Dokumentation | AWO Fachkonferenz 2010 | „Zusammenhalt stärken - Ausgrenzung verhindern“

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Bundesverband e.V.

Fachkonferenz 2010 „Zusammenhalt stärken Ausgrenzung verhindern“ Dokumentation


Fachkonferenz 2010 „Zusammenhalt stärken Ausgrenzung verhindern“ Dokumentation zur 1. Fachkonferenz der AWO zur Zukunft der Sozialpolitik am 1. Oktober 2010 in Essen


„Zusammenhalt stärken – Ausgrenzung verhindern“

Impressum Herausgeber:

AWO Bundesverband e.V.

Verantwortlich: Wolfgang Stadler, Vorsitzender des Vorstandes Redaktion:

Abteilung Arbeit, Soziales und Europa; Abteilung Kommunikation

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Typografie Marx, Andernach

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Oktober 2010

Abdruck auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Herausgebers. Alle Rechte sind vorbehalten.

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„Zusammenhalt stärken – Ausgrenzung verhindern“

Inhalt Seite Vorwort .......................................................................................................................

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Wilhelm Schmidt, Präsident des AWO Bundesverbandes e.V. Wolfgang Stadler, Vorsitzender des AWO Bundesverbandes e.V. ...............................................

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Grußworte ...................................................................................................................

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Reinhard Paß Oberbürgermeister der Stadt Essen .....................................................................................

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Gunder Heimlich Vorsitzender des AWO Bezirksverbandes Niederrhein e.V. ........................................................ 11 Michael Franz Vorsitzender des AWO Kreisverbandes Essen e.V. ................................................................... 14 Reden ......................................................................................................................... 16 „Zusammenhalt stärken – Ausgrenzung verhindern“ Wilhelm Schmidt ............................................................................................................ 17 „Zur Zukunft des Sozialen in der Politik“ Sigmar Gabriel Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands .................................................... 22 „Menschenwürde im Sozialstaat des 21. Jahrhunderts“ Dr. Christine Hohmann-Dennhardt Richterin des Bundesverfassungsgerichts ............................................................................ 31 „Der demografische Wandel: Mega-Herausforderung für die Sozialpolitik“ Prof. Dr. Gerhard Naegele Universität Dortmund ...................................................................................................... 39 „Handlungsstrategien der AWO für den sozialen Zusammenhalt“ Prof. Dr. Frank Nullmeier Universität Bremen ......................................................................................................... 48 Fachforen .................................................................................................................... 63 Forum 1: „Stärkung der frühkindlichen Bildung und Strategien zur Armutsvermeidung im Kinder- und Jugendalter“ Impuls: Gerda Holz Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik, Frankfurt am Main ............................................. 64 Forum 2: „Integration durch gute Arbeit und gerechten Lohn“ Impuls: Dr. Claudia Weinkopf Universität Duisburg-Essen .............................................................................................. 79 Forum 3: „Heute die Altersarmut von morgen bekämpfen“ Impuls: Dr. Elke Olbermann Universität Dortmund ...................................................................................................... 91 Essener Erklärung .......................................................................................................... 103

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Vorwort „Zusammenhalt stärken – Ausgrenzung verhindern“

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Vorwort • Wilhelm Schmidt/Wolfgang Stadler

Wilhelm Schmidt

Wolfgang Stadler

Vorsitzender des Präsidiums

Vorsitzender des Vorstands

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Vorwort • Wilhelm Schmidt/Wolfgang Stadler

men, dass der Zusammenhalt in Deutschland zerbrechlicher wird und Ausgrenzungen bestimmter Gruppen weiter zunehmen.

Kein Zweifel: Der Sozialstaat steht in Folge der Wirtschafts- und Finanzkrise vor großen Herausforderungen. Klar ist zugleich: Eine gerechte Gesellschaft kann es nur mit einem vitalen Sozialstaat geben. In den aktuellen Debatten um den Schuldenabbau droht genau diese Erkenntnis jedoch unter den Tisch zu fallen. Befeuert wird dies durch eine Politik der Bundesregierung, die vor allem den bedürftigen Menschen immer neue Zumutungen aufbürdet.

Auf der 1. Fachkonferenz der AWO wurden diese Gedanken insbesondere in den Themenfeldern Kinder- und Jugendarmut, Altersarmut und Lohngerechtigkeit eingehend diskutiert. Aufgrund der Aktualität und Bedeutsamkeit dieser Themen haben wir uns entschieden, die Reden und Vorträge möglichst rasch zu veröffentlichen. Mehr denn je bedarf es bei uns einer Diskussion, wie wir Ausgrenzung verhindern und Zusammenhalt stärken können. Mit dieser Konferenz haben wir einen ersten wichtigen Debattenanstoß gegeben. Wir wollen und werden auch künftig im Rahmen von Fachkonferenzen zu grundlegenden Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts Stellung beziehen.

Wir befinden uns in Deutschland an einer entscheidenden Wegmarke: Wollen wir immer mehr Sozialbereiche der Logik des Marktes überlassen oder wollen wir einen Staat, der seiner sozialen Verantwortung gerecht werden kann – und dementsprechende Ressourcen bereithält und Investitionen tätigt. Letzteres ist in den Augen der AWO dringend geboten, wenn die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich nicht noch größer werden soll. Eine Politik, die große Einkommen und Vermögen schont, ist dabei sicher das falsche Signal. Wir können nicht hinzunehmen, dass die Teilhabemöglichkeiten am gesellschaftlichen Miteinander eingeschränkt werden. Wir können nicht hinneh-

Die Konferenz wäre ohne das Engagement unserer Freunde des AWO Bezirksverbandes Niederrhein und des AWO Kreisverbandes Essen so nicht möglich gewesen. Dafür möchten wir uns für den Bundesverband herzlich bedanken.

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Grußworte „Zusammenhalt stärken – Ausgrenzung verhindern“

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Grußworte • Reinhard Paß

Reinhard Paß Oberbürgermeister der Stadt Essen

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Grußworte • Reinhard Paß

Lieber Sigmar, lieber Wilhelm Schmidt, sehr geehrte Frau Dr. Hohmann-Dennhardt, lieber Gunder Heimlich, lieber Michael Franz, liebe Gäste, liebe Förderer und Freunde der AWO,

Hier in Essen entwickelt die AWO – neben den bekannten, bundesweit üblichen, sozialen Einrichtungen, wie Beratungsstellen + Begegnungsstätten, Pflegeeinrichtungen oder der Trägerschaft von Kindertagesstätten – verstärkt auch neue Formen sozialer Arbeit:

herzlich willkommen in Essen, herzlich willkommen in der Metropole Ruhr! Als Kulturhauptstadt Europas 2010 sind wir in diesem Jahr Schauplatz zahlreicher großer Veranstaltungen – da ist es schön, auch Sie/Euch im Namen der Stadt Essen bei uns begrüßen zu dürfen. Wie muss eine gerechte Sozialpolitik in Deutschland aussehen? Wie können wir die große Kluft zwischen Arm und Reich schließen? Unter dem Motto „Zusammenhalt stärken – Ausgrenzung vermeiden“ werden Sie heute über diese und andere elementaren Fragen diskutieren. Wenn es um soziale Gerechtigkeit und um die Auswirkungen der Sozialpolitik geht, sind sicher nicht zuletzt die Kommunen gefragt. Denn schnelle und direkte Hilfe passiert meistens vor Ort. Die Städte und Gemeinden im Ruhrgebiet sind da keine Ausnahme und wir tun, was wir können, damit die sozial Schwachen nicht auf der Strecke bleiben. Dabei sind wir auf die intensive Unterstützung von Institutionen und Einrichtungen angewiesen. Ohne sie geht es inzwischen nicht mehr – auch, weil die finanzielle Lage der Stadt uns momentan zu einem harten Sparkurs zwingt, so bitter das auch für uns alle ist und bei aller Freude über das Amt das ich habe, auch für mich ist.

So erhalten Kinder und Jugendliche, die trotz städtischer Förderung nicht an Ferienfreizeiten teilnehmen können, mit dem Projekt Kinderurlaubspatenschaften des AWO-Jugendwerks die Chance auf zusätzliche Hilfe – und damit die Möglichkeit, an einem Kinder-Urlaub teilzunehmen. Seniorenclubs oder Betriebe in Essen übernehmen seit einigen Jahren mit einer Spende die Patenschaft für diese Kinder und sponsern ihre Ferienfreizeit. Kinderbetreuung, die über das normale Angebot hinaus geht, gibt es im AWO-Kinderhotel. In enger Zusammenarbeit mit einer Kindertagesstätte können Kinder dort auch am Wochenende oder über Nacht pädagogisch betreut untergebracht werden. Dies entlastet Eltern und hilft bei so manchen beruflichen Terminproblemen. Nicht zuletzt ist die AWO in Essen sehr aktiv im Bereich der Integration. Heute hat nahezu die Hälfte aller in Essen geborenen Kinder einen Migrationshintergrund, bei der Gesamtbevölkerung sind es knapp 20 %. Wir begrüßen daher die entsprechenden Aktivitäten des Essener Sozialverbandes wie: •gezielte Förderprojekte in den Kindertagesstätten, •Sprach- und Orientierungskurse der Bildungseinrichtungen, •Elternunterstützung und Elternbildung, •Angebote zum Miteinander von Jugendlichen und •Beratung bei Zuwanderung. Meine Damen und Herren,

Deshalb bin ich sehr froh, dass wir in Essen einen so starken Partner wie die AWO an unserer Seite haben.

soziale Projekte, wie die der AWO, gewinnen mehr und mehr an Bedeutung. Sie fortzuführen, ja auszubauen, das ist eine unserer zukünftigen Aufgaben.

Die Arbeiterwohlfahrt versteht sich als Anwältin der Armen und Benachteiligten. Sie setzt alles daran, diesen Menschen Hilfe zur Selbsthilfe und damit Chancen zu bieten. Sie hat soziale Netze auf- und ausgebaut, die wir heute mehr denn je verteidigen müssen.

Ihre 1. Fachkonferenz zur Zukunft der Sozialpolitik ist da ganz sicher ein Schritt in die richtige Richtung. Hier und heute wünsche ich Ihnen deshalb viel Erfolg und vor allem gute Ergebnisse. Ihnen allen einen angenehmen Aufenthalt bei uns in Essen – noch einmal: Herzlich willkommen!

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GruĂ&#x;worte • Gunder Heimlich

Gunder Heimlich Vorsitzender des AWO Bezirksverbandes Niederrhein e.V.

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Grußworte • Gunder Heimlich

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Paß, lieber Sigmar Gabriel, lieber Wilhelm Schmidt liebe Freundinnen und Freunde, sehr geehrte Damen und Herren,

Und so, wie die Autobahn A 40 die Stadt Essen in einen reichen Süden und einen armen Norden teilt, gibt es ebenso gewaltige Unterschiede zwischen den Kommunen in diesem Land. Ein Beispiel:

herzlich willkommen bei der AWO am Niederrhein! Ich freue mich sehr über das große Interesse an der ersten AWO-Fachkonferenz zur Zukunft der Sozialpolitik in Deutschland. Und ich freue mich natürlich auch, dass diese Konferenz heute hier in Essen auf Zeche Zollverein stattfindet. In einem Weltkulturerbe tagt man ja nicht alle Tage. Für einen Verband in der Tradition der Arbeiterbewegung kann es gar keinen besseren Tagungsort geben. Genau hier haben Menschen gelebt und gearbeitet, die die AWO und SPD stark gemacht haben. Hier gibt es einen Kreisverband der AWO mit 8.000 Mitgliedern. Es gibt noch einen weiteren Grund, warum Essen ein ausgesprochen gut geeigneter Tagungsort für unsere heutige Konferenz ist: Unser Thema lautet „Zusammenhalt stärken – Ausgrenzung verhindern“. Alle, die sich einmal konkret vor Augen führen wollen, warum wir uns überhaupt mit einem solchen Thema befassen, die gehen von hier 100 Meter bis zum Haupteingang der Zeche Zollverein, steigen dort in die Straßenbahn Linie 107 und fahren einmal von der einen bis zur anderen Endhaltestelle. Am einen Ende, im Essener Süden erwarten Euch Villen mit bis zu 270 Räumen und 8000 Quadratmetern Wohn- und Nutzfläche. Am anderen Ende – im Essener Norden – sehen die Wohnungen etwas anders aus. Die Einkommensklassen der dort lebenden Menschen auch. Im Essener Norden finden wir Stadtteile wie zum Beispiel Altenessen, Vogelheim und Karnap, wo bis zu 59 Prozent der Einschulungskinder aus armen Einwandererfamilien stammen. Im Essener Süden – z. B. im Stadtteil Kettwig – beträgt der Anteil dagegen 8,4 Prozent. Umgekehrt verhält es sich beim Sozialstatus. Während im Norden knapp 20 Prozent einen niedrigen Sozialstatus aufweisen, sind es im Süden lediglich 1,5 Prozent.

Eltern in Düsseldorf bringen ihre Kinder beitragsfrei in die Kindertagesstätten. Die Stadt Gelsenkirchen dagegen – nur ein paar hundert Meter nordöstlich von hier und haushaltstechnisch unter Zwangsverwaltung – musste die Elternbeiträge für die Kinderbetreuung erhöhen. Die Folge: noch mehr derjenigen Kinder, die es am nötigsten haben, gehen nicht in eine Kindertagesstätte. Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst weiter. Das gilt hier in Essen ebenso wie am ganzen Niederrhein. Es gilt auch landesweit für ganz Nordrhein-Westfalen und es gilt gleichermaßen bundesweit. Laut aktuellem Sozialbericht der Landesregierung NRW ist das Risiko, in Armut aufzuwachsen um weitere zwei Prozentpunkte gestiegen. 14,3 Prozent unserer Bevölkerung gelten mittlerweile als armutsgefährdet. Bei Kindern unter 16 Jahren beträgt der Anteil 25,4 Prozent, bei Einwanderern 31,7 Prozent und bei Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern sogar 40,9 Prozent! Gleichzeitig wächst der private Reichtum. Seit 1998 ist das Durchschnittsvermögen der reichen Haushalte in NRW um 17,5 Prozent gestiegen. Das Vermögen der nicht reichen Haushalte dagegen um 2,5 Prozent gesunken. Zwischen 2004 und 2008 stiegen die Unternehmensgewinne bundesweit im Durchschnitt um 61 Prozent, während die Arbeitnehmereinkommen um real 4 Prozent sanken. Den Hartz IV-Empfängern werden 5 € Erhöhung monatlich zugestanden. Das sind 16,6 Cent pro Tag. Die Kinder der Hartz IV-Empfänger erhalten gar nichts in bar – die bekommen ja eigentlich jetzt schon zu viel laut unserer Bundessozialministerin. Und vergessen wir es nicht: ab dem 1.1. nächsten Jahres werden die 300 Euro Elterngeld für Hartz IV-Empfänger ersatzlos gestrichen. Das ist eine schamlose und für 6,7 Millionen Menschen eine würdelose Politik! Zur gleichen Zeit wird bekannt, dass 200 Bankangestellte mehr als 500.000 € jährlich verdienen in Banken, die

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Grußworte • Gunder Heimlich

ebenfalls durch Steuergelder über Wasser gehalten werden. Wie geht das zusammen? Ein Staat, eine Regierung die Milliarden und Abermilliarden in Banken, Atomkonzerne, Pharmaindustrie und durch eine ungerechte Steuerpolitik versickern lässt, hat natürlich kein Geld, um das im Grundgesetzt verankerte Sozialstaatsgebot zu realisieren. Menschen, die arm sind, und von Hartz IV leben müssen, weil das Versprechen, sie in Arbeit zu bringen nicht erfüllt werden kann, werden oft als „sozial schwach“ bezeichnet. Für mich ist der Staat „sozial schwach“, der nicht alles tut, um seine Bürger aus der Armut heraus zu holen. Wer den Zusammenhalt unserer Gesellschaft stärken will, muss nicht zuletzt auch dafür sorgen, dass Kapitaleigner und Arbeitnehmer gerecht vom gesellschaftlichen Fortschritt profitieren. Wenn wir so weitermachen, wie in den letzten beiden Jahrzehnten, dann hat sich die Frage des Zusammenhalts in absehbarer Zeit erledigt, weil nichts mehr zusammengehalten werden kann. Mittel- und langfristig kann es nicht funktionieren, immer mehr Menschen dauerhaft in unsichere, schlecht bezahlte und befriste Arbeitsverhältnisse zu zwingen, um höhere Unternehmenserträge zu erzielen, die – möglichst an der Steuer vorbei – auf die Konten der Shareholder geschaufelt werden. Wer finanziert in 20, 30 oder 40 Jahren das Existenzminimum derjenigen, die im Verlauf ihres Lebens zu kurze Zeit gearbeitet und schlecht bezahlt waren und entsprechend geringe Ansprüche an die Rentenkasse erworben haben? Vielleicht sind wir ja dann soweit, dass auch die Reichen und die Shareholder gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Demokratie lebt von sozialem Frieden, einer funktionierenden Solidargemeinschaft und einem breiten Rückhalt in der Bevölkerung. Die letzten Jahrzehnte in unserem Land sind dagegen geprägt von sozialen Gegensätzen, Entsolidarisierung, wachsender Chancenungleichheit und Armut.

Liebe Freundinnen und Freunde: In keinem anderen Land in Europa ist eine so hohe Zunahme von Niedriglöhnen zu verzeichnen wie in Deutschland. Seit Einführung von Hartz IV wurden 50 Milliarden Euro an Steuergeldern aufgewendet, um Niedriglöhne aufzustocken. Das heißt: Diejenigen, die noch Steuern zahlen, also vor allem lohnabhängig Beschäftigte, subventionieren Unternehmen, damit sie mit Niedriglöhnen ihre Gewinne und die Vermögen der Kapitaleigner mehren können! Das ist kein Beitrag, um Ausgrenzung zu verhindern, das schafft Ausgrenzung! Was den Zusammenhalt stärkt sind gerechte Mindestlöhne und nicht Dumpinglöhne! Wir in der AWO müssen uns erneut wie 1998 und 2002 mit dem Thema Zukunft des Sozialstaates und der Sozialpolitik in Deutschland befassen. Aus Sicht der AWO am Niederrhein sollte die heutige Konferenz den Auftakt bilden für eine grundlegende, bundesweite und alle Gliederungsebenen einbindende Debatte mit dem Ziel sein, klare grundsätzliche sozialpolitische Positionen des Verbandes abzustecken und durch die Bundeskonferenz verabschieden zu lassen. Neben der Reichtum-/Armutsfrage müssen wir uns zukünftig zu weiteren wichtigen sozialpolitischen Themen, wie zum Beispiel Pflege und Migration neu positionieren. Lasst mich enden mit einem Dankeschön an die Freunde der AWO Essen, die bei der Bundeskonferenz in Berlin den Anstoß für die heutige Konferenz gegeben haben. Unserer Konferenz wünsche ich einen guten Verlauf! Glück auf!

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GruĂ&#x;worte • Michael Franz

Michael Franz Vorsitzender des AWO Kreisverbandes Essen e.V.

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Grußworte • Michael Franz

Liebe Freundinnen und Freunde der Arbeiterwohlfahrt , lieber Wolfgang Stadler, lieber Wilhelm Schmidt, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Reinhard Paß,

Auf der Sonderkonferenz 2002 in Aachen wurden die Ziele einer zukünftigen Sozialpolitik diskutiert und beschlossen:

Ich darf euch hier in Essen herzlich willkommen heißen. Als großer und aktiver Kreisverband haben wir uns sehr gefreut, dass unser Antrag, sich wieder verstärkt mit der Sozialpolitik auseinander zu setzen bei der Bundeskonferenz in Berlin eine bereite Mehrheit gefunden hat. Diese Konferenz heute, kann nur der erste Schritt sein, um unseren Verband sozialpolitisch so aufzustellen, dass wir für die Probleme der Menschen in unserer Gesellschaft die richtigen Antworten finden. Die AWO ist als Wohlfahrtsverband mit sozialpolitischem Auftrag verpflichtet, sich in die Diskussionen zur Zukunft der Sozialpolitik einzumischen. Vor unserem geschichtlichen Hintergrund als Teil der Arbeiterbewegung und als demokratischer Mitgliederverband ist es richtig, Sozialpolitik zu diskutieren und gleichzeitig soziales Engagement darzustellen.

1. Überwindung der Abhängigkeit von Transferleistungen 2. Stärkung der Prävention 3. Stärkung von Integration und Teilhabe und 4. Einbeziehung der Stärken der Betroffenen anstelle von Sanktionierung ihrer Schwächen Diese Diskussion gilt es heute fortzusetzen und neue Impulse für die Entwicklung und die Praxis sozialer Politik zu beschließen. Mit der „Essener Erklärung“ sind wir hierbei auf einem richtigen Weg. Ich wünsche der Konferenz daher intensive Diskussionen und Beratungen sowie einen guten Verlauf mit Ergebnissen, die in die Zukunft weisen. Glück auf!

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Reden „Zusammenhalt stärken – Ausgrenzung verhindern“

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Reden • Wilhelm Schmidt

Wilhelm Schmidt Vorsitzender des Präsidiums des AWO Bundesverbandes e.V.

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Reden • Wilhelm Schmidt

Zusammenhalt stärken – Ausgrenzung verhindern Im aktuellen AWOmagazin antwortet Professor Frank Nullmeier, der später noch zu uns sprechen wird, auf die Frage nach den Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise wie folgt: „Während sich für die (...) Gutverdienenden die Krise schon wieder als überwundenes Geschehen verflüchtigt, werden all jene Bevölkerungsteile, die stärker auf öffentliche Güter und Sozialleistungen angewiesen sind, nun einer strikten Sparpolitik unterworfen“. Betrachten wir die aktuellen Politikvorhaben der Bundesregierung, dann kann man nur sagen: Leider hat er Recht. Ich muss ganz offen gestehen: Was in den letzten Wochen und Monaten von der schwarz-gelben Koalition an Politik betrieben und Gesetzesvorhaben auf den Tisch gelegt wurde, habe ich in der Form noch nicht erlebt. Man konnte sich ja bei einer schwarz-gelben Regierungskoalition auf einiges gefasst machen, aber was gegenwärtig passiert, ist nicht zu überbieten. Das ist ein massiver Angriff auf große Teile der Gesellschaft. Neben den inhaltlichen Grobheiten in der Sozialpolitik – auf die ich noch eingehen werde – ist für mich vor allem der unwürdige Umgang mit den betroffenen Menschen schlicht nicht nachvollziehbar und auch nicht hinzunehmen. Mir ist nicht klar, mit welch einer Vorstellung vom Menschen die politisch Handelnden der Bundesregierung ihre Politik angehen. Das ist alles so weit entfernt vom Alltag von Millionen von Menschen und hat mit sozialer Gerechtigkeit rein gar nichts mehr zu tun. Oder wie stand es mit Blick auf die Vorhaben zu den Hartz IV-Regelsätzen diese Woche so treffend in der Süddeutschen Zeitung: „Die Bundesregierung hat den Graben zwischen Arm und Reich vergrößert. Diese Koalition bedient Hoteliers, schont Vermögende beim Sparpaket, fördert die Atomindustrie, lehnt einen bundesweiten Mindestlohn ab, aber hebt ausgerechnet bei Langzeitarbeitslosen den moralischen Zeigefinger (...)“ Kurzum: Es wird eine Politik für die Wenigen und auf Kosten der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger gemacht; es ist eine Politik, die die starken Interessen prämiert und die schwachen Interessen überhört. Dies wird – das sagt einem der gesunde Menschenverstand – mittel- und langfristig den Verdruss der Betroffenen auf politisch Verantwortliche und das Gemeinwesen erhöhen. Es wird die Spaltung vergrößern und somit den Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft gefährden.

