Tage und Werke | Illustrated calendar series in Flemish manuscripts 1270 – 1520 | Cat. 87

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LXXXVII

P. D.

8. April 2018

Verzeih erst Du mir daß ich noch am Leben, Und ich verzeih Dir daß Du starbst.

Tage und Werke

Illustrierte Kalendarien in Manuskripten aus Flandern

1270 – 1520

Mit unbekannten Beispielen vom Meister des Dresdner Gebetbuchs, Simon Bening und dem Meister der Davidsszenen im Breviarium Grimani sowie einem Anhang

lxxxvii Heribert Tenschert 2021

Heribert Tenschert

Antiquariat Bibermühle AG

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Verfasser der Einführung: Prof. Dr. Eberhard König

Katalog: Prof. Dr. Eberhard König, Dr. h. c. Heribert Tenschert, Mitarbeit Dr. Christine Seidel

Gestaltung, Redaktion, Lektorat: Heribert Tenschert, Maria Danelius

Photos, Einbandgestaltung: Viola Hediger, Heribert Tenschert

Satz und PrePress: ludwig:media GmbH in Zell am See

Druck und Bindung: Passavia GmbH & Co. KG, Passau

ISBN: 978-3-906069-37-1

Es ist das Verhängnis einer auf Steigerung oder auch nur unschuldiges Wachstum zielenden Haltung, daß das Immermehr eine Spottgeburt, eine uns narrende Größe bleiben muß. So, vor allem, beim Sammeln.

Wenn es gelungen war, an fünfhundert Jahre alten Stundenbuchdrucken mittlerweile 420 zusammenzutragen, erscheint es dann nicht erbärmlich, mit gerade einmal neun nicht durchweg kompletten Manuskripten hervorzutreten, deren einigendes Band streng genommen die Illustration eines Accessoires ist, nämlich des Kalenders? Nein. Denn es erwächst daraus eine Welt in der Höhlung unserer Hand, etwas, dem ein halbes Millennium nichts anhaben konnte, mit je eigenen Stationen, Verläufen und Epiphanien.

Sofern man zur Überschätzung des eigenen Tuns neigte, könnte man nämlich argumentieren, daß ein Bogen der einschlägigen Phänomene, der sich vom 13. bis ins frühe 16. Jahrhundert schlagen läßt, genügend Binnenspannung in jeder Fiber auf sich versammelt, daß nicht nur diffuse Ahnung auf uns überfließt, sondern eine eigene Weise von intuitivem Verständnis.

Wenn man in unserer Nr. 1, dem Brügger Psalter von 1270, die im Blattgold ihrer Astralnimben treibenden Gestalten betrachtet, entsteht eine bei allem Basiswissen nicht erzielbare Vertrautheit mit Glaubensund Lebensverhältnissen vor einem Dreiviertel-Jahrtausend, die sich ganz unmittelbar, von keinem Kommentar zerspalten, zu uns herabläßt.

Ihren Gesten entspringt ein „Tanz zur Musik der Zeit“. Der synkopische Pulsschlag ihrer Umrisse, Ausweis schöpferischer Bereitschaft in einem sonst ehern festgelegten Medium, ist so bei keinem anderen uns bekannten Manuskript zur Leitidee erhoben. Auch daß die Handschrift selbst, mit ihren zehn ganzseitigen Bildern, die Ausnahmestellung des Kalenders noch potenziert, ist nur würdig und recht.

Nr. 2, das Stundenbuch vom „Meister des Dresdner Gebetbuchs“ ist, obzwar Fragment, doch unter keiner anderen Bezeichnung zu fassen als der einer Sensation. Nicht nur ist es das einzige Manuskript dieses großen Künstlers außer seinem notnamengebenden Stück, das mit ganzseitigen Darstellungen im Kalender aufwartet, es wächst darüber hinaus in den Stand der Einzigartigkeit, weil das Dresdner Buch im Wesentlichen durch Löschwasser zerstört ist, „dank“ der britischen Bombardierung Dresdens im Februar 1945 – man blättert die Abbildungen in einer fachfremden Publikation nur mit Herzbeklemmung durch (Herr Th. Kren, weiland Getty-Museum, unterschlägt dieses eminente Bindeglied des 15. Jahrhunderts übrigens in seinem Kommentar zum Münchner Bening-Kalender schlankweg, wenn er behauptet, nach den Très Riches Heures – vor 1416 – gebe es bis zum Breviarium Grimani – vor 1520 – kein Manuskript mit ganzseitigen Kalenderminiaturen).

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Daß, im Gegensatz sogar zu Simon Bening, der Dresdner Meister in seinen Einzelerfindungen gerade durch eine denkwürdige Bereitschaft zur Variation brilliert, stellen unsere Vergleichspaarungen unter einhelligen Beweis.

Es folgen mit den Nummern 3, 4, 5 des Katalogs die üblichen konventionellen Errungenschaften auf diesem Gebiet, die bei genauerem Hinsehen aber von anderen Qualitäten ausgeglichen werden. Nummer 3 durch den außerordentlichen Einband des Buchbinders der Maria von Medici, Macé Ruette, sowie die fulminante Provenienz bis zuletzt. Nummer 4 hält sich in den großen Miniaturen vom „Meister der Gebetbücher um 1500“ schadlos, außerdem durch ikonologischen Eigensinn (linker und rechter Fuß Christi). Nummer 5 schließlich distinguiert sich durch die Signatur eines Schreibers, der einige der größten Handschriften der Zeit vollendet hat, Hanskin de Bomalia; der Jubel der Farben im Staccato der Bordüren ist jedes Verweilen wert.

Wir nähern uns der letzten, sengenden Flächenglut der flämischen Kalendarien, angefacht und zur Lohe gebracht durch den „Meister der Davidsszenen im Breviarium Grimani“ (für mich Gerart David) und Simon Bening. Dieser verantwortet unsere Nummern 6 und 7; es genüge hier die Bemerkung, daß die erste, bisher gänzlich unbekannt, einen vollständigen, in seiner Winzigkeit herrlich ausagierten Kalender und viele kleinere Miniaturen von Bening selbst aufweist, während die ganzseitigen Bilder vom flämischen Talbot-Meister  stammen, der schon in unserer Nummer 5 führend tätig war; vielleicht wäre aus diesen Kombinationen einiges Neue zu den Künstlerfamilien-, Atelier- und Gildenverhältnissen der Zeit um 1500 zu erschließen. Nummer 7, wie die folgende, Opfer von jenen Serienkriminellen, die kaum eine schöne Handschrift dieser Künstler vor dem Ausweiden verschonten, richtet ihren vollständigen Kalender-Zyklus als Haute Cuisine für den Blick an, wobei der Binnenraum mit der Schrift in einen Aggregatszustand schmilzt, der den organischen Übergang zu den Randgemälden ebnet. Ihre malerische Qualität erweist sich im Vergleich mit dem meisten von Simon Geleisteten, dem da Costa-Stundenbuch der Morgan Library oder den bekannten Schöpfungen in London und Brüssel (alle ganzseitig) als ebenbürtig, weil in der Essenz jedes Sujets von der gleichen stürmischen Zugewandtheit durchdrungen.

Der Höhepunkt dieses bisher schon nicht unambitionierten Katalogs ist erreicht in unserer Nummer 8. Was hier der Meister der Davidsszenen an Daseinshingerissenheit, Farbengeläut und Anrufung der Monatstätigkeiten in 22 Bildwerke packt, ist unerhört, schön wie der Herzschlag der Ewigkeit, selbst wenn es noch einen vergleichbaren Zyklus von seiner Hand gibt, den des hochberühmten, aber autoptisch so gut wie unbekannten Stundenbuchs in Hermannstadt (Sibiu).

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Man muss allerdings feststellen – und wieder zeugen unsere Vergleichsabbildungen davon – daß gerade dessen Kalender durch Feuchtigkeitseinwirkung an Farbsubstanz sichtlich verloren hat, vor allem das kostbare Blau ist in den Eintragungen nur mehr spurenhaft erkennbar.

Um die nicht zu erlotende Bedeutung dieses unseres „Durrieu“-Kalenders mindestens anzudeuten, diene ein Vergleich. In seinen über alles Lob erhabenen „Kalenderminiaturen der Stundenbücher“, dem gelehrtesten, materialreichsten und in der Abbildungsvielfalt instruktivsten Standardwerk zum ganzen Gebiet, führt Wilhelm Hansen fünf Manuskripte als die mit weitem Abstand in Schönheit und Bedeutung herausragenden an, es sind:

1. Die Très Riches Heures des Duc de Berry von den Brüdern Limburg und Jean Colombe, in Chantilly.

2. Die Grandes Heures der Anne de Bretagne von Jean Bourdichon in Paris, Bibliothèque nationale de France.

3. Das Breviarium Grimani von Horenbout, dem Davidsmeister und Simon Bening, in Venedig.

4. Der Kalender des „München-Montserrat“-Stundenbuchs von Bening; und

5. das erwähnte Brukenthal-Stundenbuch in Sibiu/Hermannstadt, ein Staatsschatz Rumäniens, vom Davidmeister und mindestens zwei weiteren Händen, eine davon marmionesk, die andere merklich verwildert und von dezidiert schwächerer Qualität. Sie allein sind durch Abbildungen zu allen Monaten bei Hansen gewürdigt und verweisen prima vista die anderen Manuskripte auf die hinteren Ränge. Man muß sich vergegenwärtigen, daß das Kalendarium unserer Nummer 8 mit einer dieser fünf Primzahlen der Kunst nicht nur konkurrieren kann, sondern sie sogar überflügelt, weil die mindere Erhaltung dort nicht zu ignorieren ist. In der Tat haben wir in den zwei Dutzend Verwirklichungen unseres Kalendariums ebensoviele Gemälde vor uns, die in der Vergrößerung auf 60 cm Höhe (!), die ich aus einer übermütigen Laune heraus drucken ließ, den Vergleich mit kaum einem Altmeister-Tafelwerk der Zeit zu scheuen brauchen, von der berückenden Suggestivität der Sujets zu schweigen. Zwar hat auch hier die Niedertracht der Messerhelden dafür gesorgt, daß die ganzseitigen Miniaturen fehlen (seit wann?), es tut der leuchtenden Spur des Irdischen zu Beginn keinen Abbruch. Und noch ein weiteres Manuskript in diesem Katalog hat der Davidmeister verantwortet, Nummer 9, das Stundenbuch einer jungen Venezianerin, Orsa Pesaro. Darüber müßte man ein Buch schreiben, wir belassen es aber bei dem tönenden Verstummen im Katalogeintrag. Daß, trotz der Vollkommenheit seiner ersten Miniaturen, ein anderes Moment uns sprachlos macht, bewirkt der Triumphzug von 1098 (eintausendundachtundneunzig) Randminiaturen zu allen Textseiten, in denen Volière, Terrarium, Ziergarten und Walpurgisnacht die einmütigste Gesellschaft pflegen.

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Der Blick auf diese Motive, von denen so gut wie keines sklavisch wiederholt wird, löst ein Gefühl der Schwachheit aus, das sich mit eingehender Musterung bis zu einer Ohnmacht des Begreifens steigert. Ein Wort der Begründung zum Anhang. Während wir generell Einzelminiaturen als Erscheinung und Angebot kategorisch ablehnen, war diese Serie – immerhin zwei Drittel des gesamten Bild-Bestands in einem Stundenbuch – als Parade gänzlich unbekannter Schöpfungen unseres Haupt-Akteurs auf Anhieb von so gebieterischer Überzeugung, daß wir sie vor der Zersplitterung durch die noch heute tätigen Schädlinge bewahren mußten und jetzt im Anschluß an zwei Meisterstücke dieses anbetungswürdigen Malers, obschon ohne Kalender, zum ersten Mal zugeordnet präsentieren: vielleicht ergibt sich dadurch die Chance, sie einem der geschändeten Manuskripte unseres Favoriten zurückzugeben.

Zumal dann rasch die Ahnung hinzutrat, daß mit diesen acht Bildern ein Gewinn für die Forschung zum Meister allgemein einzubringen war, da mindestens sechs davon die offensichtlich einzig verbliebenen Zeugnisse für die heute nicht mehr vorhandenen entsprechenden Miniaturen in seinem Hauptwerk (neben Sibiu) darstellen, Ms. Douce 112 der Bodleian Library – siehe den merkwürdig distanzierten Eintrag im Katalog Los Angeles/London von 2003, S. 441 f. Da die beiden als genuine Tafelmalerei anzusehenden ganzseitigen Werke der Madonna mit Kind sowie des Pfingstgeschehens sich in unserer Reihe nahezu identisch (letztere seitenverkehrt) wiederfinden, ist es gerechtfertigt, in den fünf Szenen zum Marien- und der Lazaruserweckung zum Toten-Offiz die kleinen aber „wie aus dem Gesicht geschnittenen“ Geschwister zu den Phantomen im sogenannten Stundenbuch der Maria von Medici in Oxford zu sehen. Hätten wir uns demnach die Chance entgehen lassen sollen, einen dritten – und wie evokativen – Bilderstrauß des Davidmeisters aufzunehmen und den unverhofften Rückgewinn zu feiern durch seine Rettung?

Bibermühle 2021, im Lockdown. Hinc illae lacrimae.

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H. T.

Inhaltsverzeichnis

S. 12

Noch einmal vom Psalter zum Stundenbuch

S. 14

Ein Buch aus der Bibel als Gebetbuch

Psalterien und ihre liturgische Nutzung

Ein Wandel der Leserschaft vom Psalter hin zum Stundenbuch

Christliche Bilder als Anleitung zur Meditation bei jüdischen Texten

Ein spiritueller und stilistischer Wandel hin zum Stundenbuch?

S. 22

Ein bedeutender Brügger Psalter aus dem XIII . Jahrhundert

Der Aufbau des Buchs – Zur Herkunft aus Brügge

Zur Entstehungszeit des Buches

Zur Herkunft des Buchs aus dem Besitz der Familie Restwolde

S. 31

Die künstlerische Eigenart des Restwolde-Psalters

Die drei Arten von Bebilderung

Textlose Miniaturen mit dem Leben Jesu und Heiligen Verkündigung, Kindheitsgeschichte und Taufe im Brügger Kontext

Die Beatus-Initiale mit den zwei Szenen aus der Osternacht

Die fünf Vollbilder zu Psalterteilungen

Die beiden Vollbilder mit Heiligen der Bettelorden Bild-Initialen im Psalter Ein kurzes Resümee zum Brügger Restwolde-Psalter

Flämische Monatsbilder vom XIII. zum XVI. Jahrhundert

S. 57

Das Leben auf Erden im Blick auf das Jenseits

Ein Blick zurück auf Anfänge

Kunsthistorische Forschung zu Kalenderbildern in Gebetbüchern

Kalender für den Jahreslauf und Gebete für Wochentage und Tagesstunden

Lebendige Schilderung des Jahreslaufs: eine flämische Errungenschaft?

S. 67

Das Layout für den Kalender und der Platz für die Bilder

Zur Sonderstellung der Kalendarien in Gebetbüchern

Das Buchstabenpaar KL als Bildfeld

S. 72

Im Textfeld schwimmende Monatsbilder in Psalterien des XIII . Jahrhunderts

Der Restwolde-Psalter: eine Brügger Arbeit des XIII . Jahrhunderts – Nr. 1

Die Monatsbilder des Restwolde-Psalters im zeitgenössischen Kontext

S. 83

Monatsbilder im Textfeld von Stundenbüchern des XV. Jahrhunderts

Kopfbilder als Norm im Textblock, aber als Ausnahme im Kalender

Kopfbilder in Kalendern flämischer Stundenbücher

S. 95

Textlose Vollbilder für Landschaften des Dresdner Gebetbuchmeisters

Vorstufen aus der Berry-Zeit für Vollbilder im Kalender

Ein Irrläufer aus dem Umfeld von Nicolaus Spierinc

Die Kalenderbilder im Dresdner Gebetbuch

Ein unbekannter Kalender vom Dresdner Gebetbuchmeister – Nr. 2

Die Monatsbilder in unserer Nr. 2

S. 113

Tierkreiszeichen und Monatsbilder in Bordüren-Medaillons

Ein zweiter Kalender aus dem Kreis des Dresdner Gebetbuchmeisters – Nr. 3

S. 117

Bildstreifen für die Monatsbilder in Bordüren

Noch unter Einfluß des Dresdner Gebetbuchmeisters – Nr. 4

Ein Kalender in einem Stundenbuch von Hanskin de Bomalia – Nr. 5

Kalenderbilder von Simon Bening in einem Stundenbuch-Fragment – Nr. 6

S. 130

Panoramabordüren in Kalendern des XV. und XVI . Jahrhunderts

Panorama-Bordüren aus Frankreich

Die frühesten Kalendarien mit Panoramabordüren

Brillante Monatsbilder Simon Benings in Vollbordüren – Nr. 7

Kalenderbilder vom Davidmeister im Durrieu-Stundenbuch – Nr. 8

Der Kalender im Stundenbuch für Orsa Pesaro – Nr. 9

Eine Spur zurück in die Zeit kurz vor 1500

S. 187

Am Ende eines langen Weges

Katalog der Handschriften

S. 189

1 – Der Restwolde-Psalter, ein Brügger Pracht-Psalterium mit zehn ganzseitigen Miniaturen und einem außergewöhnlichen Kalender aus der Zeit um 1270

S. 221

2 – Gänzlich unbekanntes Stundenbuch mit ganzseitigen Kalender-Miniaturen vom Meister des Dresdner Gebetbuchs aus der Zeit um 1480

S. 255

3 – Das Charron de Menars-Stundenbuch in einem französischen Mosaik-Einband für Maria von Medici

S. 275

4 – Ein Stundenbuch vom Meister der Gebetbücher um 1500, der Kalender vom Meister des Hildesheimer Codex rotundus

S. 307

5 – Das vom Schreiber Hanskin de Bomalia signierte Stundenbuch, überreich illuminiert vom flämischen Meister des Sir George Talbot

S. 337

6 – Gänzlich unbekanntes Miniatur-Stundenbuch mit hinreißendem Kalender und Kleinbildern von Simon Bening

S. 369

7 – Ein Stundenbuch mit einem herrlichen Kalender von Simon Bening

S. 389

8 – Das Stundenbuch aus der Sammlung Durrieu mit 22 genialen Kalenderbildern vom Meister der Davidsszenen im Breviarium Grimani

S. 429

9 – Das Stundenbuch der Orsa Pesaro: Ein Werk vom Meister der Davidsszenen im Breviarium Grimani, mit 1000 Einzelmotiven auf allen Rändern der Textseiten

S. 467

Anhang – Serie von acht bedeutenden Miniaturen aus einem Stundenbuch vom Meister der Davidsszenen, einem kleineren Geschwister von Douce 112

Noch einmal vom Psalter zum Stundenbuch

Der wichtigste Vorläufer für das spätmittelalterliche Stundenbuch war der Psalter; und in dieser Form des Gebetbuchs sind wesentliche Elemente vorbereitet, die das Stundenbuch bestimmen sollten:1 Text und Bild stehen nur sehr selten in Einklang miteinander; denn der Text wurde nicht wie ein fortlaufendes Buch gelesen, sondern in Gebetseinheiten aufgeteilt; meist wurden diese durch Bildmotive markiert, um die Orientierung im Buch zu erleichtern. Nur selten hat man versucht, den Gedankengang der einzelnen Psalmen in einzelnen Stationen zu verbildlichen; das geschah im Utrecht-Psalter aus karolingischer Zeit in 166 Bildstreifen, die aus mehreren Szenen zusammengesetzt sind, und den eindrucksvollen wohl in England entstandenen Nachfolgehandschriften. 2 Davon unabhängige Beispiele aus dem XII . und XIII . Jahrhundert, die jeden Psalm bebildern, sind sehr selten.3 Auch eine Bebilderung, die von den in den Rubriken geschilderten Motiven der Psalmisten ausging, blieb Ausnahme. 4

Mit Bebilderung von Psalterien, meist ganz und gar irreführend Psalterillustration genannt, weil die meisten Darstellungen gar nicht auf den Text eingehen, geschweige denn ihn illustrieren, hat man sich in ungezählten Publikationen befaßt; dabei galt dem erhaltenen Bestand aus dem XIII . Jahrhundert immer wieder hohe Aufmerksamkeit. Günther Haseloff hat mit seinen Tabellen beeindruckt; Alison Stones hat es ihm nachgemacht; beide beschränken sich aber auf die Bilder zum Text und gehen nicht auf die Kalendermotive ein.5 Haseloffs Anregung sind auch Studien zu beschränkterem Material mit entsprechenden Tabellen gefolgt: Judith Oliver hat die Initialen zu den Psalterteilungen für Lüttich publiziert, die Monatsbilder aber ebenso wenig erfaßt. 6 Kerstin Carlvant hat hingegen in ihrem Buch von 2012 das bemerkenswerte, aber beschränkte Material aus Brügge, Gent und Flandern nahsichtiger behandeln können und neben den Initialen auch die Vollbilder und sogar die Kalender dokumentiert.7

1 Siehe Bd. 22 unserer Katalogreihe Illuminationen: Vom Psalter zum Stundenbuch von 2015.

2 Utrecht, UB , Ms. 32: Koert van Horst, Utrecht-Psalter Im Originalformat der Handschrift 32 aus dem Besitz der Bibliotheek der Rijksuniversiteit te Utrecht, Faksimile und Kommentarband, Graz 1982–1984; ders. (Hrsg.), The Utrecht Psalter in medieval art: picturing the psalms of David, zur Ausst. Het Utrecht Psalter. Middeleeuwse meesterwerken rond een beroemd handschrift, Utrecht, Museum Catharijneconvent, 1996.

3 Haseloff 1936, S. 33–40, hat immerhin fünf Psalterien und die Bible moralisée, lat. 11560 der Pariser Nationalbibliothek zusammengestellt.

4 In den Très Riches Heures des Herzogs von Berry mit Miniaturen der Limburgs aus den Jahren vor 1416 sind die einzelnen Psalmen mit je einem Bild eröffnet, das sich nach Texten richtet, die bei der Fertigstellung durch Jean Colombe um 1485 nicht mehr vollständig zur Verfügung standen.

5 Haseloff 1936, S. 99–123; Stones II ,2, 2014, 210–229.

6 Oliver 1988, Bd. I, S. 54–61.

7 Carlvant 2012, S. 295–341. Stones zitiert zwei Jahre nach Erscheinen dieses gewichtigen Buchs nur die 1978 vorgelegte und nicht als Buch erschienene Dissertation der Autorin, ohne recht auf deren Anregungen einzugehen.

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Schon 2015 haben wir im 22. Band unserer Serie Illuminationen mit Psalter und Stundenbuch die beiden wichtigsten Typen des lateinischen Gebetbuchs im Mittelalter einander gegenübergestellt. Für den nun vorgelegten Band, der zunächst allein den Kalendern in flämischen Stundenbüchern des XV. und XVI . Jahrhunderts gewidmet sein sollte, ist ein Psalter aus Brügge hinzugekommen, der eigentlich eine Monographie für sich verdient hätte, beeindruckt er doch mit seinem Kalender ebenso stark wie mit den Bildern zum Textblock. Dieses bemerkenswerte Manuskript führt wieder zur Gegenüberstellung der beiden Handschriftentypen.

Da nun nicht alle, die dieses neue Buch in die Hand nehmen, auch unsere ältere Publikation kennen dürften, ist eine Rückschau auf wesentliche Aspekte angebracht, in denen sich Psalterien vom spätmittelalterlichen Stundenbuch unterscheiden. Zur Einführung scheuen wir uns nicht, zusammenfassend die schon geleistete Analyse aufzugreifen und die wichtigsten Gedanken dazu hier knapp zu wiederholen.

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Unser Katalog 76, 1: Psalter der Isabelle de Lens

Ein Buch aus der Bibel als Gebetbuch

Psalterien wie Stundenbücher gehörten nicht in Bibliotheken; deshalb wurden sie oft im fürstlichen Haushalt von den übrigen Handschriften getrennt inventarisiert. Sie begleiteten ihre Besitzerinnen und Besitzer zum täglichen Gebet vor allem der Matutin und der Vesper sowie beim Kirchgang und wurden auch zum Totengedenken aufgeschlagen. Man hat Psalterien nicht wie ein Buch durchgelesen, sondern die Psalmen auf Tage und Wochen verteilt gebetet, um Freude über Gott oder Verzweiflung über die eigene Sündigkeit auszudrücken. Ein wichtiges Ziel dabei war regelmäßige Wiederholung des ganzen Textes vom Anfang zum Ende in biblischer Reihenfolge, obwohl kein spezifischer inhaltlicher Zusammenhang vom 1. zum 150. Psalm führt.

Psalterien und ihre liturgische Nutzung

Die Herauslösung der 150 Psalmen aus dem biblischen Zusammenhang hat als frommer Brauch wie als Buchtyp im Christentum eine sehr alte Tradition, die Abbé Victor Leroquais schon vor Generationen in der Einführung zu seinem Katalog der Bestände in öffentlichen Bibliotheken Frankreichs gültig analysiert hat. 8 Wegen des Textumfangs, der ein würdiges Beten innerhalb eines Tages ausschloß, hat man die Psalmen in ihrer biblischen Abfolge schon früh in Zeitabschnitte eingeteilt. Solche Psalterteilung verlangte nach einer Gliederung, deren einfachste eine Dreiteilung mit Zäsuren vor Ps. 51 und 101 war.

Komplizierter wurde es, wenn lateinische Christen den aus der hebräischen Bibel übernommenen Psalter auf die Wochentage und innerhalb der Tage auf Gebetsstunden verteilten. Ordnungssysteme gerieten miteinander in Konflikt, weil sich eine Scheidung in zwei Wochenzyklen, jeweils von Sonntag an, für verschiedene Stunden des Tages durchsetzen sollte. In diesem System las man die ersten 108 Psalmen in den Nokturnen der Matutin, die übrigen dann in einer zweiten Tagesfolge zur Vesper, während sich zur Komplet die letzten drei Psalmen empfahlen.9 Mithin mußte man das Buch täglich an mehreren unterschiedlichen Stellen aufschlagen.

Auf durchgehende Rubrizierung oder wenigstens gliedernde Angaben wurde in den meisten Handschriften verzichtet. Als Merkzeichen für die Benutzung dienten meist Initialen in hierarchischer Gliederung, unabhängig davon, ob sie historisiert, also bebildert waren oder nicht. Durch besonders große Zierbuchstaben hob man den Beginn der Matutin zu jedem der sieben Wochentage hervor; bei der Vesper

8 L eroquais 1940–41, Bd. I: Introduction.

9 Zwar bietet der Psalter so gut wie immer die 150 Psalmen mehr oder weniger korrekt in der biblischen Reihenfolge. Gegen sie konnte auch empfindlich verstoßen werden, wenn man Abschnitte aus dem besonders textreichen Psalm 118 für Kurztexte zu Terz, Sext und Non nutzte und diesen Textblock vor Psalm 109 stellte.

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wurde jedoch nur der Sonntag entsprechend betont, während für die sechs Werktage bescheidenere Initialen genügten. Wenn die Dreiteilung und die acht Incipits der Wochenzyklen verbunden wurden, waren zehn große Initialen nötig; denn mit dem 1. Psalm setzte ja die Sonntags-Matutin ebenso wie der Beginn des ersten Drittels des gesamten Texts ein.

Die weite Verbreitung des Psalters als eines eigenständigen Buchs bezeugt der Umstand, daß manche Bibelhandschrift auch ohne die Psalmen auskommt. Im kleineren Format für sich gebunden, waren die Psalmen ja besser zur Hand als in einer zweibändigen Vulgata versteckt. Welch dominierende Rolle die Gliederung der Psalmen hatte, beweist andererseits die Sitte, diese Einteilung auch in der Vollbibel – in Handschriften ebenso wie in allen Frühdrucken – zu verwenden.

Um Psalterien reicher mit Gebeten auszustatten, wurden größere Textgruppen angeschlossen: Aus anderen Bibelbüchern des Alten und Neuen Testaments fügte man Cantica, also hymnische Passagen, hinzu. So gut wie immer fand ein wichtiger nachbiblischer Text, das Te deum laudamus, seinen Platz; diesen Hymnus soll der Kirchenvater Ambrosius bei der Taufe des Augustinus gemeinsam mit dem Täufling angestimmt haben. Auch das Glaubensbekenntnis von Nicäa findet sich in der Form des Symbolum Athanasianum in vielen Psalterien.

Das nach Wochentagen gegliederte Psalterium feriatum konnte noch durch Antiphonen, Versikel und Responsorien bereichert werden. Auch bot sich an, Gebetstexte aus nachbiblischen Zeiten hinzuzufügen; sie mochten ganze Zyklen bilden und sich schließlich derartig verselbständigen, daß zunächst das Toten-Offizium hinzukam. In die Buchdeckel eines Psalters konnte sich schließlich auch ein vollständiges Stundenbuch einnisten, zunächst nur mit den Incipits der darin zu rezitierenden Psalmen, die in manchen Exemplaren in extenso wiederholt wurden, so daß das Psalter-Stundenbuch entstand. Diesem Buchtyp für Laien entsprachen Breviere für Geistliche, die meist auch die Psalmen vollständig enthalten.10

Ihres kompositen Charakters wegen hat man Gebetbücher nur selten in einheitlicher Lagenfolge abgeschrieben. Mit Zäsuren konnte man einzelne Textblöcke abgrenzen, um die Arbeit aufzuteilen. Aus ihnen ging eine optisch wahrnehmbare Gliederung hervor. Seit man sich bei der Gestaltung christlicher Bücher auf Bebilderung einließ, erhielten auch Psalterien Bildelemente. Der im Grunde kaum lösbaren Aufgabe, den Text der einzelnen Psalmen zu veranschaulichen, hat man sich in frühen Zeiten mit besonderer Sorgfalt gestellt. Dafür stehen die komplexen Bildfolgen im karolingischen Utrecht-Psalter aus Reims und in seinen Nachfolge-

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10 Die repräsentativste Übersicht bietet Leroquais 1934. Siehe auch Band 21 unserer Reihe Illuminationen: König, Das Brevier des Dichters Octovien de St.-Gelais, 2014.

Handschriften vor allem aus England.11 Im späteren Mittelalter ist man kaum darauf zurückgekommen.12

Vom Text losgelöste Bildfolgen mochten christliche Inhalte aus dem Neuen Testament und Marienlegenden vor Augen führen, die zwar keinen Bezug zum Text haben, aber bei der Rezitation der alttestamentlichen Dichtung meditiert werden sollten. Textunabhängige Bilder aus dem Alten Testament sind ebenfalls möglich.13 Das Stundenbuch übertrifft der Psalter in der thematischen Vielfalt seiner Bebilderung, die nur in den seltenen Beispielen von Umsetzung des Texts in kleinen Abschnitten, wie sie der Utrecht-Psalter bietet, als Illustration zu verstehen ist. Zudem gibt es eine eindrucksvolle Zahl von Psalterien mit raffinierten Grotesken, weil die Blüte derartiger Bordürenmalerei in die hohe Zeit dieses Buchtyps fiel.14

Ein Kalender am Anfang mit den Hochfesten des Kirchenjahrs und den Heiligentagen gehört meist ebenso zum Grundbestand eines jeden Psalteriums wie die Litanei, die sich am Ende von Psalmen und Cantica an die Heiligen richtet. Der Kalender erlaubte, für den jeweiligen Tag des Jahres den gültigen Festgrad zu ermitteln, und die Litanei vertiefte das Gebet durch die Anrufung der Heiligen als Fürbitter. Wo diese Partien erhalten sind, erhellen sie für die moderne Forschung die Herkunft der Manuskripte.

Ein Wandel der Leserschaft vom Psalter hin zum Stundenbuch

Vom ganz der biblischen Vulgata verpflichteten Psalterium, das in den meisten Handschriften keinerlei Anleitung gibt, wie beim Beten vorzugehen war, vollzog sich ein grundlegender Wandel hin zum Stundenbuch, das, modern gesagt, benutzerfreundlich angelegt war und deshalb, so komplex es mit seinen einzelnen Textpartien auch aufgebaut sein mochte, weit weniger Vertrautheit von Leserinnen und Lesern verlangte. Damit gingen mehrere Tendenzen einher: Die einzelnen Textpartien verlangten nach Erläuterung durch Rubriken. Zwar war das Beten immer noch lateinisch dominiert; doch erhielt die Volkssprache ihren Platz: neben den Rubriken auch im Kalender und sogar in ausführlichen Gebetstexten. Zudem wurde die Muttergottes Maria, von der im Psalterium aus dem Alten Testament nicht die Rede sein konnte, zur Mittlerin zwischen den Frommen und der entrückten Gottheit. Der weitgehende Verzicht auf Rubriken in Psalterhandschriften wirkt, als richte sich ein solches Buch ausschließlich an eine besonders gebildete Leserschaft, die

11 Siehe den Ausst.-Kat. The Utrecht Psalter in Medieval Art. Picturing the Psalms of David, hrsg. von Koert van der Horst (u. a .), Utrecht 1996.

12 Daß man die Aufgabe immer noch sah, zeigen Berrys Très Riches Heures, also ein Stundenbuch mit Missale-Teil, wo jedem Psalm, der hier selbstverständlich aus der biblischen Folge gelöst ist, ein Bildfeld vorausgeht, das von den Limburgs und, wo von ihnen unvollendet belassen, von Jean Colombe ausgemalt wurde.

13 Siehe Marcel Thomas, Der Psalter des Heiligen Ludwig, Graz 1985.

14 Siehe dazu die gescheite Zusammenfassung in Wirth 2008, S. 350 ff.

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wußte, welche Passagen zu welchen Gelegenheiten zu beten waren. Stundenbücher hingegen wurden auf unterschiedliche Weise durch Gebrauchshinweise erschlossen. Diesen markanten Unterschied könnte man so verstehen, als seien die Manuskripte zunächst nur einem gebildeten Publikum zugedacht gewesen. Sicher mußten Leserinnen und Leser für die Benutzung des Psalters besonders geschult sein; dazu war aber nicht unbedingt ein besonderer Bildungsstand, sondern eher Begleitung nötig, für die ein vertrauter Beichtvater sorgen konnte.

Die karge Erschließung des Psalters im Gegensatz zur oft üppigen Rubrizierung von Stundenbüchern läßt somit durchaus auf die gesellschaftliche Stellung von Besitzerinnen und Besitzern schließen. Sie betrifft jedoch nicht deren eigene Vertrautheit mit den Texten, sondern ihre Verfügung über Geistliche in ihrem Haushalt. Wenn wir heute dazu neigen, Psalterien eher dem Landadel und dem städtischen Patriziat zuzuschreiben, dann denken wir an Wohlhabende mit ihrem eigenen Kaplan.

Zugleich verrät der Gegensatz zwischen den beiden Sorten von Gebetbüchern, wie sich Schreiben und Lesen dynamisch entwickelt haben: Um mit dem Psalter beim Gebet zurecht zu kommen, mußte man sehr viel mehr hin- und herblättern, allein schon, weil manche Psalmen zu unterschiedlichen Gelegenheiten zu wiederholen waren. Im Stundenbuch aber wurde deshalb auch gern mancher Text mehrfach abgeschrieben, so daß eine einmal erfolgte grundsätzliche Einführung in diesen

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Den Haag, KB 76 F 13 Unser Katalog 76, 1: Psalter der Isabelle de Lens

Handschriftentyp genügte, um dann ohne große Mühe allein den Weg durch die Texte zu finden. Mit dem Stundenbuch wird also eine sehr viel größere Anzahl von Beterinnen und Betern zurechtgekommen sein.

Christliche Bilder als Anleitung zur Meditation bei jüdischen Texten

Vom Psalmentext her lag es nahe, König David als Psalmisten in Situationen zu zeigen, die zum Incipit der einzelnen Psalmen paßten. Für die Psalterteilung entwi kkelten sich deshalb Formeln, die thematisch und in ihrer Zuordnung zu bestimmten Psalmen über Jahrhunderte Bestand haben sollten. Dazu gehören Davids Verweise auf seine Augen zu Ps. 26 und auf seinen Mund zu Ps. 38; geläufig waren auch Bilder von David und dem Narren zu Ps. 52; David im Wasser zu Ps. 68 und beim Glockenspiel zu Ps. 80; hingegen wurden zu Ps. 97 christlicher Chorgesang und zu Ps. 109 die thronende Trinität weithin zum Standard. Besonders zu betonen ist die

Unser Katalog 76, 1: Psalter der Isabelle de Lens

Art, wie einige der bebilderten Textanfänge körperliche Reaktionen ansprechen: Auch wenn sie in der „Psalmenillustration“ zu Bildbegriffen geronnen waren, konnten Beispiele aus unserem Psalter der Isabelle de Lens, den wir 2015 veröffentlicht

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haben, mit ihrem Bezug zum Sehen (Dominus illuminatio mea, fol. 23) und Sprechen (Dixi custodiam, fol. 37v) vital ins Beten umgesetzt werden

Da das Psalmengebet der Christen auf ihre Vorstellung von Erlösung ausgerichtet war, fand die Heilsgeschichte im Psalter schon früh ihren Platz, am auffälligsten in der Bebilderung. Das gilt nicht nur für Ps. 97 mit dem Chorgebet und 109 mit dem Bild der Trinität; denn parallel zu den Davidsszenen konnte man sich auch über die Herkunft aus dem Alten Testament und damit aus dem Judentum einfach hinwegsetzen und ausschließlich oder wenigstens bevorzugt Christus, Maria, bald auch Apostel und Heilige im Textverlauf darstellen. Diese Bildinhalte überlagerten oft das Wissen um die Ursprünge der Psalmen, verdrängten die jüdische Tradition, auch wenn die Gestalt von König David, aus dessen Stamm Jesus stammt, im christlichen Denken unbestritten blieb.

