keine Aussagen!


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5 ... FAzit

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... Fazit

••• Wir sollten uns nichts vormachen: Ermittlungs- oder Gerichtsverfahren sind das ureigenste Terrain des Staates – nicht das unsere. In aller Regel sind wir im Konflikt mit der Justiz auf die Hilfe von Menschen angewiesen, die dafür ausgebildet sind und / oder über dementsprechende Erfahrung – oder auch nur einen nüchternen Blick von außen – verfügen. Wer sich mit Aussageverweigerung und Verhörmethoden auseinandergesetzt hat, kann sich auf etwas stützen, wenn er oder sie in eine dementsprechende Situation kommt – es hilft ungemein, wenn dich nichts mehr wirklich überraschen und überrumpeln kann. Trotz der an sich schon unangenehmen Situation kann das Wissen um die eigenen Rechte, um das Vorgehen der Ermittlungsbehörden und das Lernen aus Erfahrungen Anderer Sicherheit geben und helfen, gegen derlei Angriffe besser gewappnet zu sein!

Es gibt keine entlastenden Aussagen! Es gibt keine entlastenden Aussagen. Das Interesse der Ermittlungsbehörden besteht gerade darin, Belastendes gegen dich und andere zu finden. Anscheinend entlastende Aussagen können schnell in ihr Gegenteil verkehrt werden. Zumal es kaum absehbar ist, welche Informationen von den Repressionsorganen in Verfahren, in denen es häufig noch nicht einmal einen konkreten Tatvorwurf gibt, zu Indizien gemacht werden können. Die Ermittlungsbehörden sind in dieser Hinsicht sehr phantasievoll! Gilt ihre Aufmerksamkeit doch linken Strukturen im allgemeinen und politisch aktiven, systemkritischen Menschen im besonderen! Der Schutz unserer Strukturen muss unser aller Anliegen sein!

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Es gibt keine harmlosen Aussagen! Schon aus der Begründung laufender Ermittlungsverfahren wird ersichtlich, dass es in den Augen der Staatsschützer kaum Unverdächtiges gibt. So müssen z.B. als Indizien herhalten: • das Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln, obwohl ein eigenes Auto vorhanden ist, • die Beschäftigung mit so genannten ›anschlagsrelevanten Themen‹ wie Gentechnik und Humangenetik, Rüstungs- und Repressionstechnologie etc., • das Verabreden im Hinterzimmer einer Kneipe ohne am Telefon ausdrücklich den Zweck des Treffens zu nennen, • die Bekanntschaft mit Personen, die ihrerseits einer dieser Unverschämtheiten bezichtigt werden. In der Begründung einiger in Prozessen gestellter Beugehaftanträge hieß es z. B., dass »Umstände aus dem persönlichen Lebensbereich« beweiserheblich seien, oder dass »durch persönliche, berufliche oder gesellschaftliche Interessen erklärbares Verhalten der Beschuldigten ermittelt werden muss, um es von Verhaltensweisen zu unterscheiden, die ihre Erklärung in dem Engagement der Beschuldigten für die Vereinigung XYZ finden«. Auch im privaten Bereich, z. B. dem Zusammenwohnen in einer WG, wird es schwierig auf scheinbar harmlose Fragen nach FreundInnen, Bekannten, Aufstehgewohnheiten, Krankheiten, Lese- und Telefoniergewohnheiten der beschuldigten Person zu antworten. Dass diese Dinge nicht bekannt seien, kann für die Ermittlungsbehörden den Schluss nahelegen, dass diese Person konspirativ gehandelt habe. Beispiel Telefongespräche: Eine Zeugin wird gefragt, ob ihre Mitbewohnerin X mit Y bekannt ist. Im Bemühen möglichst schwammig und unverbindlich zu antworten, sagt die Zeugin: »Ich weiß nicht«. Nun hat aber das Bundeskriminalamt (BKA)


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die Person X schon länger bespitzelt und ein Telefongespräch zwischen X und Y abgehört. Vor diesem Hintergrund, der der Zeugin nicht bekannt ist, wird die Aussage »ich weiß nicht« zur relevanten Information. Verheimlicht die Zeugin die Beziehung, weil sie ihr heikel erscheint, oder hat gar X selbst gegenüber der Zeugin die Beziehung zu Y verheimlicht? Beides deutet auf eine möglicherweise konspirative Beziehung zwischen X und Y hin. Beispiel Rasterfahndung: Auch scheinbar banale Aussagen können zur Aufstellung von Rastern dienen. Die harmlose Eigenschaft, Leser der Frankfurter Rundschau zu sein, ließ XY in das Fangnetz des Bundeskriminalamtes laufen. Durch Observierung der Zeitungskioske in einer bestimmten Stadt wurde er beim Kauf einer solchen festgenommen. Im Rahmen von Fahndungen ergeben dann auch Aussagen nach Krankheiten, Medikamenten, Allergien, Kontaktlinsen, Musikgeschmack, nach bevorzugten Genussmitteln usw. usf. einen Sinn.

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Sie können den Repressionsorganen bei Fahndungen wichtige Anhaltspunkte liefern.