Um so wichtiger ist es deshalb, gegen diese bewusste Inkaufnahme gesellschaftlicher Spaltungen anzugehen. Für uns als AWO war das in der über 90-jährigen Geschichte ganz wesentliche Motivation in unserem Handeln. Unsere Streiterinnen und Streiter für eine freie, gerechte und solidarische Gesellschaft haben dies immer wieder eindrucksvoll gezeigt. Aktuell setzen wir als AWO mit unserer Kampagne „Jetzt geht’s ans letzte Hemd“ ein Zeichen gegen den Sozialabbau und für den Zusammenhalt in Deutschland. Nach dem öffentlichen Protest vor dem Berliner Reichstagsgebäude während der Haushaltsberatungen des Bundestages ist diese Sozialkonferenz ein weiterer wichtiger Teil dieser Kampagne. Wir wollen nicht nur protestieren, sondern auch inhaltlich argumentieren. Deshalb freue ich mich, dass wir hier in Essen zu dieser Sozialkonferenz zusammengekommen sind. In den aktuellen Debatten um die Hartz IV-Regelsätze gehen die beschlossenen sozialpolitischen Kürzungsvorhaben fast schon wieder unter. Fest steht: Die Sparbeschlüsse, die die Bundesregierung zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte vorgelegt hat, und die in den Haushalt 2011 einfließen sollen, belasten einseitig sozial schwache Menschen. Dagegen werden die Krisenverursacher, Vermögenden und Spitzenverdiener auffällig geschont. Thema Elterngeld Hier sollen Einsparungen von etwa 500 Millionen Euro pro Jahr durch eine Anrechnung des Elterngeldes auf Leistungen des Arbeitslosengeldes II erreicht werden. Für die betroffenen Menschen bedeutet dies eine dramatische Reduzierung ihrer Einkünfte, insbesondere für die laut Angaben der Bundesregierung circa 47.000 weiblichen und die rund 500 männlichen Alleinerziehenden. Auch erwerbstätige Eltern, die so wenig verdienen, dass sie zusätzlich einen Minijob annehmen, oder ihren Niedriglohn mit Leistungen der Grundsicherung aufstocken müssen, könnten künftig weniger Elterngeld bekommen. Denn Pläne des zuständigen Ministeriums stellen in Frage, dass ihnen derzeit der Mindestbetrag von 300 Euro monatlich zusätzlich zu den Grundsicherungsleistungen für maximal 14 Monate gewährt wird.

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Reden • Wilhelm Schmidt

Thema Rentenbeiträge für Langzeitarbeitslose Die schwarz-gelbe Regierung will die Rentenbeiträge für Langzeitarbeitslose streichen. Das bedeutet, dass deren Altersrenten sinken und im Ergebnis mehr Menschen im Alter Leistungen der Grundsicherung beanspruchen müssen. Dies belastet dann wiederum die Haushalte der ohnehin finanziell klammen Kommunen, denn sie müssen die Leistungen der Grundsicherung finanzieren. Thema Qualifizierungsmaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit Bei der Bundesagentur für Arbeit sollen Pflichtleistungen durch Ermessensleistungen ersetzt werden. Zu den bisherigen Pflichtleistungen gehören etwa Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung sechs Monate nach Eintritt der Arbeitslosigkeit, Eingliederungsgutscheine für ältere Arbeitnehmer, Berufsausbildungsbeihilfe, die Vorbereitung auf den nachträglichen Erwerb des Hauptschulabschlusses sowie das Kurzarbeitergeld. Wenn diese Pflichtleistungen zu Leistungen werden, deren Gewährung im Ermessen der Bundesagentur für Arbeit liegen, hat dies fatale Auswirkungen auf die Eingliederung benachteiligter Menschen in den Arbeitsmarkt. Die Hauptleidtragenden wären Mehrfachbenachteiligte, Ältere, Menschen mit Behinderung sowie junge Menschen ohne Schulabschluss. Das Fördern, das ohnehin in den vergangenen Jahren gegenüber dem Fordern zu wenig die Arbeitsmarktpolitik bestimmte, würde noch weiter geschwächt. Thema schnellerer Übergang zu Hartz IV Der befristete Zuschlag für Arbeitslose, die aus dem Arbeitslosengeld I in das Arbeitslosengeld II wechseln müssen, soll wegfallen. Für die Betroffenen bedeutet das einen erkennbaren Einschnitt. Die Gefahr des sozialen Abstiegs, den viele Menschen schon heute fürchten, wird dadurch größer und beschleunigt. Die Verunsicherung der Menschen nimmt zu. Thema Heizkostenzuschuss Der Heizkostenzuschuss für Wohngeldempfänger soll eingespart werden. Darunter leiden vor allem ältere Menschen und Familien mit Kindern, die

bislang am Häufigsten von dieser vorgelagerten Sozialleistung profitieren. Zudem handelt die Regierung hier kurzsichtig, da auch in Zukunft die Energiepreise nicht vorhersehbar sein werden. Thema ungedeckelte Zusatzbeiträge in der Gesetzlichen Krankenversicherung In Zukunft werden neben höheren Beitragssätzen auch noch erhöhte pauschale Zusatzbeiträge eingeführt, die einseitig alle Versicherten betreffen und insbesondere Geringverdiener belasten. Die bewährte paritätische Finanzierung durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber soll aufgegeben werden. Kurzum: Wir brauchen die Einführung einer Bürgerversicherung, in der alle beruftätigen Menschen einzahlen, egal ob Beamte, Selbstständige oder Angestellte. Während sich also Hoteliers über Steuerentlastungen durch die schwarz-gelbe Bundesregierung freuen können und die Banken nur minimal mit insgesamt 6 Milliarden Euro an den Kosten der Wirtschafts- und Finanzkrise beteiligt werden, sollen im Sozialbereich über 30 Milliarden Euro eingespart werden! Dies sind mehr als 40 Prozent des gesamten kalkulierten Sparvolumens von knapp 80 Milliarden Euro, das die Bundesregierung binnen vier Jahren einsparen will. Dies ist keine ausgewogene oder gerechte Politik. Schlimmer noch: es ist ein ignorantes Verhalten gegenüber den Betroffenen. Es ist eine bewusste Missachtung derjenigen, die ihre Proteststimme nicht so laut erheben können, weil eben keine geölten Kommunikationsmaschinen mächtiger Unternehmen ihre Anliegen unterstützen und massiven Druck auf die Bundesregierung ausüben – wie es das dreiste Vorgehen der Atomlobby jüngst zeigte. Die kommenden Monate werden für unser Land von großer Bedeutung sein. Wenn die Bundesregierung mit ihren Vorhaben „durchkommt“, haben wir ein anderes Land. Die AWO setzt sich mit ihren 400.000 Mitglieder, den 100.000 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern und 150.000 Hauptamtlichen für den Zusammenhalt der Gesellschaft ein. Dies ist Auftrag unserer Gründerin. Mehr denn je wird es nun darum gehen, die Stimme und die Tatkraft für Gerechtigkeit und Zusammenhalt in der Gesellschaft zu erheben. Die Schere zwischen Arm und Reich kann nur geschlos-

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Reden • Wilhelm Schmidt

sen werden, Kinderarmut kann nur bekämpft, Lohn- und Altersarmut nur dann wirksam zurückgedrängt werden, wenn die Politik starke Schultern mehr belastet als Schwache. Mit unserer Kampagne wollen wir versuchen zu verhindern, was zu verhindern ist; wollen wir auch als AWO zeigen: Armut – ob als Kind oder im Alter – darf es in einem so reichen Land wie Deutschland nicht geben. Und wenn das Eintreten in den letzten Jahren und Jahrzehnten für die armen Menschen in Deutschland gerne auch einmal arrogant belächelt wurde, dann müssen wir als AWO erst recht dafür sorgen, dass der Abstieg in existenzielle Nöte nicht befördert, sondern den Betroffenen ein Weg aus ihrer Armut aufgezeigt wird. Stärker noch als bisher, müssen wir für die Menschen „da sein“, uns um sie kümmern. Wie wir da noch besser werden können – auch dafür sind wir heute in Essen zusammengekommen. Einen inhaltlichen „Aufschlag“ für die heutigen Diskussionen ist die so genannte Essener Erklärung „Zusammenhalt stärken – Ausgrenzung verhindern“, die das Präsidium auf seiner Sitzung am 27. August 2010 verabschiedet hat und Euch allen zur Beratung vorliegt. Wir haben im Präsidium lange diskutiert und auch vor dem Hintergrund der Beschlusslage der letzten Bundeskonferenz die Themen •Kinder- und Jugendarmut •Perspektiven der Arbeitsmarktpolitik •Altersarmut in den Mittelpunkt dieser Konferenz und der Essener Erklärung gestellt. Wir hätten etwa auch die Fragen einer zukünftigen Behindertenpolitik oder Einwanderungsfragen mit genau der gleichen Gewichtigkeit diskutieren können. Von daher gestattet mir – bevor ich näher auf die Essener Erklärung eingehe – noch ein paar kurze Anmerkungen zu den beiden genannten Themenfeldern. Menschen mit Behinderung Die Sozialpolitik für Menschen mit Behinderungen unterliegt zweifellos einem grundlegenden Wandel. Unter Schlagworten wie Partizipation und In-

klusion finden sie Einzug in die praktische Arbeit der AWO. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Umsetzung der UN-Behindertenkonvention von 2009. Für die AWO bedeutet dies, dass wir in unseren Einrichtungen und Diensten die Ambulantisierung vorantreiben, die Selbstbestimmung und Selbsthilfe für Menschen mit Behinderung fördern und neue Wege für einen inklusiven Sozialraum schaffen. Wir wollen die gleichen Rechte von Menschen mit Behinderung in den Vordergrund unserer Dienstleistung stellen. Wir wollen nicht über Menschen mit Behinderung reden, sondern mit ihnen. In unserem Sozialbericht „Was hält die Gesellschaft zusammen?“ aus dem vergangenen Jahr haben wir diese Handlungs- und Planungsperspektiven für den Verband umsetzungsrelevant beschrieben. Wir als AWO gehen damit neue Wege in der Sozialpolitik für und mit Menschen mit Behinderung. Für uns als AWO ist auch hier klar und selbstverständlich: Alle Menschen – unabhängig von ihren Behinderungen – müssen gerechte Teilhabechancen erhalten. Einwanderung/Migration/Integration In dem bereits angesprochen AWO-Sozialbericht aus dem Jahre 2009 wurde auch das Themenfeld Migration ausführlich bearbeitet. Demnach ist kurz gesagt klar: Migrantinnen und Migranten in Deutschland leben in erheblichen Risikolagen bezogen auf Bildung, Ausbildung und Arbeit, die sie nicht zu verantworten haben. Für die AWO war und ist in Integrationsdebatten eines immer klar: Eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft besteht darin, sich zu vergewissern, welche gesellschaftlichen Spielregeln für die gemeinsame Zukunft gelten sollen. Das heisst, es bedarf einer Verständigung darüber, in welchem Umfang staatliche Integrationsleistungen erforderlich sind und welche Integrationsleistungen von Migrantinnen und Migranten zu Recht erwartet werden können. Es ist Aufgabe der AWO, Menschen mit Migrationshintergrund auf der Basis von Respekt und Anerkennung zu begegnen. Und um es auch an dieser Stelle deutlich zu sagen: Migrantinnen und Migranten können sich darauf verlassen, dass sie in unseren Einrichtungen, Diensten und Maßnahmen die Unterstützung bekommen, die sie benötigen – auf der Grundlage wechselseitiger Anerkennung.

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Reden • Wilhelm Schmidt

Im Verlaufe der letzten zwei Jahrzehnte wurden wir Zeugen, wie umherirrende Apostel des freien Marktes aus Politik, Wirtschaft und Medienöffentlichkeit beinahe gebetsmühlenartig immer wieder den Abbau oder Rückzug des Sozialstaates gefordert haben. Jeder Mensch sollte am besten seines eigenes Glückes Schmied sein. In diese Richtung weist auch die Politik der Bundesregierung – und das nur knapp 2 Jahre nach dem Zusammenbruch der Wirtschafts- und Finanzmärkte. Dabei hat die Wirtschafts- und Finanzkrise deutlich gezeigt: ohne einen handlungsfähigen Sozialstaat und regulierende Maßnahmen geht es nicht. Der Zusammenhalt unserer Gesellschaft ist ohne einen starken Sozialstaat schlicht nicht möglich. Die hohen Schulden haben den Staat in seiner Handlungsfähigkeit jedoch schon so weit eingeschränkt, dass gar nicht absehbar ist, wann er sich von dieser Umklammerung wieder lösen kann. Es wäre skandalös, wenn sich in Folge der Wirtschaftskrise der Arbeitsmarkt so wandelt, dass Vollerwerbstätige ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten können; dass Millionen von Menschen in Mini-, Teilzeit- oder Leiharbeitsverhältnissen arbeiten, die wiederum nur durch zusätzliche staatliche Leistungen ein Existenzminimum ermöglichen. Kurzum: Wollen wir eine weitere Spaltung der Gesellschaft verhindern, brauchen wir gesetzliche Mindestlöhne! Die AWO fordert das seit langem. Leider kann dieses Vorhaben aufgrund der politischen Konstellation nicht umgesetzt werden. Ungewissheiten auf dem Arbeitsmarkt, Unsicherheiten in der Beschäftigung, rückläufige Staatsleistungen für Bildung und Erziehung – all dies ist ein Nährboden für Kinder- und Jugendarmut, die mittel- bis langfristig auch in Altersarmut münden kann. All dies ist vor allem da spürbar, wo das eigentliche Herz des Zusammenlebens schlägt: in den Gemeinden und Kommunen. Die Folgen der Wirtschaftskrise, Sparmaßnahmen von Bund und Ländern oder Steuersenkungen fallen potenziert den Handelnden vor Ort besonders schwer auf die Füße. Dies bleibt natürlich nicht ohne Nebenwirkungen für die soziale Arbeit. Wir als AWO spüren das vielerorts bereits.

Der Bundesverband stellt derzeit ein so genanntes Schwarzbuch zu der prekären Lage der sozialen Arbeit vor Ort zusammen. Diese Zusammenstellung ist wahrlich keine Jubelliste. Es ist auch noch nicht absehbar, wie wir als AWO mit unseren Einrichtungen, Diensten und als Verband damit umgehen können. Eines möchte ich aber an dieser Stelle deutlich betonen: Bei allem Druck, der mancherorts spürbar ist und spürbar werden wird: Wir dürfen als AWO auf keinen Fall unsere Qualität der Arbeit vernachlässigen oder auf geringe Entlohnung „setzen“. Dies wäre auf lange Sicht gesehen ein solch hoher Glaubwürdigkeitsverlust, der das Leben und Überleben vor Ort erst Recht schwer macht. Bei aller berechtigten Sorge um die Angebote und Dienstleistungen dürfen wir ebenso die Zukunft unseres Mitgliederverbandes nicht aus den Augen verlieren. Ebenso wenig darf unsere sozialpolitische Stimme verstummen. Im Gegenteil. Der Dreiklang in der AWO aus Mitgliederverband, Sozialwirtschaft und sozialer Interessenvertretung darf nicht gestört werden. Klar muss sein: Wir wollen als AWO nahe bei den Menschen und ihren Bedürfnissen sein. Für mich ist hierbei die Kampagne „Jetzt geht’s an letzte Hemd“ ein mehr als ermutigendes Zeichen. Aus zahlreichen Gliederungen unseres Verbandes wird die Kampagne unterstützt. Ich finde, da ist bisher tolle Arbeit geleistet worden, die uns alle optimistisch stimmen sollte, wie wir auch künftig als AWO gemeinsam auftreten können. Mit unserem hohen ehrenamtlichen Einsatz wollen wir einen spürbaren Beitrag dazu leisten, dass den Menschen am Rande der Gesellschaft wieder eine Perspektive; dass wir ihnen Teilhabe wieder ermöglichen! Ich wünsche mir ertragreiche Diskussionen und greifbare Ergebnisse von dieser Sozialkonferenz. Mit der Essener Erklärung hoffen wir als Präsidium, Euch eine gute Beratungsgrundlage vorgelegt zu haben und freuen uns, die heutigen Anregen in die Erklärung aufzunehmen.

Vielen Dank!

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Reden • Sigmar Gabriel

Sigmar Gabriel Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

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Reden • Sigmar Gabriel

Zur Zukunft des Sozialen in der Politik Lieber Wilhelm Schmidt, lieber Wolfgang Stadler, meine sehr geehrten Damen und Herren,

unsicheren Situationen zu kämpfen haben, die sich vor einigen Jahren keine Gedanken über wirtschaftliche Probleme machen mussten.

ich danke herzlich für die Einladung der Arbeiterwohlfahrt, einen Beitrag zur heutigen Fachkonferenz zur Zukunft der Sozialpolitik zu leisten. Vor allem bedanke ich mich dafür, dass die AWO sich dieses Themas annimmt und damit ein wichtiges Zeichen setzt – gerade in einer Zeit, in der das Soziale in der Politik aus dem Blick zu geraten scheint.

Besonders augenfällig wird das beim Umgang mit Arbeit. Auch da hat die Fairness gelitten.

Denn die Bundesregierung orientiert sich in ihrer Politik ganz offen an den Interessen großer privater Unternehmen und nicht an den Bedürfnissen der großen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland.

Seit 1995 ist Deutschland bei der Entwicklung der Löhne Schlusslicht in Europa. Gleichzeitig sind die Einkommen aus Vermögen und aus Spekulation durch die Decke gegangen.

Die Erfahrung, dass man für anständige Arbeit und Anstrengung längst nicht mehr immer auch einen fairen Lohn bekommt, kennt inzwischen beinahe jeder aus alltäglichem Erleben.

Wilhelm Schmidt hat darauf eben hingewiesen und die Felder benannt, wo Zusammenhalt in unserer Gesellschaft gefährdet ist und Ausgrenzung droht. Dort also, wo wir uns dafür einsetzen müssen, dass dem Sozialen als Gestaltungsprinzip der Politik wieder Geltung verschafft wird.

Der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit!“ gilt noch lange nicht, wenn Frauen immer noch ein Viertel schlechter bezahlt werden als Männer! Zu niedrige Löhne treffen direkt die „kleinen Leute“. Aber sie setzen längst auch die Mittelschicht unter Druck, die Einkommensmitte in Deutschland. Mancher ist aus ordentlicher Arbeit in solche Jobs hinein gedrängt worden.

Das Motto „Zusammenhalt stärken – Ausgrenzung verhindern“, dass die AWO der Essener Erklärung gegeben hat, passt in diese Zeit und ich begrüße dieses Engagement der Arbeiterwohlfahrt für dieses Thema sehr. Was heute hier beraten wird, trifft den Kern dessen, um was es hierzulande gerade geht.

Dazu sind zu niedrige Löhne eine schwere Hypothek für die Renten! Denn Basis für vernünftige Renten sind ordentliche Löhne, daran bemessen sich die Rentenbeiträge ebenso wie später Rentenanspruch und Rentenhöhe. Leiharbeit, sachgrundlose Befristungen und immer neue Formen flexibler Beschäftigung erhöhen den Druck nach unten.

Mangelnde Fairness Wir haben in den letzten Monaten schwierige Zeiten erlebt. Die Krise hatte für viele ganz alltägliche Folgen. Dazu kam Unsicherheit über das, was noch kommt. Doch überall treffe ich trotzdem auf Optimismus und Hoffnung, Kraft und Einsatz. Aber ein Thema nehmen die Leute sehr wichtig, es beunruhigt und bewegt sie. Unterwegs im Land sprechen mich die Menschen immer wieder auf die gleiche Beobachtung an: Es geht nicht fair zu. Viele Beobachtungen nähren dieses Gefühl, dass es nicht gerecht zugeht, dass Menschen nicht gleich geachtet, dass Leistung nicht wertgeschätzt wird, dass es an Solidarität mangelt. Die Leute sehen, dass in ihrer Nachbarschaft, bei ihren Freunden oder in der Familie Menschen mit

Alleinerziehende, Frauen nach der Babypause, Ältere oder junge Leute ohne Abschluss kriegen kaum noch eine Chance auf ordentliche Arbeit. Viel zu wenige schaffen es noch, bis zum normalen Rentenalter im Beruf zu bleiben. Vier von Fünf über 60-jährigen sind schon nicht mehr in Arbeit! Das sind ganz persönlichen Erfahrungen vieler Menschen, die ein Gefühl befördern: Das ist nicht fair! Das verstärkt sich noch, wenn man sieht, dass diejenigen, die es könnten, immer weniger mithelfen. Die Steuerlast sollen allein Arbeitnehmer, kleine Selbstständige und Handwerker tragen.

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Reden • Sigmar Gabriel

Die Regierung lässt gleichzeitig Vermögende, Konzerne und reiche Erben aus der Pflicht. In der Folge zerbröckeln Straßen und Schulgebäude, werden Sporthallen und Kinderbibliotheken geschlossen, weil die Städte kein Geld mehr haben. Das, was ich immer wieder zu hören kriege, ist Unmut und Sorge bei vielen über die gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland: Die Menschen erleben eine Gesellschaft, die Einstieg und Aufstieg blockiert. Eine Gesellschaft, die Lasten und Chancen unfair verteilt. Eine Gesellschaft, die Sicherheiten nimmt, weil sie Unsicherheit als Triebfeder für Leistung nutzen will. Das löst Angst aus und keinen Aufschwung! Immer mehr Menschen in unserem Land leben in Unsicherheit über ihre Zukunft und in der Sorge, dass sie von Abstieg bedroht sind. Ihnen müssen wir neue Sicherheit geben. Wer den Rücken frei hat, kann nach vorne schauen und Leistung bringen. Immer mehr Menschen sehen schwarz für ihre Zukunft, fühlen sich bedroht von ständig steigenden Anforderungen, glauben nicht an ihre Chance, bis zur Rente arbeiten zu können. Ihnen müssen wir diese Chance schaffen, auch Aufstieg ermöglichen. Immer mehr Menschen haben sich innerlich verabschiedet, haben sich abgefunden, bleiben außen vor. Wir müssen dafür sorgen, dass keiner zurückbleibt, dass alle die Chance auf Teilhabe bekommen – und zwar immer wieder.

Grundlagen (…) der Wohlfahrtspflege verbessern und neuschaffen will“, wie Lotte Lemke es einmal beschrieb. Nach vielen Jahrzehnten ihres Wirkens ist die Arbeiterwohlfahrt unverzichtbarer Bestandteil unseres sozialen Gemeinwesens. Mit ihren 400.000 Mitgliedern, den 100.000 ehrenamtlich Tätigen und 145.000 hauptamtlich Beschäftigten ist die AWO eine feste Größe in allen Bereichen des Wohlfahrtswesen Deutschlands. Die Arbeiterwohlfahrt war und ist aber gleichzeitig Teil der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung und eine politische Interessengemeinschaft, deren Mitglieder für soziale Gerechtigkeit und sozialen Fortschritt eintreten. Bei der Gründung der Arbeiterwohlfahrt durch den SPD-Parteivorstand am 13. Dezember 1919 ging es darum, die Mitwirkung der Arbeiterschaft an der Wohlfahrtspflege und an der Sozialgesetzgebung sicherzustellen. Auch heute bestimmen Solidarität, Toleranz, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit das Handeln der Arbeiterwohlfahrt. Dabei kann sich die AWO sicher sein, dass sie die SPD stets an ihrer Seite hat – auch dann, wenn wir manche Dinge gelegentlich aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten.