Unser Katalog 76, 1: Psalter der Isabelle de Lens

Besinnung auf christliche Motive bot sich vor allem deshalb an, weil sich formelhafte Bilder stärker einprägen als die Worte einer hieratisch entrückten Sprache, die man im Gebet Gott zuliebe spricht, oft ohne sie recht zu verstehen. Zudem hatte sich das Psalmengebet aus seinem historischen Kontext gelöst; denn Israel und Zion hatten

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für Christen eine ganz andere Bedeutung als für die Psalmisten und die jüdische Diaspora des Mittelalters!

Das Anschauliche aus christlicher Sicht sollte in der Bebilderung von Stundenbüchern noch zunehmen; dabei nahm die grundsätzliche Fremdheit zwischen Text und Bild noch erheblich zu.15 So groß der Anteil des Alten Testaments an der Textmenge eines Stundenbuchs auch bleibt, so beherzt tritt uns in den Miniaturen nur das Christliche entgegen. Das führt in solchen Handschriften dazu, daß König David, der die Bebilderung vieler Psalterien beherrschte, wenn überhaupt, nur zu Beginn der Bußpsalmen gezeigt wird.16

Nr. 5

Eine grundsätzliche Eigenschaft von Buchmalerei darf nicht vergessen werden:

Schreiber waren um Texttreue bemüht; Texttreue aber bedeutete im Umgang mit den biblischen Quellen jeweils einen Abstand von mehr als tausend Jahren. So eine

15 Siehe dazu mein Bändchen Devotion from Dawn to Dusk von 2012.

16 Bemerkenswert ist die Art, wie Boucicaut- und Mazarine-Meister in wenigen Hauptwerken beide Aspekte verbinden und den angeflehten Gott im Himmel als beherrschende Vision mit einer großen Erscheinung des büßenden Königs David kombinieren: im Boucicaut-Stundenbuch, in Mazarine 469 und in latin 10538: Meiss 1968, Abb. 40, 269 und 257.

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Distanz hätte die Buchmalerei gar nicht einholen können, hätte man doch David in jüdischen Urzeiten und die Kindheitsgeschichte Christi in der augusteischen Epoche veranschaulichen müssen. Deshalb verstand sich Buchmalerei fast immer als eine Umsetzung uralter Episoden in die eigene Zeit. In literarischen Werken wie den Weltgeschichten, zu denen auch die von Boccaccio gesammelten Wechselfälle berühmter Leute17 gehören, begleiten Miniaturen so gut wie nur die Übersetzungen, kaum aber Abschriften des lateinischen Urtexts. Um die Bedeutung dieser Tatsache zu verstehen, genügt es, sich eine Analogie französischer Begriffe klarzumachen: Die volkssprachliche Bibelversion, die um 1300 aufblühte, heißt Bible historiale und wer Texte bebilderte, hieß historieur, das Verb historier verbindet somit Übersetzungen in die Volkssprache und Bebilderung als eine andere Art des Übersetzens.

Ein spiritueller und stilistischer Wandel hin zum Stundenbuch?

Wer nun verfolgt, wie sich die Bebilderung vom XIII . bis zum XVI . Jahrhundert in Psalter und Stundenbuch wandelte, beschreibt nicht nur technische Vorgänge von Zeichnen und Malen oder Moden einer kostbaren und überregional vernetzten Kunst, sondern zugleich den immer wieder neuen Wandel im Verhältnis der alten Texte zur Gegenwart der Künstler. Ein vielleicht zunächst naiv wirkender Blick vermag bereits das Entscheidende zu erkennen: In goldenen Gehäusen, vor goldenem Grund erscheinen die Gestalten in unserem Psalter, während die Stundenbücher in diesem Katalog mit Bildfeldern ausgestattet sind, die gleichsam durch das Pergament hindurch einen wie auch immer stilisierten Ausschnitt der Wirklichkeit bieten. Figuren wirken in unserem Psalterium aus dem XIII . Jahrhundert wie aus goldenen Folien ausgeschnitten, brauchen keinen Raum, zumal der Einsatz von architektonischer Rahmung bei Szenen wie der Taufe Christi, die im Freien spielen, dem Bildgeschehen sogar widerspricht. Wie sie zuweilen vor die Architektur treten, gehören die Figuren nicht in die kostbaren Gehäuse.

In den Bildern aus der Kindheitsgeschichte hatten die Bildkünste die zeitliche Entfernung zwischen dem Dargestellten und den Betrachtern schon seit Jahrhunderten aufzuheben versucht. Die Lebendigkeit der heiligen Figuren nimmt nun aber zwischen den Miniaturen in unserem Psalter aus dem XIII . Jahrhundert und der Vielfalt von Stundenbuchbildern aus dem Übergang zur Neuzeit unerhört zu: Ein Grund dafür ist die neue Körperlichkeit der biegsamen und bewegten Gestalten mit ihrer sprechenden Mimik. Zugleich gewinnen Landschaft und Architektur an Bedeutung.

Die Wendung zum Hier und Jetzt, mit der heilige Geschichten neu belebt werden, trägt freilich in einem ganz anderen Bereich ihre schönsten Früchte: In jenen Bildfolgen, die uns gar nicht in Urzeiten von Judentum und Christentum zurückversetzen wollen, sondern der Gegenwart gewidmet sind; – das sind die Monatsbilder

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17 Siehe unseren Katalog Leuchtendes Mittelalter Neue Folge I: Boccaccio und Petrarca in Paris von 1997.

im Kalender! Diese Darstellungen aus dem Jahreslauf gehen auf Bildformeln aus der Spätantike zurück; bereits in älteren Psalterien entwickelten sie eindrucksvolle Vielfalt. Sie begreifen das Jahr vom Landleben aus, schildern in erster Linie die Feldarbeit und fügen dazu Motive aus dem Leben des Landadels. In den gesellschaftlich ganz anders strukturierten Räumen der städtischen Metropolen Flanderns bleibt das Landleben dominant; doch werden wir sehen, wie Neues durchaus auch aus der Welt des Adels, seltener der Bürger zunehmend an Einfluß gewinnen sollte –in Stundenbüchern und Brevieren für die wohlhabenden flämischen Bürger und Landadeligen und für den Export in Länder des Mittelmeers.

Ein bedeutender Brügger Psalter aus dem XIII. Jahrhundert

Der Literatur völlig unbekannt und bisher namenlos ist unsere Nr. 1, ein stattlicher Psalter mit einem Kalender für Brügge. Er besteht aus 184 Blatt Pergament. Quaternionen, ohne Reklamanten, bilden den Buchblock; doch zwischen Kalender und Text steht ein fast textloser Ternio mit ursprünglich fünf ganzseitigen Bildern und der Beatus-Initiale, wie in Flandern üblich durchweg auf Verso-Seiten. Die fünf weiteren danach im Text verteilten Bildseiten stehen auf eingeschalteten Blättern, vier davon ebenfalls auf Verso mit leerer Recto-Seite; das letzte aber erscheint auf Recto. Die Anordnung der Miniaturen vorwiegend auf der Rückseite leerer Rectos gehört zu den nicht leicht zu erklärenden Eigenarten flämischer Psalterien.18

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18 E s genügt die Folio-Angaben für textlose Bilder und die Abb. bei Carlvant 2012 durchzusehen.

Vom Buchbinder getrimmt, misst der Band im Sedez 128 x 95 mm, der Textspiegel 90 x 60 mm. Mit kaum sichtbarer Stiftreglierung ist der Kalender auf 32 Zeilen, der Text auf halb so viele, also 16 Zeilen, angelegt; dabei wurden die erste, neunte und sechzehnte Zeile über die ganze Seite ausgezogen. Eine doppelte Vertikale links dient als Hilfslinie für die einzeiligen Initialen, eine einfache als Begrenzung des Textspiegels rechts, diese drei Vertikalen sind ebenfalls bis zu den Rändern gezogen. Die Zeilenzahl ist sehr viel geringer als in den zeitgenössischen flämischen Psalterien.19

Der Aufbau des Buchs

Am Anfang steht wie gewohnt der Kalender, in dem für den einzelnen Monat jeweils eine Seite genügt; auch diese Partie war als Quaternio eingerichtet; jedoch fehlen die beiden ersten Blätter, wohl weil sie etwas über ältere Besitzerinnen und Besitzer verrieten. Ohne Zäsuren bilden die 150 Psalmen in biblischer Reihenfolge mit den anschließenden Cantica im Buchblock eine Einheit. Rubriken, wie sie noch in der Lutherbibel König David und gegebenenfalls die anderen Psalmisten namentlich nennen und auf unterschiedliche Weise deren Intention erläutern, 20 fehlen. Auch auf Handlungsanweisungen für das Beten ist verzichtet. 21 Wer den Band benutzte, mußte also vorab wissen, zu welcher Zeit was aufgeschlagen und gebetet werden sollte. Nirgendwo hat man Antiphonen oder andere Zusätze eingefügt. Vereinheitlichend wirkt, daß die Psalmen wie im ganzen Mittelalter üblich, nicht nummeriert waren – die weitgehend irreführenden Nummern anderer Hand zeigen einen Wandel im Umgang mit dem Buch in sehr viel späterer Zeiten.

Nicht einmal der Anfang des Hymnars mit dem Jesaias-Text Ego dixi auf fol. 178 wird bezeichnet, so daß der Eindruck entsteht, mit dem Hymnus aus Is. 12, dessen Herkunft nicht bezeichnet ist, würden die Psalmen einfach über den 150. hinaus fortgesetzt, obwohl die Dreiergruppe aus Laudate, Cantate, Laudate gerade das Ende der biblischen Abfolge deutlich markiert hatte. Mit Immolaverunt demonis et non deo brechen die Cantica auf fol. 184v ab: mitten in Vers 17 des Hymnus Audite celi que loquar aus Deut. 32, 1–44, der auf fol. 183v begonnen hatte. 22 Da Psalmen und Hymnen ursprünglich nicht für das individuelle Gebet, sondern für Wechselgesang im Chor konzipiert waren, war der Psalter seit Menschen-

19 Diese Disposition findet sich nicht in den Varianten von Brügger und Genter Psalterien bei Carlvant (Table 10, S. 349–366); dort sind 19 oder mehr Zeilen pro Seite üblich.

20 Ein bemerkenswertes Beispiel dafür findet sich in den Très Riches Heures für Jean de Berry (Chantilly, Musée Condé, Ms. 65) in den abwechselnd golden und blau rubrizierten Psalmen, die jeweils christologische Bezüge hervorheben und nur in der Zeit der Brüder Limburg eingesetzt, bei der Fertigstellung durch Jean Colombe aber nicht mehr gewollt oder verfügbar waren.

21 Zu dieser Eigenart mittelalterlicher Psalterien im Gegensatz zu den unterschiedlich intensiv rubrizierten Stundenbüchern siehe unseren Katalog 76 von 2015.

22 Zum Fehlbestand siehe das Vorwort von Victor Leroquais, Les Psautiers, 1940/41, Bd. I, S. lv.

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gedenken in Verse eingeteilt, während solche Gliederung des gesamten Bibeltexts, den man ja gar nicht im Chorgebet mit wechselnden Seiten rezitierte, erst im XIII . Jahrhundert üblich wurde. Psalmenverse beginnen in unserer Handschrift jeweils am Beginn einer Zeile; davon konnte bei nur knapp überlappenden Worten oder Silben abgewichen werden, so daß zuweilen der folgende Anfangsbuchstabe im Zeilenverlauf steht.

Für die einzeiligen Initialen ist an der linken Kante des Textspiegels eine senkrechte Spalte vorgesehen; dort stehen in konsequentem Farbwechsel blaue Initialen auf rotem und goldene auf blauem Federwerk. Resträume am Ende des vorausgehenden Verses werden beim gewohnten Horror vacui nicht leer gelassen, sondern mit Zeilenfüllern besetzt, die zur gleichen Familie von Buchdekor aus rotem, blauem und goldenem Lineament gehören. Optisch rhythmisiert den Band das Zusammenspiel der vor den Textblock gerückten Initialen mit den Zeilenfüllern.

Die Anfangsverse der einzelnen Psalmen verlangten größere Aufmerksamkeit: Außer für die Buchstaben I beziehungswiese J, die vor den Textblock gestellt wurden, hatte der Schreiber für solche Initialen jeweils einen Raum von drei Zeilen Höhe freizulassen. Darein setzte man dann einen ungefähr quadratischen Buchstaben aus

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Blattgold, der mit kräftigen schwarzen Tintenlinien umrandet wurde. Das Gold strahlt als Zierleiste aus, von einem blauen oder roten Streifen begleitet, und bricht in den Randstreifen einmal um, so daß es meist zwei Randstreifen durchmißt und jedem Psalmenbeginn schon beim raschen Durchblättern Aufmerksamkeit sichert.

Wie in fast allen Vergleichshandschriften weisen größere Initialen und nicht etwa schriftliche Anweisungen auf den Beginn der Psalterteilungen hin; alle diese Zierbuchstaben sind auch jeweils mit einem Bild ausgestattet. Da die beiden wichtigsten Arten von Psalterteilung nebeneinander gelten, kommt, wie oben erläutert, zur Dreiteilung der 150 Psalmen in Gruppen von je 50 mit Betonung der Ps. 1, 51 und 101 das Grundprinzip des liturgischen Psalters hinzu. Nachdem mit Ps. 1 zugleich das erste Drittel und die Matutin für den Sonntag begonnen hat, erhalten die Abschnitte zur Matutin der sechs einfachen Wochentage jeweils eine BildInitiale; in diese Abfolge greifen im Rahmen der Dreiteilung die Psalmenanfänge zum zweiten und dritten Drittel ein; im Anschluß daran erhält die SonntagsVesper einen entsprechend kostbaren Zierbuchstaben, so daß man auf zehn Abschnitte kommt:23 Hervorgehoben sind somit Ps. 26 für den Montag, 38 für den Dienstag, 51 im Rahmen der Dreiteilung, 52 für den Mittwoch, 68 für den Donnerstag, 80 für den Freitag, 97 für den Samstag, 101 wieder im Rahmen der Dreiteilung, schließlich Ps. 109 für die Sonntagsvesper. 24 Von einer Aufteilung der Schreiberarbeit auf mehrere Hände ist in unserem Psalterium nichts zu spüren. Zumal keine Rhythmisierung des Textblocks nach Lagen erfolgte, wurde der Band offensichtlich ohne Unterbrechung von einer Hand geschrieben.

Zur Herkunft aus Brügge

Den einfachsten Hinweis auf Herkunft und Bestimmung unseres Psalteriums bietet die Heiligenauswahl im Kalender; sie ist nordfranzösisch und niederländisch: Am auffälligsten der heilige Donatian von Brügge; ihm war die heute als Salvator-Kathedrale dienende Stiftskirche im Stadtzentrum geweiht. Sein Tag, der 14. Oktober, wird in roter Tinte notiert, somit als Fest gefeiert, ebenso wie der Tag des heiligen Nicasius von Reims am 14. Dezember, zu dessen Erzdiözese Brügge gehörte. Daß der 1. Oktober nur als Remigius-Tag bezeichnet wird, unterstreicht einerseits die

23 Siehe Leroquais 1940/41, S. xcvii, der jedoch auf die Sonderrolle von Ps. 109 als Eröffnung der Sonntagsvesper nicht eingeht und so den Eindruck erweckt, man müsse nur die sieben Wochentage und die Dreiteilung addieren, um zur Zahl 10 zu kommen. Standards vermitteln die Listen von Haseloff 1938. Viele Aspekte des Psalters sind diskutiert in dem von Frank O. Büttner herausgegebenen Band von 2005. Nicht nur im Blick auf englische Psalterien nützlich und ergebnisreich sind die Beiträge von Nigel Morgan in seinem Kommentarband zum Goldenen Münchner Psalter, Luzern 2011, S. 9–52.

24 Wer diese Psalmen in nachmittelalterlichen Bibeln aufsucht, muß beachten, daß Ps. 9 zweigeteilt wurde; nach 9,1–21 wird 9,22–39 zu Ps. 10; von da bis zu Ps. 113 erhöht sich die Psalmen-Nummer beispielsweise in protestantischen Übersetzungen wie der Lutherbibel um eins; danach wird 113 so geteilt, daß 113,1–8 als 114, 113,9–26 als 115 gelten; dafür werden Ps. 114 und 115 als Ps. 116 zusammengefaßt; erst durch eine letzte Veränderung, indem Ps. 146 und 147 zu Ps. 147 zusammengefaßt werden, erreicht auch dieses System die kanonische Zahl der 150 Psalmen.

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Zugehörigkeit zur Erzdiözese Reims. Da zu diesem Datum neben Remigius auch der Genter Patron Bavo zu erwarten wäre, spricht dessen Fehlen umso deutlicher für die mit Gent konkurrierende Stadt Brügge.

Winnoc von Wormhout bei Dünkirchen aus dem lokalen Umfeld von Brügge ist nicht in allen flämischen Kalendern zu finden. Patrone von Rouen wie Romanus und ein zweiter Nicasius, der sonst kaum anzutreffen ist, beziehen die südwestlich benachbarte Erzdiözese ein. Auf Anrainer weisen Heilige wie Willibrord und Livinus (Lebuinus) von Utrecht ebenso wie Lambert aus dem Fürstbistum Lüttich, Leodegar von Autun, Eligius von Noyon und Bertinus von Arras.

Zur Entstehungszeit des Buches

Wer diesen Psalter mit seinem allein auf Brügge ausgerichteten Kalender vor 1300 bestellt hat, ist heute nicht mehr zu sagen. Die Entstehungszeit läßt sich hingegen mit einigen Bildern eingrenzen. Nachdem schon der heilige Franziskus mit einem textlosen Bild geehrt wurde, erscheint gemeinsam mit dem Gründer des Predigerordens Dominikus (1170–1221, 1234 heiliggesprochen) der Dominikaner Petrus von Verona oder besser Petrus Martyr (1205 – 6. April 1252), der ein Jahr nach seinem Tode kanonisiert wurde; zumindest seine Darstellung kann nicht vor 1253 entstanden sein.

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Den entscheidenden Hinweis aber dürfte die letzte Bild-Initiale geben, die eine einzelne Gestalt wie einen Heiligen zeigt, aber auf den Heiligenschein verzichtet: Auf fol. 124v kniet ein bartloser König betend vor einem Altar, als einziger in dieser Serie ist er nicht nimbiert. Der französische König Ludwig IX . wird gemeint sein; er war 1270 verstorben, wurde nach seinem Tod vor allem von Franziskanern verehrt, aber erst 1297 kanonisiert. Wer ihn hier erkennt, kann das ganze Buch erst nach Ludwigs Tod ansetzen, jedoch geraume Zeit vor der Heiligsprechung. Anders als in Gent war in Brügge eine starke Fraktion der Patrizier nach Frankreich orientiert, die den schon direkt nach seinem Ableben für heilig gehaltenen König verehrte.

Daß die Handschrift recht früh, eher um 1270 als gegen 1300, entstanden ist, wird durch eine gewisse Inkonsequenz zwischen Kalender und Bebilderung unterstrichen. Die mit Bildern hervorgehobenen Heiligen der Bettelorden werden im Kalender nicht erwähnt. Franziskus (4.10.) wurde in fast allen Vergleichsstücken geehrt. Dominikus (8.8.), der dort ebenfalls erwähnt ist, kommt in weiteren Psalterien vor. 25 Petrus Martyr (29.4.) wird zwar in vergleichbaren Kalendarien auch sonst nur ausnahmsweise genannt, jedoch findet er sich im Hamburger Psalter, dessen Kalender gerade als Muster für ein flämisches Formular benutzt wurde. 26 In unserem Manuskript waren also offensichtlich Schreiberarbeit und Buchmalerei ungenügend miteinander abgestimmt.

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25 So in 55/171 des Brügger Grootseminarie und Auct. D.4.2. der Oxforder Bodleian Library: Carlvant, S. 376. 26 Hamburg, SUB , Theol. Fol. 1115a: Carlvant 2012, S. 372.

Keines der Psalterien, von denen ausgehend Kerstin Carlvant 2012 versucht hat, die flämische Buchmalerei des XIII . Jahrhunderts zuordnen, ist mit irgendeinem sicheren Datum überliefert; auch die wenigen Handschriften anderen Inhalts sind undatiert. Konkretere, aber nicht schlüssig zu deutende Hinweise auf seine Entstehungszeit bietet nur der mit viel Heraldik geschmückte Brüsseler DampierrePsalter. Guy de Dampierre (1226–1305) wird mit seinen Söhnen, Robert de Béthune, Guillaume, Baudouin und Jean von Namur, faßbar; doch bleibt für die Datierung des Psalteriums ein breiter Spielraum. 27 Die Handschrift wird meist zwischen 1266 und 1275 angesetzt, von Carlvant um 1278, weil sich der Graf in dem Jahr von seiner Mutter Margarete von Konstantinopel (1202–1280) emanzipierte. Nicht schlüssig zur Datierung lassen sich die ebenfalls vertretenen Wappen der Familien Gistelle und Gruuthuse aus Brügge und Vilain aus Gent nutzen.

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Brüssel, KBR, ms. 10607 27 Carlvant 2012, S. 283 mit weiteren Hinweisen, so auf Gaspar und Lyna I, 1937, S. 222–225, und den Beitrag von Livia Stijns, Het Psalter van Gwijde van Dampierre, in: De Vlaamse Gids 1953, S. 85–94.

Zur Herkunft des Buchs aus dem Besitz der Familie Restwolde

Zwar besteht kein Zweifel, daß unser Psalter in der zweiten Hälfte des XIII . Jahrhunderts in Brügge entstanden ist. Die ältesten expliziten Spuren im Manuskript weisen jedoch in eine ganz andere Richtung: zur englischen Familie Restwolde, die uns den Notnamen für das erstaunliche Manuskript liefert: Am unteren Ende der Kalenderseite mit dem Monat Mai lautet eine Randnotiz, vom Buchbinder getrimmt und schwer lesbar, in schlechtem Latein und in einer groben schwarzen Schrift, die für englische Hände charakteristisch ist: „Obitus Thome Restwold armig(er)’ [für Ritter, esquire]/ filius [sic] e(t) hered’ Ric(ard)i Restwold de [für decedit oder decessus] xxiiijmo die mensis maii An(n)o regni Ed[ward IV.]“. 28 Die Rede ist also von Thomas Restwolde, Sohn und Erbe von Richard Restwolde, der an einem 24. Mai, in unbekanntem Regierungsjahr unter König Edward IV. verstorben ist. 29

Die Familie hatte ihren Sitz in der näheren Umgebung Londons und ist insbesondere durch Mitglieder des Parlaments vom XIV. bis ins XVI . Jahrhundert und durch Quellen vor allem aus Westminster faßbar. Unser Thomas Restwolde ist wohl 1435 geboren und 1480 im Alter von 45 Jahren gestorben. Er führt uns in die Zeit von Shakespeares Königsdramen; denn er mag zum Gefolge Edwards IV. gehört haben. Dieser erste König aus dem Hause York hatte in den Rosenkriegen zunächst Heinrich VI . aus dem Haus Lancaster 1461 bis 1470 entmachtet und sich krönen

28 Entziffert mit freundlicher Unterstützung von Marie Élisabeth Antoine und Jenny Stratford.

29 Zwar wird nur der Name des Königs genannt: Edward III . jedoch gehört ins XIV. Jahrhundert und Edward V. hingegen, der 1470 geboren wurde, gehörte zu den beiden Prinzen im Londoner Tower, die kurz nach dem Tod ihres Vaters Edwards IV. im Jahr 1483 verschwunden sind.

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lassen, mußte aber 1470 nach seinem Bruch mit Richard Neville, dem Grafen von Warwick (1428–1471), auf das Festland fliehen. Dort nahm ihn Lodewijk van Gruuthuse zunächst in Den Haag, später in Brügge als Gast auf, ehe sich Edward 1472, ein Jahr nach Warwicks Tod, wieder als König in England durchsetzen konnte, wo ihm im Jahre 1483 in den Königslisten sein Sohn Edward V. hätte folgen müssen, sein Bruder Richard III . aber die Herrschaft an sich riß.

Von Gruuthuses Bibliophilie beeindruckt, ließ Edward IV. in Brügge zahlreiche Manuskripte anfertigen. Der König aus dem Hause York wurde damit zum eigentlichen Gründer der Royal Library. Doch sind wichtige Handschriften, die er aus Brügge nach England schiffen ließ, erst 1479 bis 1482 datiert und nur kurz vor Edwards Tod 1483 bezahlt worden.30

Für unseren Restwolde-Psalter entscheidend ist der Umstand, daß die Begeisterung des Königs ansteckend auf sein Gefolge gewirkt haben mag. Doch prinzipiell hätte auch die enge und nicht immer konfliktfreie wirtschaftliche Verflechtung Flanderns mit England schon im XIII . Jahrhundert dafür sorgen können, daß das Buch sehr viel früher über den Kanal gebracht wurde. Für den Export war es, soweit die Heiligenauswahl im Kalender erkennen läßt, aber sicher nicht bestimmt. Die Tilgung des Kalendereintrags zu Thomas Becket verrät, daß der Psalter noch unter Heinrich VIII . auf der Insel war.

30 Siehe das

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Kapitel Edward IV: Founder of the Old Royal Library in: Ausst.-Kat. London 2011, S. 192 – 225; siehe auch die im Internet abrufbare Master-Arbeit von Tess Zitman, King Edward IV of England’s Collection of Flemish Manuscripts, Leiden 2016/17. Auf Käufe von Edward IV. sind wir im zweiten Band unseres Katalogs Paris mon amour 2017, S. 500, in der Auseinandersetzung mit Nr. 18 von Philippe de Mazerolles kurz eingegangen.

Die künstlerische Eigenart des Restwolde-Psalters

Insgesamt zweiunddreißig Bilder schmücken diese Handschrift, in drei unterschiedlichen Arten von Bildfeldern.

Die drei Arten von Bebilderung

Neun große Bildinitialen von acht, gegen Ende nur sieben Zeilen Höhe gliedern die Psalmen. Eingeleitet wird der Text danach durch die größte Initiale, das B zum 1. Psalm; sie ist auf dem letzten Verso des sonst textlosen Ternios vorgeschaltet und birgt in ihren beiden Binnenfeldern je eine Szene. Dieser Zierbuchstabe tritt zwar mit dem Incipit Beatus Vir auf, wirkt aber wie ein textloses Bild; denn auf die Arbeit des Schreibers ist – übrigens ähnlich wie in den meisten anderen flämischen Psalterien der Zeit – ganz und gar verzichtet, sind doch die Anfangsworte mit raffinierter Goldtechnik in die untere Rahmenleiste gesetzt. Die Beatus-Seite ist fast genauso eingerichtet wie die textlosen Miniaturen, von denen vier vorausgehen und fünf in den Psalter eingestreut sind; doch erhielt das B nach links ausstrahlende Grotesken und damit auch dekorativ eine Sonderstellung im Buch.

Die Binnenfelder aller Bilder, also der Initialen wie der ganzseitigen Miniaturen sind mit bombiertem Blattgoldgrund versehen. Solche goldene Pracht bestimmt auch die zwölf großen Monatsbilder von unregelmäßigem Zuschnitt, die im Schriftfeld des Kalenders schwimmen; sie zeigen vorwiegend Einzelfiguren. Für diese recht großen Gestalten ist ein Prinzip der Buchmalerei außer Kraft gesetzt, das zu jener Zeit weithin gültig war und verlangte, Bilder nur in klar definierte Buchstaben oder Zierrahmen einzumalen. Die dargestellten Leute stehen auf Blattgoldflächen mit schlichten Elementen aus Landschaft oder Interieur, die das Bild meist nach rechts hin abschließen. Die frei entwickelten Konturen der Bildflächen schaffen einen großzügigen Aktionsraum, der entschiedener als in allen vergleichbaren Kalenderzyklen mit den Konventionen des gotischen Buchwesens bricht.

Textlose Miniaturen mit dem Leben Jesu und Heiligen Integraler Bestand der lückenlos erhaltenen Textfolge ist nur die Bebilderung der Initialen mit Ausnahme der Beatus-Seite, die formal wie ein Vollbild wirkt und inhaltlich den textlosen Miniaturen zugeordnet ist, während die übrigen historisierten Initialen Heilige in ikonographischen Formeln darstellen. Auf Bezüge zu König David wird verzichtet.

Doch für die Wirkung des Manuskripts entscheidend sind die textlosen Miniaturen, die mit einer Ausnahme auf den Verso-Seiten leerer Blätter stehen; die ersten vier sind in einer Lage für sich versammelt, die übrigen fünf dann auf Einzelblättern in den Buchblock eingeschaltet. Auch wenn sie verstreut auftreten, sind diese neun von ursprünglich zehn Vollbildern gemeinsam mit der Beatus-Initiale als

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eigenständiger Zyklus zu verstehen, inhaltlich von den großen historisierten Initialen getrennt, obwohl sich aus Vollbildern und mit Bild-Initialen geschmückten Textseiten sogar fünf besonders prachtvolle Doppelseiten ergeben.

Ikonographisch schlüssig ist die Folge dieser textlosen Miniaturen. Den Psalmen vorgeschaltet ist ein Zyklus mit ursprünglich acht Szenen aus dem Leben Jesu. Doch hat man eines der sechs Blätter, das mit der Kreuzigung, gestohlen. Auf dem Endblatt steht die Beatus-Initiale mit dem Geschehen der Osternacht; Höllenfahrt und Auferstehung stehen in den beiden Bildfeldern übereinander.

Zunächst sollten die insgesamt neun Psalterteilungen im laufenden Text wohl nur wie gewohnt mit großen Initialen betont werden. An wie vielen Stellen wie in einigen Psalterien aus Brügge und Gent textlose Bilder auf textlosen Einzelblättern eingeschaltet wurden, ist ungeklärt. Der erste Einschub greift auf fol. 36 in den 25. Psalm ein, dessen Endvers die ersten Zeilen von fol. 37 füllt. Daraus könnte man schließen, der Schreiber habe an dieser Stelle nicht mit einem eingeschalteten Vollbild gerechnet. Doch ähnlich sieht es auch in anderen flämischen Kalendern aus; und da man die wunderbaren textlosen Miniaturen ohne Textverlust stehlen konnte, hat man das in solchen Gebetbüchern allzu oft getan.

So wissen wir nicht genau, ob der Zyklus mit den Vollbildern gegen die ursprüngliche Planung fortgesetzt wurde und wie vollständig er erhalten ist. Die meisten flämischen Psalter sind nicht konsistent mit Doppelseiten aus großer Miniatur und Bildinitiale erhalten; die Zuordnung der Szenen in beiden Zyklen wirkt durchweg beliebig, auch wenn in wenigen Handschriften die gleichen inhaltlich an den Stellen nicht einleuchtenden Szenen dieselben Psalmenteilungen eröffnen. Im RestwoldePsalter schließen sich für Montag und Dienstag zwei Bilder mit Erscheinungen Christi nach Ostern an, die man zugleich als Darstellungen der heiligen Magdalena und des Apostels Thomas verstehen kann. Dieser Umstand verbindet mit den letzten beiden textlosen Miniaturen, die sich den Hauptheiligen der beiden großen Bettelorden widmen; dazwischen aber steht die Himmelfahrt.

Acht der ganzseitigen Bilder finden sich ebenso wie die Beatus-Initiale auf Verso bei leerem Recto, die neunte Miniatur hingegen auf Recto mit leerem Verso. Sie sind ungemein kunstreich und kostbar gerahmt: Die Figuren bewegen sich vor bombiertem Goldgrund in einer gotischen Ädikula, die durch einen mit Maßwerk versehenen Spitzbogen sowie ein quergestelltes Dach angedeutet wird; dessen zwei Fialen dringen mit ihren Spitzen über die Rahmung bis in den Pergamentgrund.

Nicht nur die textlosen Miniaturen, sondern auch die Beatus-Initiale ist von einem breiten Kastenrahmen umgeben, der raffiniert mit unterschiedlichen Formen von Gold spielt: Zwei kräftige Tintenlinien, die wie in einem Brügger Psalter in Dublin 31

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31 Dublin, Chester Beatty Library, W 61: Carlvant 2012, S. 219 – 222 und Abb. 29 g–r.

in den vier Ecken ins umgebende Randfeld ausstrahlen, umranden einen dünnen Stab aus bombiertem Blattgold. Der wird seinerseits durch eine weitere Tintenlinie von einem breiten Zierrahmen abgesetzt, auf dessen mattem Goldgrund in raffinierter Weise Wellenlinien, Kreisformen, Karos und Blattwerk durch bombiertes Blattgold plastisch hervorgehoben werden.

Verkündigung, Kindheitsgeschichte und Taufe im Brügger Kontext

Der Zyklus setzt mit der Marienverkündigung (fol. 7v) ein: Noch hat man den Erzengel nur selten vor der Jungfrau Maria kniend gezeigt. Wie in der Kathedralskulptur stehen beide Gestalten einander gegenüber. Gabriel kommt von links, erscheint also à dextre, weil er die Gottesbotschaft bringt und deshalb mehr Gewicht hat. In frühen Bildern ragt sein Haupt ein wenig höher hinauf, weil sich Maria leicht zu ihm neigt. Erst im Laufe des XIV. Jahrhunderts sollte sich die Darstellung wandeln; zunächst sinkt der Erzengel in die Knie, ehe im XV. schließlich sogar das Figurenpaar die Seiten wechseln kann.

Im Restwolde-Psalter zeigt sich Gabriel barfuß in blauem Gewand mit steifem zinnoberroten Kragen, der zur Dalmatika gehört, wie sie der Erzdiakon Stephanus bei seinem Martyrium auf fol. 37 trägt; in stilverwandten Darstellungen bleibt es bei Tunika und Mantel. Seinen rechten Flügel hat der Erzengel hinter dem Rücken gesenkt, den linken bis zur Spitze des Bogens erhoben. In seiner Linken hält er ein Schriftband mit der Grußformel ave maria. Als weißer Streifen reicht es vertikal herab bis zur irdenen Vase mit dem steil aufragenden und leicht nach rechts ausweichenden Lilienzweig. Die Jungfrau trägt zum weißen Schleier ein blaues Unterkleid mit einem dunkelroten Überkleid, das nicht als Mantel zu verstehen ist, sondern als Surcot ärmellos über den Schultern zusammengeführt und seitlich gerafft ist, um Schüsselfalten auszubilden. Als sei sie beim Beten des kleinen Gebetbuchs in ihrer Linken unterbrochen worden, weicht Maria mit elegantem Schwung dem Engel aus, spricht ihn aber mit der ausdrucksvollen Geste ihrer großen rechten Hand an, während sie bereits als Zeichen ihres Einverständnisses sacht ihr Haupt senkt. Die Miniatur versteht sich als eine Weiterentwicklung des Bildes, das Carlvant auf den Schutzumschlag ihres Buchs von 2012 gesetzt hat: Dort, in einem wohl in den 1250er Jahren entstandenen Psalter aus Brügge in Cambridge,32 sind die Hauptfiguren ähnlich dargestellt: Gabriel ragt mit seinem rechten Fuß in gleicher Weise über die Rahmenkante, hat jedoch den linken Arm mit dem hier textlosen Schriftband gesenkt; Maria greift mit ihrer Rechten zum Gruß nicht so weit aus. Mit stärker ins Profil gedrehten Körpern ist das Zwiegespräch im Restwolde-Psalter intensiver belebt. Der Bildraum ist im älteren Beispiel als Rechteck enger begrenzt und nicht von Architektur gerahmt. Bei der Kleidung fällt auf: Gabriel trägt keine Dalmatika,

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Cambridge, Magdalene College F-4–7: Carlvant 2012, Nr. 4 mit Abb.

sondern hat über die Tunika einen Mantel geschlungen, und Maria trägt statt des Surcots Kleid und Mantel und auch keinen weißen Schleier.

Carlvant faßt die Handschrift in Cambridge gemeinsam mit Royal 2B.III in London unter dem Begriff „The German Scribe-Illuminator’s Psalters“ zusammen.33 Londoner Psalterbilder wie die Flucht nach Ägypten schreibt sie schlüssig einem deutschen Buchmaler zu, den sie beispielsweise auch in der Auferstehungs-Initiale in Cambridge wiederfindet; die dortigen Vollbilder aber gibt sie einem Brügger Maler.

Karg ist nicht nur das Verkündigungsbild in Cambridge ausgestattet: Die Vase ist leer; sie fehlt dann in den meisten anderen Brügger Versionen des Themas ganz. Noch in einem ähnlich frühen Brügger Psalter in Oxford 34 gibt es wie auch im Restwolde-Psalter keinen Hinweis auf den Heiligen Geist. Erst in etwas späteren

33 Carlvant 2012, S. 176 – 183.

34 Oxford, Bodleian Library, Liturg. 396, fol. 7v: Carlvant 2012, S. 173 – 176 und Abb. 13 b.

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Cambridge, Magd. College F 4-7

Belegen wie einem weiteren Oxforder Beispiel 35 und vor allem in dem für unsere Handschrift besonders wichtigen Brügger Psalter in Dublin, der auch die Vase mit einem steil aufragenden Blütenzweig zeigt, fliegt die Taube zu Marias Ohr.36 In solchen Miniaturen werden die beiden Figuren in eine Ädikula eingestellt, die ähnlich gerahmt ist wie unser Bild. Marias Haupt, von der Heiliggeisttaube bestärkt, ragt etwas höher als das des Erzengels empor, obwohl sie es demütig zu Gabriel neigt.

