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Der Löwe hat Hunger … Fondation Beyeler

Fondation Beyeler

Der Löwe hat Hunger …

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10.10.2020 – 28.03.2021

Wassily Kandinsky, Fuga, 1914

Der Löwe hat Hunger … – Sammlungspräsentation

Wie der Löwe, der sich in Henri Rousseaus Gemälde hungrig auf die Antilope wirft, verspüren auch wir in der Fondation Beyeler einen mächtigen Hunger – und zwar auf Kunst: Gerade in so schwierigen Zeiten wie diesen ist es schön, sich daran zu erinnern, wie aufregend und faszinierend Kunst ist. Die neue Sammlungspräsentation zeigt in acht Räumen eine Auswahl legendärer Gemälde und Skulpturen, allesamt Meisterwerke der klassischen Moderne oder der Gegenwartskunst. Endlich sind die ebenso ikonischen wie fragilen Scherenschnitte von Henri Matisse wieder zu sehen, darunter Nu bleu I, dessen Eleganz und Raumpräsenz einen immer wieder in Erstaunen versetzen. Zudem wird die Figurengruppe, die Alberto Giacometti Ende der 1950er-Jahre ursprünglich für die Chase Manhattan Plaza in New York konzipierte, gezeigt. Der Homme qui marche, lange Zeit auf der 100-Franken-Note abgebildet, ist Teil dieses Ensembles. Darüber hinaus ist Louise Bourgeois, die mit Giacometti gut bekannt war und die den Skulpturbegriff erweiterte, indem sie das Unbewusste, wenn nicht sichtbar, so doch erfahrbar machte, ein eigener Raum gewidmet. Weitere Höhepunkte sind die Begegnung von Wassily Kandinsky und Paul Klee, deren aussergewöhnliche Freundschaft zum ersten Mal in der Fondation Beyeler in dieser Form gewürdigt wird. Drei sehr berührende Bilder, die Vincent van Gogh kurz vor seinem Tod malte, werden zusammen ausgestellt und treten in einen Dialog mit Werken von Paul Cézanne und Edward Hopper. Auf den Abstrakten Expressionismus richtet sich der Fokus in einem weiteren Raum, in dem Werke von Willem de Kooning, Clyfford Still und Sam Francis sowie ein grossformatiges Gemälde von Joan Mitchell präsentiert werden. Zum ersten Mal zeigen wir eine der jüngsten Neuerwerbungen in der Sammlung der Fondation Beyeler: die bewegende Klanginstallation Seven Tears von Susan Philipsz, die sich auf die gleichnamige Komposition des Shakespeare-Zeitgenossen John Dowland bezieht und sich mit den – von Tränen begleiteten – Gemütszuständen zwischen grosser Freude und tiefer Trauer beschäftigt. Zu melancholisch? Mitnichten! Melancholie steht meist am Anfang von Kreativität, und die grossartigen Werke, die nun wieder in der Fondation Beyeler zu sehen sind, zeugen davon. ◀

Ulf Küster ist Kurator der Sammlungspräsentation Der Löwe hat Hunger … in der Fondation Beyeler

Joan Mitchell, Untitled, 1957

Joan Mitchell, Untitled, 1957

Ein besonderer Fokus der Sammlungshängung liegt auf den monumentalen Gemälden des Abstrakten Expressionismus. Die 1925 in Chicago geborene Joan Mitchell war eine der wenigen Künstlerinnen, die sich in dieser Zeit selbstbewusst zu behaupten vermochten.

Mitchell studierte von 1944 bis 1947 Malerei am Chicago Art Institute. Nach einem Stipendienaufenthalt in Frankreich zog die junge Malerin 1950 nach New York. Dort suchte sie gezielt Kontakt zu den Künstlern der New York School, die seit Mitte der 1940er-Jahre die Kunstszene mit ihrer neuartigen abstrakten Malerei prägten. Bald war Mitchell als eine der wenigen Frauen ein geschätztes Mitglied der Gruppe Ninth Street Club und gern gesehener Gast bei den abendlichen Treffen in der Cedar Tavern in Greenwich Village. Auf dem Höhepunkt ihrer erfolgreichen New Yorker Schaffensphase, im Jahr 1957, entstand das Gemälde Untitled, das anlässlich der Sammlungspräsentation zu sehen ist. Es vereint auf meisterliche

Leuchtende Farben sind in rhythmischem Pinselduktus aufgetragen und lassen Mitchells Bewunderung für Paul Cézanne und Vincent van Gogh erahnen.