Kritik an der Bundesregierung Meine Damen und Herren,

Gute Tradition der AWO Meine Damen und Herren, es ist sicherlich kein Zufall, dass sich gerade die Arbeiterwohlfahrt um den Zusammenhalt der Gesellschaft sorgt. Denn es passt zu ihrer über 90jährigen Geschichte und Tradition. Das rote Herz ist Markenzeichen dafür. „Aus der Fülle der praktischen Arbeit heraus ist das starke Verstehen für die Probleme (…) erwachsen“, so lautet schon das erste Fazit von Marie Juchacz nach zehn Jahren Arbeiterwohlfahrt. Darin ist sich die AWO treu, sie ist aus ihrer Arbeit heraus „eine sozialpolitische Organisation“, die auch „mit den Mitteln der Politik die gesetzlichen

bei der Analyse der Politik der Bundesregierung sind wir uns indes vollkommen einig: „Das vorliegende (Spar-)Konzept der Bundesregierung (…) gefährdet den sozialen Zusammenhalt und verschärft die soziale Ungleichheit!“ So heißt es treffend in der Essener Erklärung. Schwarz-gelb betreibt eine Politik ohne jeden sozialen Kompass. Dieses Regierungsbündnis war angetreten mit dem selbsterklärten Anspruch, den Zusammenhalt zu stärken. Und genau das Gegenteil machen sie: Sie fördern die Spaltung der Gesellschaft. Sie verletzen Fairness und Bürgersinn, Verantwortung und Anstand. Ohne Orientierung am Gemeinwohl und am Zusammenhalt.

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Reden • Sigmar Gabriel

Stattdessen machen sie eine Politik mit erheblicher sozialer Schlagseite. Sie schnüren ein Sparpaket, in dem vor allem die Schwächsten in der Gesellschaft die Zeche zahlen. Ein Sparpaket, das sich das Soziale selbst spart.

Meine Damen und Herren, das ist ein hoher Maßstab. Doch die Regierung unterläuft das Urteil mit undurchsichtigen Tricksereien.

Statt etwas für die Familien und Alleinerziehenden zu tun, wird das Elterngeld für Hartz IV-Empfänger gestrichen. Mehr als 100.000 Familien und 50.000 Alleinerziehende bekommen deshalb nächstes Jahr spürbar weniger. Sie zahlen pro Jahr 3.600 € für die Folgen der Krise, die Verursacher lässt Merkel laufen.

Da wurde um die Regelsätze geschachert, bis sie zur Kassenlage passten. Transparenz des Verfahrens? Fehlanzeige! Monatelang hat Frau von der Leyen in Hinterzimmern rechnen und feilen lassen und dabei die große Chance vertan, gemeinsam mit den Ländern und Kommunen etwas zu entwickeln, das wirklich wirksam ist gegen die Armut in unserem Land.

Und auch die Beiträge zur Rentenversicherung für Hartz-IV-Bezieher sollen gestrichen werden. Es mag ja richtig sein, dass aus diesen Beiträgen ohnehin keine großen Ansprüche entstehen.

Wir werden uns die Vorschläge der Bundesregierung sehr genau ansehen. Wir werden keinem Gesetz zustimmen, das nicht alle Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts erfüllt.

Aber die Begründung zeigt die Richtung, in die die Merkel-Koalition marschiert: Sie sagen, es gebe doch die Grundsicherung. Das bedeutet doch nichts anderes als: Ja, Ihr werdet im Alter arm sein, findet Euch einfach damit ab. Merkel und von der Leyen schreiben Millionen Menschen einfach ab!

Wenn die das Lohnabstandsgebot ins Feld führen dafür, dass sie die Regelsätze klein rechnen, dann sage ich: Anreiz zum Arbeiten gibt man nicht, indem man die Sozialleistungen rasiert. Sondern mit anständigen Löhnen!

Das setzt sich bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik fort. Die wird zum Steinbruch des Haushaltes. Dort, wo es vorher Ansprüche auf aktivierende Maßnahmen gab, soll es künftig im Ermessen der Job-Center liegen, wer noch Hilfe bekommen soll. Auf jeden Fall sollen es viel weniger Menschen sein, denn die Mittel werden zusammen gestrichen. Diese ist Arbeitsmarktpolitik nach Kassenlage und nach Gutdünken nimmt den betroffenen Menschen Chance und Perspektive.

Der jetzt gemachte Vorschlag – 5 Euro mehr – zeigt: Maßstab der Bundesregierung ist nicht, ein Mindestmaß an Teilhabe und persönlicher Entfaltung zu ermöglichen. Maßstab ist, möglichst wenig Leistung auszuzahlen. Das spricht der Würde der betroffenen Menschen Hohn. Das missachtet das Verfassungsgericht. Das zeigt die Verantwortungslosigkeit der Regierung. Und es demonstriert das Prinzip dieser Regierung in der Sozialpolitik: Almosen nach Gutherrenart statt sozialer Rechte.

Klientelpolitik Dass es ihnen nicht um Zusammenhalt, sondern um Ausgrenzung geht, zeigt sich am deutlichsten bei der Frage, wie die Grundsicherung gestaltet wird. Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gemacht, was das Gebot des Grundgesetzes ist: Der Anspruch darauf, ein Minimum an Möglichkeiten zur Teilhabe in der Gesellschaft und zur persönlichen Entfaltung zu haben, begründet sich aus nicht weniger als der Würde des Menschen!

Wenn dann gleichzeitig die „Belle Etage“ der Gesellschaft bedient und hofiert wird und die LobbyPolitik bei Atom und Gesundheit fröhliche Urstände feiert, wird vollends klar: Es fehlt dieser Koalition vollständig jede Bereitschaft, der Gesellschaft als ganzer und nicht nur Partikularinteressen zu dienen. Sie haben weder Blick noch Sinn für eine Politik, die Zusammenhalt stärkt, die Ausgrenzung verhindert.

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Reden • Sigmar Gabriel

eine Gesellschaft des Zusammenhaltens, der Orientierung, der Zugehörigkeit und der Solidarität.

Das Soziale in der Politik Die Arbeiterwohlfahrt warnt daher in der Essener Erklärung zu recht so eindringlich vor einer Spaltung der Gesellschaft. Ich will aber noch einen Schritt weiter gehen. Denn es geht nicht nur darum, in den einzelnen Feldern der Sozialpolitik das Richtige zu tun. Es kommt vor allem darauf an, dass wir das Leitbild des Sozialen in der Politik wieder sichtbar machen. Möglich zu machen, dass alle Menschen am Leben dieser Gesellschaft gleichermaßen teilhaben können, muss das Leitbild des Sozialen in der Politik sein, das ist die Grundforderung von Demokratie.

Fairness auf dem Arbeitsmarkt Im Zentrum einer sozialen Politik steht für die SPD eine produktive, gerechte und demokratische Arbeitswelt. Sie gehört an die erste Stelle, wenn es um das Soziale in der Politik geht. Der deutsche und der europäischen Arbeitsmarkt sind unfair geworden. Globaler Wettbewerb und die Wirtschafts- und Finanzkrise haben die Arbeitsmärkte unter erheblichen Druck gesetzt. Das erleben die Beschäftigten im Arbeitsalltag.

Die SPD ist und bleibt die Partei in Deutschland, deren Politik darauf zielt, durch soziale Gerechtigkeit den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu wahren, Einstiege und Aufstiege zu ermöglichen. Dieses Leitbild der Integration und Inklusion, der umfassenden Teilhabe aller an den Gesellschaft, ihren Wohlstand und ihrem Fortschritt und das gemeinsame von Werten, Wohlstand und Gerechtigkeit müssen unser politischer Kompass sein – eben das Soziale in der Politik. Niemand soll weniger Chancen haben wegen seiner ethnischen oder kulturellen Zugehörigkeit. Die Alleinerziehende muss die gleichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben wie Kinderlose oder die klassische Familie. Wer schwer krank und pflegbedürftig ist, muss durch Rehabilitation eine neue Chance bekommen. Wer Behinderungen hat, darf deswegen nicht an der Teilhabe gehindert werden. Solidarische Unterstützung schaut nicht darauf, wer jemand ist, sondern will seine Freiheit und Teilhabe verwirklichen. Darum ist das Soziale in der Politik mehr, als den Sozialstaat und die sozialen Sicherungssysteme weiterzuentwickeln. Es ist Maßstab dafür, wie wir sie weiterentwickeln. Für Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist klar: Wir wollen eine Gesellschaft mit Dynamik, Innovation, Fortschritt und Vielfalt. Und wir wollen

Mehr als 20 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer arbeiten in Deutschland im so genannten „Niedriglohnsektor“. Über 5 Millionen Menschen arbeiten für weniger als 8 Euro pro Stunde. Mindestens 1,2 Millionen arbeiten für weniger als 5 Euro pro Stunde. Und mindestens 1,3 Millionen Menschen müssen sich nach der Arbeit noch staatliche Unterstützung holen, weil ihre Löhne zu niedrig sind, um wenigstens das gesetzliche Existenzminimum abzusichern. Leiharbeit und sachgrundlose befristete Beschäftigung, die ursprünglich dazu dienen sollten, Überstunden abzubauen und Arbeitsplätze neu zu schaffen, gefährden normale, tarifgebundene Arbeitsplätze und erweisen sich als „Lohndrücker“. Für viele Arbeitnehmer wurde beim Lohn ein „Fahrstuhl nach unten“ geschaffen. Besonders vielen jungen Menschen wird eine vernünftige Lebens- und Familienplanung verwehrt. In Deutschland muss auf dem Arbeitsmarkt wieder Ordnung geschaffen werden. Dazu gehören Spielregeln, die den Unternehmen ebenso helfen wie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Wir wollen Arbeit, von der man leben kann und Beschäftigungsangebote für diejenigen, die derzeit keine Chance auf einen Arbeitsplatz im so genannten „ersten Arbeitsmarkt“ haben. Arbeitsplatzsicherheit ist für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von großer Bedeutung. Nur ein

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Reden • Sigmar Gabriel

sicherer Arbeitsplatz ermöglicht, dass man sein Leben ordentlich planen kann. Deshalb ist es notwendig, das klassische, unbefristete Arbeitsverhältnis zu stärken, Leiharbeit und Befristungen zu begrenzen. Eine Marktwirtschaft braucht Mindestlöhne. Fast überall auf der Welt sind sie daher selbstverständlich. Nur in Deutschland ist das bisher anders. Es ist uns gelungen, die branchenbezogenen Mindestlöhne in Deutschland auszubauen. Dass dies auch für den Pflegebereich mit seiner komplizierten Trägerstruktur gelungen ist, möchte ich dabei besonders hervorheben. Unabhängig davon braucht Deutschland aber einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn. Das gilt erst Recht, wenn ab dem 1. Mai 2011 vollständige Freizügigkeit auf dem europäischen Arbeitsmarkt herrscht. Das darf nicht der Beginn eines Wettbewerbs um Dumpinglöhne werden. Wir setzen uns – gemeinsam mit dem DGB – für einen gesetzlichen Mindestlohn von 8 Euro 50 ein, damit eine Arbeitnehmerin, ein Arbeitnehmer sicher sein kann, bei Vollzeitarbeit ohne öffentliche Hilfe den eigenen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Und zwar auch im Alter, denn mit Löhnen unter dieser Marke kann man bei der Rente das Niveau der Grundsicherung im Alter nicht übersteigen.

Der Strukturwandel der deutschen Wirtschaft schreitet voran. Bis 2030 wird einerseits ein Verlust von Arbeitsplätzen in der Produktion in Höhe von 1,5 Mio. Arbeitsplätzen verbunden sein. Andererseits entstehen neue Beschäftigungsfelder im Bereich der Dienstleistungen, der Green Economy und der Gesundheitswirtschaft. – Wenn wir die nötigen Maßnahmen ergreifen, um die Chancen, die in diesen Bereichen stecken, zu heben. Eine zentrale Herausforderung dabei ist, dass die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zwischen 2020 und 2030 um 4,6 bis 5,5 Millionen sinken wird. Schon jetzt klagen die ersten Branchen über einen Mangel besonders an qualifizierten Arbeitskräften – diese Nachfrage wird in Zukunft noch stärker, es werden Millionen Arbeitskräfte gesucht werden. Damit bietet sich uns die Chance, die lange Phase hoher Arbeitslosigkeit zu überwinden. Aber nur, wenn alles dafür getan wird, dass jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer die notwendigen beruflichen Qualifikationen erhält. Dazu müssen wir in Schulen, Berufsschulen, Betrieben und Universitäten alles tun. Ich habe aber noch nicht den Eindruck, dass das geschieht. Jedes Jahr gehen Zehntausende ohne Abschluss aus den Schulen. Und auch von denen, die einen Hauptschulabschluss schaffen, bekommt heute nicht einmal die Hälfte eine Lehrstelle.

Bildung für den Arbeitsmarkt Meine Damen und Herren, soziale Politik bedeutet, dass jeder Bürger und jede Bürgerin eine Chance haben muss, den eigenen Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen. Wir halten auch nicht viel von Vorstellungen eines bedingungslosen Grundeinkommens, weil es Menschen abspeist und keineswegs ihre Teilhabe sichert. Es ist auch eine Frage der Würde eines Menschen, von seiner Arbeit leben zu können. Auch wenn millionenfache Arbeitslosigkeit viele zweifeln lässt, dass dieser Anspruch jemals zu realisieren ist, geben wir das Ziel der Vollbeschäftigung nicht auf!

Auch dieses Ausbildungsjahr 2010 ist mit fast 100. 000 unversorgten Bewerbern gestartet. Und jeder Dritte davon hatte mindestens einen Realschulabschluss! Das ist ein fatales Signal für die jungen Menschen, die ins Arbeitsleben starten, die sich beweisen und etwas leisten wollen und zurückgewiesen werden. Wir müssen die Zahl der gering qualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch eine massive Bildungsoffensive reduzieren. Vor allem Jugendliche und junge Erwachsenen aus Familien mit Migrationshintergrund müssen wir erreichen. Rund 40 Prozent von ihnen machen heute keinen berufsqualifizierenden Abschluss.

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Reden • Sigmar Gabriel

Wenn wir das nicht schaffen, leiden nicht nur ihre Chancen auf eine selbstbestimmte Zukunft, sondern auch die Zukunft unseres Landes steht auf dem Spiel. Wir können uns da kein Versagen leisten.

die Koalition, sondern so weiterentwickeln, dass lange Beschäftigungszeiten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sich darin niederschlagen.

Statt Arbeitslosen mit einer Kürzung der Regelleistungen zu drohen, brauchen wir mehr und bessere Arbeitsangebote auf dem Arbeitsmarkt für diejenigen, die derzeit auf dem normalen Arbeitsmarkt keine Arbeit finden. Die meisten wollen arbeiten, das zeigen Studien deutlich.

Regelsätze

Bei einem Drittel der Langzeitarbeitslosen liegt die letzte sozialversicherungspflichtige Beschäftigung sechs oder mehr Jahre zurück. Viele haben gesundheitliche Beschwerden. Gute Jobcenter zeigen, dass auch sie mit einer intensiven und anhaltenden Unterstützung dennoch erfolgreich eine Arbeit finden können. Dazu braucht man gute Fallmanager und eine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt, die motiviert. Ziel muss es sein, anständige Arbeitsplätze zu schaffen und Menschen ein auskömmliches Einkommen zu ermöglichen. Weil die gute Qualifikation der Beschäftigten so wichtig ist, wollen wir den Anspruch auf Arbeitslosengeld I bei Qualifizierungen verlängern. Und wir wollen die Entwertung der bisherigen Lebensleistung verhindern: Wer jahrzehntelang gearbeitet hat, hat Angst, im Falle unverschuldeter Arbeitslosigkeit alles, was an Vermögen und Rücklagen aufgebaut wurde, schnell zu verlieren. Deshalb ist es richtig, auf die Anrechnung von Vermögen zu verzichten (nicht von Einkommen aus Vermögen) und lediglich ein Missbrauchsverbot an diese Stelle zu setzen. Außerdem findet, wer arbeitslos wird, die Arbeitsund Lebensleistung nicht gerecht gewürdigt, wenn sie nach spätestens zwei Jahren lediglich die gleichen Unterstützungsleistungen erhalten, wie diejenigen, die noch niemals berufstätig waren.

Ich komme in diesem Zusammenhang noch einmal auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zurück. Das Verfassungsgericht hat deutlich gemacht, dass die Grundsicherung neben der Existenz ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen oder politischen Leben, gewährleisten muss. Dabei hat es besonders die fehlende Ermittlung der besonderen Bedarfe von Kindern kritisiert. Dazu gehören insbesondere Teilhabechancen an Bildung und kulturellem Leben. Wir wollen einen Rechtsanspruch auf Förderung und soziokulturelle Teilhabe für alle Kinder gesetzlich verankern. Nicht nur für Hartz IV-Kinder. Wir wollen, dass alle Kinder neben Kindergarten und Schule in einem Sportverein sein können, eine Musikschule besuchen können, außerschulische Bildungsmöglichkeiten wahrnehmen können und ein gesundes, warmes Mittagessen bekommen. Das hat nicht nur Folgen beim Regelsatz. Das heißt zum Beispiel auch, dass die Bundesregierung ihre Pläne für eine Herdprämie wieder in der Schublade verschwinden lässt, denn sie stehen dem diametral entgegen. Und es heißt, dass auch unionsregierte Länder den Ausbau von Krippen und Ganztagsschulen endlich vorantreiben müssen. Das heißt, dass die Kommunen in den Stand versetzt werden, wieder kulturelle Angebote für Kinder machen zu können und nicht durch die schwarz-gelben Streichorgien in Bund und Ländern gezwungen werden, Schwimmbäder und Museen, Turnhallen und Kinderbibliotheken zu schließen. Auch das sind wesentliche Felder von Sozialpolitik. Auch das ist Politik, die Zusammenhalt stiftet und Ausgrenzung verhindert.

Deshalb wollen wir das bereits existierende zweijährige Übergangssystem vom Arbeitslosengeld I auf das Arbeitslosengeld II nicht abschaffen, wie

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Reden • Sigmar Gabriel

Niemand wird anders krank, weil er selbstständig oder verbeamtet ist. Er muss deshalb auch nicht anders versichert sein oder anders versorgt werden.

Soziale Sicherungssysteme Meine verehrten Damen und Herren, die Bertelsmann-Stiftung hat ausgerechnet, dass die Folgekosten einer unzureichenden Politik für Kinder und Bildung sich in Deutschland über die nächsten 80 Jahre auf mehr als 2,8 Billionen Euro summieren könnten. Das Risiko, das die schwarzgelbe Bundesregierung mit ihrer Politik eingeht, ist also riesengroß! Und auch darin, dass sie anstatt auf solide, nachhaltige Wirtschaftspolitik wieder allein auf Exportund Finanz-Wirtschaft setzen, schlummern große Risiken. Sie schränken die Binnenkonjunktur ein, anstatt mit fairen Löhnen für Kaufkraft zu sorgen. Klar ist doch: Wenn es einen Aufschwung gibt, muss es ein Aufschwung für alle sein! Wir müssen über eine steigende Binnennachfrage zu einem Aufschwung kommen, der sich selbst trägt und der nicht mehr so unmittelbar davon abhängt, wie sich die Lage in den USA oder China entwickelt. Unbefristete Vollzeitarbeit zu ordentlichen Löhnen muss wieder der Normalfall sein.

Deshalb ist der soziale Weg der hin zu einer solidarischen Bürgerversicherung in Gesundheit und Pflege: gleiche Versicherung – gleiche Versorgung und gleiche Teilhabe am medizinischen Fortschritt für alle. Und auch eine auskömmliche Rente im Alter setzt ein Arbeitsleben mit ordentlichen Löhnen voraus. Dieser Zusammenhang wird gelegentlich unterschlagen. Mit dem Beschluss zur Rente hat die SPD daran erinnert. Das gilt insbesondere im Zusammenhang mit dem Renteneintrittsalter. Solange es für ältere Menschen nicht genügend Chancen auf Arbeit und Erwerbstätigkeit gibt, wäre die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters eine schlichte Rentenkürzung. Und wenn wir es um die Anerkennung erbrachter Lebensleistung geht, müssen wir auch für die, die das gesetzliche Renteneintrittsalter nicht erreichen, mehr tun, damit sie im Alter abgesichert sind.

Über den Lohn müssen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihren fairen Anteil bekommen an dem von ihnen erwirtschafteten Wohlstand. Das ist in den letzten Jahren erheblich zu kurz gekommen.

Und wer wegen lang anhaltender Arbeitslosigkeit nur geringe Ansprüche auf Rente hat, kann nur mit einer Aufwertung aus der Rentenversicherung eine auskömmliche Rente erhalten kann.

Aber gut bezahlte Arbeit ist die Grundlage für stabile, leistungsfähige und solidarisch finanzierte Sozialversicherungssysteme.

Das Ziel ist für uns klar: Grundsicherung soll im Alter auch in Zukunft die Ausnahme bleiben und darf nicht zur Regel werden.

Wenn wir wollen, dass niemand bei elementaren Lebensrisiken und im Alter alleine gelassen wird, müssen wir uns für Arbeit und ordentliche Löhne stark machen.

Gute Arbeit, gesunde und längere Arbeit, flexible Übergänge in den Ruhestand und die Vermeidung von Altersarmut, das sind die Eckpfeiler für die Zukunft einer guten solidarischen Alterssicherung in Deutschland, meine Damen und Herren.

Wir wollen die die Sozialversicherungen ausbauen und für alle Bürgerinnen und Bürger, unabhängig von ihrem Erwerbsstatus, gleichermaßen in die Versicherungen einbeziehen. Das unterscheidet uns von denjenigen, die den solidarischen Sozialstaat schwächen wollen und unter dem Begriff „Eigenverantwortung“ Privatisierung und Kapitaldeckung meinen.

Armutsbekämpfung Wir leben in einer reichen Gesellschaft, in der es aber auch Armut gibt – offen sichtbare und verschämt versteckte. Wo Menschen arm sind, weil sie Chancen auf Teilhabe und Arbeit nicht bekommen oder nicht suchen und annehmen.

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Reden • Sigmar Gabriel

Wer arm ist oder wird, soll es nicht bleiben. Der Sozialstaat garantiert ein Existenzminimum und hilft, aus der Bedürftigkeit herauszukommen. Es gibt viel ehrenamtliches Engagement, mit dem in Not geratenen Menschen geholfen wird. Initiativen wie die „Tafeln“ verdienen hohen Respekt. Denn der Staat kann nicht in jedem Einzelfall die Menschen tatsächlich erreichen und die Wechselfälle des Lebens sofort auffangen. Wichtig ist, dass karitative Einrichtungen für diese Menschen schnelle unbürokratische Hilfe zur Verfügung stellen und sie mit niedrigschwelligen Angeboten in ihrer Alltagskompetenz zu stärken. Sie können auch Begleiter sein, wenn es darum geht, Rechte und Ansprüche wahrzunehmen oder wieder Zugang zu Erwerbstätigkeit zu finden. Sie können aber den Sozialstaat nicht ersetzen. Das Soziale in der Politik heißt auch: Wir wollen einen Sozialstaat, keinen Almosenstaat. Dazu müssen alle ihren Beitrag leisten. Darum dürfen wir es nicht hinnehmen, wenn die Starken und Reichen aus der Pflicht entlassen werden. Und wir dürfen nicht hinnehmen, dass die Früchte der Arbeit und des Aufschwungs ungleich verteilt werden. Der Aufschwung, von dem wir jeden Tag im Fernsehen hören, muss zum Aufschwung für alle werden! Wir wollen neues Wachstum, von dem die Menschen profitieren, nicht allein anonyme Märkte. Wir wollen nachhaltiges Wachstum, das nicht auf Kosten der Natur und zu Lasten des sozialen Ausgleichs geht. Wir wollen Wohlstand, der sich nicht an ökonomischen Größen, sondern an der Lebensqualität der Menschen bemisst. Wir wollen ein faires und gerechtes Deutschland, das den Menschen Zuversicht und Zukunft gibt. Die Menschen wollen in einer Gesellschaft leben, in der Chancen und Lasten fair verteilt sind.