Es gibt keine banalen Fragen! Auch scheinbar banale Fragen und solche, auf die es amtliche Antworten gibt, erfüllen ihren Zweck! Prinzipiell gilt, dass die MitarbeiterInnen der Repressionsorgane keine dummen Fragen stellen. Beispiel Verhörsituation: Die Staatsanwaltschaft stellt eine Reihe Fragen wie: »Wo hat X zu einem bestimmten Zeitpunkt gewohnt?« – natürlich wo er gemeldet war –, »Wo hat X gearbeitet?« etc. Die Zeugin überlegt angestrengt, welche Frage ihr relativ harmlos erscheint, welche nicht. Ihr Zögern, Ausweichen, ihre schnelle Antwort bieten den Vernehmenden Hinweise auf für sie möglicherweise interessante Punkte in der Biographie der gesuchten Person.


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Begriffserklärungen Immer wieder ist festzustellen, dass mit der Verwendung von Begriffen aus der bürgerlichen Justiz in der Anti-Repressionsdiskussion oft sehr unterschiedliche Inhalte verbunden werden. Im Gegensatz zur bürgerlichen Justiz werden Begriffe oft sehr unkonkret und politisch verschwommen verwendet. Daher an dieser Stelle eine knappe Begriffsklärung, um Missverständnissen vorzubeugen und eine inhaltlich klare Auseinandersetzung zu erleichtern.

Aussage • »Aussage ist im Verfahrensrecht jede sprachliche Mitteilung ...« (aus: Köbler – Juristisches Wörterbuch. Für Studium und Ausbildung. München, 1977) »Aussage ist eine sprachlich gefasste Mitteilung, ein kurzer Bericht, eine Erklärung vor einer Behörde.« (aus: Wahrig – Wörterbuch der deutschen Sprache. München, 1978) Aussagebereitschaft • »Geht es um die Aussage- und auch Geständnisbereitschaft, stellt sich die Frage nach den entscheidenden psychischen Abläufen eines Beschuldigten und der optimalen Situationsgestaltung im Rahmen einer Verneh-

mung, die den Beschuldigten dazu veranlassen, keine, absichtlich falsche oder entsprechend seiner tatsächlichen Erinnerungen wahrheitsgemäße Angaben zu machen.« (aus: Brockmann /Chedor – Vernehmung – Hilfe für den Praktiker. Hilden 1999) Aussageerpressung • »Die Herbeiführung einer Aussage unter Anwendung verbotener Vernehmungsmethoden durch Strafverfolgungsorgane stellt regelmäßig eine Aussageerpressung (§ 343 StGB) dar. Daneben können, je nach Art und Folgen der angewandten verbotenen Vernehmungsme-


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thoden §§223ff. [Körperverletzung, d.Red.] und § 340 StGB [Körperverletzung im Amt, d.Red.] einschlägig sein.« (aus: Clages (Hrsg.): Der rote Faden – Grundsätze der Kriminalpraxis. Heidelberg 2004) Beugemittel • [Beugemittel sind: Zwangsgeld (Ordnungsgeld) und Erzwingungshaft (Ordnungshaft), die so genannte Beugehaft.] »Beugemittel ist ein staatliches Mittel zur Erzwingung bestimmter Handlungen, Duldungen oder Unterlassungen seitens einer Person. Beugemittel sind insbesondere im Verfahrensrecht zulässig (z. B. zur Erzwingung einer Zeugenaussage).« (aus: Köbler – Juristisches Wörterbuch. Für Studium und Ausbildung. München, 1977) Behördeninterne Akten • »Berichte über verdeckte Informationsgewinnung wie Observationen, Einsatz von V-Personen, Verdeckten Ermittlern, Erkenntnisgewinnung unter Einsatz von Informanten, Überwachung der Telekommunikation usw. gehören im Original nicht in die Hauptakte. Sie enthalten Angaben, die der Geheimhaltung bedürfen und regelmäßig auch unter die eingeschränkte Aussagegenehmigung (§ 62 BBG) des Beamten fallen.« (aus: Clages (Hrsg.): Der rote Faden – Grundsätze der Kriminalpraxis. Heidelberg 2004) Beschuldigte • »Beschuldigter ist derjenige, gegen den das Strafverfahren konkret betrieben wird. Dieses geschieht durch die förmliche Einleitung eines Ermittlungsverfahrens. (...) Es müssen Tatsachen vorliegen, die auf eine nahe liegende Möglichkeit der Täterschaft oder der Teilnahme schließen lassen. Das beurteilt die entsprechende Strafverfolgungsbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen. Ist aber die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens geboten, so darf der Verdächtige nicht als Zeuge vernommen werden. (...) Ist der Sachverhalt aber so gelagert, dass mehrere Personen hinreichend tatverdächtig sind, so müssen diese alle als Beschuldigte behandelt werden, auch wenn sich ihre Täterschaft gegenseitig ausschließt.«