Art die typischen Merkmale von Mitchells eigenständiger Form des Abstrakten Expressionismus. Leuchtende Farben sind in rhythmischem Pinselduktus aufgetragen und lassen Mitchells Bewunderung für Paul Cézanne und Vincent van Gogh erahnen. Kraftvoll ausgeführte Striche und Strichbündel überziehen die Leinwand. Vor dem weissen Resonanzraum scheinen sich die energischen Gesten in dem farblich dunkleren Bereich leicht links des Zentrums der Bildfläche zu verdichten, während sie sich an den äusseren Rändern durchlässiger gestalten. Mitchell räumte dem Zufall und der Dynamik in ihrer individuellen Handschrift viel Raum ein, zugleich verleihen zahlreiche horizontale und vertikale Linien der Komposition Stabilität. Für ihre Werke fand Mitchell Inspiration in ihren Erinnerungen an Landschaft und deren atmosphärischem Eindruck. In ihren Gemälden übersetzte sie diese mit grosser Intensität in gestische Malerei. ◀

Katharina Rüppell

Susan Philipsz erkundet die skulpturalen Eigenschaften von Klängen, die sie jeweils in ein Wechselspiel mit dem Raum oder der gegebenen Architektur setzt.

Susan Philipsz, Seven Tears, 2016

Die schottische Künstlerin Susan Philipsz (*1965) erkundet die skulpturalen Eigenschaften von Klängen, die sie jeweils in ein Wechselspiel mit dem Raum oder der gegebenen Architektur treten lässt. Als Ausgangspunkte ihrer Soundinstallationen dienen Philipsz unter anderem Popsongs oder neuzeitliche Choräle, wie auch Tonaufnahmen von Meeresschnecken oder im Krieg beschädigten Blasinstrumenten. Ausgehend von intensiven Recherchearbeiten, eröffnet Susan Philipsz Bezüge zu bestimmten historischen oder literarischen Gegebenheiten. Das Werk Seven Tears (2016) aus der Sammlung Fondation Beyeler, besteht aus sieben synchronisierten Plattenspielern auf unterschiedlich hohen Sockeln. Darauf drehen sich sieben Vinylschallplatten, die je einen Ton wiedergeben. Die sieben hörbaren Noten gehen auf den englischen Komponisten John Dowland zurück, der sich mit dem Musikstück «Lachrimae (Seaven Teares)» von 1604 einer musikalischen Interpretation der Melancholie widmete, die auf sieben Variationen des Motivs einer fallenden Träne basiert. In der Installation von Philipsz werden die Klänge je

Susan Philipsz, Seven Tears, 2016

doch nicht mit Bratschen und Lauten erzeugt, wie damals von Dowland vorgesehen, sondern mit singenden Gläsern, deren spezifische Füllstände die sieben Tonhöhen bestimmen und die mit einem auf dem Rand kreisenden Finger zum Klingen gebracht werden. Ebendiese Bewegung spiegelt sich in den durchsichtigen Schallplatten, die sich unentwegt im Kreis drehen: Seven Tears lässt sieben eigentümlich vibrierende Töne zwischen Harmonie und Dissonanz vernehmen. ◀

Marlene Bürgi

Artist Talk:

Donnerstag, 29. Oktober 2020, 18.30 h, Fondation Beyeler Artist Talk mit Susan Philipsz. Die Künstlerin spricht mit Thomas D. Trummer, Direktor des Kunsthaus Bregenz, über ihr Werk. Artist Talks ist ein Programm der Fondation Beyeler und von UBS. Das Gespräch findet in englischer Sprache statt. Die Veranstaltung ist im Museumseintritt inbegriffen. Tickets sind über fondationbeyeler.ch/tickets erhältlich.