In einer Gesellschaft, in der sie sich zurechtfinden und zurechtkommen, weil es klare Regeln und faire Bedingungen für das Zusammenleben gibt. Es geht darum, diesen Menschen eine Stimme zu geben. Daraus kann eine neue soziale Bewegung werden. Eine Bewegung, die sich für neuen sozialen Frieden einsetzt, eine neue soziale Balance – für eine neue soziale Ordnung.

Schluss Die Arbeiterwohlfahrt erhebt heute hier in Essen deutlich vernehmbar ihre Stimme für den Zusammenhalt in Deutschland, sie nimmt Partei gegen Ausgrenzung. Schon das zeigt, dass das Soziale in der Politik keine Idee ist, die man so einfach zu den Akten legen könnte. Die soziale Frage bewegt. Die Krise hat gezeigt, dass Egoismus das Ganze verspielt. Und sie hat die soziale Frage mit größerer Aktualität zurück in die Diskussion gebracht. Ich erinnere noch einmal an den Satz von Marie Juchacz, dass aus der praktischen Arbeit das starke Verstehen für die Probleme kommt. Sich der Probleme der Menschen anzunehmen und zu helfen, das Leben menschlicher zu machen. Für jeden Einzelnen, aber auch für unsere Gesellschaft insgesamt. Das ist das Credo der AWO. Ich bin jetzt gut 30 Jahre Mitglied der AWO. Das erfüllt mich mit Stolz. Genau wegen dieses Credos bin ich 1979 eingetreten. Und dieses Credo treibt mich auch politisch an. Gemeinsam können wir es schaffen, in Deutschland den Zusammenhalt zu stärken und Ausgrenzung zu verhindern. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

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Reden • Dr. Christine Hohmann-Dennhardt

Dr. Christine Hohmann-Dennhardt Richterin des Bundesverfassungsgerichts

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Reden • Dr. Christine Hohmann-Dennhardt

Menschenwürde im Sozialstaat des 21. Jahrhunderts „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Mit diesen zwei Sätzen von schlichter Erhabenheit beginnt unser Grundgesetz in seinem Art. 1. Dass gerade dieser kategorische Imperativ vor mehr als 60 Jahren ganz an den Anfang unserer Verfassung gestellt worden ist, kam nicht von ungefähr. Es war die bittere historische Erfahrung, wie verächtlich und demütigend Menschen doch ihrer Würde beraubt werden oder ihr verlustig gehen können, die die Mütter und Väter des Grundgesetzes vor mehr als 60 Jahren dazu bewegte, die Lehre daraus zu ziehen und die Menschlichkeit zum Maß allen staatlichen Handelns zu erheben. Da stand ihnen zum einen noch voller Schrecken die grausame Wirklichkeit des Naziregimes mit seinem Quälen und Foltern, Verstümmeln und Erniedrigen, Peinigen und Morden von Millionen Menschen in Europa vor Augen. Fassungslos wie beschämt darüber, dass solch menschenverachtendes Treiben möglich und geduldete wie unterstützte Alltäglichkeit gewesen war, wollten sie derartiger Barbarei mit diesem ersten Gebot der Verfassung ein unmissverständliches „Nie wieder“ entgegenhalten und dem Staat eine absolute, unverrückbare Grenze für sein Handeln setzen. Zum anderen erwuchs der Wunsch, den Schutz der menschlichen Würde zur vorrangigen Pflicht des Staates zu machen und allen grundrechtlichen Verbürgungen voranzustellen, aus der im vorletzten Jahrhundert erstarkten Erkenntnis, dass nicht nur ungezügelte Staatsgewalt der Menschenwürde zuleibe rücken kann, sondern auch Elend, Armut und Ausbeutung zu einem menschenunwürdigen Dasein verdammen, das ein selbstbestimmtes Leben unmöglich macht und Freiheitsrechte zur leeren Hülse verkümmern lässt. „Würde des Menschen – nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen. Habt ihr die Blöße bedeckt, ergibt sich die Würde von selbst“, mit diesen Worten hatte schon Schiller der rein philosophischen Betrachtung, was die Würde des Menschen ausmacht, eine Abfuhr erteilt und darauf hingewiesen, dass menschliche Würde einen sozialen Humus braucht, um gedeihen zu können. Denn wie kann ein Mensch in sittlicher Willensautonomie handeln, die, so Kant, Kennzeichen menschlicher Würde ist, und was nutzen ihm eingeräumte Freiheiten, wenn die Verhältnisse so sind, dass er durch sie weder Selbstachtung gewinnen kann noch Achtung erfährt, sondern nur die Freiheit zu

hungern und sich zu unterjochen besitzt? Es war die Arbeiterbewegung, die damals gegen solch erniedrigende, die Massen bedrückende Lebensund Arbeitsbedingungen aufbegehrte und mit wachsendem Zulauf einforderte, allen Menschen nicht nur Freiheits- und Gleichheitsrechte einzuräumen und sie aus der Knechtschaft zu befreien, sondern ihnen auch eine materielle Basis zu sichern, die sie in die Lage versetzt, ihre Rechte tatsächlich wahrnehmen und am politischen wie gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Damit wurde die Menschenwürde vom Firmament theoretischer Zuschreibung auf die Erde des realen menschlichen Daseins geholt, aus ihrer Exklusivität für privilegierte Schichten in demokratischen Zusammenhang gestellt und zum Auftrag an den Staat erhoben, durch Schutzrechte und sozialen Ausgleich Sorge dafür zu tragen, dass alle ein Leben in aufrechtem Gang führen können, das dem Anspruch menschlicher Würde gerecht wird. Nach langem politischem Kampf kam es nach dem 1. Weltkrieg schließlich dazu, dass die Menschenwürde mit dieser, auf die Sicherung menschlicher Existenz abzielenden materiellen Wendung erstmals in Recht gegossen wurde und in der ersten demokratischen Verfassung Deutschlands, der Weimarer Reichsverfassung, gepaart mit sozialen Rechten, ihren Niederschlag fand. Doch die geschaffene junge Demokratie war noch nicht stark genug, um ihren Widersachern zu trotzen und ihren Verfassungsgeboten Folge zu leisten. Zwar entstand damals das Arbeitsrecht und der sozialen Alters-, Unfall- und Krankenversicherung wurde die Arbeitslosenversicherung hinzugesellt. Als aber die Weltwirtschaftskrise hereinbrach, vermochte dies den Massenabsturz in die Arbeitslosigkeit nicht zu verhindern. Hunger und Armut breiteten sich wieder im Lande aus und mit ihnen die Enttäuschung über den Staat, der seine Versprechungen nicht eingelöst hatte, sodass Peachum in der Dreigroschenoper seufzte: „Doch leider hat man bisher nicht vernommen, dass einer auch sein Recht bekam – ach wo! Wer hätte nicht gern einmal Recht bekommen. Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.“ So wurde die Mischung aus sozialer Not und enttäuschter Hoffnung neben anderem zum Nährboden für das diktatorische Regime, das dann die Macht im Staat ergriff, Heil versprach und der ganzen Welt maßloses Unheil bescherte. Auch im Bewusstsein solch möglicher verheerender Folgen der Vernachlässigung sozialer Bedürfnisse

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Reden • Dr. Christine Hohmann-Dennhardt

erhoben deshalb die Mitglieder des Parlamentarischen Rates nach dem 2. Weltkrieg den Schutz der Menschenwürde zur obersten Maxime des Staates und verpflichteten ihn in Art. 20 GG auf sozialstaatliches Handeln. So prangt nun seither die Menschenwürde mit ihren beiden Geboten, der Achtung und Respektierung eines jeden Menschen sowie der Ermöglichung und Sicherung eines menschenwürdigen Lebens, an unserem Verfassungsfirmament und strahlt auf die Grundrechte aus, die in diesem Lichte Abwehrrechte gegenüber staatlichen Eingriffen in die Persönlichkeitssphäre und Freiheit des Einzelnen, aber auch soziale Teilhaberechte sind, aus denen Schutz- und Gewährleistungspflichten des Staates erwachsen. Doch was macht die Menschenwürde im Konkreten und in heutiger Zeit eigentlich aus, was verletzt sie und was braucht man, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können? Da gehen die Meinungen oft weit auseinander. Würde, das ist für die einen etwas mittlerweile Unzeitgemäßes, klingt nach Weisheit, Ruhe und Müßiggang, die zu den Anforderungen globalisierter Welten nicht mehr zu passen scheinen, und erinnert gar, wie zu vernehmen war, an spätrömische Dekadenz. Andere warnen davor, die Menschenwürde nicht allzu klein zu münzen, sie nicht zur „Wanderdüne ohne Halt“ zu machen, und empfehlen, sie nur in Extremfällen bei eklatanten Verstößen gegen die Menschlichkeit zur Anwendung zu bringen. Wiederum andere halten für menschenunwürdig, was die eigene Messlatte des erwünschten Sozialstandards unterschreitet. Man sieht, es ist nicht ganz einfach, der Menschenwürde rechtlich feste Kontur und klares Maß zu geben. Sie ein für alle Mal fest umreißen und definieren zu wollen, scheitert schon daran, dass damit schwerlich alle Lebensbereiche erfassbar sind, in denen die Menschenwürde berührt sein kann. Zudem ändern sich stetig die Lebensverhältnisse und mit ihnen die Möglichkeiten der Antastbarkeit menschlicher Würde. Vor allem aber darf der Würdeschutz nicht mit dem Sozialstaatsauftrag gleichgesetzt werden. Mit diesem wird der Staat umfassend aufgefordert, bei seinem Handeln fortwährend Kurs auf sozialen Ausgleich, gerechtere Lebensverhältnisse und eine Verbesserung der Lebensqualität für alle zu nehmen. Es ist der politische Wille des Gesetzgebers, der dabei das Tempo und Ausmaß des Voranschreitens bestimmt, dem ein Ziel, die Schaffung einer gerechten Sozialordnung, aber kein Ende gesetzt ist. Währenddessen gibt der Menschenwürdeschutz dem Sozialstaat als Mindestbedingung vor, jedem Menschen Achtung

und Anerkennung zu zollen, in welcher Lage er auch ist, und gebietet ihm deshalb, jedem, der der Hilfe bedarf, zumindest das Existenzminimum zu sichern, mit dem ein menschenwürdiges Leben möglich ist. Er markiert also die unbedingte Grenze, die der Sozialstaat keinesfalls unterschreiten darf. Wo diese Untergrenze zu ziehen ist, hat Anfang dieses Jahres das Bundesverfassungsgericht präzisiert. In seiner Hartz IV-Entscheidung hat es erklärt, dass Art. 1 GG neben der Pflicht des Staates, die Menschenwürde zu sichern, auch ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums enthält und dass hierzu nicht nur die physische Existenzsicherung gehört, sondern dass dieses Grundrecht darüber hinaus auch umfasst, in die Lage versetzt zu werden, zwischenmenschliche Beziehungen pflegen und am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben teilhaben zu können. Dieses vom Gericht allgemein umschriebene Limit physischer wie sozialer Lebensbedürfnisse, deren Abdeckung der Staat zu sichern hat, wenn Menschen dazu selbst nicht in der Lage sind, ist keine feststehende Größe und bedarf weiterer Konkretisierung. Sein Umfang hängt von den jeweils im Lande bestehenden Lebensstandards und -umständen ab. Denn je mehr Wohlstand in einem Land herrscht, je mehr technischer Fortschritt hier Einzug gehalten hat, je mehr Dinge zum alltäglichen Leben wie selbstverständlich dazu gehören und je höher die Preise und Lebenshaltungskosten sind, desto mehr braucht ein Mensch, um menschenwürdig leben zu können und nicht gesellschaftlich ausgegrenzt zu werden. Am Ausmaß der Diskrepanz zum normalen Leben und am Grad der Exklusion von dem, was ein Land kulturell und wirtschaftlich zu bieten hat, ist zu bemessen, was Menschen brauchen, damit ihre Würde gewahrt bleibt. Dies ist zunächst einmal vom Gesetzgeber zu ermitteln, der dabei die Notwendigkeit einzelner Bedarfe anhand der sozialen Wirklichkeit abzuwägen und in sozialer Verantwortung wie eingedenk seines Auftrags, der Menschenwürde Genüge zu tun, darüber zu entscheiden hat, was alles seines Erachtens zu einem menschenwürdigen Existenzminimum dazugehört. Das von ihm gefundene Ergebnis ist dann allerdings daraufhin zu prüfen, ob es vor Art. 1 GG Bestand halten kann. Bei der Prüfung der Regelsätze des Alg II am Maßstab dieser Grundrechtsnorm hat das Bundesver-

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Reden • Dr. Christine Hohmann-Dennhardt

fassungsgericht deshalb nicht allein schon aus deren Höhe schließen können, ob sie zur Sicherung des Existenzminimums ausreichen. Das wäre nur möglich gewesen, wenn die Beträge so niedrig lägen, dass man mit ihnen ganz offensichtlich nicht auskommen kann. Es hat auch nicht beanstandet, dass der Gesetzgeber seiner Berechnung die Verbrauchsstatistiken zugrunde gelegt und sich zur Ermittlung des Existenzminimums am tatsächlichen Verbrauch der untersten 20 Prozent der Einkommensbezieher orientiert hat. Doch an die eh schon sehr eingegrenzte, selbstgewählte Berechnungsgrundlage muss sich der Gesetzgeber dann auch halten und darf sich die statistisch erhobenen Zahlen nicht schönrechnen. Moniert und für unvereinbar mit Art. 1 GG hat das Verfassungsgericht deshalb erklärt, dass der Gesetzgeber die Ausgaben für Bildung gänzlich unberücksichtigt gelassen und etliche Verbrauchspositionen ins Blaue hinein einfach gekürzt hat. Eine derartige Vorgehensweise ist in sich selbst widersprüchlich, intransparent sowie nicht mehr nachvollziehbar und wird der Pflicht, allen ein menschenwürdiges Leben zu sichern, nicht gerecht. Das Verfassungsgericht hat dem Gesetzgeber deshalb aufgegeben, eine Neuberechnung der Grundsicherungsleistungen anhand aktueller Zahlen vorzunehmen, die seinen Vorgaben nach Stringenz und Transparenz Rechnung trägt. Seit einigen Tagen wissen wir nun, zu welchem Ergebnis die Bundesregierung dabei gekommen ist: um gerade einmal 5 € soll der Regelsatz für Erwachsene steigen, bei den Kindern bleibt es sogar bei den bisherigen Leistungsbeträgen, allerdings ergänzt durch ein sog. „Bildungspaket“ aus Sachleistungen. Für die einen, die auf eine deutliche Verbesserung ihrer Lebenslage gehofft haben, ist dies verständlicherweise ein enttäuschendes, ja empörendes Resultat, zumal im Vorfeld der Eindruck entstehen konnte, hier werde auch diesmal wieder um die Höhe der Leistungsanhebung politisch geschachert und an den Zahlen herumgeschraubt. Den anderen wiederum kommt das Ergebnis zu passe, weil sie eh der Meinung sind, die Leistungen seien zu üppig und dürften angesichts der angespannten Haushaltslage wenn überhaupt, dann nur minimal angehoben werden. Und sogleich blüht wieder die Spekulation, ob das gefundene Ergebnis denn diesmal verfassungsfest ist. Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es einer gründlichen Studie des der Berechnung zugrundeliegenden statistischen Zahlenmaterials sowie der dabei in Ansatz gebrachten bzw. unberücksichtigten

Verbrauchspositionen; eine Aufgabe, der sich nun in den nächsten Wochen das Parlament zu widmen hat. Dabei stellen sich jedoch schon bei erster Lektüre des vorgelegten Gesetzentwurfs ein paar Fragen. So bleibt z. B. unklar, weshalb man der Leistungsberechnung für Kinder die Verbrauche von Familienhaushalten mit den unteren 20 % Einkommen zugrunde gelegt hat, während für den Erwachsenenregelsatz diesmal nur die Einpersonenhaushalte mit den unteren 15 % Einkommen herangezogen worden sind und dabei zwar alle Haushalte herausgerechnet wurden, die ausschließlich über Sozialleistungen als Einkommen verfügen, nicht jedoch diejenigen, die ihr Einkommen mit Sozialleistungen aufstocken müssen, weil es allein ein menschenwürdiges Existenzminimum nicht sichert und die deshalb eigentlich ebenfalls als Vergleichsgruppe auszuschließen sind. Denn ein menschenwürdiger Bedarf lässt sich nicht an schon eingetretener Bedürftigkeit bemessen. Das folgte der Zirkelschluss-Logik: was Hartz IV-Empfänger verbrauchen, das reicht auch für sie aus. Ebenso ist erläuterungsbedürftig, wie die diversen Verteilungsschlüssel zustandegekommen sind, mit denen aus dem Gesamtverbrauch von Familienhaushalten der spezielle Bedarf für Kinder errechnet worden ist, scheinen sie doch der maßgebliche „Schlüssel“ dafür zu sein, dass bei der Berechnung im Ergebnis keine höheren, sondern sogar niedrigere Leistungsbeträge für Kinder als bisher herausgekommen sind. Und dass Tabak und Alkohol nicht unbedingt zum menschenwürdigen Existenzminimum zählen, mag ja durchaus richtig sein. Das „Freibier“ soll also gestrichen werden. Doch wer hier applaudiert, der sollte bedenken, dass das Herausrechnen dieser Verbrauchsposten auch die Nichttrinker und -raucher unter den Bedürftigen trifft. Denn bei niedrigem Einkommen bleibt nicht aus, dass der, der raucht und trinkt, an Sonstigem, z. B. am Essen spart. Das aber schlägt sich senkend auf die statistisch erfassten Durchschnittsausgaben der Geringverdiener für das Essen nieder, die beim Regelsatz in Ansatz gebracht werden – zulasten aller, auch der Abstinenzler von Alkohol und Tabak. Schließlich sollen aus der Liste der diesmal nicht mehr berücksichtigten Verbrauchspositionen die Schnittblumen und Zimmerpflanzen nicht unerwähnt bleiben. Gewiss muss man auch die Freude an ihnen nicht zum Existenzminimum zählen. Doch das Streichen dieses Minibetrags von 3,24 € pro Monat wirft ein Licht darauf, mit welcher sozialen Einstellung die

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Verbrauchsstatistik minutiös durchforstet wurde, um bedürftigen Menschen nur ja nicht zu viel zu gönnen. Sollte die Prüfung der statistischen Daten bestätigen, dass die Verbrauchsausgaben der unteren Einkommensbezieher trotz gestiegener Preise wirklich nur sehr geringfügig zugenommen haben und es deshalb zu dieser minimalen bzw. keiner Anhebung der Regelsätze gekommen ist, ist dafür gewiss auch das Sinken der Löhne durch die deutliche Zunahme prekärer Beschäftigungen verantwortlich zu machen. So hat Ministerin von der Leyen zur Rechtfertigung des geringen Anstiegs der Regelsätze auf den Bäcker, Lagerarbeiter oder die Friseurin verwiesen, die trotz Arbeit auch nur mit wenig Geld auskommen müssen. Angesichts dessen könne man bei den Leistungen für arbeitslose Hartz IV-Empfänger nicht noch weiter draufsatteln. Dies klingt zunächst einleuchtend und spricht das Lohnabstandsgebot an, das gegen steigende Grundsicherungsleistungen zu Felde geführt wird. Davon ist im Grundgesetz zwar keine Rede, doch soll nicht geleugnet werden, dass ein Problem besteht, wenn soziale Leistungen, die bei Arbeitslosigkeit gewährt werden, gleich hoch liegen oder gar mehr einbringen als das, was Menschen mit vollem Arbeitseinsatz als Einkommen erzielen können. Leider ist das immer häufiger der Fall. Durch die Zunahme von Minijobs, Leiharbeit, kaum bezahlten Schein-Praktika oder befristeten Beschäftigungsverhältnissen und die Abnahme tarifgebundener Arbeit ist der Niedriglohnsektor hierzulande deutlich angewachsen. Der Anteil derjenigen Menschen an der Gesamtzahl der Hartz IV-Empfänger, die trotz eines Einkommens aus Erwerbsarbeit Grundsicherungsleistungen empfangen, ist von 16,9 % im Jahre 2005 auf inzwischen 27, 4 % Ende 2009 angestiegen. 1,3 Mio. Menschen sind damit sog. Aufstocker, rund 440 Tausend davon trotz einer Vollbeschäftigung, der sie nachgehen. Diese Zahlen widerlegen zunächst einmal die immer wieder aufgestellte These, dass Menschen, selbst wenn sie mit ihrer Arbeit ihren Lebensunterhalt nicht voll bestreiten können, in der Regel der Arbeit den Müßiggang vorziehen. Denn Arbeit bringt nicht nur Lohn ein, sondern kann sinnstiftend sein und stärkt gemeinhin auch das Selbstwertgefühl. Allerdings dann nur schwerlich, wenn Menschen selbst bei vollem Arbeitseinsatz so niedrigen Lohn erhalten, dass sie nicht in der Lage sind, sich selbst zu ernähren, und deshalb zusätzlich auf Sozialleistungen angewiesen sind. Mit solch niedriger Entlohnung wird die ge-

leistete Arbeit nicht wertgeschätzt und damit auch der Mensch, der sie verrichtet. Er muss sich ausgenutzt und missachtet fühlen. Dies ist das eigentliche Problem, das der Menschenwürde zuwiderläuft und zu beheben ist, dies ist die eigentliche Ursache für das Schrumpfen des Lohnabstandes, nicht dagegen die Höhe der sozialen Grundsicherungsleistung. Diese hat sich, um der Verfassung zu genügen, nach dem zu bemessen, was ein Mensch für ein menschenwürdiges Leben im Minimum braucht, nicht dagegen danach, welche Hungerlöhne Menschen erhalten. Der Abwärtstrend in die Notdürftigkeit, der mit der zunehmenden Zahl von Niedriglöhnern und Aufstockern einhergeht, ist auch nicht dadurch zu stoppen, dass die Leistungsansprüche derjenigen, die keine Arbeit haben, stagnieren oder gar gesenkt werden. Das macht die Niedriglöhner nicht weniger arm, senkt aber auch deren Ansprüche auf aufstockende Leistungen und könnte den Effekt mit sich bringen, dass die Löhne und Sozialleistungen sich wechselseitig immer mehr herunterschaukeln und in den Keller befördern. Ein Niedergang des gesamten Sozialniveaus im Lande könnte so stattfinden, der mit dem Sozialstaatsgebot und dem Menschenwürdeschutz unserer Verfassung nur schwerlich noch in Einklang stünde. „Die freiheitlich demokratische Grundordnung entnimmt dem Gedanken der Würde und Freiheit des Menschen die Aufgabe, auch im Verhältnis der Bürger untereinander für Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu sorgen. Dazu gehört, dass eine Ausnutzung des einen durch den anderen verhindert wird. Sie sieht es als ihre Aufgabe an, wirkliche Ausbeutung, nämlich Ausnutzung der Arbeitskraft zu unwürdigen Bedingungen und unzureichendem Lohn zu unterbinden“. Diese Aussage, die das Bundesverfassungsgericht einst 1956 in seiner KPD-Entscheidung getroffen hat, hat auch heute noch Geltung. Statt die Höhe der Sozialleistungen zu beklagen und sie möglichst niedrig zu halten, sollte der Gesetzgeber deshalb für bessere Beschäftigungsverhältnisse und angemessenere Löhne Sorge tragen. Die Festsetzung gesetzlicher Mindestlöhne ist hier ein probates Mittel. Angemerkt sei, dass dies nicht nur dem sozialen Verfassungsauftrag folgte, sondern auch ökonomischer Vernunft und haushaltspolitischer Weitsicht. Denn was nutzen die schönsten Produkte, wenn sie keinen hinreichenden Absatz mehr finden, weil in den Geldbeuteln der Menschen immer größere Dürre herrscht? Und wie lässt sich auf Dauer die Alterssicherung finanzieren, wenn in die