Ins Jahrfünft vor 1270 datiert Carlvant den Psalter in Dublin, der auch stilistisch unserem Manuskript eng verwandt ist. Aufschluß zur Zeitstellung unseres RestwoldePsalters gibt das bescheidene Beispiel des Brügger Psalters Douce 38 in Oxford 37 ebenso wie der prächtige Dampierre-Psalter in Brüssel 38 – unabhängig von der Ausstattung

35 Oxford, Bodleian Library, Auct. D.4.2, fol. 10v: Carlvant 2012, S. 216 – 219 und Abb. 28i – mit Vase und Blume.

36 Dublin, Chester Beatty Library, W 61, fol. 7v: Abb. 29 g.

37 Oxford, Bodleian Library, Douce 38, fol. 7v: Carlvant 2012, S. 270 – 272 und Abb. 33 c.

38 Brüssel. KBR , Ms. 10607, fol. 7v: Carlvant 2012, S. 280 – 285 und Abb. 66 f. Diese Handschrift wurde von Haseloff 1938, S. 122–123, fälschlich für eine Arbeit aus Saint-Omer gehalten.

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Dublin, Chester Beatty Library, W 61

mit Vase oder dem Auftauchen der Heiliggeisttaube: Um 1278 setzt Carlvant den Auftrag für die Familie Dampierre, etwa ein Jahrzehnt später ist ihrer Meinung nach Douce 38 entstanden. Unser Verkündigungsbild rückt damit in die Jahre um 1270.

Gegen 1290 soll auch das rätselhafte Andachtsbuch der Madame Marie der Pariser Nationalbibliothek entstanden sein, dessen konkrete Zuordnung bis heute strittig ist: Andreas Bräms These von 1997, es handele sich um einen Auftrag von Marie de Gavre, steht gegen die Überzeugung von Alison Stones aus demselben Jahr, das Buch sei für Marie de Rethel geschaffen worden.39 Solche Details, die sich die internationale Literatur eher auf Englisch und Französisch als auf Deutsch erläutern läßt, spielen für unseren Zusammenhang keine große Rolle. Trotz aller Meinungsunterschieden stimmen Bräm und Stones in der Datierung und der auf keinen konkreten Ort festgelegten Lokalisierung überein. Bei Stones heißt es zuletzt, das Buch sei zwischen 1268 und 1292 geschrieben worden; und Bräm spricht schon im

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Paris, BnF, Naf 16251 39 Paris, BnF, NAF 16251: Bräm 1997; Stones 1997; Avril in: Ausst.-Kat. Paris 1998, Nr. 199 (mit dem Hinweis, Bräm sei nicht konsultiert worden); zuletzt Stones 2013, I,2, S. 308 – 312: Cat. III-57, und passim.

Untertitel vom „letzten Viertel des 13. Jahrhunderts“. Beide sind sich einig, daß das Buch aus der Diözese Cambrai, also eher aus einem heute zu Frankreich gehörenden Gebiet stammt. Unsere Handschriften spielen in diesem Zusammenhang keine Rolle, zumal Carlvants Buch erst 2012 erschienen ist – zu spät für die vierbändige Gesamtdarstellung, die Stones 2013 abgeschlossen hat.

Carlvant ihrerseits erwähnt das Andachtsbuch nicht; Stones interessieren flämische Psalter nur marginal. Bräm aber umreißt in seiner Erörterung der Verkündigung40 einen für uns wichtigen Zusammenhang: Die Teilung der Miniatur im Andachtsbuch in zwei von Spitzbögen abgeschlossene Felder findet er in einem als authentisch angesehenen Wandbild im Untergeschoß der Pariser Sainte-Chapelle aus der Mitte des XIII . Jahrhunderts. 41 Von hier spannt sich für Bräm ein Bogen zu einem der wichtigsten Brügger Manuskripte jener Zeit, Morgan 72 in New York, und schließlich zum stilistisch verwandten, aber allgemein nicht für Brügge in Anspruch genommenen Dampierre-Psalter in Brüssel. 42

Für die Geschichte der Bildvorlagen ist die Aufteilung des Bildfeldes in zwei Felder mit Lanzettbögen jedoch keineswegs von entscheidender Bedeutung: Morgan 72 steht ebenso wie der Dampierre-Psalter in derselben Tradition wie unsere Handschrift. Ihre Verkündigungsbilder gehören, wie sich nun zeigt, zwar einer Traditionslinie an, die auf Pariser Bildformeln aus der Mitte des XIII . Jahrhunderts

40 Bräm 1997, S. 64.

41 Branner 1968, Abb. 10.

42 Bräm 1997, S. 64; Abb. bei Carlvant 2012, 44b und 60 f.

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New York, PML, M. 72

zurückgeht, die aber vor allem in den beiden großen flämischen Städten aufblühen sollte. Jedoch könnte man meinen, die Gegenüberstellung des Erzengels und der Jungfrau sei zu unspezifisch, um eine Bildtradition zu fassen, wenn bei der Marienverkündigung weder die Gliederung in zwei Bildfelder noch die wenigen Accessoires in den Vergleichen entscheidende Kriterien sein sollen.

Die zwei weiteren Szenen aus der Kindheit Christi bestärken uns jedoch auf dem eingeschlagenen Weg: Zwar inspiriert architektonische Rahmung schon in sehr viel früheren Versionen dieses Themas dazu, beim Weihnachtsbild weiße Vorhänge wie Schleier einzusetzen und damit auch zu betonen, daß man das Geheimnis der Menschwerdung als Wunder wahrnehmen soll. Die Art, wie das im RestwoldePsalter (fol. 8v) geschieht, ist jedoch geradezu ein Erkennungszeichen für Brügger Psalterien: In der Spitze des Bogens – oder einfach unter dem geraden Rahmen im Psalter des Cambridger Magdalene College teilt sich das Tuch. Es wird bei uns auf Kapitellhöhe der nicht gezeigten rahmenden Säulen zurückgeschlagen. Weiße Laken rahmen das Bett, das wie in verwandten Handschriften, so im recht frühen New Yorker Psalter Morgan 106 ebenso wie im etwa zeitgleichen Manuskript Morgan 72, auf dicken runden Füßen ruht und über das sich eine meist innen rot gefütterte blaue Decke breitet. 43 Maria, wie bei der Verkündigung mit weißem Schleier, in dunkelrotem Kleid, hat sich nach rechts gewendet und aufgerichtet, um dem Wickelkind die Brust zu geben. Der greise Joseph, der einen spitzen Judenhut trägt, ist rechts eingeschlafen, den Kopf mit der rechten Hand auf seinen Krückstock gestützt. Zwischen die Jungfrau und den Ziehvater hat der Maler die Krippe gestellt, über der die Büsten von Esel und Ochs, einander zugewandt, auftauchen.

In die Krippe gelegt hat Maria in manchen anderen Beispielen den Knaben, so im Brügger Psalter des Magdalene College in Cambridge 44 wie auch im Oxforder Manuskript Auct. D.4.2 zu, in dem die Szene im Stall von einem Doppelbogen überfangen ist, der keine Mittelstütze hat. Unter einem ähnlichen doppelten Bogen wird das Weihnachtsbild im Dampierre-Psalter und im Andachtsbuch der Madame Marie, fol. 21, gefaßt. Hier wird das Spiel mit den Schleiern noch weitergesponnen; denn nun zerren Esel und Ochs an einer Windel, als hielten sie das Stück Tuch für Futter. Das geschieht an der Stelle, an der in unserer Miniatur ein Stück des Goldgrunds ausgebrochen ist und man sich fragen mag, ob nicht dort auch eine sehr kleine Windel zu sehen war. Die Krippe, im Restwolde-Psalter eine Art romanische Zierarchitektur, sogar später für Dampierre noch ganz romanisch und erst für Marie gotisch dekoriert, steht im Oxforder Auct. D.4.2 auf dem weit ausgreifenden gotischen Kapitell einer Säule hinter Marias Bett.

44 Carlvant 2012, Abb. 4b.

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43 Die Miniaturen sind in der Datenbank Corsair der Morgan Library abrufbar; die Miniatur in Morgan 106, fol. 8v bildet Carlvant als Abb. 16c ab; die Handschrift soll in Brügge für den Gebrauch von Iepern (Ypres), vielleicht 1256, geschaffen worden sein: Ebenda, S. 195 – 199; Carlvant gibt sie ihrem „Franciscan Master“.

Von besonderer Bedeutung ist in dieser Folge von Weihnachtsbildern, daß in unserer Miniatur wie im Dampierre-Psalter und dem Andachtsbuch für Madame Marie das Jesuskind aus der Krippe genommen ist. 45 Es taucht im Brüsseler Beispiel mit seinem Köpfchen und dem Oberkörper nur knapp unter der Bettdecke seiner Mutter auf. Im Restwolde-Psalter nimmt Maria ihr Wickelkind hoch und reicht ihm ihre weiße Brust; von hier ist es nur noch ein kleiner Schritt zum Pariser Andachtsbuch: Dort steht der Knabe mit nackten Füßen auf Mutters Schoß, in weißes Tuch gehüllt, und greift zärtlich nach Marias Kinn.

Ganz einheitlich und dann doch wieder mit kleinen Nuancen entwickelt sich die Bildtradition zur Anbetung der Könige: Wie in den hier zitierten Handschriften sind die Weisen aus dem Morgenland auf fol. 9v des Restwolde-Psalters von links gekommen. Während die beiden jüngeren noch ihre zinnoberroten Kronen auf dem Haupt tragen, ist der grauhaarige Älteste barhäuptig niedergekniet; dabei hat er

45 Im Folgenden wird häufiger auf Einzelnachweise der Abb. verzichtet; sie finden sich in Carlvant 2012 für die Psalterien sowie bei Bräm 1997 und Stones 1997 für das Andachtsbuch.

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Paris, BnF, Naf 16251

wie im Dampierre-Psalter seine goldene Krone über den rechten Unterarm gestülpt. Während dieser König in den meisten flämischen Psalterien wie Morgan 72 und im Andachtsbuch der Madame Marie seine Krone mit der Linken auf dem Knie hält, 46 hat er in unserer Miniatur beide Hände frei, um einen Behälter mit Gold zu reichen.

Nach dem Gold greift der Knabe, der bereits in seinen grauen Rock gehüllt ist. Maria sitzt rechts und hält den Knaben so aufrecht, daß dessen nackte Füße keinen Grund finden. Im Dampierre-Psalter küßt der ältere König die Füße. Im Oxforder Psalter Auct. D.4.2 steht der Jesusknabe auf Marias Schoß in seinem grauen Rock aufrecht und segnet die Magier. Der jüngste König, bartlos, weist auf ein Gefäß, das er als Geschenk bereit hält, während der mittlere mit seiner in einen langen Handschuh gehüllten Rechten zum in mattem Gold ausgeführten sechsstrahligen Stern zeigt, der die Spitze des Bildes unter dem Bogenscheitel einnimmt.

Wie bei der Verkündigung trägt Maria im Restwolde-Psalter über dem Kleid ein Surcot, also das ärmellose, nur an den Schultern gefaßte Oberkleid, diesmal in umgekehrter Farbigkeit dunkelrot unten und dunkelblau oben. Ihre goldene Krone ist sichtlich von französischem Typus. Daß die Kronen der beiden jüngeren Könige rot sind und nur der älteste König eine goldene erhält, mag an den umgebenden Farben liegen: Die Häupter der jüngeren beiden stehen vor Goldgrund, beim ältesten erscheint die Krone vor Tuch, bei Maria vor ihrem braunroten Nimbus. Durchweg rot sind die Kronen in Morgan 72 unabhängig vom Fond; erst im Andachtsbuch werden sie kostbarer in Gold gestaltet, was auf dessen recht spätere Entstehungszeit zurückzuführen ist.

Besonders streng komponiert ist die Taufe Christi (fol. 10v). Obwohl die Szene am Jordan, also im Freien spielt, wird sie in der Ädikula untergebracht, die hier wie in Morgan 72 nur Rahmung sein soll und deshalb offenbar auch in den anderen Bildern kein Interieur bezeichnet: Die Mitte nimmt Jesus ein, dessen Nacktheit von einem steilen Berg aus blauen Wellen verdeckt wird. Zu seiner Rechten, also links im Bild, in braunem Tuch, das durch wenige Striche als Fell charakterisiert werden soll, hebt Johannes der Täufer mit strengem Blick seine Rechte, deren Zeige- und Mittelfinger wie bei einem Segen ausgestreckt sind, während er mit der Linken den Täufling an der Schulter faßt. Rechts hält ein Engel den grauen Rock des Erlösers und, ungewohnter Weise, ein Salbgefäß.

Der Rückblick zur Königsanbetung zeigt, daß sich die Bebilderung an der Legende vom Ungenähten Rock orientiert, den Maria gewebt hatte und der von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter Jesu mitgewachsen sein soll. Daran halten sich die Vergleichsbeispiele in unseren inzwischen vertrauten Handschriften nicht; in Morgan 72

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46 Diese Bildformel geht in Brügge zumindest bis zum Bostoner Psalter zurück: Public Library, Med. 84, fol. 8v: Carlvant 2012, Abb. 3 g. Entsprechend auch im Manuskript des Magdalene Colleges, Cambridge, fol. 7v: Carlvant 2012, Abb. 4c, wo Maria eine goldene fleur-de-lis emporhält.

wie im Andachtsbuch wechselt die Farbe des vom Engel gehaltenen Rocks zwischen Epiphanie und Taufe. Beide Male wird die Taufe konkreter dargestellt als im Restwolde-Psalter : Johannes hebt ein irdenes Gefäß über Jesu Haupt, um Wasser auszugießen. Seitenverkehrung sorgt dafür, daß er das Gefäß in Morgan 72 von rechts mit der Linken hält, im Andachtsbuch aber umgekehrt mit der Rechten. Die Farbe des Wasserbergs vor Jesu Scham verändert sich stark: Tiefblau ist es in unserer Miniatur, grün im Andachtsbuch und mit helleren blauen Wellen auf Pergamentgrund in Morgan 72.

Die vier Szenen am Anfang der Lage mit den textlosen Bildern haben die Einbindung des Restwolde-Psalters in die Brügger Buchmalerei der zweiten Hälfte des XIII . Jahrhunderts ebenso wie eine Entstehungszeit um 1270 erwiesen. Eine gewisse Überraschung ergab sich aus der Verwandtschaft mit dem Dampierre-Psalter und vor allem dem Andachtsbuch der Madame Marie. Beide Manuskripte stammen für die Literatur noch aus einer feudalen Buchkultur. Auf die offensichtlichen Bezüge des Dampierre-Psalters zu Brügge und Gent ist Carlvant zwar gestoßen; doch hat sie das Manuskript dem städtischen Umfeld nicht konkret zugerechnet. An das Andachtsbuch mochte sie nicht denken; und zwischen dem Gebiet der Diözese Cambrai, in dem Bräm und Stones dieses Hauptwerk aus dem Übergang zum XIV. Jahrhundert orten, und Flandern besteht für beide eine unsichtbare Demarkationslinie.

Zwischen den ersten vier Vollbildern und der am Ende des Ternios stehenden BeatusInitiale fehlt ein Bild. Es muß die Kreuzigung gezeigt haben; denn sie fehlt in der Chronologie der dargestellten Ereignisse. Im Vorgriff auf noch entschiedener zu beweisende Bezüge zwischen den flämischen Psalterien sei hier bereits auf die Darstellungen in Morgan 72 und W 61 in Dublin hingewiesen: In beiden Handschriften hat man die Szene wie in flämischen Psalterien üblich auf den Gekreuzigten mit

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New York, PML, M. 72

Muttergottes und Lieblingsjünger reduziert, jedoch in Abweichung zu allen anderen Vollbildern mit kleinen Bildfeldern gerahmt; zu den 16 Prophetenbüsten in Dublin, die man auch im Restwolde-Psalter annehmen sollte, kommen in Morgan 72 zwei Engel in eigenen Bildfeldern hinzu, die Sonne und Mond über dem Erlöser halten. 47

Die Beatus-Initiale mit den zwei Szenen aus der Osternacht

Im von Carlvant ausgebreiteten Material zu flämischen Psalterien zeichneten sich schon bei den bisher diskutierten Szenen gewisse Alternativen ab, die auf der BeatusSeite auch durch die Wahl der Bildgegenstände deutlich zu Tage treten: Weithin hat man den Beginn eines Psalters wie im Exemplar des Magdalene Colleges mit Davidsszenen geschmückt. 48 Auch ein Gottesbild findet sich in manchen Handschriften. 49 Im Restwolde-Psalter aber setzt sich der Zyklus, der mit Vollbildern begonnen hatte, im besten Einklang mit einigen der wichtigsten flämischen Handschriften der Zeit in der Beatus-Initiale (fol. 11v) fort.

Schon der Schreiber hat, wie bereits erwähnt, an dieser Stelle mit einer ungewohnten Disposition gerechnet, sonst hätte er nicht die Anfangsworte Beatus vir ausgelassen – wie manch ein Zeitgenosse in Flandern ausgerechnet zu Beginn der ersten Lage des fortlaufenden Texts auf fol. 12. Die Beatus-Initiale verlangte somit eine Seite für sich, die im Gefüge des Buchs und nicht nur in der ästhetischen Wirkung eine Sonderrolle einnimmt. Das B wird wie ein Vollbild begriffen; zwar ließ der prachtvolle Buchstabe keine Bogenarchitektur zu; die prachtvolle goldene Rahmung, die bereits die ersten vier Bilder schmückte, blieb jedoch die gleiche.

Das B strahlt oben und unten in Voluten mit Blattwerk aus und wird mittig auf der linken Seite von einem Knaben begleitet, der ein monumentales mattgoldenes Blasinstrument spielt. Die beiden unterschiedlich großen Felder des Buchstabens werden wie im Psalter des Brügger Grootseminarie 50 mit zwei Szenen aus dem Ostergeschehen gefüllt – nicht der Erzählung folgend, sondern eher räumlich in Oben und Unten geschieden: Unten ist die Vorhölle; dort tritt Christus vor das weit aufgerissene Maul der Hölle; er trägt einen blauen, innen rot gefütterten Mantel und richtet d as Kreuz, das eigentlich seinen Stab bekrönen müßte, als Waffe gegen den rot glühenden Kopf des grünen Todes, der vor ihm am Boden liegt. Mit der angewinkelten Rechten greift der Erlöser die Hand des nackten Adams, dessen Gestalt Eva fast ganz verdeckt. Die Ureltern entsteigen dem Höllenmaul, dessen mit Zähnen besetzter Oberkiefer senkrecht aufragt und dessen aufblitzendes großes Auge auf gleicher Höhe erscheint wie ein Vierpaß im bauchigen Buchstabenkörper rechts daneben.

47 Carlvant 2012, Abb. 44f und 29h.

48 Carlvant 2012, Abb. 4d.

49 So der Schöpfer in Cambridge, St. John’s College, N 19, fol. 9v: Carlvant 2012, Abb. 18b.

50 Brügge, Grootseminarie oder Bischschoppelik Seminarie, 55/171, fol. 9v: Smeyers 1998, Abb. 38 auf S. 129; Carlvant 2012, Abb. 27i.

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Oben verläßt Jesus als Auferstandener mit Kreuzstab und Fahne das Grab, sucht Halt mit dem rechten Fuß, der das Wundmal zeigt und noch nicht den waagerechten Steg vorn, der die beiden Bildfelder im B teilt, gefunden hat. Er segnet und wendet sich nach rechts, während zu beiden Seiten je ein Soldat ungestört weiterschläft. Hier trägt Christus dasselbe Grau, das den Ungenähten Rock seit der Königsanbetung kennzeichnete (um den ja die Soldaten unter dem Kreuz gewürfelt hatten), jedoch als ein Manteltuch um den Leib geschlungen.

Einen gewissen Sinn für Varianten haben wir schon bei den vier Vollbildern aus dem Leben Jesu erkennen können. Bei der Beatus-Seite kommen weniger Handschriften zum Vergleich in Frage. Einerseits greifen manche Psalterien, die bisher von Belang schienen, wie wir im Cambridger Exemplar gesehen haben, beim 1. Psalm dann doch zurück auf König David, oder sie setzen ihren in kleinere Schritte eingeteilten Christus-Zyklus mit irgendeiner Szene fort, die gerade von der Chronologie verlangt wird; so ist man im Dampierre-Psalter bei der Flucht nach Ägypten angelangt. In anderen Handschriften wie Morgan 106 kann die Bildfolge auch ausscheren, so daß die monumentale Letter eine chronologisch nicht passende Christuserscheinung zeigt, der zur Auferstehung der Toten am Jüngsten Tag hinter seinem Kreuz aufragt.

Motivisch und stilistisch am engsten verwandt sind die Beatus-Initialen in Morgan 72 und dem Dubliner Manuskript; beide stimmen ikonographisch mit den entsprechenden Szenen im Restwolde-Psalter überein.51 Im New Yorker Exemplar wird jedoch dem Abstieg in die Vorhölle viel mehr Platz gewährt: Da Christus

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New
York, PML, M. 106 New York, PML, M. 72
51 Carlvant 2012,
und 29i.
Abb. 44 g

unten vor dem Höllenrachen aufrecht steht, oben aber wie auf dem Grab sitzend erscheint, ist für ihn in den beiden Registern unterschiedliche Bildhöhe erforderlich. Der Goldgrund um sein Haupt in der unteren Szene wird unter einem schwungvollen Bogen prächtig ausgebreitet, oben aber begrenzt. In Dublin hingegen werden die beiden Bildfelder von der Größe her kaum unterschieden und wie auf unserer Beatus-Seite durch eine dünne waagerechte Leiste getrennt. Strenger konstruiert wirken die Initiale mit ihren nach links ausstrahlenden Ranken; und die auf das B folgenden Buchstaben eatus uir stehen in goldener Auszeichnungsschrift unter dem geschlossenen Rahmen. Daß dessen vier Leisten in derselben raffinierten Weise in mattem und glänzend bombiertem Gold geschmückt sind, unterstreicht noch einmal entschieden unsere Annahme: Der Brügger Psalter in Dublin ist im gesamten von Carlvant dokumentierten Bestand unserem Manuskript am engsten verwandt!

Die fünf Vollbilder zu Psalterteilungen

In der Formel des Noli me tangere zeigt das in den Textverlauf des 25. Psalms eingefügte textlose Blatt (fol. 36) den Auferstandenen Christus als Gärtner am Ostermorgen: es soll den Abschnitt für Montag, die erste feria, betonen, der mit dem 26. Psalm (Dominus illuminatio mea) eröffnet: Wie in vielen Versionen des Geschehens sorgt ein zentral zwischen den beiden Gestalten aufwachsender Baum, hier ein gewundenes Keulenbäumchen mit zwei spitz zulaufenden kleinen Kronen, für eine Assoziation zum Baum der Erkenntnis, der in vielen Bildern des Sündenfalls Adam und Eva trennt. Christus ragt hoch auf, trägt wie bei der Auferstehung zu Osterbildern einen grauen Mantel. Dazu hält er den Kreuzesstab; nichts weist auf seine Erscheinung als Gärtner hin. Schon durch die nach rechts schwingenden Äste des Baumes stark eingeschränkt, bleibt Magdalena wenig Raum: Sie kniet, wie Maria mit weißem Schleier im blauen Mantel über dunkelrotem Kleid. Weit entfernt davon, nach dem Auferstandenen greifen zu wollen, fügt sie die Hände zum Gebet und blickt zu ihm auf.

Eine Reihe von Vergleichsbeispielen wiederholt diese Szene und zwar durchweg seitenverkehrt. Nur noch zweimal, im Dampierre-Psalter und im Bilderbuch der Madame Marie, fol. 45v, wo Magdalena – nun in mit Pelz gefüttertem Mantel –fassungslos die Hände öffnet, trennt der Baum die beiden Gestalten. In den anderen Brügger Psalterien rückt er an die linke Bildseite, so daß das Laub über der knienden Magdalena gebreitet werden kann. Das ist der Fall bei den nahezu identischen Miniaturen in Morgan 106 52 und in Arsenal 604.53 Magdalena kann dadurch näher

52 New York, Pierpont Morgan Library, Morgan 106, fol. 71v: Abb. bei Smeyers 1998, S. 138. Die Zuordnung zu den Psalmenteilungen ist beliebig: in Morgan 106 steht das Bild im Textverlauf vor dem 68. Psalm, also Salvum me fac, dessen Initiale zu einer Apostelserie gehört.

53 Paris, Bibl. de l’Arsenal, Ms. 604, fol. 53v: Leroquais 1940/41, Nr. 253, Bd. II , S. 11 – 12; diesmal gegenüber dem 52. Psalm, Dixit insipiens: Carlvant 2012, Abb. 17e.

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an den Auferstandenen rücken, der die Heilige segnet. In Morgan 72 aber nimmt Christus mit elegantem Schwung nach rechts geradezu Reißaus vor ihr.

Seitenverkehrt zu unserem nach links orientierten Bild des Noli me tangere ist die nächste textlose Miniatur angelegt, als habe man das aus den anderen Psalterien, wo der Baum von links ins Bild ragt, auf den Bericht vom Ungläubigen aus Joh. 20 übertragen wollen: Unter einem von links aufragenden und zur Mitte schwingenden Baum, kniet auf fol. 53v, vor dem 38. Psalm (Dixi custodiam) der Apostel Thomas, bartlos und damit in einer Gestalt, die an Johannes den Evangelisten denken läßt. In der Linken hält er ein Buch; mit der weit ausgestreckten Rechten erreicht er die Seitenwunde des Auferstandenen, in die er Zeige- und Mittelfinger taucht. Jesus weicht ähnlich wie die Jungfrau Maria bei der Verkündigung nach rechts aus, wieder im grauen Mantel mit Kreuzesstab.

Seine rechte Hand streckt der Heiland weit über dem Haupt seines Apostels aus, eher verwundert als segnend. Eng verwandt, jedoch ebenfalls mit bärtigem Thomas sind die auf die Gegenüberstellung von Apostel und Auferstandenem beschränkten Miniaturen in dem Oxforder Psalter Auct. D.4.2 ebenso wie in Dublin und im Dampierre-Psalter. 54 Christi Geste kehrt im Bilderbuch der Madame Marie, fol. 47v, wieder, wo der Apostel allerdings bärtig und im Kreis der Jünger gezeigt wird. Da diese drei genannten Beispiele die Szene unter einem, zwei und dann drei gotischen Bögen anordnen, wird deutlich, wie nebensächlich die Frage der architektonischen Rahmung ist. Ein Blick zurück auf den Psalter im Arsenal zeigt, daß auch die

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Paris, BnF, Naf 16251 New York, PML, M. 106 54 O xford, Bodleian Library, Auct. D.4.2, fol. 88, nach dem Beginn von Salvum me fac auf fol. 87v (Carlvant 2012, Abb. 28q), Dublin, Chester Beatty Library, W 61, fol. 60v (Carlvant 2012, Abb. 29j) und Brüssel, KBR , ms. 10607, fol. 149v vor Cantate domino (Smeyers 1998, Abb. S. 141).

Einbeziehung von Jüngern als Zeugen keine besondere Rolle spielt; wichtig bei dem Vergleich ist in erster Linie, daß Thomas im Arsenal bartlos und johannesgleich erscheint.55 In Morgan 72 hingegen kehrt der zentrale Baum, den wir in unserem Noli me tangere kennen gelernt haben, beim Ungläubigen Thomas wieder; nun bezeugt jedoch Petrus gemeinsam mit einem zweiten Apostel das Ereignis.

Die Darstellungen der heiligen Magdalena im Noli me tangere und des Apostels Thomas gehören in keinem der hier zitierten flämischen Psalterien zu einer vor die Psalmen geschalteten Bildfolge; sie sind durchweg im Textverlauf Psalmenteilungen zugeordnet. In diesem Zusammenhang finden sie aber keinen festen Platz, sondern treten je nach der Szenenauswahl in den einzelnen Zyklen auf, wo die Chronologie der Erscheinungen des Auferstandenen ihnen einen Sinn gibt.

Wie wenig das Thema eines textlosen Vollbildes jeweils mit dem Psalm zu tun hat, dem sie zugeordnet ist, wird im Restwolde-Psalter beim nächsten Beispiel deutlich: Die Initiale zum 51. Psalm, der das zweite Drittel des Psalters eröffnet, kommt wohl deshalb ohne eine große Miniatur aus, weil sich im heilsgeschichtlichen Kontext kein Bildgegenstand dafür anbietet. Die Himmelfahrt Christi (fol. 69v), die in unserem Manuskript den Zyklus aus der Heilsgeschichte abschließt, gesellt sich als das nächste eingefügte textlose Blatt zum direkt folgenden 52. Psalm (Dixit insipiens), also zu dem berühmten Incipit vom Narren, der Gott leugnet. Hier wird es mit dem Martyrium des Apostels Andreas eröffnet und nicht mit einem der unvergeßlichen Narrenbilder.

Zwischen den Apostelfürsten im Zentrum steht die Muttergottes, die diesmal ihren braunroten Mantel über den weißen Schleier gezogen hat. Vom Wunder der

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New York, PML, M. 72
55 Paris, Bibl. de l’Arsenal, Ms. 604, fol. 66v: Carlvant 2012, Abb. 17 f.

Himmelfahrt in der Höhe über ihr nimmt Maria mit gesenktem Haupt, ein Buch in der Hand, gar nichts wahr, während Petrus und Paulus zum Erlöser aufblicken. Jesus ist bereits in wellige Wolken aufgenommen, die im Bogenabschluß des Bildes nur noch seine nackten Füße und den Saum des grauen Rocks (der eigentlich bei der Kreuzigung im Würfelspiel einem Soldaten zugekommen war und in den letzten drei Szenen durch den grauen Mantel ersetzt war) sichtbar lassen. Dieses Motiv wird in allen hier herangezogenen Beispielen ähnlich gestaltet. Gegen den Bericht der Apostelgeschichte ist im Restwolde-Psalter aus Saulus, der nach Christi Himmelfahrt als erster Christenverfolger den heiligen Stephanus sterben ließ, bereits Paulus geworden. Mit Petrus flankiert er die Muttergottes; mit Schlüssel und Schwert geradezu bewaffnet drängen beide die übrigen Apostel in den Hintergrund. Nicht in allen Vergleichshandschriften nimmt Maria die Mitte ein, so steht sie im Oxforder Ms. Douce 38 Petrus gegenüber; doch auch hier spielt Paulus bereits mit; denn hinter ihr taucht ein für ihn charakteristischer Kopf auf.56 Auch in Morgan 72 sind mit den Protagonisten neben der zentral stehenden Muttergottes ohne Zweifel Petrus und Paulus gemeint, aber nicht bezeichnet. Wieder fällt die Nähe zum Andachtsbuch der Madame Marie auf; denn dort gibt es zwar keinen klar als Paulus bezeichneten Apostel, wohl aber Petrus mit dem Schlüssel.

Die beiden Vollbilder mit Heiligen der Bettelorden

Mit fol. 103v, dem vor den 80. Psalm eingefügten Blatt, lösen sich die textlosen Vollbilder vom Heilsgeschehen. Hätte man den Jesus-Zyklus fortsetzen wollen, dann wäre nun Pfingsten dargestellt. Stattdessen springt die Bilderserie zur Vogelpredigt des heiligen Franziskus in einer Formel, die auf den ersten Blick an seine Stigmatisation in Anwesenheit des schlafenden Mitbruders denken läßt. Beide Szenen gehen zumindest bis zu Giotto zurück: Sie finden sich auf dem von Giotto mit Namen bezeichneten Gemälde des Pariser Louvre – die Stigmatisation als Hauptbild und die Vogelpredigt als in die Tafel integrierte Predella – sowie als monumentale Fresken an der Eingangswand in der Oberkirche von San Francesco in Assisi. Dabei mag hier die Diskussion außer Acht bleiben, ob diese berühmten Wandbilder von Giotto oder – wie die ernste Wissenschaft inzwischen meint – nicht von ihm gemalt wurden. Bei der Stigmatisation ist der Ordensgründer von einem Bruder begleitet, der das Wunder verschläft, während der Mitbruder die Vogelpredigt befremdet wahrnimmt. In unserer Miniatur hingegen kriegt der Gefährte von der wunderlichen Predigt des Heiligen nichts mit. Franziskus predigt mit sprechenden Händen einem blauen Kranich und einem Storch, die auf dem Boden stehen und zu ihm aufschauen, und fünf weiteren, die sich in den beiden kleinen Kronen des Keulenbäumchens und oben unter dem Bogenscheitel aufhalten und ihm zuhören.

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Oxford, Bodleian Library, Douce 38, fol. 142c: Carlvant 2012, Abb. 33 f.

Im Pariser Andachtsbuch wird der heilige Franziskus nur schlicht dem heiligen Antonius gegenübergestellt. Eine entsprechende Miniatur steht in unserem Psalter als letztes Vollbild, zum 97. Psalm (Cantate domino canticum novum) mit fol. 122 eingefügt, als einzige textlose Miniatur auf Recto: Die beiden Hauptheiligen der Dominikaner, Petrus Martyr und Dominikus, stehen in weißer Kutte mit schwarzem Skapulier einander gegenüber; beide sind unversehrt; der linke aber hat eine große Waffe in der Hand, nicht recht ein Schwert und sicher keine Axt. Doch wird man nicht fehlgehen, in ihm Petrus von Verona zu erkennen, dem 1252 der Schädel gespalten wurde und der schon im folgenden Frühjahr 1253 nach dem kürzesten Kanonisationsprozeß der Kirchengeschichte heiliggesprochen wurde. Damit ist zumindest dieses Bild nach 1253 datiert. Dem Märtyrer steht der Ordensgründer Dominikus mit Buch und Kreuzesstab, rechts, also à senestre und damit auf der schlechteren Seite, gegenüber.

Vergleiche zu dieser Miniatur bringen nicht viel; im Andachtsbuch der Madame Marie sind die beiden Dominikaner anders als Franziskus und Antonius nicht in einem geistlichen Gespräch einander zugeordnet. Vielmehr wirkt die Miniatur, als hole der Mörder des Märtyrers gerade noch einmal aus, um mit seinem Schwert dem knienden Petrus von Verona zum Entsetzen des Ordensgründers Dominikus einen zweiten Stoß zu versetzen.57

Viel ergiebiger sind die beiden Vergleichsbeispiele zur Vogelpredigt des heiligen Franziskus. Gleichsam die bisherigen Beobachtungen zusammenfassend unterstreichen sie, daß wir auf dem richtigen Weg zur Ortung unserer Handschrift sind:

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Dublin, Chester Beatty Library, W 61 New York, PML, M. 72 57 Paris, BnF, NAF 16251, fol. 93, ein Blatt vor den Franziskaner auf fol. 94v.

In Morgan 72 und im Dubliner Psalter kehrt die Szene wieder: Im einen Beispiel hockt der Mitbruder zum Heiligen gedreht am Boden, im anderen ist er zum Baum gewendet, der von den Vögeln bevölkert ist. Nur hier, in Dublin, ist die Kutte des heiligen Franziskus wie in unserer Miniatur aufgerissen, so daß man die Seitenwunde deutlich erkennen kann. Alle drei textlosen Bilder sind mit architektonischer Rahmung versehen, obwohl das Geschehen im Freien spielt; alle drei verfügen auch über die breiten Rahmen; doch ist in der Leiste über dem Bild in Morgan 72 der Name des Heiligen in goldenen Lettern geschrieben: sc/franc/iscv/s. Dieser Zusatz wird in Dublin ebenso wenig wie in unserer Miniatur gebraucht; in beiden Manuskripten aber ist die Leiste auf dieselbe raffinierte Weise in mehreren Arten von Gold gestaltet.

Bild-Initialen im Psalter

Alle Psalterteilungen sowie Ps. 51 und 101, mit denen das zweite und letzte Drittel des Psalters einsetzen, erhalten Bild-Initialen, zunächst acht Zeilen hoch, gegen Ende eher eine Zeile niedriger. Dargestellt sind Heilige; wie in zeitgleichen flämischen Psalterien haben sie keinerlei erkennbaren Bezug zu den Texten, die sie eröffnen, oder zu den Vollbildern, mit denen sie prächtige Doppelseiten bilden. Gegenüber dem Noli me tangere auf fol. 37 folgt zur Eröffnung von Ps. 26 (Dominus illuminatio mea) die erste Bild-Initiale: Zur Steinigung des Erzmärtyrers und Erzdiakons Stephanus holt ein Mann links mit einem Stein in der Hand aus. Der Heilige kniet nach rechts, also vom Peiniger abgewendet, aufrecht; er betet – der Apostelgeschichte zufolge für seine Mörder. Als Diakon kennzeichnet ihn die blaue Dalmatika mit steifem roten Kragen; sein tonsurierter Schädel ist schon von einem Stein getroffen und blutet.

