FALTER Bücherherbst 2010

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l i t e r a t u r   U n s ere d eut s c h e n freu n d e

Die erbarmungsloseste Omi der Welt Darf man das überhaupt – eine derartig schlimme Geschichte so unterhaltsam erzählen? Alina Bronsky kann es jedenfalls ass man beim Lesen eines zu rezenD sierenden Romans schlichtweg vergisst, die Unterstreichungen zu machen, die bei der Zusammenfassung des Inhalts und bei der Charakterisierung des Erzählstils so hilfreich sind, kommt eigentlich so gut wie nie vor. Alina Bronsky hat es mit ihrem zweiten Roman, „Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche“, geschafft. Und das spricht schon einmal für die Erzählkunst der in Frankfurt lebenden Schriftstellerin, die hier so rasant, ja fulminant einsetzt, dass man schon mal seine Pflichten vergessen kann. Schlagartig bekannt wurde Bronsky, 1978 im

damaligen Swerdlowsk, heute Jekaterinburg, geboren und seit ihrer frühen Jugend in Südhessen aufgewachsen, vor zwei Jahren mit ihrem Debütroman „Scherbenpark“, in dem die altkluge und abgebrühte 17-jährige russische Migrantentochter Sascha als Erzählerin auftritt und den man sich nur allzu gerne als autobiografisch vorgestellt hat. In ihrem neuen Roman, der ebenfalls zu einer solchen Lesart verführt, hat Bronsky die Perspektive gewechselt: Hier berichtet eine Großmutter von ihrem Leben in der Sowjetunion und der schließlichen Emigration nach Südhessen mit ihrer Enkelin Aminat, die am Ende des Romans ungefähr gleich alt ist wie Sascha. Und dieser Bericht kennt keine Gnade – außer mit sich selbst.

schung und Selbstherrlichkeit. Mehrmals verheiratet sie ihre unter der dominanten Mutter still leidende Tochter, der Ehemann hat so wenig zu melden, dass er sich – wodurch sich die letzte Lücke des Matriarchats schließt – in eine zweite Ehe verabschiedet. Die „geliebte“ Enkelin fungiert vor allem als Spiegelbild des eigenen Narzissmus und wird zum Behufe der Emigration nach Deutschland eiskalt mit zwölf Jahren an einen Pädophilen verschachert, der sich deswegen zu einer Ehe mit Sulfia überreden lässt.

Statt des bitterernst-sarkastischen Tons der frühreifen Jugendlichen herrscht nun ein heiter-unheimlicher Zynismus, der kaum noch hinter die von ihm inszenierten Kulissen blicken lässt. Doch zurück zum Anfang. Wir schreiben das Jahr 1978, Rosalinda, in einem Kinderheim aufgewachsen und kulturell entwurzelt, sodass sie tatarische Gerichte allenfalls erfinden kann, lebt mit ihrem sympathischen, aber willensschwachen Ehemann Kalganow und ihrer als Ausbund an Dummheit und Hässlichkeit diffamierten Tochter Sulfia ein typisches Sowjetleben zwischen Parteiprivilegien (Kalganow ist überzeugter Kommunist) und überlebenswichtiger Durchtriebenheit, als Sulfia, kaum geschlechtsreif, schwanger wird. Rosalindas mit einer Stricknadel misslingt partiell, das heißt, der zweite der beiden in Sulfias Bauch befindlichen Zwillinge überlebt und erhält den Namen von Rosalindas Großmutter, Aminat. Ein tragikomischer Kampf von Großmutter und Mutter um das Kind entbrennt, bei dem Sulfia kaum Chancen hat. Überhaupt hat kaum jemand irgendwelche Chancen neben dieser Großmutter. Eine derart erbarmungslose, empathieresistente, um nicht zu sagen böse Heldin hat die deutsche Gegenwartsliteratur noch nicht gesehen: machthungrig und manipulativ, ein Ausbund an Selbstbeherr-

Der eigenhändige Abtreibungsversuch

Alina Bronsky: Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche. Kiepenheuer & Witsch, 317 S., € 19,50

Wobei die Dramatik der Geschichte in krassem Gegensatz zur burlesken Unterhaltsamkeit des Erzähltons steht. Es taucht die Frage auf, ob man mit solchen Dingen literarischen Schabernack treiben darf oder ob Alina Bronsky das gar nicht tut, sondern das heiße Thema über den Umweg von Sarkasmus und Ungesagtem nur umso tiefer unter die Haut des Lesers bringt, wo es tatsächlich schmerzhaft weiter schwelt. Immerhin gelingt es Aminat in Deutschland, sich (vermutlich endgültig) aus dem Gravitationsfeld ihrer Großmutter zu befreien, die sie nur einmal als Siegerin von einer Sendung à la „Deutschland sucht den Superstar“ im Fernsehen wiedersieht. Aminats Gefühle aber bleiben die große, dunkle Leerstelle, um die das Buch munter und rücksichtslos kreist. K IR STIN BR EITENFELLNER