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Sozialversicherung immer niedrigere Beiträge fließen, die Renten deshalb immer dürftiger ausfallen und der Staat dann von Verfassungs wegen in immer größerem Umfang dazu verpflichtet ist, mit seinen finanziellen Mitteln für ein menschenwürdiges Existenzminimum im Alter zu sorgen? Auf dieses Problem hat soeben der Deutsche Juristentag hingewiesen und ebenfalls die Empfehlung ausgesprochen, mit einem gesetzlichen Mindestlohn einer solch fatalen Entwicklung entgegenzuwirken. Besondere Sorge muss zudem bereiten, wie despektierlich bei alledem auf die betroffenen Menschen herabgesehen wird. Schon kurz nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts wurde vor dem Ausschütten sozialer Füllhörner gewarnt, redete der Vizekanzler von anstrengungslosem Wohlstand, der Sozialleistungsempfängern zuteil würde, gab Herr Sarrazin seinen Speiseplan für Bedürftige zum Besten und empfahl, wenn das Geld nicht reiche, sollten Hartz IV-Empfänger eben kalt duschen. Und in ähnlicher Weise wird auch derzeit wieder gegen Sozialleistungsempfänger polemisiert. Da vermittelt der Hinweis, der Sozialstaat dürfe nicht aus dem Ruder laufen, den Eindruck, die Grundsicherungsleistungen seien so üppig, dass sich die Leistungsbezieher wie Maden im Speck darin häuslich einrichten könnten. Da suggeriert die Aussage, nur durch niedrige Regelsätze könnten Anreize für Hilfeempfänger zur Arbeitsaufnahme geschaffen werden, dass es sich bei ihnen um eine arbeitsscheue Spezies handelt, der Beine gemacht werden muss. Nun gibt es unter den Hartz IVEmpfängern sicherlich wie auch anderswo schwarze Schafe. Doch getroffen von diesen pauschalen Grobzeichnungen und in die Ecke des Schmarotzertums gestellt werden damit auch all diejenigen, die als Alleinerziehende keinen Betreuungsplatz für ihr Kind finden und deshalb keiner Arbeit nachgehen können, die behindert oder leistungsgemindert und deshalb nur eingeschränkt vermittelbar sind, oder die in die Jahre gekommen sind und deshalb keine Anstellung mehr finden. Solches „Über-einen-Kamm-Scheren“ schiebt den Betroffenen unterschwellig die Schuld an der eigenen Misere zu, lässt bei ihnen das Gefühl aufkommen, sie seien nur Last, die man nicht gebrauchen kann, vergiftet das soziale Klima im Lande und treibt einen Keil zwischen die Menschen. So ist nicht verwunderlich, wenn eine Umfrage ergeben hat, dass sich die Mehrheit der

Bürger gegen eine Anhebung der Hartz IV-Sätze ausgesprochen hat. Das deckt sich mit sozialwissenschaftlichen Erhebungen, nach denen über ein Drittel unserer Bevölkerung inzwischen der Auffassung ist, die Gesellschaft könne sich wenig nützliche Menschen nicht mehr leisten, und vierzig Prozent gar der Meinung sind, es werde zuviel Rücksicht auf Versager genommen. Das sind keine erfreulichen Entwicklungen. Sie verschlechtern die Voraussetzungen für ein gedeihliches Zusammenleben in einem demokratischen Gemeinwesen, das alle mitnehmen muss und deshalb für soziale Integration zu sorgen hat. Und es verträgt sich nur schwer mit dem Menschenbild, das in Art. 1 unseres Grundgesetzes zum Ausdruck kommt. Doch nicht nur beim Feilschen um die finanzielle Absicherung des Existenzminimums drohen der Menschenwürde in heutigen Zeiten Gefahren, denen der Sozialstaat entgegenzuwirken hat. So ist die Zahl der Kinder, die in unserer reichen Gesellschaft in Armut leben, beschämend groß. Ihnen mangelt es nicht nur an Mitteln und Möglichkeiten, über die andere wie selbstverständlich verfügen. Sie machen nicht nur die Erfahrung, wie man sich fühlt, von Vielem ausgeschlossen zu sein und zu den Bedürftigen-Tafeln gehen zu müssen, wo das verteilt wird, was bei andern übrigbleibt. Vor allem, das hat erst jüngst die neue Shell-Studie bestätigt, bedrückt sie ihre trübe Lebensperspektive. Die Zukunft, in die sie sehen, scheint vermauert zu sein. Und die gesellschaftlichen Strickleitern, die in den siebziger Jahren ausgerollt wurden und halfen, soziale Hindernisse zu überwinden und in bessere Verhältnisse aufzusteigen, sind kaum mehr vorhanden. Sie sind Stück für Stück wieder eingezogen worden. So gelingt das Klettern aus defizitären Lagen nach oben immer seltener. Es hat sich erwiesen: Unser Bildungssystem selektiert nach Herkunft, statt zu integrieren und zu beflügeln, und wer in der Hauptschule hängen bleibt, ist abgestempelt und hat wenig Chancen, aus sozialer Not durch eigene Arbeit herauszukommen. Das gilt nicht nur, aber in besonderem Maße für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund. Sie haben das zusätzliche Handicap, sich in zwei Lebenswelten zurechtfinden zu müssen und oftmals trotz ihres Bemühens, sich zu integrieren, als andersartig misstrauisch und vorurteilsbeladen beäugt zu werden. So wird hierzulande vorrangig der seines Glückes Schmied, der vom Glück schon bei seiner Geburt aufgrund seiner Herkunft eine große Portion abbekommen

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hat. Armut ist wieder vererblich geworden konstatieren die Sozialforscher, sie ist eine Falle, der man nur schwerlich entkommt. Wen wundert da, dass betroffene Heranwachsende auf die Frage nach dem, was aus ihnen wird, resigniert antworten: „Hartz IV-Empfänger“. Verlorene Hoffnung und Selbstaufgabe spricht aus diesen Worten. Das kann in Lethargie, aber auch gewaltsamem Umsichschlagen als scheinbar einziger Möglichkeit, sich zu behaupten, enden. Einer solchen verhängnisvollen Entwicklung darf der Sozialstaat nicht einfach tatenlos zuschauen und erst dann einschreiten, wenn aufgestauter Frust sich bei Jugendlichen zerstörerisch entlädt. Er ist vielmehr aufgefordert, dem frühzeitig entgegenzuwirken und zu verhindern, dass auf diese Weise Lebensläufe in Sackgassen geraten und der Gesellschaft wertvolle menschliche Ressourcen verloren gehen. Vonnöten ist, kindlichen Lebensmut aufzurichten, gerade auch unterprivilegierten Kindern die erforderliche Wertschätzung entgegenzubringen, damit sich ihr Selbstwertgefühl entwickeln kann, und ihnen unterstützend unter die Arme zu greifen, sodass auch sie ihre Talente entdecken und entfalten können und gleiche Chancen wie andere erhalten, aus sich und ihrem Leben etwas zu machen. Auch hier geht es um menschliche Würde: um die Befähigung von Kindern zu einer ich-starken Persönlichkeit, die selbstverantwortlich handelt und Toleranz gegenüber Anderen übt. Da helfen keine Sozialgutscheine für Hartz IV-Kinder, einzulösen für Bildung, da führen nur gute und ausreichende Betreuungsangebote und vor allem ein reformiertes Bildungssystem weiter, das nicht aussiebt, sondern danach trachtet, verschüttete Begabungen ans Tageslicht zu befördern und deshalb denjenigen ganz besonders viel Aufmerksamkeit widmet und Unterstützung bietet, die am Beginn ihres Lebens schlechtere Startbedingungen haben. Aber auch bei vielen alten Menschen ist es heutzutage um die menschliche Würde nicht gut bestellt. Schon die sinkenden Renten müssen bedenklich stimmen. Sie führen immer öfter zu Altersarmut, die sich in Zukunft aufgrund der Zunahme von unstetigen Beschäftigungsverhältnissen und dem Anwachsen des Niedriglohnsektors noch weiter ausbreiten wird, wenn dem nicht entgegengesteuert wird. Besorgniserregend ist aber vor allem auch der Umgang mit pflegebedürftigen alten Menschen, deren Zahl, wie wir wissen, stetig steigen wird. In einer Welt, in der der Mensch zu funktionieren hat, in der sein Wert bemessen wird an seiner Fähigkeit, den immer höher geschraubten

Leistungsanforderungen zu genügen, in der der Ellenbogen herrscht und Arbeitsbedingungen auf familiären Zusammenhalt kaum Rücksicht nehmen, bleibt immer weniger Zeit, sich um alte und pflegebedürftige Familienangehörige zu kümmern. Vermehrt landen sie deshalb in Heimen, die ihre Pflege übernehmen. Nun ist es durchaus eine soziale Errungenschaft, dass es solche Einrichtungen gibt. Und den dort tätigen Pflegekräften ist hoch anzurechnen und dafür zu danken, dass sie diese schwere und verantwortungsvolle Arbeit bereit sind zu leisten. Doch hilfebedürftige alte Menschen brauchen nicht allein körperliche Pflege. Persönliche Zuwendung ist es vor allem, die sie benötigen, um nicht nur durch die Tage vor sich hin zu vegetieren, sondern das Gefühl zu haben, als Mensch noch geachtet und ernst genommen zu werden. Zuwendung aber kostet Zeit und damit Geld. Und frei nach Goethe gilt auch in der Altenpflege: nach Gelde drängt, am Gelde hängt doch alles. Und dieses teilt alte Menschen in zwei Klassen: in diejenigen, die ausreichend davon haben, um sich in teueren Altenresidenzen einquartieren und Zuwendungszeit erkaufen zu können, und diejenigen, die über die Mittel nicht verfügen. An ihnen aber wird mit knapp bemessenem Personaleinsatz, der auf menschliche Bedürfnisse kaum Rücksicht nimmt, gespart. Alte Menschen werden so zu Kostenfaktoren, die es zu senken gilt, werden zeitgetaktet in einzelne, streng rationierte Pflegeverrichtungen, damit nur ja keine überflüssige Minute auf sie verschwendet wird, werden zu Wasch-, Fütterund Windelobjekten, die über sich ergehen lassen müssen, was mit ihnen gemacht wird. Von einem würdevollen Leben kann bei solch einer Behandlung kaum mehr die Rede sein. Darf es sein, dass wir Menschen, wenn sie im Alter nicht mehr von Nutzen sein können, in heutiger Zeit nicht mehr für wert befinden und es als unnötige Zeitvergeudung ansehen, ihnen, ihrer Persönlichkeit und ihrer Lebensgeschichte Achtung und Anerkennung entgegenzubringen? Nein, lautet die Antwort, die Art. 1 unseres Grundgesetzes auf diese Frage gibt. Es darf nicht sein, dass Alten- und Pflegeheime zu Verwahranstalten und Wartesälen zum Tod verkommen. Der Sozialstaat ist dringend aufgerufen, solchen Zuständen ein Ende zu bereiten. Die Beispiele machen deutlich: Menschen ihre Würde zu geben oder zu belassen, bedeutet, sie nicht wie bloße Objekte, sondern zu achtende Subjekte zu behandeln, sie nicht als Mittel zum Zweck zu missbrauchen, sondern ihre Person und Privatsphäre zu respektieren und ihnen einen

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höchstpersönlichen Bereich privater Lebensgestaltung zu sichern. In einer Zeit, in der der Mensch wieder zunehmend lediglich als Kalkulationsgröße, als fungibles Gut, als wegzurationalisierender Faktor, als störendes Moment betrachtet wird, in der Arbeitnehmer durch das weltweite Verschieben von Standorten und die Zerstückelung von Arbeit wieder in größere Abhängigkeit geraten und obendrein die moderne Technik es möglich macht, Menschen ständiger Beobachtung auszusetzen, anhand ihrer Gene und Daten zu entblößen, ihre Gewohnheiten und sozialen Beziehungen auszuforschen und ihre Geheimnisse zu lüften, ist es dringlicher denn je, zu gemahnen, dass diesen verfassungsrechtlichen Verdikten Rechnung zu tragen ist, damit die Menschenwürde bei alledem nicht auf der Strecke bleibt. Das gilt für den Staat selbst, der bei aller Notwendigkeit, seinen Bürgern vor vagabundierendem und mordendem Fanatismus und Terrorismus hinreichend Sicherheit zu bieten, beim Einsatz der Mittel im Kampf gegen den Terror nicht die Grenze überschreiten darf, die ihm die Menschenwürde setzt. Wo sie im Einzelnen liegt, hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber in den letzten Jahren vor allem mit seinen Entscheidungen zum Großen Lauschangriff, zum Luftsicherheitsgesetz, zur Rasterfahndung, Onlinedurchsuchung und zuletzt zur Vorratsdatenspeicherung aufgezeigt. Das gilt aber auch im Privaten. Es war der Menschenwürde geschuldet, so sagte es Hugo Sinzheimer der große Arbeitsrechtler einst, dass der arbeitende Mensch, der früher nur als Sache behandelt wurde, durch Zuerkennung von Schutzund Partizipationsrechten zur Person aufsteigen und als Mensch Anerkennung finden konnte. Und es bleibt ihr geschuldet. Auch in heutigen Zeiten

darf Arbeitnehmern diese Anerkennung nicht verwehrt werden. Und wenn die alten Rechte keinen hinreichenden Schutz mehr bieten, weil sie z. B. bei befristeten Arbeitsverhältnissen und Leiharbeit nicht mehr greifen, oder Gefährdungen nur ungenügend Einhalt bieten können, denen Arbeitnehmer beim Einsatz neuer Techniken ausgesetzt sind, dann müssen neue Rechte geschaffen werden, die schützen: vor Hire und Fire-Methoden, die Lebenssicherheit zerstören, vor Ausbeutung, die Armut mit sich bringt, und vor Besitzergreifung der Persönlichkeit abhängig Beschäftigter durch permanente Überwachung und Ausforschung, wie dies in skandalöser Weise bei Lidl, der Bahn und der Telekom, aber gewiss auch anderenorts schon geschehen ist. Dies ist keine „Kleinmünzerei“ der Menschenwürde, es verweist vielmehr auf ihre demokratischen Füße und macht klar, dass sie nicht nur denen vorbehalten ist, die sie sich selbst erwerben und sichern können, sondern allen in jeder Lebenslage zukommt. Dies zu beherzigen und der Menschenwürde immer wieder aufs Neue ein soziales Gesicht zu verleihen, das der Gegenwart und den Bedürfnissen der Menschen gerecht wird, ist Aufgabe des Sozialstaats und Sache der Politik. Es stimmt bedenklich, dass diese sich in letzter Zeit darauf kapriziert zu haben scheint, haarscharf an der Grenzlinie des Minimums zu operieren, die die Menschenwürde zieht, und nur das zu tun, was soeben noch mit ihr verträglich erscheint. Rückbesinnung auf den sozialen Auftrag unserer Verfassung, die Verhältnisse für alle zum Besseren, Gerechteren zu kehren, täte hier Not. Denn es bleibt richtig, was Ernst Bloch einst gesagt hat: „Es gibt sowenig menschliche Würde ohne Ende der Not, wie menschgemäßes Glück ohne Ende alter und neuer Untertänigkeit“.

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Reden • Prof. Dr. Gerhard Naegele

Prof. Dr. Gerhard Naegele Institut für Gerontologie an der TU Dortmund

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Demografischer Wandel – Mega-Herausforderungen für die Sozialpolitik Obwohl der demografische Wandel weit mehr als das Altern der Bevölkerung umfasst, beschäftigt sich dieser Beitrag ausschließlich mit dem MegaTrend des kollektiven Altern der Bevölkerung.

1. Demografische Megatrends und Rahmendaten Bekanntlich wird schon seit mehreren Jahrzehnten die Bevölkerung Deutschlands kontinuierlich älter, und dieser Trend wird auch künftig dauerhaft anhalten. Für diese Entwicklung sind insbesondere zwei als irreversibel geltende Trends verantwortlich: Konstant niedrige Geburtenraten und eine weiter steigende mittlere und fernere Lebenserwartung: •Seit langem schon schwankt die „zusammengefasste Geburtenziffer“ zwischen 1,3 und 1,4 und liegt damit um etwa ein Drittel unterhalb der für die natürliche Reproduktion der einheimischen Bevölkerung erforderlichen Geburtenrate. Hierfür sind im Wesentlichen drei Trends bedeutsam (1) Frauen werden immer später Mutter. (2) Die Zahl der lebenslang kinderlos bleibenden Frauen steigt. (3) Zwar bleibt die durchschnittliche Kinderzahl je Mutter relativ stabil, aber vor dem Hintergrund der ersten beiden Megatrends nimmt die durchschnittliche Zahl der Kinder, die die Frauen eines Jahrgangs zur Welt bringen, im Zeitablauf ab. •Sowohl die mittlere Lebenserwartung einer Neugeborenen wie die fernere Lebenserwartung bereits Lebensälterer sind in der Vergangenheit stark gestiegen. Ein weiterer Anstieg wird erwartet. Die 12. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes vom November 2009 kommt in ihrer Basisannahme für 2060 zu einer durchschnittlichen Lebenserwartung neugeborener Jungen von 85,0 Jahren und neugeborener Mädchen von 89,2 Jahren (zum Vergleich: Sterbetafel 2006/2008: 77,2 bzw. 82,4 Jahre). Für 65-jährige Männer wird für 2060 eine fernere Lebenserwartung von 87,3 Jahren und für 65-jährige Frauen von 90,5 Jahren angenommen (jeweils etwa 5 Jahre mehr gegenüber 2006/2008). •Zwar sind auch künftig allerdings eher moderat ausfallende Außenwanderungsgewinne zu erwarten – bedingt insbesondere durch das Schrumpfen des einheimischen Erwerbspersonenpotenzials und dadurch induzierte Arbeitsmigration sowie weltweite, durch den Klima-

wandel verstärkte Wanderungsbewegungen. Aktuell gibt es übrigens schon mehr Abwanderungsverluste als Zuwanderungsgewinne. Allerdings wird dadurch sowohl der Trend zur Schrumpfung (s.u.) wie zum kollektiven Altern der Bevölkerung nicht aufgehalten, allenfalls im Anstieg abgebremst. Andererseits steigt die Zahl älterer Menschen mit Migrationsgeschichte und stellt insbesondere die sozialen Dienste vor neue Herausforderungen. •Vor diesem Hintergrund errechnet – je nach Annahmen – das Statistische Bundesamt für Deutschland im Jahre 2060 eine Gesamtbevölkerungszahl von zwischen 65 Mio. (Minimumvariante) und 77 Mio. (Maximumvariante) und somit in beiden Vorausberechnungen einen erheblichen Rückgang gegenüber der jetzigen Bevölkerungszahl von rd. 82 Mio. (Statistisches Bundesamt 2009). Schwerwiegender als das Schrumpfen der Gesamtbevölkerung – Experten/innen sind sich darüber einig, dass es keine „optimale Bevölkerungsgröße gibt – sind die Konsequenzen des demografischen Wandels für die Bevölkerungszusammensetzung: Das „dreifache Altern“ der Bevölkerung setzt sich fort: (1) Zunahme des Anteil der Älteren an der Gesamtbevölkerung, (2) Zunahme der absoluten Zahl der Älteren sowie (3) Zunahme insbesondere von Anteilen und Zahlen sehr alter Menschen (80+) („Hochaltrigkeit“, „viertes Alter“). Ausgehend von aktuell etwa 21 %, so werden im Jahr 2030 schon 29 % der Bevölkerung 65 und älter sein, 2060 sogar mehr als jeder dritte Einwohner Deutschlands. Bezogen auf die Gruppe 80+ werden von jetzt etwa 4 Mio. bzw. einem Anteil von noch erst 5 % an der Gesamtbevölkerung, 2060 etwa 9 Mio. Menschen – das heißt dann jeder 7. – 80 und älter sein, d.h. dann 14 % der Gesamtbevölkerung, darunter mehrheitlich Frauen. Auch wenn die Lebenserwartung der Männer insgesamt stärker als die der Frauen ansteigt, wird sich an der „Feminisierung des Alters“, insbesondere in den obersten Altersgruppen, nichts Grundlegendes ändern. Auf der anderen Seite sinkt die Zahl jüngerer Menschen weiter. Im Jahr 2060 wird es nach der bereits erwähnten 12. Bevölkerungsvorausberechnung nur noch etwa 10 Mio. junge Menschen im Alter von unter 20 Jahren geben – gegenüber aktuell noch etwa 16 Mio. Darunter werden sich mit steigenden Anteilen junge Menschen mit Migrati-

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onsgeschichte befinden, womit zugleich ein zentrales Anliegen der Integrations- und Bildungspolitik angesprochen ist, dessen Aktualität auch ich keineswegs unterschätze, zu dem ich aber andere als in den letzten Wochen vielfach zitierte Schlussfolgerungen ziehe, auf die ich hier aber nicht eingehen möchte. Entsprechend sinken auch Zahlen und Anteile der Menschen im so genannten erwerbsfähigen Alter von heute etwa 50 Mio. auf – je nach Annahme – zwischen 33 und 36 Mio. im Jahre 2060. Schon im Jahre 2035 wird etwa die Hälfte der Bevölkerung 50 Jahre und älter. In der Konsequenz altern auch die Belegschaften. Darin sehen vor allem jene Ökonomen, die dem „demografischen Krisenszenarium“ nahe stehen, wichtige Indikatoren für künftig steigende gesamtwirtschaftliche Risiken („Altern der Gesellschaft als Wachstums- und Innovationsbremse“).