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(aus: Brockmann /Chedor – Vernehmung – Hilfe für den Praktiker. Hilden 1999) Einlassung • »Einlassung ist die Verhandlung (Zugestehen, Bestreiten, Vorbringen von Einreden) des Beklagten (bzw. Angeklagten) im Verfahren. Sie ist gegeben, sobald nicht mehr nur Prozessfragen, sondern auch Sachfragen behandelt werden.« (aus: Köbler – Juristisches Wörterbuch. Für Studium und Ausbildung. München, 1977) Gerichtsverfahren • »Gerichtsverfahren ist das vor und von Gerichten durchgeführte Verfahren. Es ist in den Prozessgesetzen geregelt.« (aus: Köbler – Juristisches Wörterbuch. Für Studium und Ausbildung. München, 1977) Geständnis • »Geständnis ist das Zugestehen der Wahrheit einer von einer anderen Seite behaupteten Tatsache durch einen Verfahrensbeteiligten.« (aus Köbler, Juristisches Wörterbuch. Für Studium und Ausbildung. München, 1977) »Das Wesen des Geständnisses besteht darin, dass der Beschuldigte einen Sachverhalt einräumt und Umstände darstellt, mit denen er sich selbst der Begehung einer Straftat bezichtigt. (...) Ermittlungstechnisch ist die Bedeutung des Geständnisses dadurch begründet, dass es aufgrund des gewonnenen Informationsgehaltes prinzipiell weitere Ermittlungs- und Beweisansätze erlangt werden können.« (aus Clages (Hrsg.): Der rote Faden – Grundsätze der Kriminalpraxis. Heidelberg 2004) Kooperieren • »Auf wirtschaftlichem oder politischem Gebiet zusammenarbeiten.« (aus: Duden, Fremdwörterbuch 1997) Kooperation mit dem Repressionsapparat • Kooperation / Zusammenarbeit meint mehr als »nur« eine Aussage zu machen. Zusammenarbeit meint aktive Unterstützung der bürgerlichen Justiz. Sie beginnt mit der bewussten Herausgabe von geforderten Informationen bzw. mit dem Handeln im Interesse von Staat und Justiz. Zusammenarbeit geschieht häufig zwischen Rechtsan-


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wälten und Richtern/Staatsanwaltschaft und findet oft hinter dem Rücken der Betroffenen statt. Zusammenarbeit kann auch die Voraussetzung für Zugeständnisse der Justiz sein (z. B. Verringerung des Strafmaßes) und es ist ein Handel im Sinne der bürgerlichen Justiz bzw. des Staates. Lügen • »Lügen ist die bewusste Verdeckung der Wahrheit. (...) Auch eindeutig erkennbare Lügen sollten zunächst unwidersprochen entgegengenommen werden. Jede Lüge zieht i.d. Regel weitere Lügen nach sich. Je mehr die Aussageperson mitteilt und Teilwahrheiten, unwahre oder geschönte Darstellungen gibt, desto eher wird sie sich in ihrem Lügengewirr verfangen und selbst zur Überführung beitragen.« (aus: Clages (Hrsg.) – Der rote Faden – Grundsätze der Kriminalpraxis. Heidelberg 2004) Prozess / Gerichtsverhandlung /Hauptverhandlung • »Prozess ist ein rechtlich geordneter, von Lage zu Lage sich entwickelnder Vorgang zur Gewinnung einer richterlichen Entscheidung über ein behauptetes materielles Rechtsverhältnis.« (aus: Köbler – Juristisches Wörterbuch. Für Studium und Ausbildung. München, 1977) Das Ritual der Hauptverhandlung vor Gericht ist in der Prozessordnung festgelegt. Im Groben läuft eine Verhandlung wie folgt ab: Vernehmung des/der Angeklagten zu den persönlichen Verhältnissen durch die vorsitzende Richterin oder den Richter (Identitätsfeststellung); Verlesung der Anklage durch die Staatsanwaltschaft; Vernehmung der/des Angeklagten zur Sache; eine Aussageverweigerung sollte vorher unbedingt mit der Rechtsanwältin oder dem Rechtsanwalt bzw. der Betroffenengruppe besprochen werden. Aussageverweigerung Angeklagter darf vom Gericht nicht negativ bewertet werden. Es ist auch möglich, erst die Beweisaufnahme abzuwarten, um dann gezielte Aussagen zu machen. Weiter geht es mit der Beweisaufnahme durch Vernehmungen von Zeu-

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gInnen und Sachverständigen, Urkundenverlesung und In-Augenscheinnahme der Beweise. Auch die Angeklagten haben das Recht, ZeugInnen und Sachverständige zu befragen. Bei einer nochmaligen Vernehmung der Angeklagten zur Sache könnnen alle ihre Position darlegen. Wer bis hierher die Aussage verweigert hat und nun aussagen möchte, kann das tun, dabei besteht dann keine Gefahr, früheren Aussagen zu widersprechen. Prozessbegleitung • Prozessbegleitung bedeutet eine möglichst breite und vielfältige Einbeziehung von Menschen, um den Prozess öffentlich zu machen. Öffentlichkeitsarbeit zu einem Prozess ist wichtig und notwendig, um möglichst viele Menschen über Hintergründe, undemokratische Verfahrensweisen etc. in politischen Prozessen zu informieren und so eine möglichst weitreichende Solidarität zu entwickeln. Dabei geht es auch darum, dass am konkreten Fall mehr Menschen ein kritisches Verhältnis zum bürgerlichen Recht und zu den Gerichten entwickeln. Die Prozessbegleitung hat oft wenig Einfluss auf die Prozessführung. Es sollte aber auf jeden Fall eine Vertrauensbasis vorhanden sein. Prozesshandlung • »Prozesshandlung ist eine prozessgestaltende Beteiligung der Partei der Streitgehilfen bzw. ihrer Vertreter (im weiteren Sinne auch des Gerichts) an einem Verfahren. Die Prozesshandlung kann in einem Tun oder Unterlassen bestehen. Sie ist meist einseitig (z. B. Klage, Einspruch, Anerkenntnis, Behauptung, Gestehen, Bestreiten, Beweisantritt, Antrag an das Gericht).« (aus: Köbler – Juristisches Wörterbuch. Für Studium und Ausbildung. München, 1977) Rasterfahndung • »Charakteristisch für die Rasterfahndung ist der automatisierte Abgleich personenbezogener Daten aus Dateien, die für andere als für Zwecke des Strafverfahrens gespeichert worden sind. (...) Zur Durchführung der Rasterfahndung werden fallspezifische tätertypische Merkmale i. S.