Roni Horn, You are the Weather, 1994–1996 (Details)

Fokus Ausstellung – Roni Horn, You are the Weather, 1994–1996

Diesen Herbst präsentiert die Fondation Beyeler das Werk You are the Weather (1994–1996) der amerikanischen Künstlerin Roni Horn (*1955). In den 100 Porträts einer jungen Frau begegnet man immer wieder dem gleichen Gesicht im Wasser einer isländischen Thermalquelle. Seit 1975 reist die Künstlerin regelmässig auf die nordische Vulkaninsel, deren einzigartige Landschaft für sie bis heute eine wichtige Quelle der Inspiration ist. You are the Weather zeigt nicht nur, wie wandelbar der Mensch ist, sondern auch, wie sich die Unbeständigkeit des Wetters in den 100 subtil verschiedenen Gesichtsregungen spiegelt. ◀

«Wir wollen nicht die Natur nachahmen. Wir wollen nicht abbilden, wir wollen bilden. Wir wollen bilden, wie die Pflanze ihre Frucht bildet, und nicht abbilden.»

Hans Arp

«So schien sich die Wahrheit meiner Figuren, anstatt oberflächlich zu wirken, von innen nach aussen, wie das Leben selbst, zu entfalten.»

Auguste Rodin

Vorschau

Rodin / Arp Schöpfung und Wandlung der modernen Skulptur

13.12.2020 – 16.05.2021

Erstmals in einer Museumsausstellung trifft im Dialog zwischen Auguste Rodin (1840–1917) und Hans Arp (1886–1966) das bahnbrechende Schaffen des grossen Erneuerers der Bildhauerei des späten 19. Jahrhunderts auf das einflussreiche Werk eines Protagonisten der abstrakten Skulptur des 20. Jahrhunderts. Beide Künstler zeichnet eine einzigartige künstlerische Innovationskraft und Experimentierfreude aus. Sie schufen Werke, die ihre Zeit stark geprägt haben und bis heute aktuell geblieben sind.

Als skulpturale Meilensteine veranschaulichen die Schöpfungen Rodins und Arps auf eindrückliche und exemplarische Weise grundlegende Aspekte in der Entwicklung der modernen Bildhauerei. So führte Rodin umwälzende Ideen und neue künstlerische Möglichkeiten in die Skulptur ein, die von Arp später aufgegriffen und in seinen biomorphen Formen auf neuartige Weise weiterentwickelt und neu interpretiert oder aber kontrastiert wurden. Obgleich bis heute nicht gesichert ist, dass sich Rodin und Arp jemals tatsächlich persönlich kennengelernt haben, weisen ihre Werke zahlreiche künstlerische Verwandtschaften und Bezugspunkte, aber auch Differenzen auf, welche die Gegenüberstellung ihrer unverkennbaren Schöpfungen zu einer besonders aufschlussreichen visuellen Erfahrung machen.

Mit rund 110 Werken aus internationalen Museen und Privatsammlungen ist Rodin / Arp eine der bislang umfangreichsten Skulpturenausstellungen der Fondation Beyeler. Wenn der Schwerpunkt der Ausstellung auch auf Rodins und Arps Skulpturen liegt (dazu gehört auch eine monumentale Aussenskulptur im Park des Museums), werden darüber hinaus auch Reliefs von Arp sowie Zeichnungen und Collagen beider Künstler zu sehen sein. Die Ausstellung versammelt ikonische Werke, so etwa Rodins Der Denker und Der Kuss sowie Arps Ptolemäus und Torso. Zugleich lassen aber auch weniger bekannte Arbeiten beider Künstler deren künstlerische Beziehungen umso anschaulicher werden.

Die Ausstellung entsteht in Zusammenarbeit mit dem Arp Museum Bahnhof Rolandseck und wird vom Musée Rodin in Paris massgeblich unterstützt.

Mit Bezug auf die Ausstellung Rodin / Arp wird die berühmte Choreographin Anne Teresa De Keersmaeker, eine der einflussreichsten Tanzschaffenden der Gegenwart, eine neue Tanzperformance zeigen, die zwischen dem 29. Januar und 14. Februar 2021 erstmals in der Fondation Beyeler zu sehen sein wird. ◀

Raphaël Bouvier