2. Einige sozialpolitische Implikationen Auch wenn diese Rahmendaten und -trends weitgehend bekannt sein dürften (was jedoch keineswegs für ihre Konsequenzen gilt), so sind sie doch wichtige Hintergrundfolien für das Thema „Sozialpolitik in demografisch alternden Gesellschaften“. Einer weit verbreiteten Definition zufolge reagiert Sozialpolitik auf soziale Risiken und Probleme, die sich von privaten Risiken und Problemen dadurch abgrenzen, dass zu ihrer Bearbeitung und Lösung die individuellen wie familialen Hilfepotenziale nicht ausreichen bzw. überfordert sind und infolgedessen organisierter Hilfe und Unterstützung durch Einrichtungen und Maßnahmen der Sozialpolitik benötigen. Nun ist Alter zwar selbst keine Lebensphase, die per se hauptsächlich durch soziale Risiken und soziale Probleme gekennzeichnet wäre. Im Gegenteil: Die weit überwiegende Mehrheit der Älteren in Deutschland lebt vergleichsweise frei von ernsthaften sozialpolitisch relevanten sozialen Risiken und Problemen. Vorsichtige Schätzungen kommen auf ein tatsächliches Risikound Problempotenzial von weniger als 20 % in der Gruppe 65 +, das sich allerdings auf bestimmte Teilgruppen konzentriert. Besonders betroffen sind sehr alte Menschen, darunter viele alleinlebende ältere Frauen, ältere Menschen aus den unteren Sozialschichten und/oder ältere Menschen mit Migrationsgeschichte. Aus sozialpolitischer Sicht besorgniserregend ist, dass speziell für sehr alte Menschen und für ältere Menschen mit Migra-

tionsgeschichte hohe Zuwachsraten vorausberechnet werden. Die von vielen erwartete künftig wieder steigende Altersarmut (s.u.) ist bei dieser Risikoprognose noch gar nicht berücksichtigt. Andererseits weisen so genannte Kohorteneffekte vor allem für die jüngeren Älteren von morgen und übermorgen weiter steigende förderliche Ressourcen und Potenziale und damit im Durchschnitt günstigere Ausgangsbedingungen für Gestaltung und Bewältigung des eigenen wie des kollektiven Älterwerdens auf. Diese betreffen insbesondere die Dimensionen höheres Einkommen, bessere Gesundheit, mehr Bildung, mehr soziale Integration sowie mehr allgemeine Verhaltenspotenziale und Problemlösungskompetenzen und signalisieren somit im Kern zwar so etwas wie „sozialpolitische Entwarnung“. Dies gilt aber keineswegs für alle sozialen Gruppen Älterer und schon gar nicht für die stark wachsende Zahl sehr alter Menschen. Z. B. sprechen Gerontologen in diesem Zusammenhang von der zunehmenden sozialen Differenzierung des Alters, die zudem von einer wachsenden Polarisierung des Alters in sozialpolitisch gute und sozialpolitisch problematische Lebenslagen („positives“ und „negatives“ Alter) charakterisiert ist. Die Differenzierung des Alters geht einher mit einem stabilen Trend zu einer eine subjektiv wahrgenommene „Verjüngung“ des Alters, die das eigentliche kalendarische Alter als Prognosekategorie für die soziale Lage im Alter zunehmend in den Hintergrund drängt. Chronologisches/kalendarisches Alter eignet sich heute allenfalls noch für eine grobe Abgrenzung des risikobehafteten hohen Alters (80-85 Jahre), nicht aber mehr als relevantes soziales Unterscheidungsmerkmal für Menschen innerhalb der gesamten und gegenüber früher deutlich länger gewordenen Lebensphase „Alter“. Unterschiedliche Kohortenerfahrungen und biografische Bedingungen, unterschiedliche Lebensformen und Lebensstile werden auch im Alter wirksam, was sich übrigens auch auf der individuellen Ebene des subjektiven Alternserlebens widerspiegelt. Beispielsweise zeigen empirische Befunde, dass Flexibilität, Mobilität und Selbständigkeit in sämtlichen Altersgruppen über 50 Jahre deutlich zugenommen haben und dass sich Menschen zwischen 40 und 85 Jahren subjektiv heute im Schnitt bis zu zehn Jahre jünger einschätzen, als es ihrem eigentlichen kalendarischen Alter entspricht. Allerdings wirken neben solchen förderlichen und im Grundsatz optimistisch stimmenden Kohorten-

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Reden • Prof. Dr. Gerhard Naegele

effekten auch lebensgeschichtliche Erfahrungen von sozialer Ungleichheit auf die Prozesse des Älterwerdens ein und bestimmen Lebenslagen im Alter. In der Tat gibt es empirische Belege für ein sogar noch wachsendes Ungleichheitspotenzial innerhalb der Lebensphase Alter, d.h. für das Auseinanderdriften von positiven und problematischen Lebenslagen im Alter, die über die ungleich verteilten Möglichkeiten zur längeren Erwerbsbeteiligung, wachsende Einkommensunterschiede bis hin zu solchen in Wohnqualität, Gesundheit bis hin zur Lebenserwartung reichen. Wer arm ist, ist auch heute noch kränker und stirbt auch heute noch deutlich früher. Eine Sozialpolitik, die sich auch die sozial Gestaltung von Lebenslagen auf die Fahnen geschrieben hat – und hier stehe in der Tradition des dem einen oder anderen in diesem Raum vielleicht noch bekannten Ludwig Preller, der von der Gestaltungsfunktion von Sozialpolitik als Teil von Gesellschaftspolitik gesprochen hat – kann derartige soziale Ungleichheiten im Alter nicht übersehen.

3. Einflüsse des allgemeinen sozialen und politischen Wandels Es ist bereits deutlich geworden, dass sich neben den erwähnten demografischen Megatrends heutige und künftige alterstypische soziale Risiken und Probleme nicht unmaßgeblich auch durch den allgemeinen politischen, ökonomischen und sozialen Wandel mit bestimmt werden. Ohne hier ins Detail gehen zu können, kann in diesem Zusammenhang auf folgende, auf künftige Kohorten älterer Menschen zutreffende Trends hingewiesen werden: •Die finanziellen und ökonomischen Folgen von Langfristarbeitslosigkeit (nicht nur älterer Arbeitnehmer) einerseits bzw. von Nicht-Erreichbarkeit der Rente mit 67 andererseits führen in einer wachsenden Zahl von Fällen, vor allem bei „marktschwachen“ (älteren) Beschäftigten, zu Rentenkürzungen. Schon heute scheiden fast 50 % aller Neurentner/innen mit Abschlägen aus, darunter jede/r Dritte mit dem vollen 18 %igen Abschlag. •Damit einher (und nicht selten mit kumulativer Wirkung auf die Rentenerwartungen) gehen Sicherungslücken aufgrund von wachsender Niedrigentlohnung – die AWO selbst spricht von 6,5 Mio. Betroffenen –, wachsenden Diskontinuitäten in den Erwerbsverläufen und zunehmender „Entnormalisierung“ von Beschäftigungsver-

hältnissen, von denen zunehmend auch ältere Arbeitnehmer/innen betroffen sind (Teilzeit, befristete Beschäftigungsverhältnisse, 400 Euro Jobs und andere Formen prekärer Beschäftigung). •Insgesamt sind diese Sicherungsrisiken noch überlagert von den Fernwirkungen des mit der „neuen Alterssicherungspolitik“ der letzten Jahre eingeleiteten Paradigmenwechsels in der Rentenpolitik. Dieser zielt insgesamt auf eine Reduzierung der Bedeutung der umlagefinanzierten GRV, in der Konsequenz auf eine Absenkung ihres Leistungsniveaus und auf deren teilweisen Ersatz durch kapitalfundierte private Alterssicherungsprodukte, die allerdings – so die sozialpolitisch eigentlich alarmierend Nachricht in diesem Zusammenhang – bislang eher und häufiger von denen genutzt werden, die ohnehin bereits günstige Einkommenserwartungen im Alter aufweisen. Allerdings kann davon ausgegangen werden, dass kein massenhaftes Ansteigen von Altersarmut erfolgen wird. Gleichwohl wird es mittel- bis längerfristig wieder mehr Armut im Alter geben bei gleichzeitiger weiterer Spreizung der Alterseinkommen insgesamt. Zwar könnten die steigenden Frauenerwerbsquoten und ggf. eine verlängerte Lebensarbeitszeit (zumindest bei denen, die das „schaffen“) zu einer Reduzierung des künftigen Armutsrisikos beitragen, darauf jedenfalls deuten neuere Simulationsrechnungen des DIW hin. Andererseits zeigen sie aber auch, dass für Ostdeutschland – und bei Männern wie Frauen gleichermaßen – künftig sinkende Renten unausweichlich sind, d.h. das künftige Altersarmutsrisiko wird sozial und regional sehr ungleich verteilt sein. Zu den wichtigsten Dimensionen des allgemeinen sozialen Wandels mit Folgen für alterstypische soziale Risiken und Probleme zählen darüber hinaus gewichtige Veränderungen in den Lebensformen und Familienstrukturen der älteren Menschen. Auf drei Dimensionen will ich kurz eingehen: •Künftig wird es bei der schon jetzt sehr hohen Zahl an Ein-Personenhaushalten älterer Menschen bleiben („Singularisierung des Alters“). Ihre Zahl liegt jetzt bei etwa 15 Mio. und hat sich gegenüber Anfang der 1990er Jahre um fast ein Viertel erhöht. Zu ihrer Unterstützung sind insbesondere personenbezogene Dienste gefragt. •Erschwert wird dies noch durch strukturelle Veränderungen in den Familien, die ebenfalls neue und dann auch sozialpolitisch relevante Versor-

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gungsbedarfe vor allem für die wachsende Zahl allein lebender sehr alter Menschen betreffen. Sie gelten insbesondere die Möglichkeit der Aufrechterhaltung der selbständigen Lebensführung und die Versorgung bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit. Dafür stehen u.a. sinkende Geburtenraten, verkleinerte Haushaltsgrößen, rückläufige Heirats- bei steigender Scheidungs- und sinkender Wiederverheiratungsbereitschaft sowie zusätzlich die weiter wachsende (aber zugleich gleichstellungs- und arbeitsmarktpolitisch erforderliche) Ausweitung von Frauenerwerbsarbeit. •Vor allem die Zunahme von Hochaltrigkeit muss als wichtigste driving force künftiger sozialpolitischer Handlungserfordernisse in einer Gesellschaft des langen Lebens gelten. Auch wenn neuere Daten – so z. B. des jüngsten Alterssurveys von 2010 – für nachrückende jüngere Altersgruppen Verbesserungen im Gesundheitszustand ausweisen, so gelten doch chronische Erkrankungen und Multimorbidität sowie im Gefolge steigende Pflegebedürftigkeit, vor allem in Form demenzieller Erkrankungen, als unmittelbar an sehr hohes Alter gebunden. Auch wenn keine Geradlinigkeit in der Beziehung zwischen demografischer Entwicklung hin zur Hochaltrigkeit und alterstypischen Krankheits- und Pflegebedürftigkeitsrisiken besteht, so ist in Anbetracht der demografischen Entwicklung in jedem Fall von steigenden Fallzahlen auszugehen. Z. B. kommen seriöse Vorausberechnungen – allerdings unter Zugrundlegung von status-quo-Annahmen – zu einem Anstieg von bis zu 3,6 Mio. hauptsächlich sehr alte Pflegebedürftige und auf weit über 2 Mio. ebenfalls hauptsächlich sehr alte demenziell erkrankte Menschen bis 2040 (von jetzt etwa 2.3 Mio. Pflegebedürftige im Sinne des SGB XI bzw. rund 1 Mio. demenziell Erkrankte).

4. Schwerpunkte künftiger sozialpolitischer Handlungserfordernisse – für eine „soziale Demografiepolitik“! Zweifellos sind mit den demografischen Herausforderungen auch wachsende sozialpolitische Risiken verbunden. Diese Zusammenhänge müssen aber nicht zwangsläufig geradlinig verlaufen: Es gibt keinen simplen „demografischen Determinismus“. Von daher reicht eine rein „demografische Brille“, wie diese z. B. in gängigen, häufig zudem noch neoliberal begründeten demografischen Krisenszenarien, benutzt wird, für eine sozialpolitischen Betrachtung nicht aus. Vielmehr ist es erforderlich, die sozial-

strukturellen Dimensionen demografischer „Drohszenarien“ mit in den Blick zu nehmen. Auch wird häufig übersehen, dass sich demografische Prozesse ebenso wie solche des allgemeinen sozialen und politischen Wandels in aller Regel schleichend entwickeln, von daher langfristig vorhersehbar und somit im Grundsatz – ganz im Sinne eines präventiven und Sozialpolitikverständnisses – auch gestaltbar sind. Die Einschätzung einer prinzipiellen politischen Gestaltbarkeit sowohl der Faktoren wie der Konsequenzen demografischer Prozesse war hierzulande bislang wenig verbreitet, was man exemplarisch am Beispiel der „Beerdigung erster Klasse“ der bereits 2002 veröffentlichten Empfehlungen der Bundestags-Enquete-Kommission demografischer Wandel, die im Grundsatz politisch nie aufgegriffen wurden, belegen kann. Von daher sind die nachstehenden Ausführungen auch als Plädoyer für eine soziale Demografiepolitik zu verstehen. Dies soll an einigen künftigen Schwerpunkten sozialpolitischer Gestaltungserfordernisse im Kontext des demografischen Alterns der Gesellschaft verdeutlicht werden. Sie stehen zugleich für die folgende Aussage: In den erwähnten demografischen wie sozial-strukturellen Mega-Herausforderungen liegen auch Chancen dafür, nicht nur zu aus sozialpolitischer Sicht fachlich angemessenen und innovativen Bearbeitungsstrategien für die bereits jetzt evidenten alten und neuen sozialen Altersrisiken und -probleme zu kommen. Vielmehr können aus ihrer erfolgreichen Lösung auch positive Abstrahleffekte für die Bewältigung anderer struktureller Reformerfordernisse in wichtigen übrigen Feldern der Sozial- und Gesellschaftspolitik liegen – entsprechend dem Motto: Die demografischen auch als Chance zur Bewältigung von nicht primär demografischen Herausforderungen zu nutzen! Diese These soll im Folgenden an insgesamt neuen aus sozialpolitischer Sicht hoch bedeutsamen sozialpolitischen Handlungserfordernissen in einer alternden Gesellschaft begründet werden. 4.1. Anpassung der Alterssicherungssysteme an sich verändernde und flexiblere Lebensläufe Im Bereich der der Alterssicherung gilt es – neben der präventiven Vermeidung von Altersarmut (hierauf wird nicht eingegangen, da dies in anderen Beiträgen erfolgt) künftig vor allem jene Einkommensrisiken abzusichern, die auf zunehmende freiwillige oder erzwungene Unterbrechungen und/oder Flexibilisierungen von Erwerbsbiografien zurückzuführen sind und deren Bedeutung in den

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letzten Jahren massiv zugenommen hat. Entsprechende Lösungswege markieren z. B. die 2007 von der EU-Kommission vorgelegten allgemeinen „gemeinsamen Grundsätze“ für ein Flexicurity-Konzept, das auf eine bessere Absicherung von erwerbsbiografischer Diskontinuität zielt, deren Weiterentwicklung und Umsetzung für Deutschland (z. B. im Rahmen der Offenen Methode der Koordinierung (OMK)) noch aussteht. Perspektiven eröffnet auch die Idee der Weiterentwicklung der Arbeitslosenversicherung hin zu einer Beschäftigungsversicherung, die auf die soziale Sicherung von typischen erwerbsbiografischen Risiken im Kontext von Arbeitslosigkeit und riskanten Übergängen und damit zugleich auf die Eröffnung von Gelegenheitsstrukturen für neue berufliche Entwicklungsperspektiven einerseits sowie auf die Verbesserung von individuellen work-life-balance’s andererseits abzielt. Unter sozialpolitischen Gesichtspunkten hoch bedeutsam ist darüber hinaus insgesamt, die gesunkene „Vertrauenskrise“ in den Alterssicherungssystemen – die sich bei der jüngeren Generation insbesondere in Klagen über mangelnde „Generationengerechtigkeit“ (vor allem hinsichtlich Beitrags- und Leistungsgerechtigkeit) manifestiert, politisch zu bekämpfen.

ihren angestammten Arbeitsplätzen „in Würde“ (Adamy) älter werden können. Dies setzt zugleich eine Abkehr von der bisherigen, auf die letzten Berufsjahre beschränkten ÄltereArbeitnehmer-Politik hin zu einer lebenslaufsensiblen Personalpolitik voraus. So plädiert z. B. die 6. Altenberichts-Kommission in ihrem im nächsten Monat vorgelegten Abschlussbericht für eine betriebliche Beschäftigungspolitik, „die sich überhaupt nicht (mehr) an (z. T. innerbetrieblich gesetzten) Altersbildern orientiert, also keine primär kalendarische Zuordnung und Typisierung von Maßnahmen mehr vornimmt, sondern am Lebenszyklus ausgerichtet ist“ („Lebenszyklusorientierte Personalpolitik“). Diese sollte vor allem in den Betrieben und dort auf den unterschiedlichen Stufen der Erwerbsbiografie ansetzen. Die Kommission setzt sich weiterhin für Demografietarifverträge ein, von denen es erste bereits gibt, z. B. mit Zielen wie Qualifikationsförderung, Gesundheitsschutz und Motivationserhalt über den gesamten Arbeitnehmerlebenslauf hinweg sind, so z. B. in der Eisen- und Stahl- oder in der Chemischen Industrie. 4.3. Zeitliche Andersverteilung von Arbeit über den Lebenslauf i.S. einer Neuorganisation von Lebensarbeitszeit

4.2. Förderung der Beschäftigungsfähigkeit eines insgesamt alternden Erwerbspersonenpotenzials Insbesondere auch um die umlagefinanzierten sozialen Sicherungssysteme nachhaltig zu sichern, dem künftigen Altern der Belegschaften, den demografischen Engpässen auf dem Arbeitsmarkt und nicht zuletzt dem bereits jetzt vielerorts erkennbaren Fachkräftemangel zu begegnen, bedarf es zweifellos auch einer Ausweitung der Alterserwerbsarbeit. Diese lässt sich aber nicht „per Knopfdruck“ realisieren – und schon gar nicht über rentenpolitische Anreize nach dem Muster der „Rente mit 67“ allein. Notwendig ist vielmehr eine integrierte, auf mehreren Ebenen ansetzenden Politik zum Erhalt und zur Förderung der Beschäftigungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer/innen, die eine auch real längere Lebensarbeitszeit überhaupt erst einmal möglich und auch individuell wünschenswert macht. Hier hilft z. B. auch ein Blick über die Grenzen weiter, z. B. in die skandinavischen Länder, allen voran nach Finnland. Notwendig ist weiterhin eine entsprechende Anpassung von Arbeitsbedingungen und -belastungen sowie die Schaffung geeigneter Arbeitsplätze, damit Menschen auch in den Betrieben und auf

Eine lebenszyklusorientierte Personalpolitik erfordert zugleich eine zeitlichen Andersverteilung von Arbeit über den Lebenslauf i.S. einer Neuorganisation von Lebensarbeitszeit. Gemeint ist eine Neukonzeptualisierung der klassischen „Dreiteilung des Lebenslaufs“, die vor dem Hintergrund positiver Kohorteneffekte nachwachsender Generationen Älterer und einer weiteren Verlängerung der Lebenserwartung für viele als unausweichlich gilt. Damit könnte zugleich angemessen auf den gewachsenen Bedarf an einer besseren Synchronisierung von Arbeitszeit reagiert werden, die Menschen in der Mitte und in der Spätphase des Erwerbslebens in ganz besonderer Weise betrifft (z. B. „neue Vereinbarkeitsproblematik von Beruf und Pflege“). Die bisher in diesem Zusammenhang von der Politik gegebenen Antworten zur Neuverteilung von Lebensarbeitszeit sind unzureichend. Einerseits sind sie lediglich rentenrechtsintern („Rente mit 67“), andererseits schaffen sie, insbesondere wegen sich ausweitender prekärer Beschäftigungsverhältnisse, neue soziale und damit übrigens auch neue ökonomische Risiken bei den künftigen Kohorten Älterer.

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4.4. Förderung lebenslangen Lernens Die Forderung nach lebenslangem Lernen und von Erwachsenenbildung hat vordergründig zunächst ebenfalls beschäftigungspolitische Hintergründe und gilt insbesondere für ältere Arbeitnehmer/innen. Zu Recht wird die berufliche Bildung in Deutschland als zu „frontlastig“ kritisiert. Lebenslanges Lernen impliziert aber mehr, so z. B. das „Matthäus-Prinzips“ in der betrieblich verantworteten beruflichen Fort- und Weiterbildung zu überwinden, die Möglichkeit, fehlende Schul- und Bildungsabschlüsse nachzuholen, oder in den Universitäten und Hochschulen mehr (möglichst berufsbegleitende) Weiterbildungsangebote zu schaffen. In Deutschland gibt es kaum individuelle Rechtsansprüche auf Weiterbildung, deren Absicherung und Finanzierung z. B. per Gesetz oder Tarifvertrag erfolgen könnte. Die 5. Bundesaltenberichtskommission plädiert neben dem Ausbau der betrieblichen Weiterbildung z. B. für eine staatliche Erwachsenbildungsförderung, z. B. über Modelle des Bildungssparens, Bildungsschecks, Lernzeitkonten, Fondsmodelle oder öffentliche Förderungen durch die Bundesagentur für Arbeit (BA). Unter demografischen Aspekten hat lebenslanges Lernen aber auch einen unmittelbaren Altersbezug. Sowohl aus individueller wie aus gesellschaftlicher Sicht spricht vieles für eine eigenständigen Bildung für das Alter, die es z. B. älteren Menschen ermöglichen könnte, mehr für die eigene Gesundheitsprävention zu tun, Rehabilitationsbemühungen selbst zu flankieren oder intelligente Techniken, welche die selbständige Lebensführung fördern, besser zu beherrschen. Insgesamt ist Lernen im Alter auch hilfreich, wenn es darum geht, ganz persönlich besser mit alterstypischen Einschränkungen und Verlusten umzugehen. 4.5. Schaffung neuer Wohn- und Lebensformen und Förderung der selbständigen Lebensführung Wohnen ist bekanntlich mehr als nur „das Leben in den eigenen vier Wänden“. Dies gilt in ganz besonderer Weise für ältere Menschen, die heute selbst bei schwerwiegender Krankheit und Pflegebedürftigkeit möglichst lange zu Hause in der eigenen Wohnung wohnen bleiben wollen und dies möglichst auch sollten. Dies gilt insbesondere für die zunehmende Zahl von Ein-Personen-Haushalten. Wohnexperimente, wie gemeinschaftliche Wohnformen und dgl., genießen zwar eine hohe

Publikumswirksamkeit in den Medien, sie werden sich sicherlich auch ausbreiten, aber quantitativ eher beschränkt bleiben. Gerade für Wohnen im Alter gilt die Differenzierungsthese: Wohnwünsche und Wohninteressen sind auch im Alter – je nach Lebensform und Phase im Lebensverlauf – variabler geworden. In der Konsequenz verbieten sich auch hier Standardlösungen. Neben den klassischen Wohnraumanpassungsmaßnahmen sind „vernetzte“ Wohnlösungen die richtigen Antworten. Beim Wohnen im Alter meint Vernetzung dreierlei: (1) Vernetzungen von im engeren Sinne wohnbezogener mit haushaltsbezogener, sozialer und Technikinfrastruktur im Sinne eines „Maßnahmen-Mixes“. Besondere Beachtung verdienen hier intelligente IT-Systeme, etwa nach dem Muster des Ambient Assisted Living (AAL). Auch hier lohnt ein Blick über die Grenzen mit deutlich höheren Verbreitungsgraden in England oder in Skandinavien. (2) Vernetzung bezieht sich zweitens auf die Akteure. Voraussetzung dafür sind – neben vernetzenden und steuernden Bemühungen der kommunalen Sozialpolitik – neue „grenz- und gebietsübergreifende“ Positionierungen von Akteuren, die auch die etablierten Wohlfahrtsanbieter betreffen. Statt Verteidigung von Bastionen ist die Beteiligung an integrierten und vernetzten Wohn- und Versorgungskonzepten gefragt, geht es um Mitwirkung in neuen strategische Allianzen vor Ort – zwischen den verschiedenen sozialen Dienstleistern, den Kassen, der Wohnungswirtschaft, den Handwerksbetrieben, der örtlichen Seniorenwirtschaft, den Gesundheitsund Pflegeanbietern, der Medizintechnik, der ITBranche, der Finanzwirtschaft und nicht zuletzt dem bürgerschaftlichem Engagement. (3) Neue Vernetzungserfordernisse ergeben sich schließlich zwischen Wohnen und gesundheitlicher und pflegerischer Versorgung. Künftig wird die Wohnung vor allem bei sehr alten Menschen immer mehr zum „dritten Gesundheitsstandort“ anacieren. Dies gilt erst recht angesichts neuer Finanzierungsmodi in den Krankenhäusern mit immer früheren Entlassungen auch Älterer. Skandinavische Modelle zeigen z. B. sinnvollen und ökonomisch günstigeren Regeleinsatz für Telemedizin. Für Deutschland gilt für die meisten der hier angedachten Vernetzungsstrategien, dass sie sich zumeist noch im Erprobungs- bzw. Modellstadium befinden. Es fehlen geeignete Geschäftsmodelle und Finanzierungskonzepte, für die SGB-V- und SGB-XI-Lösungen denkbar, aber nicht regelhaft sind. Auch findet man sie – wenn überhaupt –