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eines Verdächtigenprofils in der Form eines Rasters zusammengestellt und als Suchkriterien mit Daten, die an anderen Stellen und aus anderen Gründen gespeichert sind, maschinell abgeglichen. Der Zweck liegt in dem Herausfiltern von Personen, die dem vorgegebenen Raster entsprechen und die sodann durch weitere Ermittlungsmaßnahmen kriminalistisch abgeklärt werden müssen.« (aus: Clages (Hrsg.) – Der rote Faden – Grundsätze der Kriminalpraxis. Heidelberg 2004) Reueerklärung/Entsolidarisierung vor Gericht • Eine oft von der Justiz geforderte Handlung, die beim ersten Hinsehen keinen anderen Menschen gefährdet und als nebensächliches Blabla erscheinen mag, ist das Formulieren einer Reueerklärung. Dies bedeutet aber konkret das öffentliche Ausdrücken des Bedauerns über das eigene Handeln, also die offizielle Distanzierung von linkem, eigenem, z.B. antifaschistischem Handeln – anders ausgedrückt ein Schritt der Entsolidarisierung mit linken Strukturen und Zusammenhängen und ein öffentlich formulierter Bruch mit der eigenen Geschichte. Verbotene Vernehmungsmethoden • »Darunter fällt jedes Mittel, das geeignet ist, die Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung in nicht unerheblichem Maß zu beeinträchtigen. Die nach dem Gesetz verbotenen Vernehmungsmethoden überschneiden sich im Einzelnen auch in Art und Wirkung. Das Verbot der im §136 I & II StPO näher bezeichneten Vernehmungsmethoden gilt unabhängig von der Einwilligung des Vernommenen. Zu den verbotenen Mitteln zählen insbesondere: Körperliche Misshandlung, Quälerei, (...), Ermüdung, Täuschung, Zwang, Versprechen oder Gewährung von Vergünstigungen oder Vorteilen, Drohung, (...).« (aus: Clages (Hrsg.) – Der rote Faden – Grundsätze der Kriminalpraxis. Heidelberg 2004) »Wichtig für den Vernehmenden ist, zu beachten, dass falsche Rechtserklärungen Täuschungen

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gleichgesetzt und damit verboten sind. Verboten ist, den Beschuldigten als Zeugen zu vernehmen oder zu erklären, er sei zur Aussage verpflichtet. Verboten ist auch, dem Beschuldigten zu offenbaren, der Mittäter habe schon gestanden. – Keine Täuschung ist das Vorspiegeln einer freundlichen Gesinnung. Zulässige kriminalistische List ist es, Fangfragen zu stellen oder doppeldeutige Erklärungen abzugeben.« (aus: Brockmann / Chedor – Vernehmung – Hilfe für den Praktiker. Hilden 1999) Vernehmung • »Vernehmung ist die strafprozessual bestimmte und zum Teil geregelte, beweisorientierte Gestaltung personenzentrierter sozialkommunikativer Einflussnahmen und Maßnahmen mit dem Ziel der Gewinnung selbst bestimmter, wahrheitsgemäßer (und identifikationssicherer) Aussagen, ihrer Bewertung und beweisrelevanten Dokumentation. (...) Das alles setzt (eigentlich) kommunikatives Basis- und Spezialtraining voraus (...).« (aus: Clages (Hrsg.) – Der rote Faden – Grundsätze der Kriminalpraxis. Heidelberg 2004) Vernehmungstaktiken • »Sieht sich ein Vernehmender z.B. mit dem Hinweis eines Beschuldigten konfrontiert: ›Ich sage überhaupt nichts aus!‹, ist es wesentlich zu wissen, was denjenigen dazu veranlasst, die Aussage zu verweigern. (...) Erst das Wissen um die Beweggründe des in der Vernehmung gezeigten Verhaltens ermöglichen es dem Vernehmenden, adäquat damit umzugehen und den Beschuldigten hinsichtlich seiner Aussagebereitschaft und seines -verhaltens mittels der Auswahl geeigneter Vernehmungstaktiken und -strategien zu beeinflussen.« (aus: Brockmann /Chedor – Vernehmung – Hilfe für den Praktiker. Hilden 1999) Verwertungsverbot • »Nach § 136 a III S. 2 StPO dürfen Aussagen, die unter Verletzung des Verbotes zustande gekommen sind, nicht verwertet werden. Das trifft auch zu, wenn der Beschuldigte