In der Initiale zu Ps. 38 (Dixi custodiam) auf fol. 54 gegenüber dem textlosen Bild des Ungläubigen Thomas werden Petrus und Paulus mit Schlüssel und Schwert als die Apostelfürsten bezeichnet. Der eine ist tonsuriert, der andere fast kahlhäuptig; sie sitzen auf einer Bank einander zugewendet. Apostelzyklen waren in frühen Brügger Psalterien beliebt, jedoch mit einzelnen Gestalten, meist ohne klare Bezeichnung. Immerhin steht im Psalter von Dublin dem sehr ähnlichen Vollbild des Ungläubigen Thomas an derselben Stelle im Buch eine Initiale gegenüber, in der Paulus mit dem Schwert nach rechts gewendet sitzt.58

In der unteren Hälfte von fol. 68 setzt mit Ps. 51 (Quid gloriaris) die erste Psalmenteilung ohne eine textlose Miniatur ein. Nach dem Erzdiakon und Erzmärtyrer von Jerusalem Stephanus und den beiden Apostelfürsten wendet man sich nun mit dem Laurentius-Martyrium dem römischen Erzdiakon zu: Der tonsurierte Heilige liegt nackt auf seinem Rost über lodernden Flammen und wird von einem Schergen mit

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58
Carlvant 2012, Abb. 29j mit der Doppelseite fol. 60v – 61.

einer mächtigen Gabel niedergehalten, obwohl er gar keine Anstalten macht, sich dem Martyrium zu entziehen. Der Scherge trägt eine weiße Kappe, wie sie im XIII . Jahrhundert oft auch Ritter aufhatten; denn diese Art Haube schützte die Ohren, wenn man den Helm aufzog. Einige Vergleichsbeispiele gibt es, zuweilen mit zwei Schergen oder wie in Morgan 72 mit dem Herrscher, der das Martyrium anordnet.

Der Himmelfahrt Christi steht in der Initiale zu Ps. 52 (Dixit insipiens) mit der Kreuzigung des Andreas auf fol. 70 ein Apostelmartyrium gegenüber, das besonders für Burgund bedeutend sein sollte. An ein x-förmiges Kreuz, dessen Grün an Kreuze Christi denken läßt, die als Lebensbaum zu verstehen sind, binden zwei Schergen Andreas, der bartlos, geradezu kindlich wirkt, also gar nicht wie ein Apostel aussieht. Ohne ein textloses Bild kommt Ps. 68 (Salvum me fac) aus. Die Schwingung des Buchstaben S wird in der herkömmlichen David-Ikonographie dazu genutzt, den König zu zeigen, wie ihm das Wasser im unteren Teil der Initiale metaphorisch zum Halse steht, er aber im oberen auftaucht. Die Gestalt des S regt hier zu einer Analogie mit der Schlangenform von Drachen an; so wird auf fol. 84v wie in anderen flämischen Psalterien gezeigt, wie die heilige Margarete mit Hilfe ihres kleinen Kreuzstabes aus dem Rücken des unten kauernden Drachens Beelzebub ausbricht und ihr Gebet nach links oben richtet. Im Dubliner Exemplar sieht das ganz ähnlich aus; nur ist der Schwanz des Ungeheuers dort munter gedreht; auf der Bildseite gegenüber wird Pfingsten gezeigt; eine entsprechende Miniatur mag hier fehlen.

Auf den ersten Blick nicht ganz einfach zu identifizieren ist das Thema der Initiale auf fol. 104 zu Ps. 80 (Exultate deo), der gegenüber der großen Miniatur mit Franziskus bei der Vogelpredigt steht: Die waagerechte Teilung des Buchstabens E regte eine auf den ersten Blick rätselhafte Szene an: Im unteren Bogen liegt ein nackter kahl-

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New York, PML, M. 72 Paris, BnF, Naf 16251

köpfiger Mann in seinem Bett und hebt überrascht eine goldene Kugel in die Höhe. Hinter seinem Bett stehen links drei Mädchen, deren Oberkörper die linke Bildhälfte oberhalb der waagerechten Haste einnehmen. Eines von ihnen nimmt eine goldene Kugel entgegen, die ein junger tonsurierter Heiliger durch eine Bogenöffnung in einer Art Turm reicht. Er ist von rechts hinzugetreten und wird noch eine dritte goldene Kugel bringen. Gemeint ist die Morgengabe des Nikolaus: Der jugendliche Heilige soll, lange bevor er zum greisen Bischof mit Bart und Chormantel wurde, drei Töchtern eines armen Vaters, der nur über ein einziges Bett verfügte, eines Nachts drei Goldkugeln ins Zimmer geworfen haben, damit sie angemessen verheiratet werden konnten. Diese Nikolaus-Legende ist der Ursprung der Sitte, am Nikolaustag nächtens Geschenke zu machen, die erst am nächsten Morgen entdeckt werden. Daß Nikolaus gemeint ist, wird durch eine seitenverkehrt angelegte ganzseitige Miniatur im Andachtsbuch der Madame Marie unterstützt: Dort ist auf fol. 90v die Szene, die im Restwolde-Psalter vom waagerechten Strich des E geteilt wird, räumlich vereinheitlicht. Verständlicher wird die Komposition dort aber nicht; denn aus dem nächtlichen Geheimnis seiner Gaben wird nun eine wenig verständliche Zeremonie: Direkt am Bett des Vaters, der sich nackt aus Laken und Decke aufrichtet und zum jugendlichen Heiligen am Fußende blickt, steht Nikolaus, der bereits – gegen die Legende – Mitra und Krümme seiner Bischofswürde trägt und durch seinen Namen unter dem Bild bezeichnet, links; zu ihm blicken die drei Töchter von rechts. Zwischen ihnen erhebt sich eine Art Fiale, durch die nun die goldenen Kugeln gereicht werden. Nikolaus hat die dritte Kugel noch in seiner Rechten, um sie einer der Töchter zu geben, die schon eine solche in der rechten Hand hält.

In Psalterien kommen entsprechende Nikolausbilder vor: An derselben Stelle, gegenüber der Entschlafung Mariens in Morgan 72, tritt der Heilige als Jugendlicher mit Tonsur auf; sein voller Haarschopf in Dublin wird der Legende, die von seiner guten Tat vor der Bekehrung zum Priesteramt berichtet, besser gerecht. In diesem Manuskript sind die Vollbilder zwar bereits bei den Bettelorden angelangt, jedoch steht nun der Nikolaus-Initiale ein Bild mit Dominikus als Prediger zur Gemeinde und nicht der heilige Franziskus bei der Vogelpredigt gegenüber.

Nicht ganz schlüssig zu deuten ist auf fol. 121v das Martyrium eines bartlosen jungen Mannes mit Tonsur zu Ps. 97 (Cantate domino canticum novum): Während ein Scherge von links aus einer Schale etwas nachfüllt, sitzt der Heilige nach rechts gewendet aufrecht in einem Bottich und betet inbrünstig zu einer nur durch Wolkenbänder angedeuteten Himmelserscheinung. Das Ölmartyrium Johannes des Evangelisten ist gemeint; es wird seitenverkehrt zum 52. Psalm in einem bisher noch nicht erwähnten Psalter der British Library gezeigt, den Carlvant in Gent ansiedelt. 59 Daß in der Folge der Bildinitialen Johannes näher zu den anderen

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59 London, BR , Burney 345, fol. 70: Carlvant 2012, S. 247 – 248 und
Abb. 43c.

Aposteln gerückt ist, zeigt, daß die Hierarchie der Heiligenlitanei bei der Organisation dieser Psalterien keine Rolle spielt.

Zum irrig als 102 gekennzeichneten Ps. 101 (Domine exaudi), der das letzte Drittel des Psalters einleitet, ist auf fol. 124v nicht König David, sondern eher ein mittelalterlicher König im Gebet an einem Altar kniend gezeigt. Wie oben schon erläutert, wird ein Gebet des heiligen Ludwig gemeint sein, der als einziger ohne Nimbus erscheint, aber offenbar in eine Serie von Heiligenbildern aufgenommen ist.

In einer Anzahl flämischer Psalterien wird Ps. 109 (Dixit dominus domino meo) zu Beginn der Sonntags-Vesper wie hier auf fol. 141 mit der Marienkrönung eröffnet; das geschieht in Morgan 72 ebenso wie im Dubliner Exemplar gegenüber einem Bild des Jüngsten Gerichts. Im Restwolde-Psalter findet sich heute an dieser Stelle kein Bild auf einem eingefügten textlosen Blatt, sondern nur die acht Zeilen hohe Initiale. In vielen Regionen war man zu Beginn dieses Psalms eine Darstellung der Trinität gewohnt; denn das Incipit des Psalms war Christen als alttestamentliche Anspielung auf die Trinität teuer. An die Stelle eines Trinitätsbildes, bei dem Vater und Sohn einen Thron im Himmel im Beisein der Taube des Heiligen Geistes teilen, ist der Abschluß eines Marienzyklus getreten: Auf gemeinsamer Bank thronen Mutter und Sohn; sie erhält von ihm eine Krone, hebt die Hände betend zu ihm, während er das Evangelium oder das Buch des Lebens hält.

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Unser Katalog 76, 1: Psalter der Isabelle de Lens

Ein kurzes Resümee zum Brügger Restwolde-Psalter

Die Vergleiche mit den anderen Psalterien aus Brügge und Gent rückten unser Manuskript in engste Nähe zum Western Ms. 61 der Chester Beatty Library in Dublin, den Carlvant der zweiten Generation der Brügger Buchmalerei zuordnet und um 1265/70 datiert. Diese Generation, die für Carlvant vom Meister des Brügger Grootseminarie 60 dominiert wird, bricht mit den „monumental older local idioms“ und zeichnet sich durch „a more delicate High Gothic style of French inspiration“ aus. 61 War man zuvor gewohnt, die Initialen zu den Psalterteilungen mit Bildern meist namenloser Apostel zu besetzen, kommen nun neben einzelnen klar bestimmten Apostelbildern jene Szenen aus dem Leben und den Martyrien späterer Heiliger auf, wie sie auch im Restwolde-Psalter eingesetzt sind. Besonders charakteristisch sind die Morgengabe des heiligen Nikolaus und das Ölmartyrium des Evangelisten Johannes sowie die in der Initiale S aus dem Rücken des Drachens auftauchende heilige Margarete.

Aus der schon in älteren Beispielen wie eine textlose Miniatur gestalteten BeatusInitiale werden Davidsszenen und große Christusbilder zunehmend durch die Schilderung der Osternacht in zwei übereinander gestellten Bildräumen verdrängt. Nachdem die Gründer der erst zu Beginn des XIII . Jahrhunderts aufgetretenen Bettelorden Dominikus und der stigmatisierte Franziskus bereits in einigen früheren Beispielen eine gemeinsame Miniatur62 besetzen durften, erhalten lebendigere Motive, die man heute gern irrig als narrativ bezeichnet, durch getrennte Miniaturen stärkeres Gewicht: Wie ein Erkennungszeichen wirkt die Vogelpredigt des heiligen Franziskus, während dominikanische Themen – die Predigt des Dominikus, der Tod des Petrus Martyr oder Reginalds Vision vom Ordenshabit – sehr viel weniger einheitlich gefaßt sind. 63

Während sich das neue ikonographische Material, das die zweite Brügger Generation prägte, rasch und recht einheitlich durchsetzte, veränderte sich zugleich die Rahmung der Vollbilder: Gotische Ädikulen nehmen oft, so im Psalter des Grootseminarie mehr als das obere Drittel der Bildfläche ein. Breite Rahmen, bevor-

60 Die bischöfliche Bibliothek ist in Räumen der ehemaligen Zisterzienserabtei Ter Duinen, im Deutschen auch als Dünenabtei bekannt, in der Potterierei untergebracht. Benannt hat Carlvant den Maler nach zwei dort aufbewahrten Handschriften: dem für uns wichtigen Psalter 55/171 (Carlvant 2012, Abb. 27a–p) und dem nur mit Bildinitialen geschmückten Brevier 54/100 (Carlvant 2012, Abb. 30a–c). Farbabb. der hier besonders interessierenden Vollbilder mit der Vogelpredigt des heiligen Franziskus und der Beatus-Initiale bei Smeyers 1998; Abb. 36 und 38, S. 136 und 139.

61 Carlvant 2012, S. 75.

62 Die Bilder wirken, als schaue Dominikus die Stigmata des Franziskus, so in Madrid, BN , Vitr. 23–9, New York, Morgan 106, Paris, Arsenal 604: Carlvant 2012, Abb. 14m, 16j und 17 g.

63 Bei der Vision des Reginald von Orléans erscheint die Muttergottes, um das dominikanische Ordenshabit zu definieren: So auf fol. 80v im Psalter des Grootseminarie (Carlvant 2012, Farbtaf. 8). Dort findet sich auch der Tod des Petrus Martyr auf fol. 111v (Carlvant 2012, Abb. 27o).

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zugt mit Leisten in abwechselnd rotem und blauem Flächendekor umfassen diese Architekturen, die nicht als Innenräume zu verstehen sind; sie werden aber von in den oberen Rand aufsteigenden Türmchen, Fialen und anderen Bekrönungen durchdrungen. In Paris läuft die Entwicklung parallel: Architekturen beginnen dort mit ähnlich schlichten Bögen wie in Brügge, bleiben aber bis zum etwas späteren Psalter des heiligen Ludwig, Lat. 10525 der Pariser Bibliothèque nationale, meist in die Rahmen eingepaßt. 64

Bei der Durchsicht des von Alison Stones ausgebreiteten französischen Bestandes aus der Zeit von 1260 bis 1320 verstärkt sich der Eindruck, daß Spiele mit Türmchen und Fialen, die aus der Rahmung nach oben ausbrechen, allgemein recht selten waren und im Wesentlichen auf den Norden beschränkt blieben. 65 In diesem Zusammenhang kommt noch einmal das Andachtsbuch für Madame Marie in den Blick, in dessen reichem Bildbestand uns so manche Parallele von dem Geburtsbild zur Morgengabe des heiligen Nikolaus gerade zum Restwolde-Psalter erstaunte. Gerahmt sind die rechteckigen Miniaturen dort nicht durch breite Leisten, sondern einfache Blattgoldstäbe. Im Binnenfeld sorgen gotische Zierarchitekturen für schlichte Gliederung; deren Bekrönung besteht meist aus goldenen Kreuzblumen; die greifen zwar keineswegs so energisch über die Bildgrenzen hinaus; aber sie tun es immerhin – und hier wird ja auch nicht behauptet, das Andachtsbuch gehöre in die engste Umgebung unserer Psalterien.

Innerhalb der zweiten Brügger Generation nimmt der Dubliner Psalter eine Sonderstellung ein; die Malweise, die für Carlvant im Vergleich mit anderen Manuskripten „earthier“ aussieht, kehrt in unserem Psalter wieder: Ähnlich frei werden Flächen und Konturen miteinander verbunden; das mag wie „hastier work“ wirken, verrät aber eine Frische und Freiheit, die für sich bemerkenswert ist. 66 Sie bedeutet keinen Verzicht auf Kostbarkeit; denn die auffälligste Gemeinsamkeit zum Dubliner Psalter besteht in den virtuosen Goldwirkungen bei der Rahmung der Vollbilder, die es, soweit wir sehen, weder in Flandern noch in Paris gibt. Das ikonographische Programm stimmt zwar nicht in jedem Punkt überein; doch ergeben sich so viele Übereinstimmungen, daß wir die heute im Restwolde-Psalter fehlende Kreuzigung uns so vorstellen können wie diejenige in Dublin.

64 Die Einbindung in die Rahmung ist beispielsweise beim Psalter Add. 17868 der British Library der auffälligste Unterschied zu den Miniaturen der zweiten Brügger Generation: siehe Branner 1977, Abb. 290; in diesem Buch ist das Pariser Material ausgebreitet, jedoch in einer nicht leicht überschaubaren Weise und mit ungezählten Gruppierungen, die schwer nachvollziehbar und deshalb nicht lernbar sind. Zum Ludwigpsalter: Marcel Thomas: Der Psalter Ludwigs des Heiligen, Graz 1985; Harvey Stahl: Picturing Kingship. History and Painting in the Psalter of Saint Louis, University Park, Pa. 2008; Patricia Stirnemann und Marcel Thomas: Der Psalter Ludwigs des Heiligen, Graz 2011, 65 Ein Beispiel ist der nicht genau zu ortende Psalter, vielleicht aus dem Bistum Noyon (das immerhin mit Tournai engstens verbunden war). BnF, lat. 16272: Stones I, 2013, Cat. III , 108 und Abb. 706.

66 Die Begriffe bei Carlvant 2012, S. 84.

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Damit ergibt sich innerhalb der Brügger Produktion ein Paar von Psalterien etwa des gleichen Formats. 67 Gewisse Unterschiede sind jedoch nicht zu übersehen: In unserem Manuskript gehören die Initialen zu den Psalmenversen zur Familie des Federwerk-Dekors; in Dublin wie in den meisten von Carlvant dokumentierten Psalterien werden sie als goldene Lettern auf farbigen Flächen so eingesetzt, daß sich am linken Textrand jeweils ein senkrechter Block schließt.

Federwerk findet sich in wenigen Handschriften aus einer Übergangszeit; deshalb mag die Ausstattung der Psalmenanfänge vermuten lassen, daß unser Restwolde-Psalter vielleicht sogar etwas früher als der Dubliner entstanden ist. Dessen Datierung in die Jahre 1265/70 beruht nicht auf konkreten Indizien, sondern nur auf Carlvants Überzeugung, die große Brügger Buchmalerei der Gotik sei schon durch den Handelskrieg mit England in den Jahren 1270 bis 1274 zusammengebrochen. 68 Man mag nicht nur zweifeln, ob Kunst und Wirtschaft so eng verbunden waren; problematisch ist zugleich, daß Carlvant zwei „Generationen“ mit ihrer recht variantenreichen und breit angelegten Produktion in den nicht einmal eine Generation überspannenden Zeitraum zwischen den Jahren um 1250 und spätestens 1274 eingezwängt hat.

Angesichts der ohnehin nur sehr vagen Chronologie dürfen wir deshalb den RestwoldePsalter in die Zeit kurz nach dem Tod König Ludwigs IX . von Frankreich, 1270, datieren – und diesem eindrucksvollen Meisterwerk das Dubliner Manuskript folgen lassen. Nur wenig früher, aber wohl schon um 1270 wird auch Morgan 72 in New York entstanden sein; mit dieser in manchen Bildern eng verwandten Handschrift gehen der Restwolde-Psalter und sein – unseren Überlegungen zufolge etwas jüngerer – Zwilling in Dublin dem Dampierre-Psalter in Brüssel voraus.

Damit fügen sich die Miniaturen des Restwolde-Psalters in die bedeutendste Phase der großartigen Brügger Produktion der zweiten Hälfte des XIII . Jahrhunderts ein. Doch sollte man manche kleine Abweichung nicht übersehen, die uns bei der Betrachtung der Miniaturen auffielen: Wo sich eine Präzisierung anbietet, wird sie im Restwolde Psalter genutzt. Das gilt nicht nur bei der ein wenig irrigen Bezeichnung von Petrus und Paulus unter der Himmelfahrt. Der Erzengel Gabriel ist nur in unserem Manuskript als Diakon gekleidet; und die Jungfrau trägt schon bei der Verkündigung und der Geburt den weißen Schleier, den sie in den meisten flämischen Psalterien erst in späteren Szenen erhalten wird. In keiner anderen Vergleichshandschrift aus Flandern oder Paris wird ihr der Surcot gegeben, der ihre Gestalt wie bei nur wenigen Madonnenstatuen jener Zeit stärker in die Gegenwart rückt.

Damit kam der Maler vielleicht dem Wunsch einer vornehmen Auftraggeberin nach; im Dubliner Psalter wiederholte er das nicht.

67 Carlvant 212, S. 219, teilt nur die Maße des Textspiegels mit: 98 x 66 mm gegenüber 90 x 60 im Restwolde-Psalter

68 Carlvant 2012, S. 11.

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Von den eindrucksvollen Kalenderbildern ist hier noch im zweiten Teil dieses Buches zu sprechen. Sie bestätigen den engen Bezug zum Dubliner Psalter und die Einbettung in die große Brügger Buchmalerei. Indem sie noch radikaler als alle anderen verwandten Manuskripte auf die Eingrenzung durch markante Rahmen verzichten, verkörpern diese Darstellungen einen kühnen Höhepunkt der flämischen Buchmalerei des XIII . Jahrhunderts, ganz im Sinne einer Kunst, die sich in Brügge und Gent wie sonst nur in Paris von Klöstern und Fürsten gelöst hat und deshalb eng mit dem Aufstieg der großen Bürgerstädte verbunden ist!

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Nr. 7

Flämische Monatsbilder

vom XIII. bis zum XVI. Jahrhundert

Das Leben auf Erden im Blick auf das Jenseits

Zu allen Zeiten wurde das Leben auf der Erde vom Wechsel der Jahreszeiten geprägt. Nach Mondphasen und Tierkreiszeichen hatte man den Jahreslauf schon im antiken Griechenland, von babylonischen Quellen ausgehend, geordnet. Das römische Reich hat solche Ansätze aufgenommen, die zwölf Monate benannt und ihre Abfolge so festgelegt, wie sie im Prinzip noch heute fast weltweit gilt. 69 Das Christentum siedelte die eigenen Feste in einem solchen von heidnischer Tradition bestimmten Rahmen an.

Ein Blick zurück auf Anfänge

Eine Kultur, die wie das Christentum bis weit in die Neuzeit hinein ihre Kunst in erster Linie dem Gebet widmete und ihre Gebete ganz auf das Jenseits richtete, gab dem Hier und Jetzt wenig Raum. Solange frühe Christen die Welt als eine Phase ansahen, die sie am liebsten zügig hinter sich lassen wollten, hatte die irdische Wirklichkeit nur geringen Wert. Nachdem sich das Christentum recht spät nicht nur über das in jüdischer Tradition angelegte Bilderverbot sowie die im byzantinischen Ikonoklasmus aufbrechende Angst vor dem Bild hinweggesetzt und auch nördlich der Alpen darstellerische Kunstfertigkeit entwickelt hatte, eröffnete man in karolingischer Zeit Handschriften wie das Godescalc-Evangelistar der Pariser Nationalbibliothek 70 mit eindrucksvollen Bildern: Den Darstellungen der vier Evangelisten und des jugendlichen Heilands folgt in dem zwischen 781 und 783 in der Hofschule Karls des Großen geschaffenen Kodex immerhin schon eine Miniatur, die ohne die großen Gestalten des Erlösungswerks auskommt. Sie zeigt den Lebensbrunnen, führt also eine Art Paradies vor Augen, das weit entfernt von der Welt der Buchmaler und Leser war.

Frühe Bilderserien wie die fast ganzseitigen Reichenauer Miniaturen im Martyrologium des Wandalbert von Prüm aus karolingischer Zeit 71 charakterisieren die Monate durch einzelne männliche Gestalten, die man als grammatikalisch

69 Hier ist nicht Platz auf die komplexen Entwicklungen einzugehen; doch sei auf den bebilderten römischen Kalender des Filocolus von 354, also aus konstantinischer Zeit, verwiesen, der zwar nicht erhalten ist, dessen Gestalt Stern 1953 aber aus den Quellen erschlossen hat.

70 Paris, BnF, NAL 1203: zuletzt: Fabrizio Crivelli, Eberhard König, Charlotte Denoël und Peter Orth, Das GodescalcEvangelistar. Eine Prachthandschrift für Karl den Große n, Simbach/Inn 2018.

71 Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Reg. lat. 438: Faksimile-Ausgabe des Belser-Verlags mit Kommentar von HansWalter Stork, Stuttgart 1997.

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zutreffende Verkörperung der Monatsnamen im Maskulinum verstehen kann. Eindrucksvoll sind der April mit Blumen oder der Mai mit Maiengrün ebenso wie die Schnitter im Heumonat Juli und bei der Kornmahd im August.

In eine andere Richtung geht der März, der im Martyrologium unter dem Zeichen der Fische steht und deshalb als Fischer die beiden Fische aus dem Zodiak an einer Schnur hält. Beim Februar setzt sich bei Wandalbert von Prüm in der Eifel der Bezug zum Zodiak noch entschiedener durch; denn diesen Monat verkörpert ein Mann, der statt einer der Jahreszeit angemessenen Tätigkeit einen Krug Wasser ausgießt: Aquarius, das Sternbild des Wassermanns.

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Vatikanstadt, BVA, Reg. Lat. 438, fol. 15v: Juli als Schnitter Vatikanstadt, BVA, Reg. Lat. 438, fol. 4: Februar als Wassermann und fol. 6: März mit den Fischen

Bei der Bebilderung des Jahreslaufs wurde also zunächst nicht klar zwischen den Tierkreiszeichen und den Genremotiven geschieden. Die Tradition, die Monate gleichsam personifiziert darzustellen, sollte zumindest für den Januar bis ins späte Mittelalter fortleben: Noch in Zeiten, als sich bereits Vorstufen der Genremalerei des Themas angenommen hatte, eröffnete man zuweilen den Jahreslauf im Januar mit einem Gastmahl, dem Janus vorsteht, zweigesichtig ins Alte Jahr zurück- und ins Neue vorausblickend.72

Nr. 1, April

Von den großen Einzelgestalten auf Goldgrund im Martyrologium aus könnte man schon zu dem Brügger Psalter, der im XV. Jahrhundert der englischen Familie Restwolde gehörte und in diesem Katalog die Handschriftenauswahl eröffnet, springen; denn in seinem Kalender, der anders als das gereimte Martyrologium des Wandalbert von Prüm die Tage nur knapp mit einzelnen Heiligenfesten auflistet, erscheinen ähnlich große Gestalten auf Goldgrund, die jede einzelne Seite in den Bann schlagen. Doch liegen zwischen dem karolingischen Manuskript, das Wandalbert offenbar nach 855 in der Art eines Heiligenkalenders Kaiser Lothar I. angelegt hat, und unserer Nr. 1 etwas mehr als vierhundert Jahre.

In diesen Jahrhunderten hatte man für die Bebilderung von Kalendern mit den zwölf Tierkreiszeichen und Tätigkeiten aus dem Jahreslauf, die in erster Linie die Feldarbeit, im Januar und im Frühling aber auch das Leben der Herrschaft schilderten,

72 Bei den Brüdern Limburg stoßen die beiden Traditionen anschaulich aufeinander: Für Jean de Berry haben sie in den Belles Heures (New York, The Cloisters) vor 1408 statt des zweigesichtigen Janus zwei Männer gezeigt, die Rücken an Rücken dasitzen und damit den Jahreswechsel verkörpern, um dann spätestens acht Jahre später in den Très Riches Heures (Chantilly, Musée Condé) den Herzog selbst in einer Genreszene des Gastmahls zum Jahresbeginn als alleinige Hauptfigur darzustellen. Die ältere Literatur hat Millard Meiss in seinen Bänden von 1967 bis 1974.

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Vatikanstadt, BVA, Reg. Lat.  438, fol. 10: Mai mit Maiengrün

bereits vielfältige Formen und Traditionen entwickelt.73 Reliefzyklen schmückten seit dem XII . Jahrhundert Kirchenfassaden, so an der Westfront der Pariser NotreDame oder der Kathedrale von Amiens. Wenn man das jeweilige Tierkreiszeichen und dazu die für den Monat gültige Tätigkeit, neben der Arbeit auch das Vergnügen, nur durch eine einzelne Gestalt darstellen wollte, genügten in Frankreich am Bau wie in der Buchmalerei Medaillons.

Solange in romanischen und frühen gotischen Handschriften noch kein ausgeklügeltes System von Randschmuck entwickelt war, stehen solche Medaillons gleichsam schwebend im Textspiegel, wo neben den Einträgen von Festen und Heiligentagen noch freier Raum war. Doch mit der Entwicklung des festgefügten Randschmucks wurden den einzelnen Elementen Plätze in den Initialen, im Textfeld, vor allem aber in den Bordüren zugewiesen. 74 In anderen Regionen, beispielsweise in den Prachtpsalterien der thüringisch-sächsischen Malerschule, waren schon im frühen XIII . Jahrhundert Systeme von Randstreifen entstanden, in denen die Leiste oberhalb der Tagesangaben neben dem monumentalen Buchstabenpaar KL Monatsbilder und Tierkreiszeichen aufnehmen konnte.75

Kalender für den Jahreslauf und Gebete für Wochentage und Tagesstunden

Für die Gestalten des Tierkreises am Himmel brauchte man raumlose Bilder von Mensch und Tier.76 Buchmaler scheinen diesen Themenkreis in Kalendern von Psalterien, Brevieren und Stundenbüchern selten als künstlerische Herausforderung begriffen zu haben, während sie Planetendarstellungen in anderen Handschriften ihre ganze Phantasie widmeten. Nur die Monatsbilder machen den Ruhm der Kalender in Gebetbüchern aus; sie führen das menschliche Tun vor Augen, indem sie die für den Wechsel der Jahreszeiten charakteristischen Figuren wie jene Schnitter in Heumahd und Kornmahd, die schon in Wandalberts Martyrologium begegnen, lebendig ausgestalten. Verkörperten solche Darstellungen zunächst als einzelne Männer den Monatsnamen, so inspirierten sie im Laufe der Jahrhunderte zunehmend

73 Schöne Beispiele aus der Zeit um 1300 im Nationalmuseum Stockholm dokumentierte Carl Nordenfalk (Bokmålingar från medeltid och renässans i Nationalmusei samlingar, Stockholm 1979): In Nr. 12 aus Reims (B 1648) sind die runden Medaillons unter den Text gesetzt; in Nr. 13 aus Arras (B 1655–56) stehen quadratische Bildfelder von Arbeit und Zodiak auf den ausgebreiteten Doppelseiten.

74 So wird in den Madresfield Hours aus dem frühen XIV. Jahrhundert die untere Leiste des Randschmucks mit einzelnen Figuren besetzt, die jeweils die Monatsarbeit ausführen: Janet Backhouse, The Madresfield Hours. A FourteenthCentury Manuscript in the Library of Earl Beauchamp, Oxford, Roxburghe Club, 1975, mit Pl. 1–2.

75 Siehe beispielsweise Harald Wolter-von dem Knesebeck, Der Elisabethpsalter in Cividale del Friuli, Berlin 2001, Abb. S. 87 – 91 und die ausführliche Analyse der Bebilderung, die auch auf die Heiligenfeste eingeht, S. 113 – 157, mit zahlreichen Vergleichsbeispielen vor allem für die Heiligenszenen.

76 Deren Zuordnung zum Jahreslauf hat sich gegenüber dem karolingischen Martyrologium noch einmal dadurch geändert, daß der Zodiak im späteren Mittelalter jeweils einen Monat früher angesetzt wurde. Dadurch rutschte der Wassermann vom Februar in den Januar, um nun am Jahresanfang zu erscheinen.

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künstlerische Beobachtung zu Menschen im Raum, im Zyklus der Vegetation und schließlich sogar im wechselnden Wetter.

Wenn man diese atemberaubende Entwicklung im Spätmittelalter betrachtet, dann rücken die Kalenderbilder in unserer Nr. 1 noch sehr viel stärker in die Nähe von Wandalberts karolingischem Martyrologium. Die Schilderungen des Jahreslaufs in Manuskripten aus dem XV. Jahrhundert, die sich in unserem Katalog an den Restwolde-Psalter anschließen, dokumentieren hingegen einen schwindelerregenden Wandel, der sich nirgendwo sonst in der Buchmalerei in gleicher Intensität dem Hier und Jetzt widmet.

Mit einem Zeitbegriff verbunden ist unter den mittelalterlichen Gebetbüchern schon vom zeitgenössischen Begriff her nur das Stundenbuch, Horae, Livre d’Heures oder Hours. Angesichts der Tatsache, daß das allgemein gebildete Publikum aus der Welt der Bilderhandschriften nur selten etwas wahrnimmt, mag verwundern, daß der Begriff Stundenbuch von spätmittelalterlichen Bilderhandschriften77 bis zu Rainer Maria Rilkes Gedichtband aus den Jahren 1899 bis 1903 ein unvergeßlicher Teil unserer Kultur geworden ist.78 In einer durch die Bilder in solchen Bänden angeregten Vermischung von Zeitbegriffen verbindet der Laie in etwas irriger Vorstellung mit derartigen Büchern Monatsbilder im Jahreslauf; denn wer wüßte schon, daß ein Stundenbuch nicht auf das Kirchenjahr, sondern auf die Gebetsstunden von Tag und Nacht abzielt?79

77 Grundsätzliches bei Leroquais 1927 und 1943; siehe unser Buch Vom Psalter zum Stundenbuch, 2015, sowie zur internationalen Diskussion meine Rezension in der Kunstchronik 2014.

78 R ainer Maria Rilke, Das Stunden-Buch. Vom mœnchischen Leben/ von der Pilgerschaft/ von der Armuth und vom Tode, Insel-Bücherei, Leipzig 1905.

79 Siehe mein Buch Devotion from Dawn to Dusk , Leiden 2012.

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Très Riches Heures Breviarium Grimani

Zugleich denkt man dabei viel zu oft an den eindrucksvollen Kalender der Grimani in Venedig, der gern Gerard Horenbout zugeschrieben wird, jedoch gar nicht einem Stundenbuch, sondern einem Brevier, dem Breviarium Grimani der Markusbibliothek in Venedig, vorgeschaltet ist. 80 Immerhin stammt dieses berühmte Beispiel von einem Stundenbuch ab; denn es variiert die hundert Jahre älteren Monatsbilder der Très Riches Heures des Herzogs von Berry in Chantilly, deren Miniaturen ebenso wie der Grimani-Kalender zu den unübertroffenen Höhepunkten der Buchmalerei allgemein gehören. An den Très Riches Heures wurde in den Jahren vor 1416 und um 1450 gearbeitet, ehe Jean Colombe die Ausmalung um 1485 in einer dritten Arbeitskampagne vollendete und dabei im weitgehend fertigen Kalender sein berühmtes Bild für den November beisteuerte. 81

Vor allem Berrys Manuskript erweckte den Eindruck, Monatsbilder seien eine Essenz von Stundenbüchern. 82 Doch so unverzichtbar der Kalendertext als Erschließung der Festtage in Stundenbüchern – anders als in Psalterien – ist, 83 so gehören Bilder aus dem Jahreskreis doch erst im Buchdruck zur Standard-Ausstattung solcher Werke. 84 Zuvor mochten sogar hochbedeutende Stundenbuch-Handschriften, die zwar keineswegs textlich auf den Kalender verzichten konnten, gut ohne dessen Bebilderung auskommen. 85

Kunsthistorische Forschung zu Kalenderbildern in Gebetbüchern

Den Gestaltern von Gebetbuch-Handschriften folgt ironischer Weise in dieser Hinsicht auch die kunsthistorische Forschung, die wir hier lieber Literatur nennen: In den meisten Überblickswerken werden Kalender und ihre Bebilderung, wenn man von den Très Riches Heures des Herzogs von Berry und ihrer Nachfolge in den südlichen Niederlanden bei Simon Bening und im Breviarium Grimani

80 Venedig, Biblioteca Nazionale Marciana, Ms. lat. I.99 = 2138: König und Heyder 2016, italienische Fassung 2017.

81 Siehe Meiss 1974, passim, danach aber mit neuen Ergebnissen Bellosi 1975 und König 1996, Reynolds 2005, Stirneman 2005 und zuletzt Villela-Petit 2013.

82 Einen guten Überblick, vor allem der Bestände der New Yorker Pierpont Morgan Library gibt Wieck 2017.

83 Siehe unseren Katalog Vom Psalter zum Stundenbuch, 2015.

84 Siehe die neun monumentalen Bände des Katalogwerks HORAE , Bibermühle 2003, 2014 und 2015.

85 Wie stark man in der Literatur dennoch mit Kalenderbildern rechnet, zeigte Georges Hulin de Loo, der in seinem Buch Heures de Milan, Brüssel 1911, den stark auf Berry hin personalisierten Kalender aus der Zeit nach dem 27. April 1404, der im Pariser Teil von Jean de Berrys aufwendigsten Stundenbuch, den Très Belles Heures de Notre-Dame, erhalten ist, mit großen Nachhall in der sogenannten Forschung wegen der Bildlosigkeit schlicht beiseiteschob, indem auf S. 4 er mit ungewöhnlicher Formulierung schrieb: „le calendrier du fragment de Paris … détonne par sa pauvreté dans un ouvrage si richement enluminé.“ Nachdem ich in König 1992, S. 27 f., und 1998, passim, diese Einschätzung zurückgewiesen hatte, ist Van Buren 1996, passim, und mit ihr die neuere Literatur allgemein darauf zurückgekommen. Ein weiteres Prachtexemplar, das Stundenbuch des Marschalls Boucicaut im Pariser Musée Jacquemart-André (ms. 2) verzichtet ebenfalls auf Kalenderbilder: dazu vor allem Meiss 1968, Châtelet 2000 und zum Maler: Gabriele Bartz, Der Boucicaut-Meister. Ein unbekanntes Stundenbuch (Illuminationen. Studien und Monographien, hrsg. von Heribert Tenschert, 1), Ramsen und Rotthalmünster 1999.