Am Abgrund der deutschen Mittelschicht Mit seinem Erzählband „Schuld“ knüpft der Jurist Ferdinand von Schirach souverän an sein zu Recht bejubeltes Debüt an in Volksfest in einer deutschen KleinE stadt, es riecht nach gebrannten Mandeln und Zuckerwatte. In einer Blaskapelle

spielen „ordentliche Männer“ mit „ordentlichen Berufen“, Familienväter, Steuerzahler. Niemand hätte ihnen so ein Verbrechen zugetraut. Die Musiker sitzen verkleidet auf einer Bühne, sie tragen Perücken, sind von ihren Frauen mit weißem Puder und Rouge geschminkt worden. Die Musiker schwitzen, hinter einem schwarzen Vorhang trinken sie in einer Pause Bier. Eine Kellnerin, 17 Jahre alt, serviert. Sie stolpert, schüttet sich Bier aufs T-Shirt, sie trägt keinen BH, die Männer blicken sich an. Dann springt einer nach dem anderen auf. Am Ende liegt das Mädchen „nackt und im Schlamm, nass von Sperma, nass von Urin, nass von Blut“. Die Musiker haben nach der Tat noch auf sie uriniert. Als die Polizei eintrifft und das Mädchen findet, spielt das Orchester wieder Polka.

Mit dieser Kurzgeschichte beginnt Ferdinand von Schirachs grandioses Buch „Schuld“. Die Geschichte endet mit einem Freispruch aller Musiker. Ein Freispruch, juristisch korrekt, eigentlich ein Erfolg für einen Strafverteidiger. Aber Schirach, der als Anwalt in Berlin arbeitet und einen der Musiker in dem Vergewaltigungsprozess vertrat, saß nach der Verhandlung in seinem neuen Anzug, mit

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seiner neuen Ledertasche mit seinen Anwaltskollegen auf der Heimreise im Zug, er hatte die Bilder des weinenden Vaters des Opfers im Kopf und wusste, „dass wir unsere Unschuld verloren hatten“. Schuld, so lautet der Titel des – nach dem Debüt „Verbrechen“, das im Vorjahr erschien – zweiten Erzählbands von Ferdinand von Schirach. Schuld? Was ist das eigentlich? Die Strafrechtler haben die Figur des „Maßmenschen“ erfunden, eines mit den „Grundwerten der Rechtsordnung ausgestatteten Menschen“, um diese Schuld zu definieren.

Juristen schaffen es, dies so eindringlich zu vermitteln. Schon im hymnisch bejubelten Debüt skizzierte Ferdinand von Schirach in lakonischen und knappen Miniaturen, wer wieso zum Verbrecher wird. Da ertränkt eine Schwester ihren Bruder, weil sie ihn so innig liebt. Da sticht ein junger Landgrafensohn nächtens den Schafen des Bauern die Augen aus und legt sie in eine Schatulle zum Bildnis eines Mädchens – die Ankündigung eines großen Verbrechens, das kein Strafgericht verhindern kann.

An diesem Maßmenschen müsse man das

Baldur von Schirach und Spiegel-Kolumnist, mit „Schuld“ neue Fälle vor. Wieder sind es vor allem Geschichten aus Deutschlands Mittelschicht, wieder ist es ein Blick in jene Abgründe, Schicksale und Zufälligkeiten, die Schulmädchen, Manager, Hausfrauen und Familienväter ins Verbrechen treiben. Jeder kann schuldig werden, Kriminelle sind Menschen, keine „Bestien“. Seiner Frau mit der Axt den Schädel zu spalten, das kann für manch gequälten Ehemann der einzige Ausweg in die Freiheit sein. Schirach schildert nicht nur die Hintergründe von Verbrechen, er beschreibt darüber hinaus die Strafjustiz als eine um Gerechtigkeit ringende Institution, die das Recht im Ernstfall so auszulegen weiß, dass es auch gerecht bleibt.

Verhalten von Kriminellen messen. Der Mensch, so die Idee der Aufklärung, kann frei entscheiden, ob er Verbrechen begehen will oder nicht. Die Hirnforscher wiederum vermuten, dass das mit dem freien Willen nur eine Selbsttäuschung des Menschen ist: Der Homo sapiens handle so, wie es ihm seine Synapsen befehlen, er sei Sklave der Biochemie. Verloren für die Resozialisierung. Doch so leicht ist das alles eben nicht. Es gibt eben doch „so ein Ding wie Gesellschaft“, das Menschen zu Verbrechen treibt oder zumindest schuldig aussehen lässt. Es gibt sogar hässliche Verbrechen, für die wir Maßmenschen Verständnis aufbringen. Das ist auch die (von Scharfmachern gerne geleugnete) Erkenntnis der Kurzgeschichten Schirachs. Nur wenige

Nun legt der Enkel des NS-Reichsjugendführers

Ferdinand von Schirach: Schuld. Piper, 199 S., € 18,50

FLOR IAN K LENK

27.09.2010 12:11:14 Uhr


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