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(ebenso der Zeuge oder Sachverständige) der Verwertung zustimmt. Das Verwertungsverbot gilt für alle Abschnitte des Strafverfahrens und sowohl für belastende als auch entlastende Aussagen. Sind zunächst bei der Vernehmung unzulässige Methoden angewandt worden, kann die Vernehmung später in ordnungsgemäßer Weise wiederholt werden. Die erneute Aussage kann verwendet werden.« (aus: Clages (Hrsg.) – Der rote Faden – Grundsätze der Kriminalpraxis. Heidelberg 2004) »Eine Fernwirkung, die darauf abzielt, andere durch die Aussagen bekannt gewordene Beweismittel nicht verwerten zu dürfen, besteht nicht. Diese Auffassung ist allerdings äußerst umstritten. Die Prüfung des Verfahrensverstoßes muss von Amts wegen durchgeführt werden. Wird der Verstoß nicht bewiesen, ist die Aussage verwertbar. Der Grundsatz: ›Im Zweifel für den Angeklagten,‹ gilt nicht.« (aus: Brockmann /Chedor – Vernehmung – Hilfe für den Praktiker. Hilden 1999) Zeuge • »Zeuge ist eine Person, die über Tatsachen, die sie wahrgenommen hat, aussagen soll. Der Zeuge ist ein Beweismittel. Er ist grundsätzlich zum Erscheinen, zur Aussage und zur Beeidigung der Aussage vor Gericht verpflichtet.« (aus: Köbler – Juristisches Wörterbuch. Für Studium und Ausbildung. München, 1977) Zeugenpflichten • »Zeugen haben die Verpflichtung, vor Gericht und vor der Staatsanwaltschaft zu erscheinen und auszusagen (§ 51 StPO). Diese Erscheinungspflicht haben sie nicht vor der Polizei. Dieses gilt für alle deutschen Staatsangehörigen, auch wenn sie sich im Ausland aufhalten. Für Ausländer und Staatenlose gilt diese Verpflichtung nur, wenn sie sich in Deutschland aufhalten. Die Erscheinungspflicht kann mit staatlichen Zwangsmaßnahmen durchgesetzt werden. Zeugen haben die Verpflichtung, Wahrnehmungen zur Prüfung der Glaubwürdigkeit oder der Zuverlässigkeit in dem konkreten Sachverhalt oder allgemein zu

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machen (§ 68 Abs. 4 StPO). Für Zeugen besteht auch die Verpflichtung, an Gegenüberstellungen teilzunehmen (§ 58 Abs. 2 StPO). Darüber hinaus besteht die Verpflichtung zur Teilnahme an Inaugenscheinnahme, z. B. Tatrekonstruktionen. Der Zeuge ist ebenfalls verpflichtet, körperliche Untersuchungen entsprechend den Bestimmungen des §81c StPO zu dulden.« (aus: Brockmann/Chedor – Vernehmung – Hilfe für den Praktiker. Hilden 1999) Zeugenrechte • »Von den genannten Zeugenpflichten ist befreit, wer Weigerungsrechte für sich in Anspruch nehmen kann. Weigerungsrechte können sich aus unterschiedlichen Gründen ergeben. Das Zeugnisverweigerungsrecht für Angehörige (§ 52 StPO) räumt dem Schutz der engeren familiären Situation eine größere Bedeutung ein, als die Verpflichtung, zu Zwecken der Strafverfolgung gegen einen nahen Angehörigen aussagen zu müssen. (...) Das Auskunftsverweigerungsrecht (§55 StPO) regelt, dass derjenige nicht auszusagen braucht, der sich oder einen nahen Angehörigen mit der Aussage der Gefahr aussetzen würde, wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden.« (aus: Brockmann /Chedor – Vernehmung – Hilfe für den Praktiker. Hilden 1999) Zeugnisverweigerungsrecht • »Zeugnisverweigerungsrecht ist das Recht eines zu einem Rechtsstreit geladenen Zeugen, sich der grundsätzlich bestehenden Pflicht, als Zeuge eine Aussage zu machen, zu entziehen. Das Zeugnisverweigerungsrecht kann auf persönlichen Gründen (z.B. Verwandtschaft) oder auf sachlichen Gründen (z. B. Gefahr, sich durch Aussagen einer strafrechtlichen Verfolgung auszusetzen) beruhen.« (aus: Köbler – Juristisches Wörterbuch. Für Studium und Ausbildung. München, 1977)