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absieht, nur marginal behandelt. 86 Nicht einmal die ins Kraut schießenden Sammelbände, die ungefiltert nachdrucken, was Berufene und Unberufene auf Kongressen, Kolloquien und Symposien von sich geben, kommen auf die hier interessierenden Phänomene zu sprechen. Selbst der große Friedrich Winkler hat in seinem Überblick zur flämischen Buchmalerei von 1925 kaum ein einziges Monatsbild abgebildet: Allein der Meister des Dresdner Gebetbuchs tritt bei ihm in dieser Hinsicht hervor; denn Winkler zeigt unter den vier Kalenderbildern von diesem großen Landschafter gleich zwei Beispiele, aus Stundenbüchern in Dresden und Madrid. 87

Für die wissenschaftliche Kunstgeschichte ist der Umstand charakteristisch, daß der verdienstvollste Überblick zu Kalenderbildern keineswegs einem Kunsthistoriker, sondern einem ungemein versierten Volkskundler verdankt wird: 1984 hat Wilhelm Hansen, bis 1976 Direktor des Lippischen Landesmuseums Detmold, ein vom Münchner Callwey-Verlag großzügig mit Abbildungen ausgestattetes Werk über Kalenderminiaturen der Stundenbücher vorgelegt und dabei Mittelalterliches Leben im Jahreslauf anschaulich und treffend geschildert. Verdienstvoll ist seine Handschriftenliste, noch wichtiger aber sein Anhang mit Bildquellen zur Realienkunde des Mittelalters, der im Deutschen die wichtigsten Begriffe erläutert. In den Nachbarsprachen fehlt ein derartig umfassender Überblick aus neuerer Zeit. Im Französischen hatte Julien Le Sénécal in seiner 1913 geschriebenen, aber erst 1921/23 veröffentlichten Schrift über die Occupations des mois eine bemerkenswerte Grundlage geschaffen. 88 Élisabeth Antoine konnte im Katalog der unvergessenen Ausstellung Sur la terre comme au ciel im Cluny-Museum, 2002, wenigstens den Bereich von Arbeit und Vergnügen im Garten mit Bildern und Objekten anschaulich machen und begrifflich fassen. Im Englischen hingegen verfolgen die beiden wichtigsten Veröffentlichungen ganz andere Ziele: Roger Wieck hat 2018 mit Beständen aus der Pierpont Morgan Library in New York eine bedeutende Ausstellung über The Medieval Calendar veranstaltet, sich dabei aber weniger von den Bildern mit den darin gezeigten Realien als von den Texten leiten lassen. Zwar bieten auch Wiecks wenige Abbildungen eine Übersicht, die allen nur empfohlen werden kann, die sich verschiedene Arten von Kalenderbildern anschauen wollen; doch geht es ihm vor allem um Locating Time in the Middle Ages: Damit steht Wieck in der Nachfolge des

86 Ein bezeichnendes Beispiel bietet der sonst verdienstvolle Katalog von Joachim M. Plotzek, Andachtsbücher des Mittelalters aus Privatbesitz, Köln 1987, der sich nur mit Abb. aus fünf Handschriften auf S. 15–17 und aus historischen Gründen beim Manderscheid-Gebetbuch, Nr. 73, auf S. 55, Kalendern widmet. Einen Einblick in das internationale Desinteresse an Kalenderbildern gibt auch der breit angelegte Band, den Frank Olaf Büttner herausgegeben hat: The Illuminated Psalter, Turnhout 2004; man hat den Eindruck, Psalterien kämen ohne solche Bilder aus.

87 Auf Taf. 51 aus dem Dresdner Gebetbuch und auf Taf. 56 ein Medaillon aus der Handschrift des Berliner Kupferstichkabinetts 78 b 14 den April, daneben den Januar aus dem Madrider sowie schließlich aus dem Wiener Stundenbuch Jakobs IV. von Schottland den April auf Taf. 69.

88 A ndré Rostand hat den Text 1921/23 herausgegeben, acht Jahre, nachdem der junge Autor im I. Weltkrieg gefallen war.

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wichtigsten älteren, aber nicht ganz gelungenen Werks über den Calendrier Parisien von Paul Perdrizet aus dem Jahr 1933 und zugleich in gewisser Konkurrenz zu Gregory Clark, der kurz zuvor, im Jahr 2016, in einem Appendix zu seinem Buch Art in a Time of War gefragt hatte „Qu’est qu’un calendrier parisien?“.

In eine ganz andere Richtung geht Bridget Ann Henisch mit The Medieval Calendar Year von 1999; sie kennt zwar Hansens Buch, verfügt aber weder über dessen schier unermeßliche Realienkenntnis noch über allzu viel Erfahrung mit Handschriften und Frühdrucken. Bemerkenswert ist ihr Versuch dennoch: In einer frühen Form der heute im Umfeld von Gender Studies übermächtig gewordenen Tendenz zur Sozialgeschichte unter besonderer Berücksichtigung von Frau und Kind verfolgt sie das Jahr anhand spätmittelalterlicher Miniaturen. Ganz anders als Hansen, der sich nicht sattsehen kann an dem Reichtum des durch Buchmalerei Überlieferten und dem Sachverstand mancher Buchmaler, fragt sie immer wieder nach all dem, was Bilderhandschriften nicht dokumentieren.

So spürt man bei Henisch wiederholt das Bedauern, daß der Jahreslauf in den erhaltenen Zimelien nicht von Hunger und Krieg gestört ist. Tiefere Einsicht in den Sinn des religiös geprägten Jahreslaufs hätte ihrem Verständnis für die Zeit und die Kunst gutgetan: Schlimme Zeiten zu dokumentieren, anzuprangern oder über sie hinwegzutrösten, war nicht Aufgabe der Buchmaler. Vielmehr hatten die Monatsbilder die Gewißheit zu preisen, daß Gott nach hartem Winter immer wieder für blühenden Frühling, warmen Sommer und erntereichen Herbst sorgen wird. Mit einer solchen Sicht hatte sich schon 1990 nicht einmal Jonathan J. G. Alexander zufriedengeben wollen: In einem von Henisch nicht beachteten Beitrag beurteilte der große englische Gelehrte in New York die Darstellung der bäuerlichen Realität bei den Brüdern Limburg in den Très Riches Heures vielmehr noch sehr viel kritischer. Er meint, ähnlich wie manche neuere Stimme zu Pieter Bruegels Jahreszeiten eine ideologisch begründete Verächtlichmachung der faulen Bauernschaft bei den Hofkünstlern des Herzogs von Berry in den Très Riches Heures erkennen zu müssen. In erstaunlicher Weise stimmt Alexander mit einem Beitrag von Michael Camille aus demselben Jahr 1990 überein; als hätten beide – über zwei Jahrzehnte verspätet – noch einmal Reflexionen der 1968er Jahre ins Gespräch bringen wollen. 89

Lebendige Schilderung des Jahreslaufs: eine flämische Errungenschaft?

Bewundernswerten Anteil an der Entwicklung großartiger Landschaftsmalerei hatte die flämische und holländische Kunst. Der eindrucksvolle Bogen, der sich über recht genau hundert Jahre von den 1416 unvollendet gebliebenen Très Riches Heures

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89 Jonathan J. G. Alexander, Labeur and Paresse. Ideological Representations of Medieval Peasant Labor, in: Art Bulletin 72, 1990, S. 436–453; Michael Camille, The Très Riches Heures. An Illuminated Manuscript in the Age of Mechanical Reproduction, in: Critical Inquiry 17, no. 1, Herbst 1990, S. 72–107.

des Herzogs von Berry90 zum Breviarium Grimani spannt, das um 1520 bereits in Venedig war,91 hat das gebildete Publikum unserer Tage dazu angeregt, fast ausschließlich Malern aus den Niederlanden jene Errungenschaften zuzuschreiben, die für überzeugende Bilder vom Leben der Menschen in der Realität nötig sind: Dazu gehören vor allem Stofflichkeit im Licht, Körper in Raumtiefe und schlüssige Gestik in der Handlung. Flämische Stundenbücher aus der letzten Blütezeit der Buchmalerei im frühen XVI . Jahrhundert, wie wir sie hier in ihrer Pracht vorstellen können, bezaubern ja in der Tat durch ihre raffinierten Schilderungen aus dem Jahreslauf. Deshalb unterstreichen auch die neueren explizit dem mittelalterlichen Kalender gewidmeten Monographien, das Buch von Hansen 1984 ebenso wie die Studie von Henisch aus dem Jahr 1999, Flanderns dominierende Rolle, nachdem Le Sénécal 1921/23, so gern er die Bedeutung der flämischen Beispiele anerkannte, die Darstellungen wegen ihres Realismus und Vulgarität kritischer gesehen hatte.92

In der Tat erreichten Tafelmaler in Gent und Brügge schon um 1430 eine optische Revolution. 93 Doch da die Buchmalerei eine viel größere Themenbreite bewältigen mußte, kam ihr für die Erschließung der Welt eine besondere Rolle zu; auch konnte sie in ihrer rascheren Arbeitsweise freier vorgehen.94 Die erstaunliche Entwicklung der Kalenderbilder in Handschriften seit den Jahren um 1400 verdankt sicher Einiges den eindrucksvollen Wandmalereien im Adlerturm von Trient aus der Regierungszeit Bischof Georgs von Liechtenstein (1390–1407); 95 doch in der monumentalen Kunst steht der Zyklus isoliert. Die Tafelmalerei wiederum setzte sich erst nach 1500 mit dem Jahreslauf auseinander: so auf den vier anonymen Augsburger Tafeln aus dem XVI . Jahrhundert im Berliner Deutschen Historischen Museum, die jeweils drei Monate nebeneinander schildern.96 Viel bedeutender ist dann der Zyklus von wohl ursprünglich sechs großen Tafelbildern aus den 1560er Jahren, auf denen Pieter Bruegel der Ältere (1525–1569) statt der Zwölf Monate oder der Vier Jahreszeiten jeweils zwei Monate als Einheiten in unvergeßlicher Treffsicherheit erfaßt hat.97

90 Chantilly, Musée Condé, Ms. 65: Meiss 1974, Bellosi 1975.

91 Venedig, Biblioteca Marciana, Ms. Lat. I.99: zuletzt König und Heyder 2016.

92 Darauf weist Marcel Aubert am Ende der Rezension in Bibl. de l’École des chartes 86, 1925, S. 448–9, hin.

93 So der Titel der großen Van-Eyck-Ausstellung im Genter MSK 2020: Van Eyck. Een optische revolutie. In dem Zusammenhang erschien auch: Danny Praet und Maximiliaan Martens (Hrsg.), L’Agneau Mystique. Van Eyck , Paris 2019.

94 Bis in unsere Tage reichen Vorbehalte gegenüber der Buchmalerei; ein eindrucksvolles Beispiel bietet Stephan Kemperdick im Berliner Fouquet-Katalog von 2017, S. 14, wenn er schreibt: „Tatsächlich war die Tafelmalerei, zumal in Öl, gegenüber der Buchmalerei die komplexere und technisch anspruchsvollere Kunst.“

95 R asmo 1962; Castelnuovo 1978 und spätere Auflagen; Lorenz-Schmidt 1998.

96 Boockmann u. a . 1994, mit einem guten Beitrag von Heinrich Dormeier, der die Buchmalerei mit einbezieht.

97 Die fünf erhaltenen Tafeln sind auf das Wiener Kunsthistorische Museum, die Sammlung Lobkowitz auf dem Prager Hradschin und das New Yorker Metropolitan Museum verteilt: zuletzt Elke Oberthaler u. a ., Bruegel. Die Hand des Meisters, zur Ausst. Wien 2018–2019. Bruegels Verbindung mit den späten Monatsbildern der flämischen Buchmaler

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In Paris war die Buchmalerei schon um 1400 auf dem Weg zu überzeugender Naturwiedergabe der Tafelmalerei um fast eine Generation vorausgegangen. Aus Italien und Flandern, aber sicher auch aus deutschsprachigen Gebieten kamen Buchmaler unterschiedlichster Malkultur in die französische Hauptstadt.98 Neue Farbrezepte wurden ausprobiert – sicher nicht ohne Mitwirken bedeutender Miniaturisten aus Geldern und Flandern, aber für französische Auftraggeber und in französischer Tradition.99 Unerhörtes geleistet haben die aus Nimwegen nach Paris gekommenen und 1416 in Bourges verstorbenen drei Brüder Limburg schon mit dem Kalender der New Yorker Belles Heures und danach mit dem der Très Riches Heures für Jean de Berry, die erst hundert Jahre später gleichsam wiederentdeckt wurden, um als Vorbild und Maßstab nicht nur das Breviarium Grimani, sondern die bezaubernden Werke von Simon Bening in Brügge zu prägen.

Im Zentrum moderner Aufmerksamkeit stehen immer wieder die textlosen Vollbilder, die jedoch nur einen verschwindend geringen Anteil an der Vielfalt des im XV. und XVI . Jahrhundert Möglichen ausmachen. Für die Buchgestaltung fast noch bemerkenswerter sind jedoch die zahlreichen und vielfältigen Ansätze, die Kalender mit kleinformatigen Miniaturen unterschiedlichsten Formats auszustatten oder den Textspiegel in Panoramen einzuschließen, die unter den Tierkreiszeichen den Jahreslauf lebendig schildern. Unser neuer Katalog breitet die ganze Fülle von Ansätzen aus, die Randfelder für Medaillons und Kleinbilder zu nutzen oder einfach umzuwidmen in historisierte Bordüren, die es in ihrer Lebendigkeit mit den Vollbildern durchaus aufnehmen können.

Nachdem wir in unseren Katalogen immer wieder Frankreich die Ehre erwiesen haben, wollen wir uns in dem nun vorgelegten Band wie schon mit je einem Band aus den beiden Folgen von Leuchtendes Mittelalter100 ganz auf die südlichen Niederlande konzentrieren. In der Geschichte der Kalenderminiaturen stoßen wir mit dem Meister des Dresdner Gebetbuchs und einem erstaunlichen Zyklus aus Vollbildern, die der Literatur entgangen sind, auf einen Moment flämischer Selbständigkeit, dessen Bedeutung bisher nicht ausreichend erkannt ist. Doch wenn die hinreißenden Panoramen von Simon Bening und dem Meister der Davidbilder im Breviarium Grimani

wird auch im Ausst.-Kat. Los Angeles und London 2003, vor allem S. 492–494 angesichts des Darmstädter Gemäldes Tanz zum Galgen, Nr. 165, diskutiert.

98 Beispielhaft wurde das Zusammentreffen gezeigt unter dem Kapitel „L’afflux des enlumineurs étrangers vers 1400“ in der Pariser Ausst. von 2004, S. 262–275, mit den Nrn. 160–169 B.

99 Ein Jacques Coene aus Brügge, der dann in Mailand an der Dombauhütte beschäftigt war, soll Rezepte geliefert haben. Ihn wird man nicht mehr mit dem Boucicaut-Meister zu identifizieren, seit ihm der Mazarine-Meister als enger, in der Maltechnik fast noch überlegener Stilgefährte zur Seite steht. Doch der hat nicht unbedingt Flämisch, sondern vielleicht Deutsch gesprochen, weil er um 1410 in Vorzeichnungen für blaue Flächen „himel“ notierte. Zum Gesamtkomplex siehe nach Meiss 1968 vor allem in unserer Reihe Illuminationen Bartz 1999, die den Meister vom Stundenbuch Mazarine Ms. 469 ausgehend definiert hat. Zu Farb-Notizen des Mazarine-Meisters siehe den Beitrag von Stella Panayotova und Paola Ricciardi „Masters‘ Secrets“ im Ausst.-Kat. Colours, Cambridge 2016, vor allem S. 127–129.

100 LM III , 1991, und LMNF IV, 2008.

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zu diskutieren sind, kann unser Blick keinesfalls auf Flandern beschränkt bleiben; denn eine Generation zuvor hat der Meister von Poitiers 30, den die Literatur oft unpassend nach einer Schwiegertochter Ludwigs  XIV. als Meister der Adelaide von Savoyen bezeichnet, in zwei Kalenderzyklen die Grundlage geschaffen.101 Auch dadurch hat Frankreich große Verdienste für die Entwicklung des Kalenderbilds.

Das Layout für den Kalender und der Platz für die Bilder Vom Textblock unterscheiden sich Kalendarien in den meisten Fällen bereits durch die Zeilenzahl, die nur im fortlaufenden Text beliebig ist. Im Kalender ergibt sie sich in erster Linie aus der Tatsache, daß man noch bis weit ins XVI . Jahrhundert dem einzelnen Monat entweder eine oder zwei Seiten zuteilte, mit 28 bis 31 Tagen rechnen mußte und wenigstens eine weitere Zeile für den Monatsnamen brauchte. Wenn die Monatsangaben auf Recto und Verso desselben Blatts aufgeteilt […] wurden,102 sah man den Seitenwechsel meist nach dem 14. oder 15. Tag des Monats vor. Ähnlich umbrochen sind auch zweispaltig angelegte Schriftfelder. Nur extrem selten wird man Kalender finden, die von diesen Grundregeln des Layouts abweichen; dazu gehören die Grandes Heures de Rohan, in denen jeder Monat drei Seiten beansprucht,103 sowie unser spätes Stundenbuch der Agnès le Dieu vom Meister des Lallemant-Boethius, das im unbebilderten Kalender jeden Monat über vier Seiten ausbreitet.104

101 M it diesem Buchmaler haben wir uns in Illuminationen 12 auseinandergesetzt: Der Meister von Poitiers 30. Ein unbekanntes Gegenstück zum Stundenbuch der Adelaide von Savoyen, Ramsen und Rotthalmünster 2006. Ein Kalender findet sich in: Chantilly, Musée Condé, Ms. 76, dessen Einband das Wappen einer Tochter von Victor-Amédée II de Savoie schmückt, die von 1685 bis 1712 lebte und durch ihre Vermählung mit dem ebenfalls 1712 gestorbenen Louis de France zunächst Herzogin von Burgund und dann Dauphine war.

Die frühere Version in: Lissabon, Museu Calouste Gulbenkian, Ms.  LA 135: König 2009: Der Buchblock ist von minderer Hand ausgemalt, der Kalender aber vom Meister, selbst wenn Avril dieser Einschätzung nicht folgen mag: Noch immer unveröffentlicht ist sein Katalog der Sammlung mit Beiträgen von Aires Naciemiento.

102 Dort ist der Kalender bildlos geblieben: siehe unsere Monographie Das Genie der Zeichnung 2016 (der Kalender ist vollständig abgebildet auf S. 338––344) sowie zuletzt den von André Huskens betreuten Sammelband Maelwael –Van Lymborch Studies, Turnhout 2018, mit breiter Zustimmung zu unserer Zuschreibung an einen der Brüder, die nun mit einer repristinierten Namensversion „van Lymborch“ heißen. Im über 80 Jahre älteren Stundenbuch der Jeanne d’Evreux (New York, Cloisters, Acc. No . 54.1.2) sind hingegen auf den Recto-Seiten Monatsbilder in einer Art Basde-page gezeichnet (Drake Boehm 2000).

103 Paris, BnF, latin 9471, mit einer Disposition, auf die hier noch eingegangen wird.

104 L euchtendes Mittelalter. Neue Folge III , 2000, Nr. 26.

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Zur Sonderstellung der Kalendarien in Gebetbüchern

Der Kalender mit seiner Monatsfolge war kein vom Incipit abhängiger Text und verlangte im Gegensatz zum Textblock eines Stundenbuchs keine Rhythmisierung, selbst wenn der Januar als Eingangsseite zuweilen aufwendiger als der Rest dekoriert wurde.105 Da die Zeilenzahl am besten so zu bemessen war, daß sich Leserinnen und Leser, auch ohne viel zählen zu müssen, zurechtfanden, hat man in den meisten Handschriften jedem Monat entweder eine einzelne Seite oder noch sehr viel häufiger ein eigenes Blatt mit zwei Seiten zugestanden.106 Erst im XVI . Jahrhundert wurden zuweilen die Monate einfach fortlaufend im selben Layout auf Blätter mit der Zeilenzahl des Texts geschrieben.107

Unser Katalog 77: Stundenbuch mit 30 Zeichnungen von Paul de Limburg

105 Das geschieht beispielsweise im Dunois-Stundenbuch, H. Y. Thompson Ms. 3 der British Library, London, durch die Ausdehnung des Monatsbildes auf die volle Breite der Bordüre, während sonst die Außenbordüre nicht für diesen Zweck einbezogen wird: Châtelet 2008. Schlichter, aber mit entsprechender Absicht wird in einer Handschrift des Firmian-Meisters der Januar als einziger Monat mit einer Vollbordüre ausgestattet: Leuchtendes Mittelalter III , 1991, Nr. 25, Abb. S. 431.

106 Eine ungemein seltene Ausnahme bildet wie erwähnt der auf drei Seiten pro Monat eingerichtete Kalender der Grandes Heures de Rohan, latin 9471 der Pariser BnF; zuletzt mein Band: Die Grandes Heures de Rohan. Eine Hilfe zum Verständnis des Manuscrit latin 9471 der Bibliothèque nationale de France, Simbach am Inn 2006, S. 38–42.

107 Ein schönes Beispiel ist ein Pariser Stundenbuch aus der Mitte des XVI . Jahrhunderts vom Meister des Claude Gouffier, Nr. 32 in unserem Katalog Leuchtendes Mittelalter, Neue Folge VI von 2009. Auch die dortige Nr. 31 mit einem Kalender für Auxerre ist entsprechend angelegt.

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Somit kam dieser Teil des Buches gewöhnlich mit sechs oder zwölf Blättern aus. Da Kalender deshalb einen Sexternio, zwei Ternionen oder einen Quaternio und einen Binio verlangten, Gebetstexte aber in der Regel auf Quaternionen, also Lagen von acht Blatt, geschrieben wurden, hob er sich schon in der Buchstruktur vom Textblock ab. Das galt umso mehr, wenn man die zwei Monatshälften auf einen Blick haben wollte, den Januar also auf einem Verso einsetzen ließ. In einer Buchkultur, die leere Seiten tunlichst vermied, war dann am Anfang wie am Ende jeweils eine leere Seite nötig und bei dreizehn Blatt keine vernünftige Einrichtung der Lagen ohne ein weiteres leeres Blatt möglich. Doppelseiten, auf denen man die Monate wie in unserem ausschließlich mit Zeichnungen versehenen LimburgStundenbuch aus den Jahren vor 1407 jeweils auf einen Blick sehen konnte, blieben deshalb im XV. Jahrhundert seltene Ausnahme. Doch in flämischen Stundenbüchern der Jahrzehnte um 1500 sollte sich diese Anordnung zunehmend durchsetzen; die Entscheidung dafür war nicht vom Text bestimmt, sondern vom Wunsch, in den Bordüren der Doppelseiten Bildpanoramen miteinander korrespondieren zu lassen. So ist man in einem Stundenbuch vorgegangen, das in der Literatur den irreführenden Namen Brukenthal-Brevier behalten hat und das uns als Vergleichsbeispiel interessieren wird.108

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Brukenthal-Ms., fol 1v-2 108 Siehe Ordeanu 2007, f. 2–25, sowie die Ausgabe Jan de Maere 2007, zuletzt As-Vijvers 2013, Nr. 11.4, S. 386–395 und passim.

Das Buchstabenpaar KL als Bildfeld

Die Monate setzen im lateinischen Kalender mit KL , dem Kürzel für die Kalenden des altrömischen Kalenders ein. Wie fast die ganze Buchmalerei in der westlichen lateinischen Kultur geht Bebilderung von Stundenbüchern, die man allzu oft irrig als Illustration109 bezeichnet, von Incipits aus, also Textanfängen, die durch Farbe hervorgehoben werden sollen.110

Nur wenn man wie in manchen Prachtpsalterien der thüringisch-sächsischen Malerschule des XIII . Jahrhunderts wie dem Elisabeth-Psalter in Cividale111 für das KL und die Bebilderung über dem Text ein eigenes Register einrichtete, verbinden sich die beiden Lettern mit Darstellungen aus dem Jahreslauf; dabei wird das Paar der beiden Initialen jedoch meist strikt von den figürlichen Elementen getrennt. Ähnlich sieht es noch in der französischen Gruppe von Kalenderbildern aus, die mit Jean Pucelles Belleville-Brevier im frühen XIV. Jahrhundert einsetzt und bis zu den Petites Heures und schließlich um 1409 zu den Grandes Heures des Herzogs von Berry führt.112

K und L sind in der Regel als gleichwertig begriffen und in Gold und Farben gestaltet, jedoch in der Hierarchie spätmittelalterlicher Gebetbücher gewöhnlich den Incipits von Psalmen gleichgestellt, also nur zweizeilig angelegt. Das empfahl sich schon aus dem Grunde, daß man nicht nur den Monatsnamen, sondern auch weitere Angaben wie die Anzahl der Tage daneben schreiben wollte und deshalb zwei Zeilen gut gebrauchen konnte. Wo sie deutlich größer angelegt sind, gerät die Zeilenfolge am Monatsanfang in Unordnung.

Das Paar gleichberechtigter Zierbuchstaben hätte sich in einer Kultur, die Initialen gern als Raum für Bilder einsetzte, eigentlich für die Historisierung angeboten. Doch das dem Lateinischen fremde und zudem mittig geteilte K bietet erst von einem gewissen Format an Platz für Bildfelder, die wie beim für Buchmaler glücklicheren B übereinander zu schalten wären. Zudem unterbricht die senkrechte Haste des L jeden Raum, der beide Lettern erfassen könnte, empfindlich. In wenigen recht frühen Handschriften wie dem Psalter-Stundenbuch der Yolande von Soissons aus dem XIII . Jahrhundert hat man jedoch die Initiale weit in den oberen Rand

109 Ausgangspunkt dafür ist immer noch der Versuch von Hans Belting und Dagmar Eichberger, Jan van Eyck als Erzähler, Worms 1983.

110 Delaissé hat diese Überlegungen begründet (hrsg. von Sandra Hoadley/Hindman) 1974; zur Systematik für die Erfassung siehe König 1982, S. 146–152. Anders begründet und erst durch sprachgeschichtliche Gewöhnung sinnvoll ist die Bezeichnung Miniatur, die sich von einem Rot– lateinisch minium – herleitet, das für Anstreichungen und hervorzuhebende Buchstaben eingesetzt wurde.

111 Haseloff 1897; zum genannten Beispiel: Harald Wolter-von dem Knesebeck, Der Elisabethpsalter in Cividale del Friuli, Berlin 2001, Abb. S. 87–91, und S. 115–118.

112 Paris, BnF, lat. 10483, lat. 18014 und 919: Den besten Überblick gibt François Avril im Kommentar zu den Petites Heures, Luzern 1989, S. 225–240.

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ausgreifen lassen und dadurch Raum für Bebilderung erhalten: Vom fünfzeiligen Buchstabenpaar wird aber nur das L historisiert; es erhält die Monatsarbeit.113 Am Ende der Handschriftenzeit besinnt man sich zuweilen auf solche Nutzung des KL : Acht Zeilen sind die fast quadratischen Felder hoch, die für diese ineinander verwobenen, also ligierten Buchstaben im Kalender unseres Jussupoff-Stundenbuchs verwendet sind. Vor goldenem Grund läßt dort der in Rouen um 1525 tätige Meister des Girard Acarie auf witzige Weise die Tierkreiszeichen auftauchen; sie rücken nach rechts, also zum Text, der mit den Erläuterungen zum Monat in blauer und roter Tinte einsetzt.114

Was flämische Buchmaler bei passender Größe aus einem K machen konnten, zeigen die beiden Exemplare des sogenannten Alphabets der Maria von Burgund. Dabei stehen jedoch keine ikonographisch bemerkenswerten Themen zur Debatte; zudem bewegt man sich weitab von der Welt der Kalendarien.115 Ein einzigartiges

Exemplar eines flämischer Kalenders aus der Zeit um 1480 läßt hingegen die Probleme ahnen, denen die Gestalter sonst lieber aus dem Weg gingen: In diesem Band,

113 New York, PML , M729: Gould 1978, Abb. 5–6.

114 L euchtendes Mittelalter. Neue Folge VI , 2009, Nr. 29; Wiedersehen mit Rouen 2013, Nr. 12.

115 Paris, Louvre, Coll. Edmond de Rothschild, Ms.  II (Hindman in Ausst.-Kat. Paris 2011, Nr. 160, Abb. S. 309) und Brüssel, KBR , Ms. II 845: König 2015, in kritischer Auseinandersetzung mit Hindmans „Deutungen“.

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Kat. 72, Nr. 12

der nur aus dreizehn Blatt eines Kalenders besteht und nach Budapest gelangte, weil man ihn irrig mit Matthias Corvinus verbunden hatte, waren die hochrechteckigen Räume ursprünglich am Kopf der Textfelder für K und L geplant; schließlich aber erhielten sie Bilder. Mit dem Verzicht auf die den Kalender eigentlich konstituierenden Initialen geht in diesem Fall einher, daß schließlich alle Angaben zur römischen Tagesszählung ausgelassen wurden.116

Im Textfeld schwimmende Monatsbilder in Psalterien des XIII. Jahrhunderts

Da das Paar der Initialen KL keinen rechten Platz für Darstellungen bot, hat man sich vor der Einführung der Bordüre oft damit begnügt, Monatsbilder einfach dort ins Textfeld zu stellen, wo der Schreiber wenig oder gar nichts eingetragen hatte. Für Medaillons, die vorzugsweise kreisförmig und meist nicht allzu groß angelegt wurden, war immer Platz, selbst wenn zum Monatsbild das zweite kleine Feld für das Tierkreiszeichen hinzukommen sollte. In einer Zeit, in der die Tage gern so benannt wurden, daß man von einzelnen Heiligenfesten aus zählte, also von drei

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Budapest, NB, Cod. lat. 396 116 Budapest, Széchnényi-Nationalbibl., Cod. lat. 396: Soltész 1983.

Tagen vor Martini oder vier nach Epiphanias sprach, konnte niemand einen sorgfältig konzipierten Kalender aufstellen, der jedem Tag des Jahres einen Heiligen zuordnete. Erst mit der Einführung volkssprachlicher Formulare im späteren XIV. Jahrhundert, die vor allem im französischen XV. Jahrhundert stark verbreitet waren, nahm man auch grob verderbte Formulare in Kauf. In älteren Beispielen war von derartiger Verwilderung noch nichts zu spüren; und der Einsatz der lateinischen Sprache sorgte noch in den spätesten Handschriften dafür, daß man davon absah, sich für jeden Tag einen Heiligen auszudenken, und daß man die Einträge kritischer als bei volkssprachlichen Kalendern prüfte.

In einer Buchkultur, die vom Horror vacui bestimmt war und deshalb Leerzeilen vermied, stellten die Kalenderseiten mit ihren textlich bedingten Unregelmäßigkeiten eine Sonderform dar; denn hier wurden Flächen, die im Textfeld nur zufällig leer geblieben waren, für Bilder unterschiedlicher Gestalt genutzt. Auffällig oft geschah das in zwei Gruppen von Gebetbüchern aus der zweiten Hälfte des XIII . Jahrhunderts: Psalterien aus den großen flämischen Städten und Handschriften aus Lüttich, die von Judith Oliver 1988 untersucht wurden. Im Maasgebiet spielte man mit der Form der Medaillons für Monatsarbeit und Zodiak, die in Kreisen, Rauten und Vierpässen Platz finden. Aus derartig definierten Bildflächen können die Einzelfiguren der Monatsbilder ausbrechen, um – ganzfigurig und zugleich größer als die Halbfiguren aus dem Zodiak – selbständig vor dem Pergamentgrund zu agieren, der zuweilen auch Versatzstücke aus der Architektur aufnehmen kann. Wo Tierkreiszeichen, auf die man oft verzichtet, auftreten, bleiben sie in Medaillons eingebunden, nachdem der Zodiak schon im englischen Albani-Psalter aus dem XII . Jahrhundert entsprechend frei im Textfeld zu den oben in rundem Medaillon thronenden Monatsbildern hinzukommen konnte.117

Kühner gestaltet und von sichtlich besserer Qualität sind die Monatsbilder in unseren Psalterien, deren Heiligenauswahl in Kalender wie Litanei auf Brügge und Gent weist und deren Bebilderung Carlvant 2012 in ihre Listen einbezogen hat.118 Wie in den mosanen Psalterien aus Lüttich bleiben die Monatsbilder mit Ausnahme des gern im Mai gezeigten Liebespaars auf Einzelfiguren beschränkt. Ikonographische Eigenheiten grenzen sie von anderen Kalendertraditionen ab, am auffälligsten geschieht das im Februar, im Juni und Dezember: Das Marienfest der Lichtmeß

117 Oliver 1988, Abb. 1–12: Im Brüsseler Ms.  IV 36 steht das Tierkreiszeichen in einer Raute, im Londoner Add. Ms. 21114 und in Ms. 90 des Trinity College, Dublin, in einem kreisrunden Medaillon. Die Einzelfiguren, die die Monatsfolge verkörpern erscheinen auf Pergamentgrund; Vierpässe unterschiedlicher Größe, größer für die Arbeit, kleiner für den Zodiak, gliedern die Bebilderung im Oxforder Add. Ms. A 46; Rauten, die zu Vierpässen erweitert sind, nehmen im Brüsseler Ms.  IV 1066 und IV 1013 ebenso wie in Founders 288 des Fitzwilliam Museums in Cambridge beide Motive auf; gleichgroß in Kreismedaillons, die ebenfalls ornamental zu Vierpässen werden, sind im Ms. 431 der UB Lüttich eingesetzt. Plump vor den Papiergrund gesetzt sind hingegen die Monatsbilder im Princetoner Ms. 57.189.

118 Carlvant 2012, S. 305–313 mit zahlreichen Abb.

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am 2. Februar nimmt man zum Anlaß, entweder eine Jungfrau mit der Kerzenspende oder sogar die Jungfrau Maria selbst zu zeigen. Holzmachen, sonst für diesen Wintermonat charakteristisch, wird in den Juni verlegt – mit praktischem Sinn; denn so konnte Brennholz in den Monaten bis zu den kalten Jahreszeiten trocknen.

Eine Sonderstellung hat das Brotbacken im Dezember, dem das Schweineschlachten in den November ausweichen muß. Sonst hat man in Brügge in der ersten und zweiten Generation wie auch sonst weithin gewohnt im November gezeigt, wie der Schweinehirt unter einem Eichenbaum für seine Herde Eicheln abschlägt, ehe es dann im Dezember ans Schlachten geht.119

Ein Brügger Kalender des XIII. Jahrhunderts im Restwolde-Psalter – Nr. 1

Hier setzt unser Katalog mit Nr. 1 ein und bietet als ein ganz und gar unbekanntes neues Exemplar gleich eines der prächtigsten erhaltenen Beispiele für Kalenderbilder im XIII . Jahrhundert: Recht große Figuren, unter ihnen die Jungfrau Maria mit der Kerze von Lichtmeß im Februar, der Landarbeiter mit dem Holzbündel im Juni und der Bäcker im Dezember, erscheinen meist dynamisch im Profil nach rechts gewendet. Der Zodiak interessierte in diesem Manuskript ebenso wenig wie in fast allen flämischen Vergleichshandschriften.

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119 Den Listen von Carlvant 2012, S. 295–297 zufolge stimmt nur Douce 38 der Bodleian Library in Oxford in dieser Hinsicht mit dem Restwolde-Psalter überein.

Die Gestalten treten vor Goldgrund auf, der auratisch die teils kräftig ausgreifende Bewegung umreißt. Als Umrandung genügen schwarze Tintenlinien, wo nicht ein Baumstamm das Feld aus Figur und Goldgrund abschließt. Damit wird gegen Traditionen verstoßen; denn in den meisten anderen Handschriften der Zeit verzichteten Buchmaler auch bei im Textfeld schwimmenden Gestalten und Bildern nicht auf Rahmung – umso weniger, wenn es sich um Flächen mit Blattgold handelte. Um die Bildelemente einzufassen, benutzte man am liebsten Leisten, die bewußt plastisch wirken sollten. In den meisten flämischen Kalendern legt sich eine solche Umrandung breit um die Grundfläche und bildet, oft auch mit einer goldenen Leiste eine getreppte Form, die wie im Ms. 604 des Pariser Arsenals dem Körper des Arbeiters folgt und die Schrift zusammenpreßt.120

Ganz unterschiedliche Rahmen sind möglich; allgemein stellt sich rasch eine Tendenz ein, die untere Leiste durch eine schwarze Linie für den Bodenstreifen zu ersetzen.121 Erst nach Phasen, die den Gestalten kleine Ädikulen zuwiesen 122 und diese dann auch architektonisch modellierten,123 um schließlich zu komplexeren Architekturrahmen zu finden,124 emanzipierte sich das Monatsbild in flämischen Kalendern von einer solchen Bindung an feste Formen.

Nur in unserem Kalender herrscht bei allen Monatsbildern die freie Konzeption mit eindrucksvoller Klarheit: Groß angelegt sind die Figuren; sie stehen meist auf der schlichten Tintenlinie, die als untere Begrenzung dient. In zwei eng verwandten Handschriften setzt sich diese Bildform im Kalender erst durch, nachdem schon ein paar Bilder mit Rahmen eingemalt waren: Im Dubliner Psalter sind Januar und Februar noch in gewohnter Form gestaltet; im Brüsseler Dampierre-Psalter dazu auch April und Dezember; und es wirkt, als seien die plastisch modellierten Rahmen in der Jahresmitte unter dem Einfluß der Konzeption im Restwolde-Psalter zugunsten der schlichten schwarzen Grenzlinien aufgegeben worden.125

120 Carlvant 2012, Abb. 17a; zur Handschrift: Leroquais 1940/41, Nr. 253, Bd. II , s. 11–13. Ähnlich Cambridge, St. John’s College, N 19 (Carlvant 2012, Abb. 18a).

121 Man vergleiche die beiden Londoner Handschriften Add. Ms. 24683 und 19899: Carlvant 2012, Abb. 1a und 2a. Noch mit umgebenden Rahmen arbeiten die Illuminatoren in Philadelphia, Mus. of Art, 58–151–1 und W 36 des Walters Art Museum in Baltimore (ebenda, Abb. 7 und 8a) sowie Edinburgh, UL , Ms. 62 (ebenda, Abb. 9a), während Ms. 270 in Saint-Omer und Ms. Liturg, 396 der Bodleian Library in Oxford (ebenda, Abb. 12a und 13a) stark gewellte schwarze Grundlinien einsetzen.