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zumeist nur in den Ballungszentren, wie hier im Revier, wo z. B. die großen Mietwohnungsbaugesellschaften als neue Akteure längst auf dem Weg sind. Demgegenüber bestehen im ländlichen Bereich und vor allem im Ein-Familienhaus-Wohnen – hier wohnen fast 50 % aller älteren Menschen in Deutschland ! – gewichtige Versorgungslücken. 4.6. Paradigmenwechsel in der Gesundheitspolitik In der Gesundheitspolitik muss es künftig vor allem darum gehen, die bestehenden ambulanten und stationären Versorgungssysteme sehr viel zielgenauer auf eine insgesamt alternde Patientenschaft mit ihrer durch chronische Erkrankungen und Multimorbidität gekennzeichneten besonderen Morbiditätsstruktur auszurichten. Die in Deutschland bislang stark auf Diagnose, Kuration und Medikalisierung fokussierte Gesundheitspolitik stellt sich vor diesem Hintergrund als wenig gewappnet dar für die neuen Herausforderungen, die ein demografisch bedingt verändertes Krankheitspanorama zwangsläufig nach sich zieht. Veränderte Ziele sind insbesondere die Weiterentwicklung und Umsetzung von geriatrischer Prävention und Rehabilitation, die Stärkung der Chronikermedizin, Ausweitung integrierter Versorgungsmodelle unter Einbezug der Pflege, vernetztes Handeln der Professionen sowie Schaffung neuer Altersbilder in der Medizin, Kranken- und Altenpflege. Das kürzlich dazu vorgelegte Sondergutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen zum Thema „Koordination und Integration – Gesundheitsversorgung in einer Gesellschaft des längeren Lebens“ verweist insbesondere auf fehlende Leitlinien und Standards zum Umgang mit Multimorbidität sowie auf die bislang nicht gelösten Herausforderungen für eine bedarfsgerechte Arzneimittelversorgung im Alter. 4.7. Weiterentwicklung der Pflege (versicherungs)politik, Zweifellos ist die Mitte der 1990er Jahre erfolgte Einführung der Pflegeversicherung ein sozialpolitisches „Erfolgsmodell“. Allerdings gilt gerade hier der Satz: „Nach der Reform ist vor der Reform“. So sind dringend mehr Anreize zur Vermeidung von Pflegebedürftigkeit erforderlich, gilt es das bestehende Leistungs- und Finanzierungsspektrum stärker auf differenzierter gewordene Bedarfssituationen auszurichten und den money-led-approach durch einen need-led-approach zu ersetzen sowie das enge verrichtungsbezogene Konzept der Pflege-

versicherung durch ein erweitertes Pflegeverständnis und eines darauf ausgerichteten Begutachtungsverfahrens abzulösen. Erst dadurch kann eine angemessene Versorgung demenziell erkrankter älterer Menschen ermöglicht werden. Weitgehend ungelöst ist zudem das Pflegepersonalproblem. Auch die „neue Vereinbarkeitsproblematik“ kann als ungelöst gelten. Allerdings setzt dies alles die Bereitschaft in der gesamten Gesellschaft voraus, mehr Finanzmittel für die Pflege bereit zu stellen. Für beide Systeme, GKV wie PV, gleichermaßen besteht – gerade jetzt – die Erfordernis, weitere Einkommensquellen zu nutzen („Bürgerversicherung“). 4.8. Erkennen und Nutzen der gewachsenen Potenziale älterer Menschen – Vom Versorgungs- zum Aufforderungs- und Verpflichtungsparadigma – das Konzept des „active ageing“, In der Altenpolitik und -arbeit im engeren Sinne muss es weiter gehen mit dem bereits im 5. Altenbericht eingeleiteten Paradigmenwechsel: mit dem Ziel: weg von der traditionellen „Ruhestandsorientierung“ hin zur individuell wie gesellschaftlich nützlichen „Potenzialentfaltung und –nutzung“. In einer kollektiv alternde Gesellschaft muss es konsensual getragenes Ziel sein, die Beteiligung der Älteren selbst an der Sicherung des kleinen wie des großen Generationenvertrages einzufordern. Es gilt, das überkommende Versorgungsparadigma zugunsten eines Aufforderungs-, wenn nicht sogar Verpflichtungsparadigmas zu überwinden. Alternde Gesellschaften zwingen zu einer neuen Verantwortungsübernahme durch die Älteren selbst. Das darf aber nicht – so wie es speziell neoliberale Altenpolitikkonzepte im Umfeld des bewusst falsch interpretierten „aktiven Altern“ meinen – zu einer Rücknahme sozialstaatlicher Verantwortung und zu einer Finanzierungsverlagerung zu Lasten der Älteren selbst führen. Das im Sinne des Aufforderungsparadigmas derzeit am meisten fortgeschrittene Konzept ist das des „active ageing“ in der Interpretation von Alan Walker. Seine herausragenden Merkmale sind neben einer integrierten und lebenslaufbezogenen Konzeptualisierung insbesondere die Betonung von inter- und intragenerationeller Solidarität und gesellschaftlichem Nützlichkeitsbezug bei gleichzeitig bevorzugter Beachtung von Problemen sozial benachteiligter älterer Bevölkerungsgruppen. Speziell in der Verbindung des „Für-sich-etwas-Tun“ und des „Für-andere-etwas-Tun“, möglichst für ältere Menschen in eingeschränkten Lebenslagen, liegt

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die Kernidee des „active ageing“. Vor allem für die Kommunalpolitik bestehen bislang völlig ungenutzte Perspektiven. 5.9. Stärkung und Förderung von intra- und intergenerationeller Solidarität. Letzteres verweist zugleich auf die Notwendigkeit einer Neujustierung beider Generationenverträge, des großen gesellschaftlichen Generationenvertrags im System der umlagefinanzierten Sozialversicherung ebenso wie des so genannten kleinen Generationenvertrags im familialen Umfeld. Es geht um eine neue Aushandlung der Generationensolidarität vor dem Hintergrund des kollektiven Alterns der Bevölkerung. In der Alterssicherungspolitik betrifft dies vor allem das neue Problem der Verteilungsgerechtigkeit in den Dimensionen Beitrags- und Leistungsverteilung, das derzeit vor allem die jüngere Generation bedroht. Es ist darauf zu achten, die jeweiligen Generationen entsprechend ihrer je spezifischen Leistungsfähigkeit möglichst gleichmäßig zu belasten. In diesem Zusammenhang stehen Junge wie Alte beide in der Verantwortung. Für beide gibt es nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Die junge Generation sollte vor allem mehr Bildung und mehr Zukunftsinvestitionen erwarten können, muss sich aber im Gegenzug selbst auf mehr Lernen, neue Erwerbsmuster und mehr berufliche Mobilität und Flexibilität einstellen und nicht zuletzt auch mehr Bereitschaft für ein Leben mit Kindern aufbringen. Die älteren Generationen wiederum dürfen sich nicht primär in tradierten Rollen als Rentenempfänger und „Ruheständler“ definieren, sondern müssen sehr viel stärker bereit sein, mehr Verantwortung für das eigene Leben („Selbstverantwortung“) wie für das anderer sowie insbesondere der nachrückenden Generationen („Mitverantwortung“) zu übernehmen. Der 5. Altenbericht der Bundesregierung hat eindrucksvoll auf vorhandene Potenziale und Ressourcen in einer kollektiv alternden Gesellschaft und auf Möglichkeiten ihre besseren Nutzung im Interesse von Generationensolidarität und damit auch zur Reduzierung der „demografischen Herausforderungen“, die hier nicht geleugnet werden sollen, die ich aber für bewältigbar halte, beizutragen. Dazu gehört u.a. auch die Bereitschaft, bei gegebenen Voraussetzungen länger im Erwerbsleben zu bleiben.

5. Ausblick Es sollte deutlich geworden sein, dass das kollektive Altern der Gesellschaft – bei allen problematischen Dimensionen – nicht primär als Bedrohungsszenarium interpretiert werden darf, sondern als eine gesellschaftspolitische Gestaltungsaufgabe, bei der insbesondere die Sozialpolitik – ganz im Sinne des Preller’schen Gestaltungsauftrages – aufzugreifen ist. Verwendete und weiterführende Literatur Bäcker, G., Naegele, G. et al. (2010): Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, 2 Bände, 5. Auflage: VS-Verlag für Sozialwissenschaften . BMFSFJ (Hrsg.) (2006): 5. Altenbericht: Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft. Berlin. BMFSFJ-Eigenverlag. BMFSFJ (Hrsg.) (2010): 6. Altenbericht: Altersbilder in der Gesellschaft. Berlin (in Druck) Heinze, R. und Naegele, G. (Hrsg.)(2010): EinBlick in die Zukunft. Gesellschaftlicher Wandel und Zukunft des Alterns. Dortmunder Beiträge zur Sozial- und Gesellschaftspolitik, 61. LIT-Verlag: Berlin. Heinze, R., Naegele, G. und Schneiders, K. (2010): Die wirtschaftlichen Potenziale des Alters. Stuttgart: Kohlhammer Verlag. Reihe Grundlagen der Gerontologie (in Druck). Igl, G. und Naegele, G. (2009) (Hrsg.): Themenheft: „Strukturelle Weiterentwicklung der Pflegeversicherung. Nach der Reform ist vor der Reform“. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, Bd. 42, 4. Naegele, G. (2009a): Perspektiven einer fachlich angemessenen, bedarfs- und bedürfnisgerechten gesundheitlichen Versorgung für ältere Menschen. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, Bd. 42, 6. Naegele, G. (2009b): Politische und soziale Partizipation im Alter – 13 Thesen zu einer „dialogfähigen Reformdebatte“. Theorie und Praxis der sozialen Arbeit, 2. Naegele, G. (2010a): Für eine soziale Lebenslaufpolitik. In: Naegele, G. (Hrsg.): Soziale Lebenslaufpolitik. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften. Naegele, G. (2010b): Kommunale Altenpolitik angesichts des sozio-demografischen Wandels neu denken ! Theorie und Praxis der sozialen Arbeit, 3.

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Prof. Dr. Frank Nullmeier Universität Bremen

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Handlungsstrategien der AWO fĂźr den sozialen Zusammenhalt

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Fachforen „Zusammenhalt stärken – Ausgrenzung verhindern“

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Forum 1 • Gerda Holz

Forum 1:

„Stärkung der frühkindlichen Bildung und Strategien zur Armutsvermeidung im Kinder- und Jugendalter“ Impuls: Gerda Holz Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik, Frankfurt am Main

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Forum 1 • Diskussion

Forum 1/Diskussion Impuls von: Gerda Holz (Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik) und Barbara König (Zukunftsforum Familie e.V.) Der Fachvortrag von Gerda Holz enthielt die Ergebnisse der Längsschnittstudie der AWO zum Thema Kinderarmut. Er war Grundlage für die Teilnehmenden, sich über künftige Schwerpunkte und Zielsetzungen der AWO im Bereich Kinderarmut auszutauschen. Die Diskussion begann mit der Fragestellung, wie die gewonnenen Erkenntnisse aus der Studie breiter in die Öffentlichkeit getragen werden könnte. Es wurde festgehalten, dass die Studie zwar vorherige Annahmen bestätigte jedoch keine eigenen Forderungen hervorbrachte. Diese Aufgabe wurde dem AWO Bundesverband zugesprochen. Darüber hinaus sollten die Ergebnisse noch breiter in die Öffentlichkeit getragen werden. Das AWO Jugendwerk in Essen entwickelte gemeinsam mit Kommunalpolitikern eine Strategie zur Zurückdrängung von Kinderarmut, die bisher nicht umgesetzt wurde. Deshalb kam man zu der Annahme gelangte, das Thema Kinderarmut sei kein Imageträger für Politiker. Von den Teilnehmenden wurde der Wunsch geäußert, die AWO möge in Zusammenarbeit mit dem ISS Umsetzungsstrategien entwickeln. Es wurde festgestellt, dass es sich beim Thema Kinderarmut nicht um ein Erkenntnis- sondern um ein Handlungsproblem handelt. In der Öffentlichkeit werden häufig Geldleistungen gegen den Ausbau von Infrastruktur ausgespielt. Ein Problem bei der Armutsbekämpfung sei vor allem die föderale Struktur, die es zu überwinden gelte um somit zu vereinheitlichten bundesweiten Regelungen zu kommen. Es dürfe nicht passieren, dass die Kommunen aufgrund von Finanzkürzungen in Bereichen der Sozialpolitik handlungsunfähig gemacht würden. Weiterhin wurde das von der Bundesregierung geplante Chipkartenmodel kritisch diskutiert und vielfach festgestellt, dass dieses Instrumentarium abzulehnen sei. Es wurde angeregt, dies bei der weiteren Überarbeitung der Essener Erklärung unbedingt zu berücksichtigen. Als weiterer Punkte wurde benannt, dass die Terminologie „sozial schwach“ durch „einkommensschwach“ ersetzt

werden und der Aspekt der frühkindlichen Bildung als Armutsprävention aufgenommen werden solle. Insgesamt sei die Essener Erklärung sehr lang und deshalb für die sehr wichtige Medienarbeit schwer einsetzbar. Um einen leichteren Übergang für Kinder von der Kita in die Schule gewährleisten zu können, soll in der Erzieherausbildung verstärkt auf die frühkindliche und musikalische Bildung eingegangen werden. Es wurde gewünscht, den Aspekt der frühkindlichen Bildung in der Essener Erklärung deutlicher herauszuarbeiten. Weiterhin gab es die Anregung die Betreuungsangebote für Kinder und Jugendliche nicht ungebremst zu einem Familienersatzangebot auszubauen, sondern sehr deutlich auch von den Arbeitgebern mehr Familienfreundlichkeit zu fordern. Mit Blick auf die aktuelle politischen Situation wurde gefordert, die AWO solle stärker in der Öffentlichkeit Position beziehen, nachdem sie sich lange mit sich selbst und den Strukturen beschäftigt und sich politisch zurückgehalten habe. Es sei wichtig, die Berechungsgrundlage der Hartz IVRegelsätze zu prüfen, Wenn diese stimmen würde, wären Forderungen nach einem erhöhten Regelsatz schwer begründbar. Dabei sollte gleichzeitig darauf geachtet werden, dass die Diskussion nicht ausschließlich über die Gruppe der Arbeitslosengeld II-Empfänger geführt wird um große Teile der Gesellschaft nicht auszuschließen. Das Thema Betreuungsgeld könnte von der AWO in Verbindung mit der Langzeitstudie zur Kinderarmut und in Zusammenarbeit mit der SPD politisch weiter verfolgt werden. Die AWO müsse stärker aufzeigen, dass die derzeitige Politik der Bundesregierung die Menschen verschiedene Klassen einteile. Mit der Umwandlung des Erziehungsgeldes in Elterngeld und der aktuellen Streichung des Elterngeldes für Hartz IV-Empfänger wurde eine Abwärtsspirale für Arme beschlossen. Die Diskussion zeigte weiterhin dass der derzeitige Familienlastenausgleich zu Ungerechtigkeit in der Gesellschaft führt. Dabei wurde vor allem der Aspekt der Bezüge von Sozialleistungen für Millionärsfamilien kritisiert. Zudem solle die AWO, nachdem es das Bekenntnis zur Zielsetzung einer Kindergrundsicherung gab, nun zur Entwicklung von Umsetzungsstrategien kommen.

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Forum 2 • Dr. Claudia Weinkopf

Forum 2:

„Integration durch gute Arbeit und gerechten Lohn“ Impuls: Dr. Claudia Weinkopf Universität Duisburg-Essen

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Forum 2 • Diskussion

Forum 2/Diskussion Als Fazit des Inputs von Frau Dr. Weinkopf (siehe Folienvortrag) lässt sich festhalten: In Deutschland ist eine Zunahme prekärer Beschäftigung zu verzeichnen, Deutschland ist sogar dabei die USA im Bereich Niedriglohnsektor einzuholen und steht an zweiter Stelle im internationalen Vergleich. In den letzten Jahren hat sich die Situation in Bezug auf die Höhe der Löhne sowie die Anzahl der Betroffenen dramatisch verschlechtert. Bemerkenswert ist, dass der überwiegende Teil der im Niedriglohnsektor beschäftigten Menschen in Deutschland eine Ausbildung hat, also qualifiziert ist.

riflöhnen einzusetzen. Gleichzeitig wurde zu bedenken gegeben, dass auch über die Refinanzierung der Personalkosten gesprochen werden müsste. Darüber hinaus ging es in der Diskussion um die Auswirkungen des Vergaberechts sowohl auf den Preis als auch auf die Qualität der Arbeit. Hier müsste man trotz bereits verlorener Schlachten weiterhin dafür kämpfen, dass in die Ländergesetze wieder Tariftreueklauseln eingeführt werden. Diese gab es teilweise bereits, sie sind jedoch in den letzten Jahren wieder abgeschafft worden. Es wurde angeregt, in der Essener Erklärung die Aussagen bzgl. Leiharbeit zu öffnen und auch Minijobs sowie andere prekäre Beschäftigungsarten mit einzubeziehen.

Aus der folgenden Diskussion:

Zum Thema Minijobs sprachen sich die Diskutanten für mehr Kontrolle aus. So muss sichergestellt sein, dass die Arbeitnehmer, die eh schon unter prekären Bedingungen arbeiten nicht auch noch für ihren Stundenlohn länger arbeiten müssten wenn die Stundenzahl zu knapp kalkuliert ist.

In der Essener Erklärung der AWO gibt es Forderungen zum Mindestlohn. Diese wurden einhellig unterstützt. Dennoch sei es auch notwendig noch einmal einen Schritt zurückzugehen und sich für existenzsichernde Löhne und die Stärkung von Ta-

Die AWO sieht hier auch für sich selbst eine Schwierigkeit: einerseits als Lobbyverband auf der anderen Seite als Arbeitgeber, der auf dem Markt bestehen muss. Auch hierüber wurde eine weiterführende Debatte im Verband gewünscht.

Das Plädoyer von Dr. Weinkopf lautete: Es ist notwendig sich Gedanken zu machen, wie man atypische Beschäftigungsformen eindämmen kann und hierfür weitergehende Strategien zu entwickeln.

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Forum 3 • Dr. Elke Olbermann

Forum 3:

„Heute die Altersarmut von morgen bekämpfen“ Impuls: Dr. Elke Olbermann Universität Dortmund

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Forum 3 • Diskussion

Forum 3/Diskussion Nach einem einleitenden Fachvortrag von Frau Dr. Elke Olbermann vom Institut für Gerontologie an der TU Dortmund wurde im Plenum engagiert über die vielen Formen der Altersarmut und Konzepte zur Vermeidung und Bekämpfung von Armut im Alter diskutiert. Besonders das Konzept der Lebenslagenarmut, das Armut als Unterversorgung in Bereichen wie Gesundheit, Bildung und sozialen Beziehungen beschreibt, regte viele Workshopteilnehmer an, sich lebhaft an der Diskussion zu beteiligen. Schnell wurde man sich einig, dass der bedrückendste Aspekt von Armut, sich nicht unbedingt in einem zu niedrigen Einkommen ausdrückt, sondern in den Folgen, die sich daraus ergeben. Die Scham darüber, sich „nicht mal das Stück Kuchen“ leisten zu können oder in einer kargen Wohnung zu leben“, in die man niemanden einladen kann“, treibt viele ältere Menschen zum Rückzug. Am Ende dieser Kette stehen Vereinsamung und der Verzicht, sich an sozialen Prozessen zu beteiligen oder sich selbst zu verwirklichen. Diese Punkte und der Hinweis, dass Armut multidimensional bekämpft werden müsse, sollten in der weiteren Arbeit an der Essener Erklärung mit berücksichtigt werden. Altersarmut von morgen muss bereits heute bekämpft werden. Ein Miteinander und Füreinander aller Altersgruppen sei zentral, um das gegenseitige Verständnis der Generationen zu verbessern. Die aktive Einbeziehung aller Generationen sei daher ein Garant dafür, dass Teilhabe ermöglicht wird. Daher komme generationenübergreifenden Ansätzen, deren Ziel eine bessere Vernetzung in der Nachbarschaft ist, große Bedeutung zu. Für die Arbeitswelt sei es darüber hinaus unabdingbar,

flexible Lebens- und Arbeitskonzepte zu implementieren, die auf die Lebenssituationen der verschiedenen Generationen eingehen. Dazu gehöre auch, ältere Arbeitnehmer auf die Zeit nach der Rente vorzubereiten. Viele Diskutanten waren sich einig, dass Aktivitäten, insbesondere Fitness und Gesundheitsvorsorge zentrale Bestandteile eines glücklichen Lebens im hohen Alter seien, Erkrankungen vorbeugen und somit einem Abrutschen in die Altersarmut verhindern könnten. In diesem Zusammenhang müsse neben der Initiative des Einzelnen Staat und Gesellschaft dafür Sorge tragen, dass Bildung und die Möglichkeit, sich kontinuierlich auch im hohen Alter noch Wissen anzueignen, für alle zugänglich sind. Die Diskussion blieb nicht nur bei der Frage von Prävention, sondern drehte sich auch um die heutigen Probleme und wie man ihnen begegnen könne. Vermehrt kam die Forderung auf, man müsse prekäre Arbeit verhindern, da sie einen großen Teil des Problems der finanziellen Altersarmut bedinge. Auch der eingeschränkten Mobilität, vor allem auf dem Land, solle entgegengewirkt werden. Angebote, die allen Aspekten von Lebenslagenarmut entgegen wirken, müssten generell besser finanziert und vernetzt werden. Diese sollten vor allem niedrigschwellig sowie für alle Risikogruppen erreichbar sein. Bundes-, Landes, EU- und kommunale Programme müssten dringend besser finanziert und nachhaltiger aufgelegt werden, vor allem mit Blick auf die Mobilität von älteren Menschen – insbesondere dann, wenn diese in ländlichen Gebieten wohnen. Das Forum endete mit der Forderung, nach weiterem Engagement der AWO im Kampf gegen Altersarmut und einem Lob auf die bereits vielseitig gezeigten Leistungen vor Ort.