44 Rote Hilfe e.V.

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Literatur + Quellen • AutorInnenkollektiv (Hrsg.): Wege durch die Wüste – ein Antirepressions-Handbuch für die politische Praxis (Unrast-Verlag, Münster, 2007). ISBN-13: 978-3897714496 • Brack, JÜrgen; Thomas, Norbert: Kriminaltaktik (Boorberg Verlag, Stuttgart, 1986). vergriffen • Brockmann, Claudia und Chedor, Reinhard: Vernehmung – Hilfen für den Praktiker. (Verlag Deutsche Polizeiliteratur GmbH, Hilden, 1999). ISBN-13: 978-3801104054 • Clages, Horst (Hrsg.): Der rote Faden – Grundsätze der Kriminalpraxis (Kriminalistik-Verlag, Heidelberg, 2004). ISBN-13: 978-3783200119 • Dettenborn, H.: Täter, Opfer, Zeuge. Streifzüge durch die Gerichtspsychologie, 1988. • Egg, R.: Brennpunkte der Rechtspsychologie, 1991. • Gössner, Rolf: Widerstand gegen die Staatsgewalt. Handbuch zur Verteidigung der Bürgerrechte (Konkret Literatur Verlag, Hamburg, 1988). ISBN-13: 978-3922144786 • Gössner, Rolf: Erste Rechts-Hilfe (Verlag Die Werkstatt, Göttingen, 2004). ISBN-13: 978-3895332432 • Gundlach, Rainer: Die Vernehmung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren. Europäische Hochschulschriften. Reihe 2: Rechtswissenschaft, Band 375 (Lang Verlag, Frankfurt/M, 1984). ISBN 978-3-8204-8025-2 • Lösel, F.: Kriminalpsychologie. Grundlagen und Anwendungsbereiche, 1983.

• Schneider, Heinz-Jürgen; Schwarz, Erika und Schwarz, Josef: Die Rechtsanwälte der Roten Hilfe Deutschlands, S. 316 ff, komplett im Faksimile wiedergegeben: Halle, Felix, 1931: Wie verteidigt sich der Proletarier (Pahl-Rugenstein Verlag, Bonn, 2002). ISBN-13: 978-3891443309 • Schuster, Leo: Polizeiliche Vernehmung. Formen – Verhalten – Protokollierung. (Band 7, BKA-Forschungsreihe Praxisbezogene Auswertung, Wiesbaden, 1. Auflage, 1977). vergriffen • Uwer, Thomas / Organisationsbüro (Hrsg.): Bitte bewahren Sie Ruhe. Leben im Feindrechtsstaat (Vereinigung Berliner Strafverteidiger, Berlin, 2006). ISBN-13: 978-3980827560 • Wenn die Sache irre wird, werden die irren zu profis – infos und Texte zu Aussageverweigerung und Beugehaft, Broschüre (3. erweiterte Auflage, Zürich, 1987). www.freilassung.de /div /texte /aussagev /irre / irre0.htm • Zeug_Innen-AG der Soligruppen zum 13.6.95 (HRSG.): We’ll never give up – Ergänzung zur Diskussion um Aussageverweigerung, Neumünster, 1996 • Zimbardo, P. G.: Psychologie. 5. Aufl., 1992 Gerichtsurteile zum § 55 StPO • KG Berlin, vom 19.07.2001, Az: 1 AR 1424 /96 – 4 Ws 109/01 • BGH, vom 04.02.1993, Az: 1 StR 917 /92 • BGH, vom 01.06.1994, Az: StB 10 /94, 1 BJs 182 /83


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Die RoTe Hilfe E.V. »Die Rote Hilfe e. V. ist eine parteiunabhängige, strömungsübergreifende linke Schutz- und Solidaritätsorganisation. Die Rote Hilfe unterstützt nach ihren Möglichkeiten die Solidarität für alle, unabhängig von Parteizugehörigkeit und Weltanschauung, die in der BRD auf Grund ihrer politischen Betätigung verfolgt werden. Politische Betätigung in diesem Sinne ist z.B. das Eintreten für die Ziele der ArbeiterInnenbewegung, der antifaschistische, antisexistische, antirassistische, demokratische oder gewerkschaftliche Kampf und der Kampf gegen die Kriegsgefahr. Unsere Unterstützung gilt denjenigen, die deswegen ihren Arbeitsplatz verlieren, Berufsverbote erhalten, vor Gericht gestellt oder zu Geldund Gefängnisstrafen verurteilt werden oder sonstige Nachteile erleiden. Darüber hinaus gilt die Solidarität der Roten Hilfe den von der Reaktion Verfolgten in allen Ländern der Erde.« (§ 2 der Satzung der Roten Hilfe) Im August 2007 sind bundesweit etwa 4300 Menschen in der Roten Hilfe organisiert, und die aktive Arbeit wird von fast 40 Orts- und Regionalgruppen getragen. Damit ist die Rote Hilfe innerhalb der letzten Jahre zu einer der mitgliederstärksten Organisationen der Linken geworden. Die Mitglieder der Roten Hilfe kommen aus den unterschiedlichsten Teilbereichen der Linken in der BRD, z.B.: • aus der kommunistischen, sozialistischen, anarchistischen Bewegung • aus der Friedensbewegung und dem antimilitaristischen Spektrum • aus der Anti-Atom- und Anti-Castor-Bewegung

• aus internationalistischen und antiimperialistischen Zusammenhängen • aus der Ökologie- und Umweltbewegung • aus Rechtshilfegruppen sowie BürgerInnenund Menschenrechtskreisen • aus der antifaschistischen Bewegung • aus der feministischen Bewegung und aus FrauenLesben-Zusammenhängen • aus antirassistischen Zusammenhängen und der Flüchtlingsbewegung • aus den Gewerkschaften • aus Arbeits- und weiteren vielfältigen sozialen Kämpfen. Es ist der Roten Hilfe somit gelungen, dem strömungsübergreifenden Charakter der Organisation gerecht zu werden und zu beweisen, dass auf einer solchen Basis gemeinsam politisch agiert werden kann.