122 S o Boston, Public Library, f Med. 84 (Carlvant 2012, Abb. 3a–e) und der besonders eindrucksvolle Kalender in Madrid, Bibl. Nac., Vitr, 23–9 (ebenda Abb. 14a–j). Zudem Harley 5765 und Harley 2844 in London und Morgan 106 in New York (ebenda, Abb. 15a–b, 21 und 16 a–b).

123 Brügge, Grootseminarie, 55/171 (Carlvant 2012, Farbtaf. 7 und Abb. 27 a–f).

124 Oxford, Bodl. Library, Auct D.4.2 (Carlvant 2012, Abb, 28 a–h London, BL ; Burney Ms. 345 (ebenda, Abb. 43 a–b) und Morgan 72 in New York (ebenda, Abb. 44a).

125 Dublin, W 61, und Brüssel, KBR , Ms. 10607 (Carlvant 2012, Abb. 29a–f, und ebenda, Farbtaf. 16 und Abb. 60a–e).

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Brüssel, BR 10607 Dublin, Chester Beatty Library, W 61

In allen drei Kalendern hat man offenbar zunächst die Figur mit ihren Accessoires gezeichnet, dann das Grundfeld umrissen, das mit Blattgold gefüllt werden sollte, die Folie aufgelegt und bombiert, ehe man die Farben auftragen konnte. Zum Abschluß der Arbeit sorgen kraftvolle Linien mit sehr schwarzer Tinte für starke Konturierung der Goldflächen und der dargestellten Elemente; sie dienen auch dazu, die gemalten Flächen, beispielsweise die Draperien zu modellieren. Zumindest in Dublin und im Restwolde-Psalter spricht alles für ein und denselben Maler.

Die Monatsbilder des Restwolde-Psalters im zeitgenössischen Kontext

Wie im ersten Teil dieses Buches an Vollbildern und Initialen erläutert, verbinden sich auch die Monatsbilder mit Parallelen in anderen Handschriften – und zwar derselben Gruppe von Psalterien aus Brügge:126 Wie in allen von Carlvant dorthin lokalisierten Psalterien zeigt sich im Januar ein bartloser Mann, trinkend und sich wärmend.127 Er sitzt in weiter Robe auf einem Hocker, im Profil nach rechts gewendet, und führt eine flache Schale zum Mund. Sein bis über das Knie nacktes linkes Bein streckt er aus, so daß er den Fuß am lodernden Feuer wärmen kann. Formal ähnlich, hebt sich unsere Darstellung von Vergleichsstücken wie den Londoner Psaltern Add. Ms. 24683 und Harley 5765, dem Madrider Ms. Vitr, 23–9 oder Morgan 106 in New York ab, verbindet sich aber besonders mit dem Dubliner Psalter, wo ebenfalls auf genrehafte Züge wie das Weinfaß neben dem Sitz oder den Schuh in der Hand des Trinkers verzichtet wird. Die Kapuze, die in den Beispielen in London und Madrid über den Kopf gezogen ist, wird in Dublin durch eine Art Helm ersetzt. Bei uns verrät der Buchmaler auch hier seinen Sinn für ungewohn-

126 H ier sei noch einmal auf die eben schon zitierten Abb. bei Carlvant 2012 verwiesen, die hier nicht noch einmal einzeln wiederholt werden.

127 Von Carlvant 2012, S. 295 und 297, als „Warming, drinking“ bezeichnet; seltener in ihrer Tabelle für Gent (ebenda, S. 303).

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New York, PML, M. 106 Dublin, Chester Beatty Library, W 61

te Details; er begreift Janus nicht als Zeitgenossen; wie noch Morgan 72 in alter Tradition es macht, doch statt ihn wie in alter Tradition mit zwei Gesichtern zu zeigen, stattet er ihn mit zwei hochgestellten Flügeln am Kopf aus, unter denen das Haar nach außen eingerollt ist, als sei Merkur gemeint.

Bei aller Verwandtschaft zu den Vergleichshandschriften hebt sich auch der Februar in unserem Psalter ab. Statt das Kerzenopfer zur Lichtmeß, das in Brügge die sonst gewohnten Monatsbilder aus der Welt der Bauern ersetzt, als ein Genrebild zu verstehen, in dem wie im Madrider Psalter Vitr. 23–9 ein namenloses Mädchen die Kerze darbringt, zeigt er ganz offensichtlich die Jungfrau Maria selbst. Mit dieser Konkretisierung geht die Darstellung im Restwolde-Psalter mit anderen Brügger Hauptwerken zusammen, Morgan 72 oder dem Psalter des Grootseminarie, dem Dubliner Psalter und dem Dampierre-Psalter. 128 Vor einem spitz nach rechts oben aufragenden goldenen Feld, aus dem nach rechts der weniger steil ansteigende Altartisch ausbricht, steht die Jungfrau in dunkelrotem Kleid und blauem Mantel, den sie über die Haare gezogen hat. Doch entgegen allem Brauch hält Maria nicht ihr Kind, sondern in ihrer Linken nur eine mächtige Kerze, die in Bildern von Lichtmeß sonst von einer Magd gehalten wird. Deren Schaft ragt ein wenig über den goldenen Fond hinaus, so daß die rote Flamme vor dem Pergamentgrund brennt. Maria senkt ihr ins Dreiviertel gedrehtes Antlitz leicht und weist mit dem rechten Zeigefinger auf die Kerze.

Nur in einer der Vergleichshandschriften wird Lichtmeß an dieser Stelle durch eine vollständige Szene der Darbringung im Tempel evoziert: Doch erweist sich gerade deshalb die Ausmalung dieses Beispiels, Ms. 14 des J. Paul Getty Museums, als eine

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New York, PML, M. 72 128 Carlvant 2012, S. 295 und 297, hingegen will an diesen Stellen die Jungfrau Maria nicht erkennen.

moderne Fälschung, wie Carlvant gerade von diesem Monatsbild ausgehend schlüssig aufzeigen konnte.129 Hingegen stammt die Parallele in Auct. D.4.2 der Oxforder Bodleian Library aus dem XIII . Jahrhundert; hier fragt sich, ob der mit Hermelin gefütterte Mantel der Kerzenspenderin bereits auf Maria anspielt.130 Die Krone der entsprechenden Gestalt im Psalter der Bostoner Public Library hält Carlvant für einen sicheren Hinweis auf die Muttergottes, die diesmal mit zwei Kerzen zur Lichtmeß schreite.131

Los Angeles, Getty Museum, Ms. 14

Durch die aus der Blattgoldfläche ausbrechende Krone des Baums, der im März mit einer großen Axt bearbeitet wird, ragt das nächste Kalenderbild auf der Seite gegenüber weit höher auf. Ein bartloser junger Mann in kurzem Gewand – auch er nach rechts strebend – stützt sich mit seinem rechten Fußballen vom Boden ab, tritt mit dem linken Fuß auf einen Aststumpf, um die Axt mit beiden Händen zu fassen und auf einen zweiten Aststumpf einzuschlagen. Vom Baum bleibt der steil aufgerichtete Trieb mit der wie ein einzelnes spitz zulaufendes Blatt konturierten Krone intakt, deren Laub viel von seiner Binnengliederung eingebüßt hat. In den Vergleichshandschriften wird dieses Motiv durchweg ähnlich gestaltet, ohne daß sich die Beispiele

129 Carlvant 2012, S. 387–389; die Autorin bedankt sich zwar bei den Verantwortlichen des Getty-Museums; in deren Internet-Informationen fehlen aber Hinweise auf die fragwürdige Authentizität der Bebilderung des sicher mittelalterlichen Manuskripts. Carlvant selbst legt ihrerseits nicht offen, warum sie die moderne Buchmalerei exakt 1979–1980 datiert – wohl weil sie meint, der Fälscher habe ihre Dissertation von 1978 als Anregung genutzt. Aufgetaucht ist das im Buchblock authentische Manuskript mit seiner modernen Ausmalung erst 1981, als es Avril in der Bibliothèque nationale gezeigt wurde.

130 Carlvant 2012, Abb. 28a. Erst im XV. Jahrhundert findet man an wenigen Orten Maria in Hermelin gehüllt: um 1420 bei der Schutzmantelmadonna im Londoner Bedford-Stundenbuch (Add. Ms. 18850, fol. 150v: König 2007, S. 108) und dann um 1440/50 bei Stephan Lochner im Kölner Dombild und der Madonna im Rosenhag, schließlich um 1470 auf der Berliner Tafel des Monforte-Altars des Hugo van der Goes, wo jedoch der älteste König solchen Hermelin trägt.

131 Carlvant 2012, S. 295.

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zu Gruppen zusammenschlössen. Die Zusammenfassung der Baumkrone in die Form eines einzelnen großen Blatts zeichnet unsere Fassung aus.

Die Lagenmitte des Quaternios, dessen erste beiden Blätter ohne Textverlust fehlen, nehmen April und Mai ein, die einzigen Monate, die statt der Landarbeit Vergnügungen der vornehmen jungen Leute zeigen: Wie eine Art spitz zulaufendes Portal wirkt das goldene Feld im April; es erhebt sich über einer graubraunen Bodenwelle, die etwas weiter nach beiden Seiten ausgreift; durchbrochen wird das Bildfeld von zwei Blütenzweigen, die ein vornehmer Jüngling mit ausgebreiteten Unterarmen hochhält. Fast en face steht er, doch leicht nach links gewendet, mit seinem schwarzen Schuhwerk auf dem Grund, der mit vier runden und stark stilisierten Blüten sowie ein wenig Blattwerk geschmückt ist. Sein blauer Kittel mit einer Kapuze schwingt leicht aus. In der Rechten, also für die Betrachter links, hält er eine weiße Lilie, deren Blüte wie eine fleur-de-lis konturiert ist, während er auf der anderen Seite einen Zweig mit roten Blüten, wohl Rosen hält. Die Wendung nach links verbindet mit den entsprechenden Darstellungen im Brügger Grootseminarie und im Brüsseler Dampierre-Psalter ; doch wirken die Gestalten dort graziler als der erstaunlich gedrungene junge Mann in unserem Psalter; ganz eigenständig sind die Blüten unter seinen Füßen.

Auf einem sehr niedrigen grünen Wiesenstreifen erhebt sich im Mai das Goldfeld, aus dem erneut eine als großes Blatt umrissene Baumkrone ausbricht. Es bekrönt die Köpfe eines vornehmen Liebespaars, das auf einem weißen Zelter nach rechts reitet. Der junge Mann, in dunkelrotem Gewand, ist ein Falkner, der seinen Beizvogel mit der behandschuhten Linken weit von sich hält. Mit der nackten Rechten faßt er das in Blau gekleidete Mädchen, das mit der Linken den Finger seiner Hand auf ihrer Schulter greift. Ihre Gestalt ist ungewöhnlich begriffen: Sitzt die Frau meist

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New York, PML, M. 72

hinter dem Reiter auf, so erscheint sie hier zwischen ihm und der Mähne. Ihre Beine sind hinter dem Pferdekörper verdeckt. Sie dreht sich offenbar zum Kuß um, und die Laubkrone erhält durch ihre umgekehrte Herzform, die nach oben spitz zuläuft, eine geradezu emphatische Qualität für dieses Liebespaar im Frühling. Die erstaunliche Bekrönung durch die Baumkrone fehlt fast überall; sie findet sich aber im Dubliner Psalter, der hier wie auch in vielen anderen Motiven die am engsten verwandte Parallele zu unserem Restwolde-Psalter bietet: Da der Falkner dort ebenfalls von seiner Liebsten begleitet wird, entspringt die Herzform der Laubkrone zweifellos dem Bildgedanken, im Mai ein Liebespaar ausreiten zu lassen. In den meisten anderen flämischen Psalterien ist nur der Falkner, zuweilen sogar nicht einmal als Reiter, sondern zu Fuß gezeigt; seine Beizvögel fliegen in den schönsten Beispielen aus dem Bildfeld heraus.

Die Figur zum Juni gehört zu den Eigenarten flämischer Kalenderbilder des XIII . Jahrhunderts; sie findet sich entsprechend in den Vergleichshandschriften: Da schreitet ein junger Mann mit schwarzem Schuhwerk, aber nackten Beinen in kurzem Gewand nach rechts; von einer Last gebeugt, die auf den ersten Blick aussieht wie das Bett, das der Gelähmte bei einem Wunder Jesu davonträgt (Mk 2,1–12). Die Binnenzeichnung ist verloren. Vergleichsbeispiele lassen jedoch erkennen, daß Kleinholz mit zwei wie Riemen herumgelegten Zweigen gebunden ist. Holz gemacht wird in den meisten Kalendern im Februar oder März. Doch ausgerechnet im Juni hat man Holz geschlagen, damit es bis zum Winter trocknen konnte.132

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Dublin, Chester Beatty Library, W 61
132
S. 309
Carlvant 2012,
f.

Im Juli folgt der Mäher mit der großen blauen Sense, die er beim Heumachen mit zwei rechtwinklig angebrachten Griffen führt. Seine schwarzen Schuhe versinken im Gras, das fünf Zeilen hoch ist, ehe der Goldgrund einsetzt. Dieser Mann ist wie beispielsweise auch im Psalter des Brügger Grootseminarie und im Brüsseler Dampierre-Psalter der erste Arbeiter im Zyklus, der sich für uns Betrachter nach links wendet; er senkt den Kopf, der mit einer runden Kappe vor der Sonnenhitze geschützt ist. Anders als der Bauer, der im Juni mit nackten Beinen Holz transportiert, trägt dieser blaue Beinkleider, durch die sich jedoch in gleicher Weise die Muskeln abzeichnen. Der Kittel ist, dem Farbwechsel in Paaren von Blau und Rot folgend, dunkelrot.

Entsprechend in blauen Kittel und rotes Beinkleid gehüllt ist im August der wieder mit einer Kappe auftretende Mann, der, nach rechts gewendet und mit den Schuhen in den Pergamentgrund vordringend, mit seiner blauen Sichel das mehr als mannshohe Korn mäht. Das blockhaft nur mit schwarzer Tinte auf dem Pergamentgrund gezeichnete Getreide sorgt dafür, daß diesmal kostbares Material gespart werden konnte; denn der Goldgrund muß nur links den Rücken begleiten und sich dann über die Figur spannen. Noch weniger Gold wird im Dubliner Psalter erforderlich; denn dort kommt eine Frau hinzu, um die Garben zu binden; diese Ergänzung mag ein Hinweis auf die Zeitstellung sein; denn wie oben gesehen, spricht Manches dafür, daß das Dubliner Manuskript etwas später als der Restwolde-Psalter entstanden ist. Von erstaunlich hohem Wuchs sind die Weinstöcke, die im September den Goldgrund flankieren und mit ihrem dekorativen Blattwerk zugleich wie ein Hain die menschliche Gestalt dekorativ rahmen und bekrönen: Auf der schwarzen Grundlinie steht ein junger Mann, der nach rechts gewendet mit seinem Rebmesser Trauben abschneidet und in einen runden Korb ablegt. Die Drehung im Körper führt dazu, daß der hoch gereckte rechte Arm erheblich länger wirkt als der hinter dem Körper geradezu versteckte linke. Das Bildfeld ist ohne zwingenden Grund sehr viel höher gerückt als in den anderen Monaten. In Vergleichsbeispielen wie dem Brüsseler Dampierre-Psalter, der die Weinlese in den Oktober verschiebt, wirkt der Weinstock wie ein einzelner hoher Obstbaum; unter ihm steht dort auch schon der Bottich, in dem die Trauben zertreten werden.

Auch im Oktober reicht eine schwarze Grundlinie aus, auf der nun der Sämann steht; den Acker wollte sich der Buchmaler also offenbar ersparen. Das Gestaltungsprinzip der Einzelfigur in einem auf die Konturen ihres Tuns abgestimmten Blattgoldfeld gerät diesmal an darstellerische Grenzen; denn der Mann, nun für den Betrachter nach links gewendet, greift mit seinem rechten Arm weit vor, um den Samen aus einem hölzernen Behältnis und nicht wie gewohnt aus Sätuch oder Säschürze zu werfen. Da der Boden ohnehin nicht angegeben ist und die energische Begrenzung des Goldgrundes die Bewegung nach unten stoppt, mag die Handlung auf den ersten Blick wenig einleuchten. Doch ist die recht kleine Gestalt in ihrer

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Aktion sehr gut getroffen. Wieder setzt sich unsere Miniatur durch die kugelige Krone des rahmenden Baumes, der nach rechts den Grund begrenzt, von Vergleichsbeispielen ab, die darauf so gut wie immer verzichten.

Im November mag die Begrenzung des Goldfeldes zunächst einmal ähnlich irritieren; denn nun greift sie noch entschiedener in die Bewegungsrichtung der Aktion ein: Ein Mann hat mit beiden Händen ein großes Beil über seinen Kopf erhoben, um es auf den Kopf eines Schweins herabsausen zu lassen, das unten liegt und zugleich die Grundlinie der Malfläche bildet. Mit beiden Beinen hat sich der Schlächter über den dicken Körper des Tiers gestellt, um sein Opfer gegebenenfalls festhalten zu können. Sonderbar niedrig wirken der Kopf und die lange Schnauze des Schweins. Diese Aktion wird in den vielen bei Carlvant abgebildeten Vergleichsbeispielen sehr einheitlich und durchweg in gleicher Richtung und Intensität dargestellt; doch ist nicht immer ein Schwein, sondern manchmal auch eine Kuh dargestellt. Die Themenwahl variiert stärker; denn zuweilen wird das in anderen Gegenden gewohnte Motiv vom Schweinhirten aufgegriffen, der für seine Herde Eicheln abschlägt. In solchen Fällen wird dann das Schlachten im Dezember gezeigt. Das niedrigste Monatsbild schildert im Dezember Brotbacken; zugleich handelt es sich um die am stärksten in die Breite gezogene Darstellung: Den unteren Rand bilden kurioser Weise kugelige weiße Brotteige, vier nebeneinander, ein fünfter leicht nach hinten versetzt, wobei der Bäcker aufpassen muß, nicht auf sie zu treten. Der Bäcker ist ganz vom Goldgrund umgeben, an den nach rechts der aus braunen Steinen gemauerte Backofen anschließt. Rauch, der nur in Tintenkonturen auf den Pergamentgrund gezeichnet ist, stößt der Ofen aus. Eine grüne Stange mag zum Verschluß der Backröhre gehören. Mit einem langen Stab stößt der Bäcker gerade einen sechsten Brotteig, der so kugelrund wie die anderen ist, ins Heiße. Daß dieses Motiv in den meisten Vergleichsbeispielen fehlt, verwundert angesichts unserer Darstellung nicht allzu sehr; doch findet sich in Douce 38 der Bodleian Library in Oxford ein großartiges Beispiel, das jedoch nur den Bäcker an seinem Backofen zeigt und auf die Brote verzichtet.133

Monatsbilder im Textfeld von Stundenbüchern des XV. Jahrhunderts

Bebilderung von Stundenbüchern geht in der Regel von Incipits aus, also Textanfängen, die durch Farbe hervorgehoben werden sollen. Schreiber mußten für Bilder Platz frei lassen: Je nach Ortstradition waren solche Räume nötig für große Zierbuchstaben, wie man sie in Italien und in den nördlichen Niederlanden schätzte, und genauso für Kopfbilder in Frankreich oder für textlose Vollbilder, die besonders oft in den südlichen Niederlanden vorkommen, wo alle drei Formen auch am häufigsten kombiniert wurden.

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133 Carlvant 2012, Abb. 33b; in diesem Psalter ist das Schlachten wie im Restwolde-Psalter auf November vorverlegt.

Kopfbilder als Norm im Textblock, aber als Ausnahme im Kalender

Für die Bebilderung des Kalenders ergab sich das Problem, daß die am weitesten verbreitete Form von Miniaturen, das Kopfbild im Textfeld der ersten Seite zu viel optisches Gewicht gibt, vor allem aber die Aufteilung der Monatshälften stört, weil nicht genug Platz für die Titelei mit dem Monatsnamen und die erste Hälfte der Tage bleibt. Deshalb beschränken sich derartige Versuche auf wenige Zentren wie Rouen und die Normandie, wo die beispielsweise allgemein bekannten Playfair Hours entstanden sind.134

Leuchtendes Mittelalter VI, Nr. 76

Daß Kopfbilder nicht recht zur Bebilderung von Kalendern paßten, haben die Buchmaler von Anfang an gewußt; deshalb sind solche Miniaturen im erhaltenen Bestand selten; sie kommen fast nur in der Spätzeit vor: In Frankreich finden sie sich bei Jean Pichore und seinem Kreis135 sowie danach in

134 L ondon, Victoria & Albert Museum, L. 475 – 1918, mit dem Wechsel der Seiten nach dem Monatszehnten: Rowan Watson, The Playfair Hours. A Late Fifteenth Century Illuminated Manuscript from Rouen, London 1984; damit eng verwandt ist Nr. 24 in unserem Kat. 20 von 1987 (auch in Wiedersehen mit Rouen, Nr. Q, S. 346–7). Einzelblätter aus einem früheren Beispiel, vermutlich in zwei unterschiedlichen Etappen in der Basse Normandie ausgeführt, im Cluny-Museum: Amédée Boinet, Choix de miniatures détachées conservées au Musée de Cluny à Paris, Bull. Soc. fr. de reproductions de mss. à peintures VI , 1922, S. 5–30.

135 So im bordürenlosen Kalender von Morgan 85, einem Manuskript, das Plummer, Last Flowering 1982, zum Ausgangspunkt eines separaten Œuvres gemacht hatte: Wieck, Ausst.-Kat. New York 1998, Nr. 16.

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Handschriften aus dem Umfeld von Noël Bellemare.136 Ein besonders eindrucksvolles Beispiel, das die üblichen Monatsbilder aus dem Jahreslauf durch Szenen aus der Entwicklung eines vornehmen Mannes ersetzt, haben wir schon im letzten Band der ersten Serie Leuchtendes Mittelalter vorgestellt137)

Die Ausstattung eines Kalenders mit Kopfbildern erreicht ihren eigentlichen Höhepunkt in Frankreich in einem gänzlich ungewöhnlichen Beispiel: Jean Poyers sogenanntem Stundenbuch für Heinrich VIII . 138 Dort wurde ein von Barthélemy d’Eyck in Handschriften für René d’Anjou entwickeltes Layout, mit dem auch Jean Fouquet für Étienne Chevalier experimentiert hat, für den Kalender eingesetzt: Nun ist das Kopfbild seitenbreit; nur das Textfeld erhält noch eine Bordüre; und in ihm ist jeweils ein ganzer Monat zweispaltig gesetzt, ähnlich wie in der Pariser Buchmalerei des späten XV. Jahrhunderts, wo Kopfbildern im Textspiegel bis zu einem

136 So in Stundenbüchern wie Smith-Lesouëf 42 der Pariser BnF (Orth 2015; Abb. 116) und Walters 449 des Walters Art Museums in Baltimore (z. B. Wieck, Ausst.-Kat. Baltimore 1988, Nr. 77, Abb. 8, 9 und 17). Zu den Künstlern siehe Orth 2015, deren früher Tod jedoch verhindert hat, daß noch schlüssig die Ergebnisse von Guy-Michel Leproux, La peinture à Paris sous le règne de François Ier, Paris 2001, eingearbeitet werden konnten. In unserem Zusammenhang charakteristisch ist der Umstand, daß beide Bücher auf Kalender kaum eingehen, mit Ausnahme der Einzelblätter mit textlosen Vollbildern im Pariser Musée Marmottan Monet, aus der Sammlung Wildenstein, die Orth als Farbtaf. 47 und 48 abbildet.

137 L euchtendes Mittelalter VI , 1993/94, Nr. 76.

138 Roger Wieck u. a ., The Hours of Henry VIII . A Renaissance Masterpiece by Jean Poyet, New York 2000, S. 51–75; Mara Hofmann, Jean Poyer. Das Gesamtwerk , Turnhout 2007, S. 35 f. und Abb. 104 (Juni).

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Unser Katalog Paris mon Amour V, Nr. 61

Drittel einer Seite zukommen konnte.139 Dort sind wie in einem entsprechend bebilderten Straßburger Stundenbuch meist zwei gleichgroße Felder mit dem Monatsbild und dem Tierkreiszeichen nebeneinander gestellt.140

Kopfbilder in Kalendern flämischer Stundenbücher

Wien, ÖNB, Cod. 1897 Mit Bildfeldern im Textfeld haben auch flämische Buchmaler gespielt.141 Zuweilen haben sie sich auch von der Vorstellung gelöst, eine solche Miniatur solle den jeweiligen Monat eröffnen; so stehen in Walters 425 aus dem frühen XVI . Jahrhundert jeweils neun Zeilen hohe Bildfelder auf Recto unter den ersten sieben Textzeilen.142 Auch zu dieser Art, das Bas-de-Page gleichsam in den Textspiegel hochwachsen zu

139 Siehe beispielsweise das Pariser Stundenbuch der Zeit gegen 1500 in der New Yorker Morgan Library M. 963. Einen breiten Überblick über die Verhältnisse in Paris geben die fünf Bände unseres Katalogs Paris mon amour, Bibermühle 2017

18; dort finden sich solche Monatsbilder im Textspiegel vor allem bei zweispaltig angelegten Kalendern, die wie Nr. 54 und 61 jedem Monat nur eine Seite widmen.

140 L os Angeles, J. Paul Getty Museum, Ludwig IX , 16: Wieck, Ausst.-Kat. Baltimore 1988, Nr. 119, Abb. 20, S. 52; Plotzek 1982, Abb. 345–346.

141 Ein bemerkenswertes Beispiel ist das Holford-Stundenbuch in Lissabon, Museu Calouste Gulbenkian, LA 210, in dem Elemente aus dem Breviarium Grimani so kombiniert werden, daß die dort ganzseitig gezeigten Motive in sieben Zeilen hohen und in die Bordüre ausgreifenden Kopfminiaturen auf Verso gepreßt werden, während die Anlage der Bordüren zum Kalendertext wesentlich den Randschmuck bestimmt: Krieger 2012, Abb. 173- 175.

142 Wieck, Ausst.-Kat. Baltimore 1988, Abb. S. 48–49 aus Nr. 105.

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lassen, gibt es ein Vergleichsbeispiel aus dem deutschsprachigen Raum.143 Solche Bebilderung verstößt gegen die Zuordnung von Bildern zum Incipit und damit gegen einen wesentlichen Grundgedanken der französischen und flämischen Buchmalerei.144

Unterschiedliche Prinzipien stoßen dann im Wiener Stundenbuch Jakobs  IV. von Schottland aus der Zeit zwischen 1503 und 1513 aufeinander und sorgen in dieser Handschrift für eine einzigartige Lösung:145 Die Monate sind auf Doppelseiten ausgebreitet; und da Kopfbilder für die Buchmaler – anders als die meist auf Verso

143 London, BL , Egerton MS 1146: Backhouse, Books of Hours, 1985, Abb. 8 mit der Attacke eines Mannes in voller Rüstung auf einen angebundenen Keiler im verschneiten Gehölz – der gesamte Zyklus zeigt auf die Jahreszeiten eingestellte Jagdszenen.

144 Welche Rolle dabei die gern ganz auf Randstreifen setzende italienische Buchmalerei spielte, wäre noch zu klären: Ein überraschender Beleg dafür findet sich in einem französischen, wohl Pariser Stundenbuch in London (Add. MS 11866), das jeweils am Monatsende auf Verso die größten Bildfelder für die Planeten, nicht aber für die Tierkreiszeichen vorsieht und sich bei deren Gestaltung offensichtlich an italienischen Vorbildern orientiert: Backhouse, Books of Hours, 1985, Abb. 7.

145 Wien, ÖNB , Cod. 1897: Faks., Graz 1987, mit Kommentarband von Franz Unterkircher; Thoss, Ausst.-Kat. Wien 1987, Nr. 74; Ausst. Los Angeles und London 2003, Nr. 110, mit Lit. S. 528 f.; Krieger, 2012, S. 48 – 60 und passim.

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Leuchtendes Mittelalter III, Nr. 16

gestellten Vollbilder – am besten auf Recto gehörten, hat man die Tagesfolge nach dem 22. eines jeden Monats unterbrochen, um die weit aufragenden Miniaturen auf Recto über die letzten Zeilen des vorausgehenden Monats setzen zu können. Spektakulär ist aber auch die Bebilderung dieses Kalenders; denn statt Arbeit und Vergnügen im Jahreslauf wird der Wandel der Vegetation unter dem jeweiligen Tierkreiszeichen ganz und gar ohne menschliche Arbeit geschildert.146

In diesem Zusammenhang ist an eines der eindrucksvollsten Manuskripte aus unserem Antiquariat zu erinnern: das Stundenbuch für Joos van Varsenaere, wohl aus Gent, das wir 1991 ausführlich beschrieben haben.147 Den in einer Miniatur mit seinen Wappen dargestellten Herrn aus der engeren Umgebung des großen Bibliophilen Lodewijk van Gruuthuse haben wir damals irrig mit der Herrschaft Wassenaer zwischen Den Haag und Leiden verbunden. Tatsächlich war sein Sitz ein Ortsteil von Jabbeke zwischen Oostende und Brügge. Der Besitzer wurde 1462 zum ersten Mal bei einem Turnier in Brügge genannt und ist dort am 7. März 1490 verstorben.148 Joos van Varsenaere war Ratsherr Philipps des Guten wie Maximilians, stand nach Karls des Kühnen Tod 1477 als Lieutenant Gruuthuse zur Seite. Schon unter dem letzten Herzog hatte er von 1473 bis 1476 in Brügge ein Amt inne, das man am besten als das eines Schultheißen bezeichnen kann. Als Maria von Burgund 1482 starb, war er Bürgermeister, wurde in den anschließenden Wirren dieses Amts enthoben und aus der Stadt verbannt. Nach dem Friedensschluß 1485 fand er seinen Frieden mit Maximilian. Bei dessen Einkerkerung im Jahre 1487 wurde er ebenfalls verfolgt, konnte jedoch flüchten, sollte danach aber kein Amt mehr in der Stadt ausüben. Der Kalender des Varsenaere-Stundenbuchs, der mit dem rätselhaften textlosen Bild einer nackten Frau in dem Bad nach einer Komposition von Jan van Eyck eingeleitet wird, ist in Silber und Gold auf schwarze Textfelder geschrieben. Den Beginn eines jeden Monats eröffnet ein Bildfeld über den zwei Titelzeilen mit dem KL und den ersten elf Tagen. Hinter jeweils zwei Rundbögen breiten sich die Monatsbilder als optische Einheit aus der jeweiligen Tätigkeit und einem Blick auf das Tierkreiszeichen rechts. Wegen der prachtvollen Streublumenbordüren, die nur den Monatsbeginn auf den Recto-Seiten schmücken, ist dieser Kalender der späteste in einer Folge von nur drei heute bekannten ähnlich gestalteten Beispielen, die übrigens durchweg in lateinischer Sprache gehalten sind: Den Anfang macht eines der berühmtesten flämischen Manuskripte, das sogenannte Wiener Stundenbuch der Maria von Burgund, das traditionell in die kurze Regierungszeit der Herzogin von 1477 bis

146 Da Otto Pächt besonderes Augenmerk auf die die menschenleere Landschaft gewandt hat, verwundert, daß seine Schülerin Michaela Krieger in ihrem Buch von 2012 nicht das geringste Interesse für den spektakulären Kalender äußerte.

147 L euchtendes Mittelalter III , 1991, Nr. 16.

148 Siehe den Beitrag von Jos De Smet in der von der belgischen Akademie herausgegebenen Biographie nationale, Bd. XXVI , Brüssel 1936/38, Sp. 502–504.

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März 1482 datiert wird, aber wohl fast zehn Jahre älter sein dürfte.149 Die Übereinstimmung mit unserem Varsenaere-Stundenbuch betrifft nur die schwarzen Textfelder mit den Metalltinten. Die Wiener Monatsbilder und der Zodiak sind hingegen in runden Medaillons in die äußeren Bordürenstreifen versetzt.150 Gestaltet wurde die Wiener Handschrift vom Schreiber Nicolas Spierink; die für seine Arbeit charakteristischen Kalligraphien sowie seine Einzelmotive aus Blütenzweigen und Tieren beleben die übrigen sonst leeren Ränder.

Wien, ÖNB, Cod. 1855: Stundenbuch der Maria von Burgund

149 Wien, ÖNB , Cod. 1855: Pächt und Thoss II , 1990, Abb. 102–112; sie kennen auch die beiden anderen Beispiele, die sie mit Vergl.-Abb. 55 und 56 zeigen. Ausgangspunkt der überbordenden Literatur ist immer noch die Monographie über den Stil, den Otto Pächt 1948 einem einzelnen Maler zuschrieb; das dort umrissene Œuvre wurde zunächst von Anne van Buren 1975, später dann von Bodo Brinkmann 1997 aufgebrochen. Dessen Atomisierung wurde von Thomas Kren und Scot McKendrick im Ausst.-Kat. Los Angeles und London 2003 wieder rückgängig gemacht, nachdem Brinkmann in dem von mir 1998 herausgegebenen Band über das Berliner Stundenbuch der Maria von Burgund die überzeugende Trennung eines Wiener und eines Berliner Meisters vollzogen hatte, die nicht in Publikationen anderer Sprachen gedrungen ist. Inzwischen rückt das seit 2003 wieder stattlicher gewordene Konvolut des Wiener Meisters immer weiter in die Jahre um 1470, also in die Zeit von Margarete von York und Karl dem Kühnen; die Identifizierung des Wiener Meisters mit Justus van Gent wird zunehmend wahrscheinlich; siehe meinen Beitrag: Charles the Bold and the Mary of Burgundy Style: or Who Said „Voustre Demeure”?, in: Staging the Court of Burgundy. Proceedings of the Conference „The Splendour of Burgundy”, hrsg. von Wim Blockmans u. a ., Turnhout 2013, S. 287–299.

150 Pächt und Thoss zeigen dazu in Abb. 67 den Dezember von Lievin van Lathem in Paris, BnF, NAL 215.

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Bordüren auf einfach umrandetem Pergamentgrund mit Akanthus in Blau und Gold sowie stark stilisierten Blumen, die sich energisch von den gemalten naturalistischen Blumenzweigen in den unteren Randstreifen unterscheiden, kehren im schon erwähnten Budapester Kalender wieder, in dem die offenbar zunächst für die Initialen KL vorgesehenen Felder mit Monatsbildern genutzt und die beiden Lettern einfach ausgelassen wurden.151 Jeder Tag ist besetzt; umso mehr verwundert, daß die Zuteilung von Gold und Silber verändert wird: Während in Wien –übrigens bei sehr viel weniger Einträgen – und in unserem Varsenaere-Stundenbuch die einfachen Tage in Silber, die Feste aber in Gold geschrieben sind, werden die Metallfarben umgekehrt eingesetzt. Bezieht man die Goldene Zahl, die Sonntagsbuchstaben und die Anfangsbuchstaben der Einträge ein, ergibt sich in jedem der drei Manuskripte eine eigene Variante.

In Budapest machen die rechteckigen Bildfelder die halbe Höhe des Textspiegels, aber nur zwei Drittel von dessen Breite aus; sie sind mit schwarz umrandeten goldenen Grenzlinien eingesetzt. Das Monatsbild steht auf Verso, der Zodiak auf Recto. Erhaltungszustand und künstlerische Qualität sind im Budapester Manuskript unserem brillanten Werk sichtlich unterlegen; doch haben vor allem Miniaturen mit den Tierkreiszeichen auf Recto ihren eigenen Reiz.

In unserem Varsenare-Stundenbuch setzen sich die Gestalter über eine wichtige Regel des Layouts hinweg: Gewöhnlich werden Text und Bild im Textspiegel untergebracht; hier aber stößt das Bildfeld bis zur oberen Kante der bemalten Fläche vor. Dadurch ragen die Miniaturen für Varsenare um drei Zeilen über die obere Grenzlinie der auf zwanzig Zeilen angelegten Kalenderseite hinaus.

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Budapest, NB, Cod. lat. 396 151 Budapest, NB , also Országos Széchényi Konyvtá, c. l. m.ae 396: Farbabb. des Februars bei Smeyers 1998, S. 398.

Von hier aus öffnet sich der Weg zu französischen Beispielen, wie wir sie in einigen unserer Kataloge beschrieben haben. Ihnen gemeinsam ist allerdings, daß die Monate meist zweispaltig auf einer Seite untergebracht sind. Zu denken ist an ein Stundenbuch aus dem Umfeld des Meisters der burgundischen Prälaten152 oder an das Dritte Stundenbuch der Philippa von Geldern von jenem Pariser Maler, der nach dieser Fürstin benannt wird, in dem wir aber Jean Coene erkannt haben.153 Von hier aus gelangt man schließlich zum Layout vieler Kalender aus dem frühen Buchdruck und seinem Umfeld, in denen sich wie in unserem Stundenbuch, das Anthoine Vérard für Karl VIII . angelegt hat, Monatsbild und Zodiak über dem Text mit einem ganzen Kranz von Bildfeldern verbinden, die auf die in den einzelnen Monaten genannten Feste eingehen.154

153

154

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Leuchtendes Mittelalter V, Nr. 32 152 Tour de France 2013, Bd. I, Nr. 14. L euchtendes Mittelalter V, 1993, Nr. 32. L euchtendes Mittelalter I, 1989, Nr. 62.