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Essener Erklärung1 „Zusammenhalt stärken – Ausgrenzung verhindern“ Beschluss des AWO Präsidiums vom 27.08.2010, ergänzt am 30.09.2010

– Zur Beratung auf der 1. Fachkonferenz der AWO „Zur Zukunft der Sozialpolitik“ am 1.10.2010 in Essen –

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Die vorliegende Essener Erklärung war Diskussionsgrundlage der Fachkonferenz. Zahlreiche Anregungen und Änderungsvorschläge, die sich aus den Diskussionen in den Foren ergeben haben, werden noch einmal im AWO Präsidium beraten und zur Überarbeitung genutzt.

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Ein starker Sozialstaat – Markenzeichen einer sozial gerechten Gesellschaft Der Sozialstaat steht vor einer schwierigen Zukunft. Das im Grundgesetz garantierte Sozialstaatsgebot wurde und wird durch die Politik beständig ausgehöhlt. Dadurch hat sich unsere Gesellschaft immer mehr von dem Anspruch entfernt, alle Bürgerinnen und Bürger am gesellschaftlichen Leben und den vorhandenen Gütern und Dienstleistungen angemessen zu beteiligen. Sowohl die Armut als auch der Reichtum sind kontinuierlich gewachsen. Eine Politik des beständigen Sozialabbaus führt schleichend zu einer Spaltung der Gesellschaft. Viele Menschen sind in ihrem Alltag im wachsenden Maße verunsichert und zugleich von der Politik verdrossen. Die Wirtschafts- und Finanzkrise der letzten Jahre hat diese Verunsicherung und Verdrossenheit weiter gefördert. Zwar konnten durch enorme Ausgaben des Staates der Bankensektor stabilisiert, wichtige Zweige der deutschen Wirtschaft geschützt und ein gravierender Einbruch auf dem Arbeitsmarkt verhindert werden. Dies alles ist aber nur auf Kosten einer immensen Staatsverschuldung gelungen, die wiederum als Rechtfertigung für die gravierenden Sparvorschläge herhalten. Die entscheidende Frage, die sich nun stellt ist: Wie ist diese Verschuldung in den Griff zu bekommen?. Nach den Plänen der Bundesregierung zur Refinanzierung der Schuldenlasten werden die Krisenverursacher und Krisengewinnler sowie Spitzenverdiener und Vermögende weitgehend verschont. Der Schuldenabbau soll vielmehr durch massive Kürzungen sozialer Leistungen verbunden mit dem Abbau sozialer Rechte finanziert werden. Damit sind Politik und Verwaltung dafür verantwortlich, dass der Sozialabbau zugleich ein wachsendes Almosenwesen mit z. B. ,Tafeln‘, Kleiderkammern und Sozialkaufhäusern befördert. Die AWO hat schon zu einem frühen Zeitpunkt der Wirtschafts- und Finanzkrise davor gewarnt, die Folgekosten der Krise einseitig dem Sozialstaat und vor allem jenen Menschen aufzubürden, die auf Sozialtransfers und staatliche Unterstützung angewiesen sind. Eine erfolgreiche und zukunftsorientierte Krisenbewältigung zeichnet sich vielmehr durch die gerechte Verteilung der Krisenlasten aus. Sie achtet auf eine gerechte Verteilung der

Lasten. Starke Schultern müssen mehr als schwache Schultern tragen. Das vorliegende Konzept der Bundesregierung lässt keinen politischen Willen erkennen, den Staatshaushalt sozial gerecht und durch eine Stärkung der Einnahmenseite zu konsolidieren. Eine solche Entwicklung gefährdet den sozialen Zusammenhalt und verschärft die soziale Ungleichheit! Der Sozialstaat der Zukunft muss ein Garant gegen Armut und Ausgrenzung sein. Die sozialen Sicherungssysteme müssen wieder eine bedarfsgerechte Grundsicherung gewährleisten. Ihre Finanzierung ist auf eine breitere Basis zu stellen, in die alle Einkommen einbezogen werden. Versicherungsfremde Leistungen müssen steuerfinanziert werden. Ein handlungsfähiger Sozialstaat braucht handlungsfähige Kommunen. Und: Er kann nur solidarisch finanziert und getragen werden. Deshalb fordert die AWO eine Steuer- und Finanzpolitik, die den kommunalen Haushalten wieder Spielräume eröffnet und die zugleich dafür sorgt, dass die Schere zwischen Arm und Reich geschlossen wird. Die erfolgreiche Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung sowie die Stärkung des sozialen Zusammenhalts sind die zentralen Schlüsselthemen unserer Gesellschaft. Die Bürgerinnen und Bürger brauchen auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnten einen starken, verlässlichen und solidarisch finanzierten Sozialstaat. Die AWO warnt vor einer weiteren Spaltung der Gesellschaft und einer Gefährdung des sozialen Friedens in Deutschland. Sie wird sich in den kommenden Wochen und Monaten im Rahmen einer Kampagne entschlossen dafür einsetzen, dass die unsozialen und unausgewogenen Kürzungspläne der Bundesregierung nicht umgesetzt werden. Die AWO ist der festen Überzeugung, dass nur ein intakter, handlungsfähiger und ausgleichender Sozialstaat in der Lage ist, soziale Ungerechtigkeiten abzumildern und Investitionen etwa in Kinder, Familie, Bildung, Beschäftigungsförderung und zur Vermeidung von Altersarmut zu leisten. Zentral ist dabei eine Trendumkehr im Bereich niedriger und niedrigster Löhne. Denn: Lohnarmut führt zu Kinderarmut und mündet in Altersarmut. Demokratie und ein starker Sozialstaat sind zwei Seiten ein und derselben Medaille! Wer einen Teil

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schwächt, gefährdet die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Gute Lebenschancen garantieren – Kinder- und Jugendarmut bekämpfen

abgestimmtes Bildungs-, Sozialstaats- und Finanzierungskonzept gegen Kinder- und Jugendarmut mit konkreten und nachprüfbaren Zielvereinbarungen, das noch bis Jahresende vorzulegen ist. Konkret fordern wir:

In Deutschland wachsen gegenwärtig jedes sechste Kind und jeder fünfte Jugendliche in Armut auf. Das höchste Armutsrisiko haben Kinder aus Ein-Eltern-Familien sowie Kinder mit Migrationshintergrund. Armut im Kinder- und Jugendalter ist ein extremer Risikofaktor für die gesamten Lebenschancen der betroffenen Kinder – aber auch für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft insgesamt. Die bislang vorliegenden drei AWO-ISS-Langzeitstudien über Kinderarmut haben die Ursachen und Wirkungen von Armut auf Eltern und Kinder intensiv untersucht und Konsequenzen daraus aufgezeigt. Neben materiellen Entbehrungen geht Armut häufig mit sozialer Isolation der Kinder, einem erhöhten Krankheitsrisiko und der Gefahr von Bildungsnachteilen einher. Die Folgen von Kinderarmut erschweren ein Leben in Chancengleichheit und Selbstbestimmung. Sie können alle Lebenslagen negativ beeinflussen. Die Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung muss deshalb sehr entschieden im frühesten Kindesalter beginnen. Sie ist Teil der öffentlichen Verantwortung dafür, dass alle Kinder und Jugendlichen gesund und gefördert aufwachsen können. Die AWO betrachtet die drohenden Einsparungen beim Elterngeld mit großer Sorge, weil sie genau in die entgegengesetzte Richtung weisen. Sie treffen einseitig arme Kinder und ihre Eltern. Sie sind unsozial, kurzsichtig und senden im laufenden Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung das falsche Signal. Zur Bekämpfung der Kinderarmut müssen folgende Fragen verbindlich beantwortet werden: Wie kann eine Steuerung durch den Bund im Sinne gleicher und gerechter Lebensverhältnisse für alle Kinder in Deutschland erfolgen? Wer trägt auf den Ebenen des Bundes, der Länder und Kommunen die Verantwortung? Wie wird diese Verantwortung bei der Finanzierung wahrgenommen und umgesetzt? Viel zu lange haben Bund, Länder und Kommunen die Verantwortung für eine konsequente Bekämpfung von Kinder- und Jugendarmut untereinander hin und hergeschoben. Die AWO fordert daher ein

•Allen Kindern und Jugendlichen muss ein kostenfreier Zugang zu Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangeboten garantiert werden. Dazu gehören auch Leistungen in den Kindertageseinrichtungen und Schulen wie z. B. ein kostenloses schulisches Mittagessen und kostenfreie Lernmittel für alle Kinder sowie bei Bedarf die kostenlose und umfassende Bereitstellung von Nachhilfe- und Förderunterricht. •Prävention und Partizipation müssen vorrangig an die Stelle von Krisenintervention treten. Die Ausrichtung des Instrumentariums der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe sowie des Bildungssystems muss grundlegend verändert werden. Ressourcen für Kinder und Jugendliche müssen verlagert werden von einer Krisenintervention, die in der Regel bei jungen Menschen im Alter von 12 bis 17 Jahren ansetzt, hin zu einem präventiven Ansatz. Hier sind insbesondere arme Kinder und ihre Eltern in den prägenden ersten Lebensjahren zu unterstützen und zu fördern. Präventive Angebote zu schaffen, muss Vorrang haben und Pflichtaufgabe im Fördersystem der Kommunen und der Länder werden. •Die Rahmenbedingungen in der Erziehung, Bildung und Betreuung müssen verbessert werden. Am jeweiligen Bedarf der Kinder orientierte Förderangebote sind in den Tageseinrichtungen zu garantieren. Einrichtungen, die besondere Anforderungen zu bewältigen haben – wie vor allem bei einem hohen Anteil armer Kinder –, brauchen zur Erfüllung ihres Auftrags entsprechend bessere Rahmenbedingungen. Ungleichheit muss durch eine besondere Förderung bekämpft werden! •Statt einer sozialen Selektion muss die schulische Bildung neu gestaltet werden. Jugendhilfe und Schule müssen unter Einbeziehung weiterer außerschulischer Anbieter einen kooperativen Ansatz zur ganzheitlichen Förderung der Kinder und Jugendlichen entwickeln. Schulpädagogik und Sozialpädagogik sind gleichberechtigte Partner einer modernen Schule – und das ab der Grundschule. Schülerinnen und Schüler sollen bis zum Ende der Sekundarstufe I (10. Klasse) in integrierten Ganztagsschulen miteinander lernen. Voraussetzung hierfür ist ein pädagogi-

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sches Konzept, in dem sich Lern- und Freizeitangebote miteinander verbinden. Dies muss ein verbindliches Regelangebot für alle Kinder sein. •Eine verbindliche, kostenfreie, durchgängige und ganzheitlich ausgerichtete Gesundheitsförderung und Gesundheitsversorgung für alle Kinder. •Ein Rechtsanspruch auf Eltern- und Familienbildung soll gewährleisten, dass auch sozial benachteiligte Familien erreicht werden können. •„Mit den Beschlüssen des Koalitionsausschusses vom 26.9.2010, die Regelsätze nur um 5 Euro anzuheben und die Kinderregelsätze nicht zu erhöhen, missachtet die Bundesregierung die realen Bedarfe der Hilfebedürftigen und setzt so bewusst den sozialen Frieden aufs Spiel. Die AWO fordert die Einhaltung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, allen Hilfebedürftigen ein menschenwürdiges Existenzminimum zu gewährleisten, ihre realen Bedarfe zu decken und die Regelsätze transparent abzuleiten. Die Regelsätze für Erwachsene und Kinder sind daher deutlich anzuheben, um die grundlegenden Bedarfe von Erwachsenen und Kindern und ihr soziokulturelles Existenzminimum angemessen abzudecken.“ •Mittelfristig ist für die Kinder eine eigenständige Kindergrundsicherung einzuführen, die ihre materiellen Bedarfe losgelöst vom Regelsatzsystem sicherstellt. Im Unterschied zum heutigen System ist das Kindergrundsicherungsmodell, für das die AWO eintritt, transparent, unbürokratisch und sozial gerecht.2 Für gute Arbeit und gerechte Löhne – Perspektiven der Arbeitsmarktpolitik Deutschland zählt zu den reichsten Volkswirtschaften der Welt und hat nach wie vor einen Spitzenplatz als Exportnation. Der Ertrag dieser Leistung kommt allerdings den Beschäftigten immer weniger zugute. Besorgniserregend ist dabei, dass der Preis für den Reichtum Weniger mit einer wachsenden Armut und Ausgrenzung von immer mehr Menschen einhergeht.

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Die Politik der letzten Jahrzehnte hat zu einer Deregulierung auf dem Arbeitsmarkt und zu einer zunehmenden Diskriminierung von Arbeitslosen beigetragen. 6,5 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind derzeit im Niedriglohnsektor tätig, das ist ein Fünftel aller Beschäftigten. Zwei von drei Niedriglohnbeschäftigten sind Frauen. Ihre Erwerbsbiographien weisen zudem überproportional häufig Unterbrechungen auf. Zudem müssen oftmals Frauen mit einem prekären Beschäftigungsverhältnis umgehen und zurechtkommen. Insbesondere im Osten sind niedrige und niedrigste Stundenlöhne weit verbreitet. Der Niedriglohnsektor ist in den vergangenen Jahren in Deutschland nahezu ungebremst gewachsen und immer mehr Vollzeitarbeitsplätze werden in nicht mehr Existenz sichernde Teilzeitarbeitsplätze umgewandelt. Zudem boomt die Leiharbeit. Aktuell schaffen Firmen überdurchschnittlich häufig Leiharbeitsplätze, die verglichen mit regulären Arbeitsplätzen in den meisten Fällen deutlich schlechtere Beschäftigungsbedingungen bieten. Insgesamt ist das Ziel, der Mehrheit der Langzeitarbeitslosen wirkliche Perspektiven auf eine Integration in den Arbeitsmarkt zu eröffnen und ihre Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen zu beenden, nicht erreicht. Die Grundsicherung für Arbeitsuchende wird von vielen Menschen nicht als eine Hilfe empfunden, sondern als Bedrohung vor sozialem Abstieg, Armut und Ausgrenzung. Zugleich erlebt ein bestimmter Personenkreis, in der Regel Erwerbsfähige mit erheblichen persönlichen Problemen und schlechten Qualifizierungen, dass für sie keine geeigneten und dauerhaften Integrationsangebote auf dem Arbeitsmarkt existieren. Gleichzeitig können die mit den Sozialgesetzen verbundenen Sanktionen unvertretbare Härten bedeuten. Die AWO fordert: •Arbeit darf nicht arm machen. Deshalb muss ein gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro in ganz

Für die Kinder und Jugendlichen fordert die AWO eine kurzfristige Anhebung der Kinderregelsätze und mittelfristig die Einführung einer gestuften Kindergrundsicherung von bis zu 502 Euro monatlich. Das Konzept ist unter www.kinderarmut-hat-folgen.de beschrieben. Es berücksichtigt sowohl den finanziellen als auch den Bildungsbedarf aller Kinder und Jugendlicher und bietet die Chance, sie aus dem stigmatisierenden Bezug von Leistungen aus dem SGB II herauszuholen. Durch eine Besteuerung der Kindergrundsicherung wird sichergestellt, dass diejenigen Kinder die höchste Förderung erhalten, die den höchsten Bedarf haben.

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Deutschland als absolute Lohnuntergrenze eingeführt werden. Daneben müssen verbindliche branchenspezifische Lohnuntergrenzen vorangetrieben und die Tariflöhne gestärkt werden. Leiharbeit muss – dem ursprünglichen Ziel folgend – auf die Abdeckung von Auftragsspitzen und Auftragsschwankungen konzentriert werden. •Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeiter sind den Festangestellten nach dem Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ gleichzustellen. Die aus der Gleichbehandlung von Leiharbeiterinnen und Leiharbeitnehmern und einem gesetzlichen Mindestlohn resultierenden veränderten finanziellen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Träger müssen bei der Refinanzierung berücksichtigt werden. •In der Arbeitsmarktpolitik muss fünf Jahre nach Hartz IV ein Paradigmenwechsel stattfinden. Statt der einseitigen Betonung von Zwang und Sanktionierungen sowie Leistungskürzungen unter das soziokulturelle Existenzminimum muss ein Eingliederungsprozess organisiert werden, der individuelle Anstrengungen belohnt und die Ziele und Schritte mit den Betroffenen gemeinsam erarbeitet. Dieser Eingliederungsprozess muss repressionsfrei sein. •Die aus einem gesetzlichen Mindestlohn und aus der Gleichbehandlung von Leiharbeiterinnen und Leiharbeitnehmern resultierenden veränderten finanziellen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Träger müssen bei der Refinanzierung berücksichtigt werden. •Im Grundsatz ist es richtig, dass mit der Jobcenterreform die Zusammenarbeit von Agenturen für Arbeit und Kommunen auf eine verfassungsgemäße Grundlage gestellt wird. Die Kommunen benötigen mehr Mitspracherechte bei der Steuerung regionaler Arbeitsmarktpolitik. Dabei darf jedoch die Finanzverantwortung des Bundes für die Arbeitsmarktpolitik nicht kommunalisiert werden – auch nicht auf dem Umweg einer Ausweitung der Optionskommunen. •In den Jobcentern ist die Beratung und die Information in soweit zu verbessern, dass sie den individuellen Lebensentwürfen, Bedürfnissen und Fähigkeiten der Betroffenen gerecht wird. Die AWO befürwortet zudem den Einsatz weisungsfrei arbeitender Ombudsleute als Mittler zwischen Bürgerinnen und Bürger und Behörden sowie den Ausbau und die Finanzierung unabhängiger Beratungsstellen, welche die Interessen der betroffenen Menschen vertreten und sich als Kooperationspartner (auf gleicher Augenhöhe) mit den Leistungsträgern begreifen.

•Besondere Anstrengungen sind für die jährlich mehr als 70.000 jungen Erwachsenen erforderlich, die Jahr für Jahr die Schule ohne Abschluss verlassen. Die Aktivitäten am Übergang zwischen Schule und Beruf müssen besser auf die individuellen Bedürfnisse der jungen Menschen zugeschnitten werden. Die Möglichkeiten, über eine zweite Chance Bildungsabschlüsse zu erlangen, müssen ausgeweitet werden! •Regionale Unterschiede (Ost-West, Stadt-Land) müssen bei der Konzeption von Arbeitsmarktinstrumenten berücksichtigt werden. Gleichzeitig müssen insbesondere die Zielgruppen, die auf dem Arbeitsmarkt besonders benachteiligt sind, gezielte, intensive und bedarfsgerechte Unterstützungsangebote erhalten. •Durch einen öffentlich geförderten Arbeitsmarkt sind sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen. Er soll sich an einer ortsüblichen oder tariflichen Entlohnung orientieren und aus Steuermitteln finanziert werden. Altersarmut bekämpfen – heute die Weichen für morgen stellen Laut 3. Nationalen Armuts- und Reichtumsbericht (Mai 2008) entspricht das Armutsrisiko von Seniorinnen und Senioren mit aktuell 13 Prozent genau dem bundesdeutschen Durchschnitt. Am Jahresende 2008 erhielten rund 768.000 Menschen Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Im Vergleich zum Vorjahr erhöhte sich diese Zahl um 35.000 oder 4,8 Prozent. Seit 2005 (rund 439.000) hat sich die Zahl beinahe verdoppelt. Trotz der insgesamt positiven wirtschaftlichen Entwicklung der vergangenen Jahre und Jahrzehnte ist Altersarmut längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Die sozial- und rentenpolitischen Reformen der Vergangenheit waren durch eine Stärkung des Äquivalenzprinzips und eine Absenkung des staatlichen Rentenniveaus bei gleichzeitiger Stärkung der privaten Altersvorsorge gekennzeichnet. Dabei ist die Kaufkraft von Ruheständlern durch Nullrunden bei der Rentenanpassung und steigender Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung spürbar geschwächt. Auch ist die Vermögensverteilung unter den Ruheständlern größer geworden. Zudem leben bereits heute viele von Armut betroffene oder armutsgefährdete Menschen im Alter in zu kleinen Wohnungen. Vor allem bei älteren, allein lebenden Frauen nimmt die Vereinsamung zu.

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Ein zukunftsgerichtetes Politikkonzept gegen Altersarmut darf sich nicht allein auf die Einkommensverhältnisse derzeitiger Altengenerationen reduzieren. Die materielle Absicherung alter Menschen muss genauso sichergestellt werden wie ihre gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe. Hinzu kommen der Erhalt der Gesundheit, ein lebenslanger Zugang zu Bildung und Unterstützung bei Pflegebedürftigkeit. Die Unterschiede zwischen Ost und West, Frauen und Männern sowie die überdurchschnittlich schwierigen Lebenslagen älterer Menschen mit Migrationshintergrund müssen in einem zukunftsgerechten Politikkonzept berücksichtigt werden. Aus Sicht der AWO ist es ein Fehler, dass die Bundesregierung die Einberufung der im Koalitionsvertrag vereinbarten Regierungskommission zum Thema Altersarmut auf 2011 verschoben hat. Zukunftsfähige Sozialpolitik muss jetzt die Weichen stellen, damit Altersarmut und mangelnde soziale Teilhabe nicht zu massiven Problemen werden. Deshalb fordert die AWO: •Rücknahme der geplanten Streichung der staatlichen Zuschüsse zur Rentenversicherung für Hartz-IV-Empfänger und der geplanten Zusatzbeiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung. Beide Maßnahmen erhöhen das Risiko späterer Altersarmut. •Beibehaltung des Solidarprinzips in der Kranken- und Pflegeversicherung und die Weiterentwicklung zu einer Bürgerversicherung unter Ein-

beziehung aller Einkommensarten. Nur durch die sozialstaatliche Absicherung der Risiken des höheren Lebensalters ist Teilhabe trotz Krankheit oder Pflegebedürftigkeit möglich. •Armutsfeste Löhne auf dem Arbeitsmarkt durch die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes und die Stärkung von Tariflöhnen. Der von der AWO maßgeblich auf den Weg gebrachte Branchenmindestlohn in der Pflege ist ein richtiges Signal. •Gezielte Maßnahmen zur Anhebung des durchschnittlichen Zugangsalters in Altersrenten wie den Ausbau von Weiterbildung und Qualifizierung und die gezielte Förderung alternsgerechter Arbeitsplätze. Hier müssen zwingend große Fortschritte erzielt werden, weil sonst die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre inakzeptable Rentenkürzungen und vermehrte Altersarmut bedeuten würde. •Den Ausbau von Leistungen für erwerbsgeminderte Menschen, um ihnen einen sozialverträglichen Übergang vom Berufsleben in die Rente zu ermöglichen. •Den Erhalt des Solidarprinzips in der Rentenversicherung. •Eine Weiterentwicklung der Rentenversicherung zu einer Erwerbstätigenversicherung, die alle Einkommensarten berücksichtigt. •Eine besondere Förderung der zusätzlichen privaten Altersvorsorge im unteren Einkommensbereich, um einen Zusatzschutz zu ermöglichen. •Angesparte private Zusatzrenten sind zumindest teilweise von der Anrechnung auf die Grundsicherung im Alter zu befreien.

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„Zusammenhalt stärken – Ausgrenzung verhindern“

Für seine langjährige Verdienste innerhalb der Arbeiterwohlfahrt wurde Dr. Hans van Els (2.v.r.) im Rahmen der 1. Fachkonferenz mit der Marie-Juchacz-Plakette, der höchsten Auszeichnung der AWO, geehrt. Es gratulierten ihm AWO-Präsident Wilhelm Schmidt (r.), der AWO-Bundesvorsitzende Wolfgang Stadler (l.) und der AWO-Vorsitzendes des Bezirks Niederrhein, Gunder Heimlich (2.v.l.).

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awo.org


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