Solidarität ist eine Waffe Eine bundesweit vernetzte Organisation wie die Rote Hilfe bietet die Möglichkeit, durch Überblick und Vergleich Repressionsmaßnahmen zu analysieren (z. B. in der vierteljährlich erscheinenden Rote-Hilfe-Zeitung) und gemeinsam dagegen vorzugehen (z. B. durch bundesweite Kampagnen). Als Rote Hilfe wollen wir lokale Antirepressionsgruppen (Ermittlungsausschüsse, Bunte Hilfen, Rechtshilfefonds, Gefangenen-Komitees etc.) nicht »ersetzen«, sondern durch gemeinsame Arbeit ergänzen. In der Regel erhalten von Repression Betroffene Unterstützung aus dem politischen Umfeld, in welchem die verfolgte Aktion gelaufen ist. Wir meinen, dass diese nahe liegende Form der Solidarität die wichtigste überhaupt ist. Es gibt aber immer auch Menschen, die als Einzelne z. B.


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an einer Demonstration teilnehmen und im Falle ihrer Festnahme nicht unbedingt auf einen Unterstützungskreis zurückgreifen können. Manchmal sind aber auch die Belastungen durch Prozesskosten oder auch für die Öffentlichkeitsarbeit so hoch, dass sie von einer Gruppe allein nicht getragen werden können. Hier kann durch eine bundesweite, mitgliederstarke Organisation geholfen und unterstützt werden. Oftmals ziehen sich politische Verfahren aber auch über Jahre hin und werden erst dann aktuell, wenn die ehemaligen politischen Zusammenhänge nicht mehr in ihrer alten Form existieren. Durch die kontinuierliche Arbeit der Roten Hilfe soll verhindert werden, dass Repression als individuelles Problem empfunden wird und sich Einzelpersonen oder Gruppen mit Prozesskosten oder Knaststrafen alleingelassen fühlen. Die Unterstützung für die/den Einzelne/n soll zugleich ein Beitrag zur Stärkung der Bewegung sein. Jede und Jeder, die/der sich an politischen Kämpfen beteiligt, soll dies in dem Bewusstsein tun, dass sie/ er später bei eventueller Strafverfolgung nicht alleine dasteht. Durch das Herausgreifen Einzelner wollen Staat und Reaktion exemplarisch gegen linke Politik vorgehen. Dieser Strategie liegt die Isolierung bestimmter Personen/ Gruppen von anderen Teilen der Linken und der Gesellschaft zugrunde. Die Rote Hilfe setzt diesem Isolierungsund Spaltungsversuch das Prinzip der Solidarität entgegen. Der von den Herrschenden betriebenen Spaltung und Einschüchterung wollen wir gemeinsam (jenseits aller innerlinken Differenzen hinsichtlich politischer Theorie und Praxis) entgegentreten und damit alle ermutigen, weiterhin für ihre politischen Ziele zu kämpfen.

Was leistet die Rote Hilfe? Die wohl wichtigste Aufgabe der Roten Hilfe ist die konkrete finanzielle Unterstützung bei Anklagen

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und Prozessen. Wir streben an, dass der finanzielle Druck durch Prozesskosten, Bußgelder, AnwältInnenkosten kollektiv getragen wird. Deshalb leistet die Rote Hilfe auf Antrag eine Gesamtkostenbeteiligung (d.h. von allen anfallenden Kosten) von zurzeit 40 % (Regelsatz der Roten Hilfe; in begründeten Einzelfällen kann auch ein höherer Satz durch einen zweiten Antrag angefragt werden). Im Jahr 2005 hat die Rote Hilfe so insgesamt ca. 150 000 Euro an Unterstützungsgeldern auszahlen können. Auch weiterhin gehört es zu den Grundsätzen der Roten Hilfe, auch Nicht-Mitgliedern, die wegen ihrer politischen Betätigung staatlich verfolgt werden, Unterstützung zu leisten. Neben dem bundesweiten Unterstützungsfonds gibt es häufig noch zweck- und themengebundene Spendenkonten. Die Rote Hilfe versteht sich allerdings nicht als »Rote Caritas« oder linke Rechtsschutzversicherung. Die Rote Hilfe leistet daher nicht nur materielle, sondern auch politische Unterstützung. Dies geschieht in Form von Spendensammlungen, Solidaritätsveranstaltungen, Prozessbeobachtungen und -begleitungen, Betreuung von politischen Gefangenen. Darüber hinaus sieht die Rote Hilfe ihre Aufgabe darin, sich im allgemeinen Sinne an der Abwehr politischer Repression zu beteiligen. So versuchen wir seit Gründung der Roten Hilfe schon weit im Vorfeld von Demonstrationen über die verschiedenen Formen politischer Repression und die damit beauftragten Institutionen (Polizei, Staatsschutz, Geheimdienste, Militär, Justiz) aufzuklären. Mit Veranstaltungen, Flugblättern und Broschüren wollen wir darauf hinwirken, dass die AktivistInnen sich selbst und andere möglichst effektiv vor Verletzungen und Verhaftungen schützen und um ihre jeweiligen (jedenfalls formalen) Rechte Bescheid wissen. Die Rote Hilfe engagiert sich allgemein gegen Verschärfungen im Versammlungsrecht, gegen Staatsschutzgesetze, gegen den


Die Rote Hilfe E.V.