In den gerade genannten französischen Beispielen wird meist konsequent zwischen Monatsbild links und Zodiak rechts geschieden. Das Varsenare-Stundenbuch hingegen stellt zwei gleichgroße Bildfelder mit Rundbögen in einen gemeinsamen Rahmen aus Pinselgold; dabei bemüht sich der Maler um eine subtile Verbindung: Das Monatsbild setzt sich im rechten Bildfeld unter dem meist in den Himmel gerückten Zodiak fort; so wird die Landschaft in den beiden Bildfeldern hinter den goldenen Rahmen als Einheit begriffen. Besonders raffiniert ist der Januar: In einem nach vorn offenen Kulissenhäuschen, das ins rechte Feld hineinragt, tafelt der vornehme Herr links, von seiner Frau durch den goldenen Mittelpfosten des rahmenden Bogens getrennt: Rechts steht dann, etwas in den Hintergrund gerückt, mit den Beinen in einem Fluß, der Wassermann als nackter Jüngling, aber immerhin vor dem Himmel über der Landschaftssilhouette.

Die Doppelung der Bildfelder gibt Gelegenheit, den einzelnen Monatsdarstellungen noch jeweils einen zweiten, zuweilen zeitlich versetzten Aspekt beizufügen. Von der Eigenart des Künstlers zeugen zwei Tierkreiszeichen: Die Zwillinge sind wie so oft als nacktes Liebespaar verstanden, aber nicht einfach nebeneinandergestellt; vielmehr hält der Mann nun die Frau auf seinem Schoß und liebkost sie. Noch ungewöhnlicher ist die Gestalt der Jungfrau, die meist züchtig gekleidet und mit einer Märtyrerpalme ausgestattet ist; hier jedoch erscheint sie als jugendliche Aktfigur. Auch der Schütze erstaunt; denn er wird als ein Kentaur gezeigt, der nur über Hinterbeine verfügt.

Die Monatsbilder folgen weit verbreitetem Brauch: Im Januar tafelt ein vornehmes älteres Paar. Holzmachen bestimmt den Februar; Büsche werden gekappt und Reisig wird gebunden; also ist nicht das Kupieren von Weinstöcken gemeint. Gartenarbeit mit dem Spaten bestimmt den März. Ein Liebespaar wird im April zweimal gezeigt: vorn sitzend und dann im Raum spazierend. Ein weiteres Liebespaar reitet im Mai aus, der Mann nicht als Falkner, sondern mit einer Blumenstaude; doch geht ihnen ein Jagdgehilfe voran. Heumahd mit der Sense, Kornmahd mit der Sichel stehen für Juni und Juli. Korn wird im August gedroschen; und der Wind scheidet Spreu vom Weizen. Weinkelter und das Heranschaffen der Reben in Kiepen bestimmen den September. Im Oktober wird gesät; dafür muß das Saatgut geholt werden. Im November sind Eicheln für die Schweine abzuschlagen. Im Dezember schauen Leute zu, wie ein Mann und eine Frau ein Schwein schlachten.

Wie schon in den frühen Kalendern gilt den vornehmen Leuten nur im Januar und in den Frühlingsmonaten April und Mai Aufmerksamkeit. Kurzwüchsig und zupackend sind die Landleute bei der Arbeit. Eindrucksvoll wird die Landschaft im Jahreslauf geschildert, mit wunderbar atmosphärischen Himmeln, wie sie in jener Zeit sonst nur der Meister des Dresdner Gebetbuchs schuf.155

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155 Zu diesem Maler siehe Brinkmann 1997; der Künstler wird uns im nächsten Kapitel beschäftigen.

Mehrere Buchmaler waren an dem hinreißend schönen und historisch bedeutenden Buch beteiligt. Der Maler des Kalenders läßt sich zweifelsfrei bestimmen: Verantwortlich war der sogenannte Meister Edwards  IV., ein Illuminator also, der nach jenem englischen König benannt wird, der uns im Zusammenhang des RestwoldePsalters schon interessiert hat. Winkler hat den Künstler noch mit der Zeitmarke „von 1479“ bezeichnet, als er ihn von zwei Bänden einer Bible historiale aus jenem Jahr aus bestimmte.156 Der Meister Edwards  IV. liebte spitze rote Münder, breite aufgehellte Wangenknochen, zeigt Augen in dunklen Höhlen, modelliert Kinn, Nase und untere Wangenpartien stark. Männer zeigt er breitschultrig, aber mit enger Taille, Frauen hingegen eleganter, wozu hier nicht viel Platz ist.

Ähnlich wie der Meister des Dresdner Gebetbuchs malt der Meister Eduards IV., der sicher bis zur Jahrhundertwende noch gearbeitet hat, die Himmel und das Blau der Ferne mit dichter Farbe, das im kleinen Format der Monatsbilder eine wichtige Rolle spielt. Er differenziert Baumsorten treffsicher, unterscheidet bläuliches von gelblichem Laub, höht das eine mit Weiß, das andere mit Gelb. Mit feuchtem Pinsel gestaltet er Flußläufe und Uferstreifen. Oft greifen seine Figuren in den Rahmen aus; denn Freiheit schätzt dieser Künstler offenbar sehr.

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Nr. 2 Dresdner Gebetbuch 156 Den Ausgangspunkt bilden die beiden Bände London, Royal Ms. 18.D.ix–x. Winkler 1925, S. 137; im Ausst.-Kat. Los Angeles und London 2003 hat man sich zeitversetzt an zwei Stellen mit ihm beschäftigt: S. 295–305 und 335–339; die Bible historiale von 1479 für Edward IV. wird dort als Nr. 83 beschrieben.
– 94 –Dresdner Gebetbuch Nr. 2

Textlose Vollbilder für Landschaften des Dresdner Gebetbuchmeisters

Sicher sind textlose Miniaturen in Kalendarien große Höhepunkte; sie waren aber keineswegs Ziel künstlerischer Entwicklung, sondern traten nur sporadisch als extrem seltene Sonderfälle auf; das geschah in drei Etappen: Am Anfang stehen die 1416 unvollendet hinterlassenen Très Riches Heures des Herzogs von Berry157 und am Ende deren Wiederaufleben im Breviarium Grimani aus der Zeit um 1515. Auf halber Strecke zwischen beiden brilliert mit seinen eigenständigen Kalenderbildern ein Buchmaler, der als einziger in dieser eindrucksvollen Reihe ganz anonym bleibt: Ihn nennt man nach dem Dresdner Gebetbuch aus der Zeit um 1470.158

157 Chantilly, Musée Condé, Ms. 65: aus der Lit. seien genannt: Meiss 1974 und die Korrekturen dazu bei: Bellosi 1975, König 1996, Reynolds 2005, Stirneman 2005 und zuletzt Villela-Petit 2013.

158 Dresden, Sächsische Landes- und Universitätsbibl., A 311, durch Wasserschaden im Japanischen Palais entstellt. Zum Kalender siehe Kästner 1936 mit schönen Farbabb.; Den heutigen Zustand dokumentieren die zwölf übergroßen Farbabb., die mit Kästner 1936 verglichen werden müssen, in einem Culinair Calendarium, das dem brillanten Koch Roger Souvereyns von Walda Pairon gewidmet wurde: M. Rosine de Dijn, Culinair Calendarium … Mythen en Mysteries. Met historische Recepten bewerkt door het ‚Scholteshof‘, Bielefeld 1991; siehe auch die nüchterner angelegte Farbtaf. 2 in Brinkmann 1997. Bodo Brinkmann sei für Auskünfte gedankt.

Zum Maler, den Winkler 1925 (S. 94–101) definiert hat, heute vor allem Brinkmann 1997 sowie die entsprechenden Abschnitte im Ausst.-Kat. Los Angeles und London 2003.

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Très Riches Heures

Am Kalender an der Berry-Handschrift wirkten Maler aus drei Generationen mit: die Brüder Limburg in den Jahren kurz vor 1416, Barthélemy d’Eyck als „OktoberMeister“ um 1450, ehe dann Jean Colombe um 1485 das Novemberbild gestaltete. Die Gesamtverantwortung für das Breviarium Grimani159 hatte wohl noch der alte Sanders Bening; doch weder er noch sein Sohn Simon hat an den Kalenderbildern mitgemalt: Gerard Horenbout kommt als deren Schöpfer ins Spiel; doch ob er wirklich der „Meister des Grimani-Kalenders“ war, bleibt eine offene Frage.160

Immerhin sollte Simon Bening sein Leben lang vom Grimani-Kalender profitieren, deren Monatsbilder er vom New Yorker Da Costa-Stundenbuch bis zu seinem Münchner Kalender phantasievoll variierte.161

Textlose Vollbilder, für die in den südlichen Niederlanden wie schon in unserem Restwolde-Psalter meist leere Blätter eingeschaltet wurden, hat man in Frankreich nur selten eingesetzt. Es liegt wohl an der geringen Systematik, die in der Literatur waltete, wenn es um Kalenderbilder geht, daß ein sehr eindrucksvolles frühes Beispiel nie recht ins Bewußtsein gelangt ist: Die Königliche Bibliothek in Den Haag besitzt einen Psalter, vielleicht aus der Zeit um 1180, der also noch ein Stück älter ist als unser Restwolde-Psalter und zum zwischen Frankreich und England strittigen Chanel-Style gerechnet wird: An Eleanor von Aquitanien hat man bei der hier schon abgebildeten Beterin zu Beginn des Psalmentexts gedacht; schlüssiger bleibt die Bezeichnung Fécamp-Psalter; denn der heilige Waningus, Patron dieser normannischen Abtei, wird mit Fest und Oktav (9. und 16. Januar) geehrt. So weit wir den Bestand an mittelalterlichen Handschriften überblicken, scheint der darin bewahrte Kalender das früheste Beispiel für Vollbilder auf Verso und Text auf Recto zu sein; zudem begleiten je ein Bild aus dem Zodiak und je zwei aus einem AderlaßZyklus die Textseiten.162

Vom Fécamp-Psalter wurden die Brüder Limburg nichts, als sie vor 1416 daran gingen, für den Herzog von Berry einen Kalender der Très Riches Heures entsprechend zu gestalten. Vielleicht jedoch wirkte eine gewisse Tradition aus Psalterien nach, als sie die Vollbilder auf Verso malten und den karg dekorierten Textseiten mit den Heiligentagen auf Recto gegenüberstellten.

159 Venedig, Biblioteca Nazionale Marciana, Ms. lat. I.99 = 2138: zuletzt König und Heyder 2016, ital. 2017.

160 Siehe das Schlußkapitel in Krieger 2012, in dem Horenbout als verantwortlich benannt wird, um dann gleich wieder verworfen zu werden. Die Literatur streitet seit langem insbesondere um den sogenannten Meister Jakobs  IV. und Horenbout; ich selbst habe 2016 Zweifel geäußert, ob der Kalender nicht doch einer eigenständigen Hand gehört.

161 München, Bayerische Staatsbibl., Clm 23638; den Textblock hat Thomas Kren zu Recht in Montserrat, Ms. 53 erkannt: Ausst.-Kat. Los Angeles und London 2003, Nr. 154.

162 Den Haag, KB , 76 F 13: Offenbar ohne Kenntnis der Handschrift hat mit Photos der Londoner Conway Library im Courtauld Institute Olga Koseleff-Gordon 1967 den Zyklus kennen gelernt und in der Festschrift Usener ohne viel umgebendes Wissen publiziert. Siehe Cahn 1996, Nr. 134, II , S. 160–161, Abb. 328 (Januar) und 332 (Mai) in Bd. I.

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Im abrupten Wechsel von Malerei und Text blieb ein ästhetisches Problem bestehen, das schon die Lage, die für die Miniaturen im Restwolde-Psalter vorgeschaltet wurde, mit dem bunten Verso und dem ungeschmückten Gegenüber prägte. Noch im Dresdner Gebetbuch und im hier als Nr. 2 vorgestellten, der Literatur bisher unbekannten Kalender desselben Meisters kümmerte man sich nicht weiter darum. Erst im Breviarium Grimani kommt es zum Ausgleich, indem der Kalendertext gleichsam vor Malflächen gestellt wird, die wie historisierte Bordüren wirken, aber in sich geschlossene Panoramen aus Landschaft mit Himmel bilden.

Während die Sonne in einem Bogen, von Darstellungen aus dem Zodiak und astronomischen Angaben begleitet, über den fast quadratischen Monatsbildern in den Très Riches Heures ihre Bahn durch das Jahr zieht, bekrönt sie mit den Motiven aus dem Zodiak im Brevier den Text auf Recto und gibt den Himmel über den ganzseitigen Darstellungen auf Verso frei. Beim Dresdner Gebetbuchmeister tauchen nur die Tierkreiszeichen in beschränktem Himmelsraum auf. Die Darstellung des Helios auf seinem Wagen, die von den Brüdern Limburg im Sinne einer kühnen Protorenaissance ersonnen war, verschwindet in den anderen Handschriften, in denen der wichtigste flämische Buchmaler des XVI . Jahrhunderts, Simon Bening, die Bildgedanken der Très Riches Heures aufgriff, um wenige vorzügliche Stundenbücher kleinen Formats mit textlosen Monatsbildern zu versehen. In Benings

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New York, PML, M. 399 Breviarium Grimani

schönstem Beispiel, dem Münchner Kalender, tauchen die Tierkreiszeichen, extrem reduziert, in der rechten oberen Ecke der Bordüren auf, mit denen er die Texte auf Recto umgibt. Dabei triumphiert in Simon Benings Werk die gesamte dynamische Entwicklung des Kalenderbildes; denn er brilliert nicht nur in den berühmten Vollbildern, sondern, wie wir auch hier sehen werden, genauso in den Bildbordüren.

Vorstufen aus der Berry-Zeit für Vollbilder im Kalender

Die spektakulären Très Riches Heures und deren ebenso erstaunliche Nachfolge in Flandern hundert Jahre später163 machen den größten Bestand an ganzseitigen Kalenderminiaturen aus. Nachdem schon die Limburgs in der Handschrift für Berry auf Buchseiten, die Platz für Bordüren geboten hätten, die Bilder ohne jeden Randschmuck belassen hatten, brachen die flämischen Varianten im XVI . Jahrhundert noch viel radikaler mit der Einrichtung der Miniaturen im Textspiegel und breiteten die Malerei auf möglichst großer Fläche aus.

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Den Haag, KB 76 F 13 163 Einen guten Überblick gibt Hansen 1984, der von dem splendiden Münchner Kalender Simon Benings ausgeht und dazu das Da Costa-Stundenbuch M 399 der Morgan Library sowie Einzelblätter in London und anderswo abbildet.

Nach bisheriger Kenntnis kommen zu dieser recht homogenen Gruppe von bebilderten Kalendarien ohne Bordüren nur wenige Einzelphänomene; sie umgeben die Monatsbilder mit dem jeweils ateliertypischen Randschmuck und richten sich wenigstens in der Breite der Bilder nach dem Textspiegel: Nicht ganz textlos sind die Kalenderminiaturen der Grandes Heures de Rohan aus den Jahren um 1430, in denen die waagerechten Grenzen des Textspiegels vom Bild nach oben und von drei Textzeilen unten durchbrochen sind. So entsteht ein Rechteck in extrem steilem Format, das mit monumentalen Einzelfiguren oder sehr knapp gehaltenen Szenen aus nur wenigen Gestalten besetzt ist.164

Nur wenig früher wird der Kalender eines stark durch Wasserschaden beeinträchtigten und in Einzelblätter zerlegten Stundenbuchs für den Gebrauch von Paris in Dublin entstanden sein.165 Die rechteckigen Bilder, die nicht am Textspiegel der Kalenderseiten, sondern eher am Layout des Textblocks orientiert sind,166 werden

164 Siehe Millard Meiss und Marcel Thomas, The Rohan Book of Hours, Bibliothèque Nationale, Paris Ms. latin 9471, London 1973, sowie mein Buch Die Grandes Heures de Rohan. Eine Hilfe zum Verständnis des Manuscrit latin 9471 der Bibliothèque nationale de France, Simbach am Inn 2006.

165 Chester Beatty Library, Western Ms. 94: Pächt 1950. Bei Meiss 1974, S. 412 f. und passim, unter „Whereabouts Unknown“ erwähnt und abgebildet; siehe inzwischen Catherine Yvard, Entre France et Italie: Les Heures Hamilton Field de la Chester Beatty Library à Dublin, in: art de l’enluminure 36, 2011, S. 2–41, mit den zehn erhaltenen Vollbildern auf S. 20–29.

166 Siehe bei Yvard 2011 (vorige Anm.) die Abb. des Kalendertexts auf S. 5. Das Monatsbild April umgibt eine Dornblattbordüre (Abb. ebenda, S. 22).

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Paris, BnF, Ms. lat. 9471 Dublin, Beatty Libr., Ms. 94

mit prachtvollen vegetabilen Motiven umgeben, die teilweise zum jeweiligen Monat passen: Veilchen zum Mai, Erdbeeren zum Juli, Weinreben zur Weinlese im September und Eicheln zum Schweineschlachten im Dezember, in dessen Miniatur erstaunlicher Weise der zum Januar gehörige Januskopf den Herren beim Festmahl zum Jahresende auszeichnet. Im besten Sinne als ein europäisches Phänomen erweist sich dieses wohl in der Champagne geschriebene Manuskript. Illuminiert hat es der sogenannte Meister von Walters 219, ein Italiener, der um 1412 in Paris aufgetaucht ist und danach eine Weile in der Champagne gewirkt hat. Statt einer Konzentration auf nur wenige große Akteure schildert der Maler in den Monatsbildern den Jahreslauf in steil ansteigenden Landschaften, man vergleiche zu diesem großen Künstler LMNF VI , Nr. 1: ein bislang unbekanntes Meisterwerk seiner Hand. An Tierkreiszeichen ist nicht gedacht, zumal die teppichhafte Bildstruktur nur wenig Platz für den Himmel ließe. Anders als in den darin sehr viel fortschrittlicheren Très Riches Heures der Limburgs ersetzen ihn farbige, teils textile Mustergründe. Man könnte die Anordnung der kaum perspektivisch verkürzten Figuren als teppichhaft bezeichnen; doch stammt der Bildgedanke offenbar aus der oberitalienischen Wandmalerei, die mit dem Monatszyklus im Adlerturm des Castel Vecchio in Trient Landschaft und Genre revolutionierte.167

Ein Irrläufer aus dem Umfeld von Nicolaus Spierinc

Zwischen französischer und flämischer Buchmalerei steht ein für römischen Gebrauch eingerichtetes Stundenbuch in Madrid, dessen Heiligenauswahl in Kalender und Litanei keine markanten Hinweise auf die südlichen Niederlande enthält. Ana Domínguez Rodriguez hat seit 1979 diese erstaunliche Handschrift aufzuwerten versucht und ist unermüdlich dafür eingetreten, sie in der flämischen Buchmalerei um 1460/70 zu verorten.168 Maurits Smeyers hat die Miniaturen 1998 dem Meister des Fernando de Lucena, der von ms. 10778 der Brüsseler Bibliothek aus definiert wird,169 zugeschrieben und das ganze Werk in enge Beziehung zu dem Kreis des Meisters der Maria von Burgund gerückt.170 Zumindest für den Kalender und die Darstellung von Johannes auf Patmos hat sich ihm Josefina Planas Badenas 2003 im Kommentar zum Faksimile angeschlossen.171 Im gleichen Band hat Elisa Ruiz

167 Siehe Mariano Welber (Hrsg.), Affreschi dei mesi di torre d‘Aquila Castello Buonconsiglio (sec. XV ), Trient 1992.

168 Domínguez 1979, S. 109–113.

169 Triunfo de las doñas, in der französischen Übersetzung von Fernando de Lucenas, nach einem spanischen Text von Juan Rodríguez de Cámara.

170 Smeyers, 1998, S. 395, 399–400.

171 Madrid, BN , Vit. 24.10 : Ana Domínguez Rodríguez, Libros de Horas del siglo  XV en la Biblioteca Nacional, Madrid 1979, Nr. 15, S. 109–113 und Abb. des Januars auf dem Einband ; Faksimile mit Kommentarband Libro de Horas de las siete pecados capitales, 2003, S. 435 und 436.

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So wenig der Text und die Heiligenauswahl südniederländischen Gepflogenheiten entspricht, so sperrig steht die Ausmalung in solchem Kontext. Den Monaten im Kalender, dem jeweils ein Motiv aus dem Festzyklus in den Bordüren zugeordnet wird, sind auf den Verso-Seiten textlose Bildfelder in Vollbordüren vorgeschaltet: Die mit einem Rundbogen abgeschlossenen Miniaturen sind horizontal geteilt, so daß Schilderungen aus dem Jahreslauf und Tierkreiszeichen jeweils ein eigenes Feld erhalten. Moderne Betrachter mögen erstaunt sein, daß der Zodiak, der optisch vor dem Himmel, also oben stehen müßte, jeweils im unteren Teil der Bilder angesiedelt ist. Damit beziehen sie sich auf die zweite Hälfte der auf der gegenüberliegenden Textseite in einer Kolumne geschriebenen Monate und auf den Umstand, daß man jeweils zur Monatsmitte den Wechsel der Tierkreiszeichen annahm. Die Teilung der Bildfelder in Monatsbild und Sternbild wiederholt also das, was bei auf Recto und Verso geschriebenen Kalendern sonst gang und gäbe war. Es kommt hinzu, daß die Gestalten des Zodiak meist aus dem Himmel auf die Erde in Landschaften versetzt sind, in denen beispielsweise zum Januar eine – erstaunlicherweise – weibliche Aktfigur für Aquarius steht, also eine Wasserfrau eher denn als ein Wassermann.

172 Entscheidend zu diesem Buchkünstler sind immer noch die Arbeiten von Antoine de Schrijver, post mortem sein in Deutsch und Englisch erschienener Kommentarband zur Gebetbuch Karls des Kühnen im Getty Museum, Los Angeles: The Prayer Book of Charles the Bold. Getty Publications, Los Angeles 2008, bzw. Luzern 2007. In Kap. 8, S. 159–164 bezieht er das Madrider Stundenbuch wegen der Bordüren ein und bildet es in Abb. 48 und 50 ab, nachdem er schon die Kadellen als Arbeiten von Spierinc angesprochen hatte (S. 86, mit Abb. 5).

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García überzeugend die engen Bezüge zum Schreiber Nicolas Spierinc betont, die Antoine de Schrijver bestätigt hat.172 Madrid, BN, Vit. 24-10

Durch die Aufteilung der Bildflächen in zwei Felder setzt sich der Kalender in Madrid von allen anderen bekannten Beispielen ganzseitiger und textloser Bebilderung ab. Von den Motiven her führt dieses Einzelstück nach Gent, und zwar schon in die Regierungszeit Karls des Kühnen (1467–1477) und damit zugleich zu Beispielen im heute immer noch stark umstrittenen Œuvre des Meisters der Maria von Burgund, und zwar jenes Künstlers, der nach dem schon erwähnten sogenannten Wiener Stundenbuch der Maria von Burgund, cod. 1855 der Österreichischen Nationalbibliothek, benannt wird.173

Im Oxforder Stundenbuch für Engelbert von Nassau174 brilliert er als Landschaftsmaler, jedoch ist der Kalender dort bildlos; und die famosen Monatsbildchen in den Bordüren des von ihm mitgestalteten Madrider Voustre-demeure-Stundenbuchs, dessen Buchblock in Madrid aufbewahrt wird, während sich die Vollbilder, darunter einige von Simon Marmion, in Berlin und Philadelphia befinden, hat nicht der Wiener Meister der Maria von Burgund, sondern der Meister des Dresdner Gebetbuchs175 gemalt, der auch sonst den berühmteren Maler übertrifft, wo es um Raum, Stimmung und Wetter geht. Das in den Bordüren auftretende Motto Voustre demeure hat – meiner Überzeugung nach – Herzog Karl der Kühne als Liebes- oder Treueschwur an seine dritte Gemahlin Margarete von York gerichtet, die er 1468 heiratete. Bei der hier vorgeschlagenen Datierung spätestens um 1470 gehört das Voustre demeure-Stundenbuch zu den frühesten Handschriften mit Streublumendekor.176

Alle heute einigermaßen als eigenhändig anerkannten Werke rücken den Maler inzwischen immer weiter von der Regierungszeit der Maria von Burgund (1477–1482) in eine deutlich frühere Zeit, die Jahre um 1470, so daß immer sinnvoller wird, im einfallsreichsten und innovativsten Vertreter des Stils Joos van Wassenhove alias Justus van Gent zu erkennen.177

173 Die Einheit des vermeintlichen Œuvres dieses Malers, den man zuweilen mit Alexander Bening identifiziert hat, ist schon lange zerbrochen: Van Buren hat 1975 das einzige sicher mit der Herzogin verbundene Manuskript, das Berliner Stundenbuch für Maria und Maximilian, aus dem anerkannten Werkkanon ausgeschieden und „Ghent associates“ zugeschrieben. Der Begriff hat in der englischsprachigen Literatur überlebt (so bei Kren und McKendrick im Ausst.-Kat. Los Angeles und London 2003), obwohl Brinkmann in König 1996 eine Unterscheidung zwischen dem Wiener und dem Berliner Meister der Maria von Burgund vorgeschlagen hat.

174 A lexander 1970 und die gesamte Literatur zum Meister der Maria von Burgund.

175 Der Kalender ist vollständig erhalten in Madrid, Biblioteca Nacional, Vitr. 25–5: Brinkmann, Farbabb. 30– 3; zum gesamten Manuskript siehe König 2009, der jedoch vor der angeblich Faksimile-Qualität aufweisenden Reproduktion nur strikt warnen kann, und zur Frage nach den Auftraggebern zuletzt König 2013.

176 Vitr. 25.5: Grundlegend ist immer noch Pächt 1948, auch wenn dessen Konzept der modernen Kritik nicht standgehalten hat. Zum Gesamtkomplex siehe zuletzt meinen Beitrag: Charles the Bold and the Mary of Burgundy Style: or Who Said “Voustre Demeure”?, in: Staging the Court of Burgundy. Proceedings of the Conference “The Splendour of Burgundy”, hrsg. von Wim Blockmans u. a ., Turnhout 2013, S. 287–299. Das Monogramm von Karl und Margarete C&M ist zudem auf einer der Berliner Miniaturen in einen Fußbodenbelag eingewebt.

177 Dazu gehört insbesondere das wohl 1468 entstandene, erst neuerdings zugängliche und von De Schrijver 2007 kommentierte Gebetbuch Karls des Kühnen, Ms. 37 im J.Paul Getty Museum in Los Angeles.

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Die Kalenderbilder im Dresdner Gebetbuch

Das sogenannte Dresdner Gebetbuch, ein lateinisches Stundenbuch für den Gebrauch von Rom, das vermutlich um 1470 in Brügge entstanden ist, hat Friedrich Winkler schon vor seinem Buch von 1925 als ein Hauptwerk der flämischen Buchmalerei des XV. Jahrhunderts bekannt gemacht178 und zum Ausgangspunkt für die Bestimmung eines anonymen Meisters genutzt. Von Erhart Kästner wurde der Kalender ab 1936 in einem anmutigen Büchlein, einem breiten Publikum nahegebracht, wenn auch die Farbabb. nur eine ferne Ahnung der Brillanz der Malerei vermitteln. Doch hat die erstaunliche Handschrift mit vielen anderen Schätzen der Dresdner Bibliothek das böse Geschick geteilt, nach dem Untergang der Stadt im Februar 1945 durch Wasser im Japanischen Palais stark beschädigt zu werden.179

So winzig mit 136 mal 100 mm das Manuskript auch ist, so hat man die Angaben zu den Monaten mit blauen und goldenen Hervorhebungen von Festen doch auf jeweils eine Seite zusammengedrängt. Bordüren, wie sie im Brügger Umfeld von Willem Vrelant gewohnt waren, umgeben die mit einem flachen Bogen abgeschlossenen Miniaturen. Anders als in der älteren Buchmalerei, aber ähnlich wie im hier zitierten Madrider Stundenbuch Vitr. 24.10, genügt eine einfache, hart konturierte

178 Winkler 1914, Winkler 1925, S. 94–102.

179 Brinkmann 1997, I, S. 9.

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Dresdner Gebetbuch Nr. 2

Goldleiste als Rahmung der in den Textspiegel eingepaßten Bilder, die von einem flachen Bogen abgeschlossen werden.

Die Szenen sind wie in den winzigen Randbildern zum Voustre-demeure-Stundenbuch durchweg auf ein Figurenpaar vorn beschränkt, können aber noch durch Staffage im Hintergrund bereichert werden. Denn hier triumphiert der modernere Blick auf Landschaft sehr viel intensiver als bei den Limburgs oder gar im Trienter Adlerturm. Dem Himmel wird recht viel Platz gegeben; denn die Figuren werden nicht aus der Vogelschau betrachtet, sondern aus einer nur wenig über die Köpfe der agierenden Figuren erhöhten Sicht.

Dabei wird unterschieden zwischen Gestalten, die zur Herrschaft gehören, und Landarbeitern: Nur die vornehmen Pärchen in April und Mai ragen fast zur Horizonthöhe auf. Über diese Linie erheben sich in der Regel noch Bäume, Buschwerk und Architektur vor Hügeln in der Ferne, die teilweise den Blick auf den Himmel verstellen. Selbst bei Szenen, die im Januar, August und September in erster Linie Interieur sein sollen, werden Durchblicke geschaffen, die Platz für die Tierkreiszeichen geben. Über Landschaftsszenen erscheinen sie meist in einem runden farblich differenzierten Feld vor der Himmelsmitte; im Januar können sie nach links rücken; im August verlieren sie ihre Gloriole; im September hingegen füllen sie mit Goldgrund eine aus dem Fachwerk herausgebrochene Fläche.

Ein unbekannter Kalender vom Dresdner Gebetbuchmeister – Nr. 2

Angesichts der großen Seltenheit von Kalendern mit textlosen Vollbildern und der einzigartigen Qualität des heute nahezu bis zur Unkenntlichkeit beschädigten Dresdner Gebetbuchs ist es als eine Sensation zu bezeichnen, daß ein zweites Beispiel von dessen Meister aufgetaucht ist, zwar um ein paar Blätter beraubt, aber doch mit den leuchtenden starken Farben erhalten, die vor den Kriegsschäden für das Dresdner Stück charakteristisch waren.

Der Text ist für die sehr wenigen Einträge in einer Kolumne von 32 Zeilen geschrieben. Diese Disposition sorgt dafür, daß die ganze Höhe der Seite benötigt wird und deshalb nur seitliche Bordürenstreifen möglich sind, während im Dresdner Kalender zwei Kolumnen in Vollbordüren eingerichtet sind. Rot genügt als Auszeichnungsfarbe für die Sonntagsbuchstaben a und die Feste; in Dresden hingegen wechseln die Sonntagsbuchstaben in Rosa und Hellblau ab, die dort viel dichteren Einträge betonen Feste mit Blau und einige sogar mit Gold. Mit Bildseiten wie im Dresdner Kalender, jedoch statt des dortigen Duodez nun in Sedez-Format, erweist sich der Neufund für Freunde flämischer Buchmalerei als ein Trost für die Verluste, die nicht mehr gutzumachen sind.

Die Vollbordüren für die Bildseiten setzen in beiden Handschriften die gleichen Motive ein: Akanthus aus Blau und Gold, das mit Rot modelliert wird, umgibt

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gemeinsam mit Blütenzweigen die Bildfelder mit ihrem flachen Bogenabschluß, die wie in Dresden ebenfalls in einfachen Goldleisten eingefaßt und mit kräftigen Tintenlinien konturiert sind. Kreisförmige Goldflächen mit kurzen schwarzen Tintenlinien auf dem Pergamentgrund erinnern daran, daß solcher Dekor aus der älteren Kombination von Dornblatt mit farbig gemalten Elementen stammt.

In Dresden wird der Wechsel von Akanthus und Blumen strenger rhythmisiert; vielleicht des leicht größeren Formats wegen besetzt durchweg eine Akanthusform jeweils auch die Mitte der senkrechten Randstreifen. Belebt wird die dicht bemalte Fläche durch zwei einfallsreiche Motive, in der Mitte außen und wiederum mittig unter dem Bild. In Dresden erscheint in jedem unteren Randstreifen ein Halbwesen aus Mensch und Tier, in den Außenbordüren hingegen hausen Vögel, gern mit grotesken Köpfen, aber auch Genreszenen von Hirte und Hahn oder ein musizierendes Schwein mit zwei Ferkeln, das im August mit einer Katze an einer Portativorgel unter dem Bild konzertiert.

Harte Konturierung sorgt in Dresden für stärkere Stilisierung, während in unserem Exemplar Naturnähe so gewahrt bleibt, daß die Vögel zur ornithologischen Bestimmung ermuntern. Sie sind meist für ihre jeweilige Art typisch erfaßt, rundlich modelliert und kaum grotesk überzeichnet. Sie besetzen wie auf den Textseiten des Kalenders die Außenbordüre; meist erscheint unter dem Bild noch ein zweiter Vogel; zu Juni und Juli taucht stattdessen ein im Profil gezeigter Schmetterling oder Falter auf, von der Zeichnung her identisch, im Kolorit variiert, im Dezember dann ein Schneckenhaus.

Der Randschmuck in den beiden Kalendern wurde aber nicht von ein und derselben Hand ausgeführt; denn gleichsam als Signatur zu werten sind die Grenzlinien: In Dresden genügt eine einfache Linie, die im neu entdeckten Beispiel in roter Tinte verdoppelt wird. Entschieden stilisiert sind die klar modellierten und mit fast symmetrischen Blattreihen besetzten Akanthusranken, deren kaltes Blau auch für eine gewisse Distanz sorgt. Im Blattwerk der Blütenzweige kommt neben dem ebenfalls kalten Grün noch Pinselgold vor. Stattdessen wirkt das Gefüge von Akanthus und Blumen in unserem Neufund spontaner. Die Blüten wirken natürlicher; und der Wechsel von ornamentalem Akanthus und Pflanzen verlangt keine Felderteilung in der Bordüre, wie sie in Dresden die Wirkung bestimmt.

Brinkmann hat den Bordürenmaler des Dresdner Gebetbuchs als eigenständigen Charakter erkannt, den er als Dresdner Nachfolger Willem Vrelants bezeichnet.180

Im Korpus der frühen Handschriften des Dresdner Gebetbuchmeisters, dessen spätere Miniaturen in Randschmuck aus Streublumen auf farbigen Gründen stehen, nimmt dieser Mitarbeiter eine führende Rolle ein. Seltener zeigt sich der für unsere Bordüren verantwortliche Maler: Seiner Arbeitsweise verwandt, aber nicht

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180 Brinkmann 1997, S. 39, nachdem schon Winkler 1914, S. 231, auf diese Tatsache hingewiesen hat.

unbedingt von seiner Hand sind die teilweise buntgrundigen Bordüren im Brevier für den 1477 hingerichteten Guy de Brimeu, Seigneur de Humbercourt.181 Enger verbinden sich der Valerius Maximus für Jan Crabbe (Dünenabt 1457/59–1488) im Brügger Grootseminarie182 und das Stundenbuch im tschechischen Nová Řiše.183

Wieder wird man nicht unbedingt von ein und demselben Illuminator sprechen wollen, weil hier bei weitem nicht die Dichte und zugleich ornamentale Leichtigkeit unserer Bordüren erreicht wird. Brinkmanns Ansatz, die Handschrift in Nová Řiše wegen der Mitwirkung eines Malers aus dem engsten Umfeld des Wiener Meisters der Maria von Burgund um 1480 zu datieren, scheint mir etwas zu spät, weil sich das gesamte Werk des Wiener Meisters, der dort sicher die Hauptminiatur geschaffen hat, aus Marias kurzer Regierungszeit um ein Jahrzehnt in die Zeit um 1470 verschiebt.184

Wer Wert auf strikte Händescheidung legt, wird in den Vergleichsbeispielen weder die präzisere Modellierung in unserem Kalender noch dessen farbliche und gestalterische Dichte wiederfinden. Damit steht der Randschmuck in unserem Neufund doch isoliert. Die ungewohnt lebendige Verteilung der Motive und das lebendige Kolorit lassen an Buchmalerei der Jahrhundertmitte im Loiregebiet denken, als habe man es mit einem Exemplar der Kleinen Stundenbücher des Jouvenel-Kreises zu tun.185

Die Monatsbilder in unserer Nr. 2 Leider war die Ausstattung mit Vollbildern besonders für flämische Stundenbücher aus dem späteren XV. und dem XVI . Jahrhundert ein Fluch, regte sie doch immer wieder verachtenswerte Plünderung großer Ensembles an: Die Bilder von Januar, Februar, April und Mai sowie für November sind verschwunden. Da sie die VersoSeiten derselben Blätter besetzten, auf deren Recto jeweils die Einträge zu den einzelnen Monaten stehen, fehlen heute selbstverständlich auch die vorausgehenden Texte für Januar, März, April und Oktober. Weil die sieben erhaltenen Miniaturen mit denselben Inhalten und Bildgedanken spielen, die auch im Dresdner Gebetbuch gelten, kann man sich vom Fehlenden durch den dort erhaltenen Bestand noch ein sicher nur vages Bild machen; denn so eng verwandt auch einige erhaltene Blätter sind, so erstaunlich groß war doch die Freiheit unseres Künstlers.