Abbau von VerteidigerInnenrechten, gegen Isolationshaft und Folter, gegen Beschränkungen im Bereich der Meinungsfreiheit und anderer BürgerInnenrechte.

Schafft Rote Hilfe! Die Rote Hilfe fordert alle auf, politische Unterdrückung und Verfolgung – nicht nur in der BRD – nicht hinzunehmen, sondern sich zu organisieren und dagegen anzugehen! Nur eine kontinuierlich arbeitende und überparteiliche Solidaritätsorganisation, die mitgliederstark ist, bietet die Gewähr dafür, dass möglichst allen politisch Verfolgten in möglichst großem Umfang geholfen werden kann. Eine bundesweite Solidaritätsorganisation ist notwendig, da sie unabhängig von politischen Konjunkturen kontinuierlich arbeiten und auf Grund eines regelmäßigen Spenden- und Beitragsaufkommens verlässlich und langfristig Unterstüt-

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zungszusagen machen kann. Eine bundesweite Solidaritätsorganisation wie die Rote Hilfe ist notwendig, um sich für die politisch Verfolgten auch im kleinsten Dorf und aus allen Teilen der linken Bewegungen verantwortlich zu fühlen. Die Rote Hilfe ist notwendig, um auf Gesetzesverschärfungen und Prozesswellen bundesweit reagieren zu können und in der Lage zu sein, bundesweite Kampagnen finanziell und politisch zu initiieren oder zu unterstützen.

Solidarisch sein. Mitglied werden. Aktiv sein! Jeder Mitgliedsbeitrag oder auch jede einmalige Spende ist Ausdruck von Solidarität, hilft und ermutigt, trotz politischer Repression weiter zu kämpfen. Fast alle Mitglieder der Roten Hilfe arbeiten und kämpfen noch in anderen Gruppen und


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Organisationen. Die Rote Hilfe kann nur dann ihre volle Kraft entwickeln, wenn sich viele bewusst darüber sind, dass jeder einzelne Mitgliedsbeitrag zählt und sich nicht darauf verlassen wird, dass andere bereits bezahlen. Die Rote Hilfe kann ihre volle Kraft nur dann entwickeln, wenn sich die Mitglieder nicht darauf verlassen, dass es die anderen sind, die Arbeit leisten. Die Arbeit der Roten Hilfe muss auf vielen Schultern ruhen. Darum gilt: Mitglied der Roten Hilfe werden! In der Roten Hilfe aktiv sein! Schafft Rote Hilfe! • Als Mitglied durch den Mitgliedsbeitrag • Durch Mitarbeit in einer Orts- oder Regionalgruppe • Durch Beteiligung an konkreter Arbeit, wie z.B. die Betreuung politisch Verfolgter oder die Beteiligung an einer politischen Kampagne • Durch Werbung für unsere Arbeit – Verkauf der Rote Hilfe-Zeitung, Auslegen unserer Broschüren und Faltblätter.

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Weiteres Informationsmaterial bekommt Ihr von: Rote Hilfe e.V. Bundesgeschäftsstelle Postfach 3255 · 37022 Göttingen Tel.: 0551 -770 80 08 (Di + Do 15:00 –20:00 Uhr) Fax: 0551 -770 80 09 bundesvorstand@rote-hilfe.de www.rote-hilfe.de Spendenkonto: Rote Hilfe e. V. Kontonummer: 19 11 00 - 462 BLZ: 440 100 46 – Postbank Dortmund Nächste Orts- bzw. Regionalgruppe der Roten Hilfe:

Mitglied werden!


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häftlingstraum packen Sie Ihre sachen Sie werden sofort entlassen Ihr richter hat gestanden Peter-Paul Zahl 1983

Eigentumsvorbehalt • Nach diesem Eigentumsvorbehalt ist die Broschüre solange Eigentum des Absenders, bis sie der/dem Gefangenen persönlich ausgehändigt worden ist. »Zur-Habe-Nahme« ist keine persönliche Aushändigung im Sinne des Vorbehalts. Wird die Broschüre der/dem Gefangenen nicht persönlich ausgehändigt, ist sie dem Absender unter Angabe des Grundes der Nichtaushändigung zurückzusenden. Wird die Broschüre der /dem Gefangenen nur teilweise persönlich ausgehändigt, so sind die nicht ausgehändigten Teile, und nur sie, dem Absender mit dem Grund der Nichtaushändigung zurückzusenden.


ote Hilfe e.V

Gegen Spende

• Keine Aussagen bei Polizei und Staatsanwaltschaft! • Keine Zusammenarbeit mit den staatlichen Repressionsorganen! • Solidarität ist eine Waffe!

www.aussageverweigerung.info


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