Im Januar wird ein Blick in ein vornehmes Haus gewährt, in dem der Herr beim Kamin speist, während ein Diener mit einem Krug aus dem verschneiten Hof

181 Genf, Privatsammlung, sogen. Comtes Latentes: Brinkmann 1997, Farbtaf. 8 und Abb. 65–69.

182 Ms. 157/188–159/190: Brinkmann 1997, Abb. 84–90.

183 Nová Řiše, Klosterbibliothek, Ms. 10: Brinkmann 1997, Farbtaf. 11–14, Abb. 107–110.

184 König 2013.

185 Diesen Begriff habe ich 1982 geprägt; siehe inzwischen vor allem Illuminationen 12, 2006.

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kommt, von dem man auch ein wenig in die winterlich eisige Ferne schaut. Beim Februar wüßte man gern, ob die Landleute im Freien nur Holz sammelten oder auch anders als in Dresden Weinstöcke trimmten.

Erstaunliche Freiheit verrät die Gegenüberstellung der Miniaturen zum März: Arbeit wird im Dresdner Gebetbuch gezeigt, aber im umfriedeten Bereich einer Burg: Vorn, von einem bildparallelen Spalier begrenzt, liegt ein Garten mit rechteckig angelegten Beeten.186 Am Spalier befestigt eine Frau vermutlich Wein, während ein Mann etwas weiter vorn mit seinem Spaten in einem Beet gräbt. Nicht im Garten, sondern auf freiem Feld hingegen arbeitet in unserer Miniatur ein ähnlich gebeugter Mann. Er holt weit mit seiner Hacke aus, um ins harte, fast steinfarbene Erdreich vorn einzudringen. Ein Weidenzaun grenzt den Vordergrund bucklig gegen einen Ententeich links und eine Wiese ab, durch die sich ein Weg hin zur Stadt in der Ferne zieht. Mächtige Türme in unterschiedlich fortgeschrittenem Baustadium ermuntern, nach der Identität der Stadt zu fragen. Brügge kann nicht gemeint sein, wenn man Lievin van Lathems Ansichten der Stadt im Breslauer Froissart vergleicht.187

Stünde nicht die Miniatur im Zeichen des Widders, der in einem goldgrundigen Medaillon unter dem Bogenscheitel erscheint, und wäre nicht auf Recto der Februar eingetragen, könnte man an der Zuordnung zum Frühlingsmonat zweifeln: Nicht nur die Wiesen strahlen in vollem Grün; auch die Bäume tragen Laub. Nur bei den beschnittenen Korbweiden könnte man an den für März charakteristischen Übergang vom Winter zum Frühling denken.

Für ein Kalenderbild geradezu unerhört ist die Tätigkeit des Mannes: Um das Loch, das er in den harten Boden hackt, liegen zwei Arm- oder Beinknochen und weitere Knochensplitter. Der Maler hält also fest, wie mühevoll es am Ende des Winters ausgerechnet für einen Totengräber ist, eine Grube im nackten Boden eines nur von Weiden und Zaun begrenzten Friedhofs auszuheben! In anderen Kalenderzyklen wird man dieses Motiv vergeblich suchen; die Vorlage dürfte aus einem Zyklus zum Toten-Offizium stammen, doch ist uns nicht gelungen, eine entsprechende Parallele nachzuweisen.

Doch auch ein freundliches Detail, das angesichts der gewagten Miniaturisierung leicht zu übersehen ist, verdient verwunderte Aufmerksamkeit: Rechts vorn ragen Blumen auf. Für alles, was im März blüht, sind sie zu groß, zumal sich ihre vielen weißen Blüten zum Himmel öffnen, während sich ja die sprichwörtlichen Märzenbecher ebenso wie Schneeglöckchen neigen müßten; die im April weiß blühende Sternmiere kann auch nicht gemeint sein; denn sie ist zu klein; mithin sind die hier

186 Siehe den von Élisabeth Antoine herausgegebenen Ausst.-Kat. des Cluny-Museums: Sur la terre comme au ciel, Jardins d’Occident à la fin du Moyen Age, Paris 2002.

187 B erlin, Staatsbibliothek, Depot Breslau 1, Bd. IV: Siehe dazu Nina Zenker, Der Breslauer Froissart im Spiegel spätmittelalterlicher Geschichtsauffassung, Petersberg 2018.

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gezeigten Blumen verfrüht. Es geht also offenbar nicht allzu sehr um die jahreszeitliche Genauigkeit, wie auch das grüne Laub in diesem Märzbild zeigt.

Aufregend ist ein Bezug zu Jan van Eycks berühmter Miniatur zum JulianSuffragium im 1904 verbrannten Turiner Gebetbuchs,188 auf der vorn im Bild Disteln wachsen, noch mehr aber der Umstand, daß in einem Landschaftsbild überhaupt blühende Pflanzen auftauchen. Zwar haben Buchmaler ungezählte Blüten in ihren Bordüren verstreut; in Bildern mit Landschaften aber beschränkten sie sich auf das Rot und Blau der Kornblumen und des Mohns in Kornfeldern. Deshalb sind auch die weißen Blüten in den Randbildern des sogenannten Voustre-demeureStundenbuchs in Madrid, die dort ebenfalls von der Hand des Dresdner Gebetbuchmalers stammen, so sensationell.189 Noch das Aprilbild des Breviarium Grimani wird mit solch um 1515 immer noch sehr neuer Naturbeobachtung verblüffen.

Den beiden Bildern für April und Mai in unserer Nr. 2 wird ihre Anmut zum Verhängnis geworden sein: Im Dresdner Gebetbuch spaziert zum April ein vornehmes Paar mit seinem weißen Hund unter dem Zeichen des Stiers durch eine Landschaft mit Blick auf eine Stadt. Ein anderes Paar reitet im Mai auf einem Schimmel unter dem Zeichen des nackten Zwillingspaars aus einem Wald hinaus; der junge Mann trägt einen Falken auf der linken Hand; wieder blickt man über Felder, Wiesen und Gewässer auf die Türme einer Stadt.

Der große unvollendete Turmbau aus der Stadtvedute zum März, der mit einem Notdach abgedeckt ist und dessen Strebepfeiler an die Liebfrauenkirche in Brügge denken lassen, auch wenn deren Turm damals schon lange bis zur vollen Höhe von 112 m hochgeschossen war, taucht im Juni unserer Nr. 2 am linken Rand auf, näher an die vordere Bildebene herangerückt. Ein Wiesenstreifen vorn wird durch einen bildparallelen Flechtzaun vom Mittelgrund abgegrenzt, der in einem flachen Bogen aufsteigt und zu einem Gewässer rechts wieder abfällt. Vom Turm aus führt der Blick im Mittelgrund nach rechts über Dächer und kleinere Türme und eine Wiese zu einer Mauer in der Bildtiefe und darüber hinaus ins Blau der Ferne.

Wie im März begnügt sich der Maler beim Juni damit, unter dem roten Krebs, der mit seinem langgestreckten Körper und den sieben Beinpaaren sehr ähnlich wie der zehnbeinige Skorpion im November aussieht, nur einen Mann zu zeigen, diesmal wirklich einen Bauern: Juni ist hier Heumonat; und das Gras wird mit einer tiefschwarzen Sense gemäht, deren langer Stiel geschweift ist. Nach vorn gebeugt, führt der in leuchtendes Zinnoberrot gekleidete Schnitter das Sensenblatt durch das Gras; dreimal verschwindet die schwarze Klinge unter dem Grün. Gewöhnlich ist das krumme, zum Schnitter hin gedrehte Sensenblatt etwa 80 cm lang, hier

188 König 1996, S. 124.

189 Siehe meinen Kommentarband zum verunglückten Faksimile des Madrider Buchblocks und der Miniaturen in Berlin und Philadelphia: Das Voustre-Demeure-Stundenbuch, Valencia 2009

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aber wirkt es länger als Mannshöhe. Dahinter steckt eine erstaunliche künstlerische Absicht: Der Buchmaler will den Schnitter in ein leicht gedrücktes Rund einschreiben, das von der Sensenspitze unter den Füßen des Mannes über das Sensenblatt verläuft und dann vom Saum des Buschwerks und schließlich von einem dunkel abgesetzten Flechtzaun fortgesetzt wird, der hinter dem Kopf des Schnitters aufscheint und kurz vor dem rechten Bildrand abbricht.

Hier erweist sich die unerhörte Gestaltungskraft des Dresdner Gebetbuchmeisters, der freilich in seiner namengebenden Handschrift sehr viel nüchterner vorgegangen ist: Auch dort spielt die Monatsarbeit in einem unteren Bildstreifen, der horizontal von einem Flechtzaun begrenzt wird. Bäume mit runden Kronen besetzen dahinter die Wiese, ehe, nicht allzu fern, auf einem Hügel links eine recht große Windmühle und hinter einer Stadtmauer rechts eine Kirche, wiederum mit stumpfem Turm aufragt. Der Himmelsraum wird stärker eingegrenzt als in unserer Miniatur; dennoch nimmt der rote Krebs im runden Medaillon viel mehr Platz ein als bei uns. Während links vorn eine Frau das Heu zu einer dicken Garbe bindet, arbeitet der Schnitter in ähnlicher Haltung mit einer stärker gesenkten Sense, deren Sensenblatt normale Länge hat; Holzstiel und Metall sind farblich unterschieden.

Seit die Brüder Limburg für den Herzog von Berry im Juli die Kornmahd schilderten, kennen Maler die schon erwähnte Wirkung von Rot und Blau bei Klatschmohn und Kornblume im hohen Korn. Die entsprechende Miniatur im Kalender unserer Nr. 2 hat gelitten; das zeigt sich im Vergleich mit älteren Reproduktionen aus Dresden: Dort bildete das wie früher üblich extrem hohe reife Korn einen festen Block in Licht und Schatten. Eine Frau vorn hat gerade eine Garbe gebunden. Eine Trinkflasche und Kleider des Mannes liegen in der rechten Ecke. Der Schnitter, dessen Gerät nicht recht zu sehen ist, hat sich bis auf weißes Unterzeug ausgezogen und geht in die Hocke, um das Korn so tief wie möglich abzuschneiden, verwendete man doch das Reed für die verschiedensten Zwecke. Die Landschaft ist besonders ansprechend mit einem Felsen links, den eine Grasnarbe bedeckt und vor dem ein Jäger mit seinem Hund entlang geht, während rechts hinter Bäumen wieder ein charakteristisch stumpfer Kirchturm auftaucht, hinter dem sich der Himmel im Gewitter mit aufblitzendem Licht verdunkelt.

Durch den Erhaltungszustand beeinträchtigt wirkt die Kornmahd in unserem neuen Beispiel: Am Kornfeld, das diesmal keine plastische Einheit bildet, sind Frau und Mann gleichermaßen mit dem Mähen beschäftigt. Beide beginnen mit ihren Sicheln vom Feldweg aus ihre Arbeit: Sie kniet in ihrem roten Kleid, er hingegen, in einem schmutzig weißen Kittel, beugt sich weniger tief. Draperien wie Gesichter erweisen die Hand des Gehilfen, der am Ende des Stundenbuchs Suffragien bebildert hat. An blühenden weißen Blumen vorbei führt der Feldweg zu zwei unterschiedlich hohen dreigeschossig aufragenden Türmen hinter Bäumen, die eher zu einem mächtigen Kloster als zu einer Stadt gehören. Der Löwe, der in Dresden

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in goldener Gloriole die Mitte eines vollständig gezeigten Medaillons bildet, sitzt diesmal auf dem Rand eines rotgrundigen Medaillons, das vom Abschlußbogen der Miniatur beschnitten wird.

Im August wird gedroschen; deshalb wird in Dresden eine große Kornscheune von innen gezeigt; die Seitenwände und Dachschrägen bilden gleichsam eine Binnenrahmung in der Miniatur. Recht klein sind die beiden Landleute, die vorn mit dem Dreschflegel ausholen und den Flegel dann auf die ausgebreiteten Halme fallen lassen. Das Korn in den hinten aufgeschichteten Garben wirkt in dieser Dresdner Miniatur noch viel länger, geradezu imposant. In der zentralen Bildachse ist die Giebelwand nach hinten geöffnet, so daß der Blick die stattliche Größe des Bauernhofs ermessen läßt, den weit hinten eine Mauer mit einem Torhaus begrenzt. Vor dem schlichten Landschaftsgrund und dem Himmel erscheint die Jungfrau mit einem Palmwedel; man könnte meinen, sie stehe auf der Abschlußmauer.

Hingegen ist die Jungfrau in unserer Miniatur wieder in eine farbige Gloriole gestellt. Auch sie hält einen nun freilich bräunlichen Palmwedel. Im rosafarbenen Kleid hebt sich das Sternbild von tiefem Blau ab, vermutlich weil der Maler die Himmelssphäre andeuten will, die in seiner Komposition von der Kornscheune verstellt ist. Wie der Stall von Bethlehem in Weihnachtsbildern ragt das Gebäude mit schadhaftem Dach von links ins Bild; nach rechts fluchtet die Giebelwand; hinten grenzt eine niedrige Mauer die Szene ab. Der Blick führt dann wie in Dresden über eine Wiese zur Umfassungsmauer und zum Torhaus des Gehöfts; summarisch deuten Laubgrün und recht tiefes Blau einen Höhenzug in der Ferne an.

Geometrisch nicht ganz sicher ist die Perspektivkonstruktion des Bildes; doch bewegen sich die Köpfe der beiden Landleute vorn nur wenig unter der Horizonthöhe; sie sind gebeugt, wie sie von links und rechts in denselben Bewegungen wie in der Dresdner Miniatur mit dem Dreschflegel ausholen und ihn niedersausen lassen. Die Enden zweier Garben besetzen vorn die Ecken des Bildes. Wie in den anderen Kalenderminiaturen unseres Neufunds sind die Figuren etwas größer und in wärmerem Kolorit gehalten; wieder dominiert das leuchtende Zinnoberrot; hier kleidet es die rechte Figur.

Schon der September ist in mittelalterlichen Kalendarien in der Regel die Zeit für die Weinlese. Während in Dresden das Geschehen im Weinbauernhof geschildert wird, versetzt uns die neu aufgetauchte Miniatur in den Weinberg. Vier Männer sind in Dresden gezeigt: Einer bringt vorn die Kiepe mit Reben zum Faß, in dem mit nackten Füßen der Wein getreten wird, während im Hintergrund ein dritter links die schwere Weinpresse bewegt und ein vierter rechts durch das schadhafte Gefache der Weinscheuer zu sehen ist, wie er noch eine Bütte heranschleppt.

Stattdessen wird in unserer Miniatur die Weinlese im Freien geschildert. Wieder ist das Gelände vorn bildparallel vom Mittelgrund abgetrennt, diesmal durch

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ein mannshohes Spalier in voller Bildbreite. Es verdeckt den amorph gehaltenen Mittelgrund, über dem sich eine Burg und in weiterer Ferne vielleicht eine Stadt gegen den Himmel abheben. Am Spalier rankt Wein mit vielen reifen Trauben, die ein Muster ergeben, wie es schon um 1430 eine der schönsten Bordüren im Stundenbuch der Marguerite d’Orléans schmückt.190 Auf kahlem Boden begeben sich vier Leute zur Ernte: Eine Frau kniet links und hebt gerade eine dunkle Traube auf, die sie mit anderen in einen niedrigen Korb legen wird. Ein Mann, der sich fast auf allen Vieren zum Boden beugt, sammelt rechts entsprechend eine Traube ein, während ein Hund in der Mitte eingerollt schläft. Über ihm steht die im Kolorit aus Blau und Rot zur Hauptfigur gemachte Gestalt eines Mannes mit einer Bütte, in die von rechts ein zweiter Mann einen der Körbe ausleert, wie sie vorn gefüllt werden. Er ist unter einem grauen Kapuzenmäntelchen in vornehmes Schwarz gekleidet und hat sogar einen Geldbeutel am Gürtel, eine Aumonière, die golden aufscheint. Über all dem prangt in leicht hochovalem Medaillon das Sternzeichen der Waage; sie wird von einem Mädchen in rosafarbenem Kleid vor tiefem Blau gehalten, während in Dresden für diese Erscheinung das Dach geöffnet ist, um das dort weiß gekleidete Mädchen vor Gold zeigen zu können.

Wie die Kornmahd zum Juli ist auch die Darstellung der Aussaat im Oktober berieben. Vorn breitet sich das Feld, als Handlungsort wie im März durch einen Flechtzaun gegen den Mittelgrund abgetrennt, der neben einem Ententeich links einen Ausblick auf eine Stadt rechts bietet. Über den geeggten Acker schreitet der Sämann in derselben Haltung wie in der Dresdner Miniatur, wo allerdings von links noch ein Mann einen Sack Saatgut heranschleppt und Staffagefiguren auf einer Straße die Szenerie ergänzen. Hier trägt der Sämann wieder das leuchtende Zinnoberrot; am rechten Bildrand steht vorn der Sack mit den Körnern, vom Bildrand angeschnitten. Der Skorpion, der sich im Wesentlichen durch das Paarstärkerer Arme vorn vom Krebs unterscheidet, wird seiner länglichen Gestalt wegen in einer ovalen Gloriole gezeigt, die sich an den Bogenabschluß schmiegt, während er in Dresden in einem kreisrunden Medaillon auftaucht. Noch einmal hat uns ein Dieb eines Bildes beraubt: Darauf wird wie in Dresden zum November dargestellt gewesen sein, daß man vor der großen Zeit des Schlachtens die Schweine noch einmal in Eichenwälder trieb, damit sie sich an den Eicheln satt fressen; noch heute gibt solches Futter in der spanischen Mancha dem Schinken seinen markanten Geschmack. Ob sich in unserer verlorenen Miniatur auch eine Frau hinzugesellte, ist nicht gesichert, wohl aber erschien sicher das Bild des Schützen im Himmel, wohl auch als Kentaur mit Pfeil und Bogen.

Schweineschlachten gehörte traditionell zum Dezember; deshalb wird in beiden Kalendern unter dem Zeichen des Steinbocks die Arbeit des Metzgers geschildert.

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190 Paris, BnF, latin 1156B: Vergl. den Kommentar von König und Seidel.

Als Tierkreiszeichen steht in Dresden vor dem eisigen Winterhimmel, in ein blaugrundiges Medaillon gefaßt, ein unförmiges Wollschaf; in unserer Miniatur hat der damit gemeinte Steinbock wenigstens zwei lange spitze Hörner, wie es vor dem Rosa eines zu klein geratenen Medaillons in den Himmelsraum tritt.

Am Dorfrand, in einem ummauerten Gelände wird in Dresden das Schwein von einem Metzger abgesengt, während ein zweiter vorn auf einer Steinbank ein zweites, bereits abgesengtes Schwein zerlegt, um mit dessen Teilen einen Korb zu füllen.

Hingegen wird es in unserer Miniatur auf dem Marktplatz einer Stadt geschlachtet. Hinter einem vom linken Bildrand angeschnittenen Brunnen stehen stolze Häuser, an der Fassade des Steinbaus links ist ein großes Tuch aufgehängt, das wohl eine bildliche Botschaft erhalten sollte, die aber nicht lesbar ist; rechts erkennt man sogar ein Geschäftshaus mit Läden. Der Metzger, in Zinnober mit schmutziger weißer Schürze schwingt einen großen Hammer, um einen Eber zu betäuben. Dabei vollzieht er eine typische Drehung: Mit den Füßen zum Brunnen nach links gerichtet, greift er mit nackten Unterarmen den Stiel, an dem ein schwerer Holzzylinder als Hammer steckt, wendet sich aber mit dem Kopf weit nach rechts zum Schwein, das im Begriff ist, sich aufzubäumen. Das ruppige dunkelbraune Tier, offenbar ein Wildschwein mit aufblitzenden Keilerzähnen, ist unter einer Holzbank eingeklemmt. Vorn hat man auf dem gepflasterten Boden Gerät vorbereitet: rechts eine große Axt, in der Mitte einen Bottich mit Wasser und links einen groben Besen. Wie im März wird die Vegetation der Jahreszeit nicht gerecht; zwar zeichnet sich hinten vor dem recht dunklen Himmel ein kahler Baum ab; er erhebt sich aber über saftig grünen Baumkronen.

Diese Miniatur gehört wieder zu den sehr viel besser erhaltenen Malereien in unserer Nr. 2. Statt die Verluste im Bestand dieses Kalenders zu bedauern, kann man beglückt feststellen, daß es überhaupt Blätter mit hinreißenden Miniaturen aus diesem Manuskript gibt, in denen sich die überwältigende Kunst der Dresdner Gebetbuchmeisters in neuen Facetten präsentiert. Zu ihnen gehören auch die erhaltenen Bilder aus dem Buchblock.

Tierkreiszeichen und Monatsbilder in Bordüren-Medaillons

Da für Monatsbilder nicht einmal in einem Dutzend erhaltener Gebetbücher textlose Seiten geschaltet sind, waren Randstreifen der eigentliche Ort für die Tierkreiszeichen und die Szenen aus dem Jahreslauf.

Nr. 3 – 113 –

Ein zweiter Kalender aus dem Kreis des Dresdner Gebetbuchmeisters – Nr. 3

Wie wir gesehen haben, brillierte der Meister des Dresdner Gebetbuchs in Landschafts- und Genrebildern; er verstand es, in ganz unerhörter Weise Stimmung und Atmosphäre einzufangen und die Figuren glaubhaft geschäftig zu zeigen. Gerade diese Eigenschaften hat der Maler im Kalender unserer Nr. 3, das wir schon in Leuchtendes Mittelalter II , 1990, beschrieben haben und damals nach einem Besitzer der Zeit um 1700, Jean-Jacques Charron de Menars (1643–1718) nannten.191

Wie bei dem berühmteren Meister wirken die Gestalten gedrungen und schwer, mit ihren breiten Köpfen und kurzen Körpern zuweilen fast wie kindhafte Erwachsene. Sie sind kräftig bunt gekleidet, so beispielsweise der Bauer im Februar mit dunkelrotem Beinkleid, blauem Wams und zinnoberrotem Schultertuch unter braunem Hut. In dieser Hinsicht arbeitete der Dresdner Meister selbst subtiler; doch muß man schon genau hinschauen, um den Unterschied zu erkennen.192

Im ästhetischen Gesamteindruck besticht der Kalender ungemein; denn das Verhältnis von Bild und Ornament scheint besonders gut gelungen: Noch ist nicht Zeit für Streublumen; Dornblatt auf dem Pergamentgrund mit dunkelblauem Akanthus, der in Pinselgold umschlägt, und stilisierte Blütenzweige füllen die Bordüren. Ähnlich ausgestattet sind die Randstreifen im namengebenden Dresdner Gebetbuch und im zierlichen Abbey-Stundenbuch, das wir zeitgleich 1990 vorgestellt haben.193 Damit ist auch geklärt, daß der Stil unseres Kalenders mit dem frühen Werk des Dresdner Meisters der 1470er Jahre zusammenhängt.194 Für jeden Monat genügt wie in unserer Nr. 2 eine Seite mit den Heiligenfesten in nur einer Kolumne. Große runde Medaillons mit den Monatsbildern stehen gewichtig unter dem recht sparsam besetzten Textspiegel, den die kleineren mit den Tierkreiszeichen oben bekrönen. Zunächst sollten beide Bildfelder in waagerechten Randstreifen stehen, die, wie die roten Randlinien zeigen, nicht miteinander verbunden waren. Doch hat man in einem zweiten Arbeitsschritt rasch senkrechte Streifen außen hinzugefügt; diese sind lockerer konzipiert, aber in denselben Farben und deshalb wohl auch vom selben Illuminator ausgemalt.

Zwar stehen die meisten Gestalten, wie man es bei isolierten Darstellungen des Zodiak gewohnt war, auf einem Wiesengrund; doch sind sie so von einheitlich gestrichenem hellem Blau umfangen, daß sich der Eindruck einstellt, man blicke auf den Himmel. Das gilt besonders für die schlanke Figur des bärtigen nackten

191 L euchtendes Mittelalter II , 1990, Nr. 32; III , 1991, Nr. D, S. 262–265.

192 Man vergleiche bei Brinkmann 2007 die Medaillons aus dem Stundenbuch in Louvain-la-Neuve, Farbabb. 20–21.

193 Leuchtendes Mittelalter II , 1990, Nr. 31; Brinkmann 1997, Abb. 35–41, Farbtaf. 4–5; dabei wird „vornehm“ verschwiegen, daß die Abb. von uns zur Verfügung gestellt wurden (S. 394, Nr. 47).

194 Man könnte an Brinkmanns Maler des Codex rotundus, Hs. 690 A in der Hildesheimer Dombibliothek denken; doch stehen die Physiognomien dem Dresdner Meister viel näher: Brinkmann 1997, S. 346–356; der Autor hat diesen Maler mit seinem durchweg sehr viel früheren Randschmuck etwas irritierend ans Ende seines Buchs gestellt.

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Wassermanns, der aus zwei Metallflaschen Wasser gießt. Die Fische schwimmen in einer Fläche, die Wasser oder Himmel bedeuten kann, wie so oft in gegensätzlicher Richtung, an den Mäulern durch eine silberne Linie miteinander verbunden. Der wollige Widder wirft ebenso einen deutlichen Schatten auf die Wiese wie der kurzgewachsene Stier. Die Zwillinge sind als Liebespaar verstanden; sie umarmen einander zärtlich als nackte Halbfiguren über buckligen Wolken. Der Krebs ist ein schwarzes Tier, silbern gehöht, mit vier Beinpaaren und einem langen gebogenen Schwanz, wie er sonst mit Stachel den Skorpion darstellt; so schwebt er vor einer blauen Fläche, die um seine Konturen aufgehellt ist. Der Löwe, im gleichen dunklen Braun wie der Stier, sitzt nach links gerückt auf einer Wiese, die zum Himmel mit einer Kreiskurve abschließt. Wie die Zwillinge zeigt sich die Jungfrau über buckligen dunkelblauen Wolken, als Halbfigur in rotem Kleid mit offenem Haar, eine Märtyrerpalme in der Hand. Die Waage schwebt vor dem Himmel, ohne daß geklärt wäre, wer sie hält oder wie sie befestigt sein könnte. Besonders schwierig war offenbar die Darstellung des Skorpions, der mit dem Krebs eigentlich schon gut getroffen war: So schwebt über dem Oktober ein amorpher Körper in leuchtendem Rot, mit ungleichen Beinzahlen: fünf auf der rechten Körperseite, aber nur vier auf der linken, die vor dem Himmelblau nach unten ragen. Der Schütze steht als ein Kentaur, der nach links zielt, auf einer Wiese. Wie im Varsenare-Stundenbuch hat er nur ein Beinpaar; allein die Farbe des Fells läßt an ein Pferd denken; doch sind weder dessen Hufe, noch die Beine oder der hier viel zu kurze Schwanz getroffen. Wie ein dunkelgrauer Ziegenbock steht der Steinbock auf seiner Wiese.

Vor einem leuchtend roten Betthimmel steht ein runder Speisetisch mit einer Bratenplatte, drei Broten und einem metallenen Becher. In einem runden Stuhl, der nach rechts zum Kamin gedreht ist, sitzt ein Herr, der dem Tisch den Rücken zukehrt und die Hände hebt, um sich am Feuer zu wärmen.

Vom gewohnten Motiv der Pflege des Weinbergs entfernt sich das Monatsbild zum Februar; denn hier werden recht dicke Stämme von einem Bauern in leuchtend bunter Kleidung mit einem krummen Messer getrimmt. Das Bild zur Gartenarbeit mit einem Spaten im März ist glücklich komponiert, denn den Vordergrund schließt ein waagerechter Weidenzaun ab, dessen obere Kante die Mitte der Kreisform bezeichnet. Bäume erheben sich über diesem Zaun und breiten ihre Kronen dekorativ aus, rechts hinter dem Gattertor taucht ein Fachwerkhaus auf, so dass mit der Andeutung von Wiese und Himmel ein kluges Landschaftsbild entsteht. Ein Zaun dient auch beim Monatsbild zum April als ordnende Mittellinie; auf seiner Höhe sind schlanke Bäume gereiht, die auch diesmal den Mann rahmen, der durchs Bild schreitet. Er schultert einen mit Gold hervorgehobenen Stock; vornehm scheint er nicht zu sein, eher ein fahrender Geselle.

Erst zum Mai wird ein Jüngling der besseren Gesellschaft gezeigt, mit einem kurzen Wams, das nur zur Hüfte reicht: Als Falkner reitet er auf einem schön gezäumten

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Roß daher, hat seinen Beizvogel auf der rechten Hand. Hinter geradezu wogender Wiese taucht das Pferd auf; den Hintergrund nimmt dichter Wald ein, der jedoch um die Gestalt herum einen Blick zum Himmel freiläßt.

Heumahd ist zum Juni angesagt. Der Mäher mit der Sense trägt diesmal ein ärmelloses blaues Wams, so dass seine leuchtend zinnoberroten Ärmel das Kolorit beleben können. Der Zaun läuft dieses Mal nicht streng horizontal, sondern steigt von links leicht an, führt zu einer Weide und dem Gatter des Tors. Dahinter steigt die Wiese bis zu Buschwerk leicht an, eine zweite Linie entsteht, die ihrerseits leicht nach rechts absinkt.

Zur Kornmahd im Juli wird die Landschaft vorn rechts durch einen einzelnen Baum eröffnet. Hinter ihm steht hohes Getreide, vor dem ein Bauer in die Hocke gegangen ist, um mit der Sichel die Halme zu schneiden. Im August steht ein Bursche mit dem Dreschflegel in einer Scheune, wo die bereits gelösten Garben aufgeschichtet sind. Während diese Gestalt vor einem Blick ins Freie erscheint, rückt ein solcher Blick im September-Medaillon nach links, so daß sich die Mauer für die Weinkelter hinter den Mann im großen Holzbottich schiebt.

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Nr. 5 Nr. 4

Weidenzaun und dünne Baumstämme ordnen wie im März das Bild zum Oktober: Es ist Zeit zur Aussaat; ähnlich gekleidet wie der Schnitter im Juni ist der Sämann, der aus seiner weißen Säschürze den Kornsamen auf ein Feld streut, das keine Bearbeitungsspuren zeigt, als sei es nach dem Pflügen durch das Eggen wieder ganz geglättet. Eindrucksvoll steht neben dem Sämann ein praller Sack mit Saatgut.

Im November schlägt ein Schweinehirt Eicheln für seine Tiere ab, die rechts vor ihm davon fressen. Der Weidenzaun verläuft nun etwas niedriger vor dichtem Buschwerk links, während sich rechts die schlanken Stämme gruppieren, die nicht so recht an Eichen gemahnen. Schweineschlachten gehört zum Dezember. Waren die Tiere eben noch in einem hellen Ton gemalt, so ist das geschlachtete Schwein nun viel dunkler. Seine Borsten werden von einem Mann mit dreckiger Schürze abgesengt. Schauplatz ist das Dorf: Rechts steht ein Tisch, ein sehr viel dichterer Weidenzaun als in den vorhergehenden Monatsbildern trennt den Vordergrund von den beiden Fachwerkhäusern, die den Mann vorn rahmen.

Der Buchmaler beweist in all diesen Medaillons Vertrautheit mit dem Landleben. Er komponiert geschickt, bezieht Figur und Landschaft klug aufeinander, wenn er beispielweise im Juni die Horizontalen ebenso wie den knorrigen Weidenstamm auf das Wams des Schnitters einstellt. Besonders beeindruckt die Weinkelter mit dem Blick von oben auf einen Mann, der im Bottich die nicht sichtbaren Trauben zertritt; doch sieht man ihn verkürzt mit seinen nackten Beinen, der weißen Wäsche und dem zinnoberroten Wams.

Bildstreifen für die Monatsbilder in Bordüren

Buchmalerei, die sich gern nach den Grenzlinien des Textspiegels richtete, fand auf Kalenderseiten einen besonders gut geeigneten Platz im Randstreifen unter dem Text; denn angesichts der Bemessung der Ränder um den Textspiegel war dort am meisten Platz.195 Ein Problem ergibt sich bei den Tierkreiszeichen: Wenn Monatsbild und Zodiak gleiche Bildfelder erhalten sollen, entsteht ein Ungleichgewicht; denn selbst wenn die Sternbilder aus dem Himmel auf die Erde versetzt werden, gehört zu den Tätigkeiten im Jahreslauf ein wechselndes Ambiente mit Blick auf Erde und Himmel. Das berühmte Bedford-Stundenbuch in London196 aus den Jahren 1415/20 richtet zwei gleichgroße hochrechteckige Bildfelder unter dem Textspiegel ein, die beide vorwiegend mit Landschaft (seltener Interieur) aufwarten und deshalb die in den Sternbildern verkörperten Gestalten auf die Erde versetzen müssen. In einem der bedeutendsten Nachfolgewerke der Bedford Hours, dem Dunois-Stundenbuch

195 A ngesichts der üblichen Bemessung des Textspiegels nach dem Goldenen Schnitt (siehe z. B. König und Bartz 1998, S. 63), der zufolge die Breite der Ränder vom Falz nach oben, außen und schließlich unten in nicht beschnittenen Handschriften zunimmt.

196 L ondon, British Library, Add. Ms. 18850: siehe meinen Begleitband zur Faksimile-Edition: Das Bedford-Stundenbuch, Luzern 2006, sowie Die Bedford Hours, Stuttgart 2007, z. B. S. 34.

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für den Bastard von Orléans, Jean de Dunois, der im Januar analog zu Berry in den Très Riches Heures tafelt,197 wird der untere Bordürenstreifen in der Tradition des Bas-de-Page zur breiten Bildleiste, die allein der Tätigkeit des Menschen vorbehalten ist, während das Tierkreiszeichen auf denselben Recto-Seiten mittig im Rankenwerk der Außenbordüre Platz findet.198

Ähnlich differenziert geht man in den folgenden Jahrzehnten immer wieder in Frankreich wie den Niederlanden vor. Für die Tierkreiszeichen genügte ein kreisförmiges Medaillon, vorzugsweise in der unteren Bordüre auf der Verso-Seite, weil der Wechsel im Zodiak nicht wie heute üblich um den 20., sondern um die Monatsmitte angesetzt wurde. Die vertikalen Grenzen des Textspiegels werden zunehmend zur Maßeinheit für Monatsbilder, die in Frankreich wie bald auch in den südlichen Niederlanden in der Breite des Textspiegels die gesamte Höhe des unteren Bordürenstreifens einnehmen. Diese Randbilder, die letztlich in der älteren Tradition des Bas-de-page stehen, betonen die Vorderseite eines jeden Monats, wenn die Kalender auf zwölf Blätter verteilt sind, während der Zodiak die zweite Monatshälfte bestimmt. In der berühmtesten Folge kleiner Bildstreifen mit Monatsbildern unter dem Schriftfeld eines Kalenders, die sich im schon erwähnten Voustre-DemeureStundenbuch findet, hat der Dresdner Gebetbuchmeister auf Doppelseiten jeweils zum Monatsanfang auf Verso das Monatsbild und gegenüber zur zweiten Monatshälfte das zugehörige Tierkreiszeichen über menschenleerer Landschaft im Wechsel der Jahreszeiten gemalt.

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Madrid, BN, Vit. 25-5 197 Zu den Übernahmen aus den Très Riches Heures siehe Reynolds 2005. 198 L ondon, British Library, H. Y. Thompson Ms. 3: Albert Châtelet, Les Heures de Dunois, in: art de l’enluminure 25, 2008, S. 2–73.

Noch unter Einfluß des Dresdner Gebetbuchmeisters – Nr. 4

Neuerungen des Dresdner Gebetbuchmeisters im Bereich der Monatsbilder inspirierten auch einen Buchmaler, den Bodo Brinkmann nach einem sehr sonderbaren Stundenbuch in der Hildesheimer Dombibliothek benannt hat: Dort liegt mit Hs. 690 A ein kostbar gebundener und sorgfältig illuminierter Band mit runden Blättern. Von diesem Maler stammen Monatsbilder in einem Antwerpener Stundenbuch für den Gebrauch von Sarum, also eigentlich Salisbury, das wohl in Antwerpen von mehreren Künstlern aus dem Umfeld des Gebetbuchmeisters um 1500 ausgestattet wurde.

Den Einfluß des Dresdner Gebetbuchmalers spürt man in den Monatsbildern mit ihrem Sinn für Landschaft, in der die Figuren jeweils sehr überzeugend ihren Platz finden. So verwandt auch der für das Genre, für die Landschaft und das Kolorit ist, so entschieden handelt es sich nicht um dieselbe Hand. Wie in Nr. 3 beeindrucken die Monatsbilder durch die Konzentration auf einzelne Gestalten, mit drei Ausnahmen jeweils nur einen Mann, diesmal nicht nur in kräftig buntem Zusammenspiel von Rot und Blau, sondern auch mit viel Weiß; damit wird das von flämischen Buchmaler bevorzugte Farbenspiel durch etwas realistischere Töne vor allem im Sommer ergänzt.

Als Rankenklammer legen sich Trompe l’œil-Bordüren um die Textfelder; im oberen Randstreifen werden die Tierkreiszeichen, eher vor Mustergrund als in Landschaft, zuweilen wie auf großen gezackten Sternen, in runden Medaillons gezeigt. Im unteren Randstreifen nehmen die Felder für die Monatsbilder die ganze Höhe ein, aber nur ein Drittel der Breite. Die Figuren sind leicht karikaturhaft gedrungen; mit dem Dresdner Gebetbuchmeister verbindet auch die Tendenz, Kopfhöhe und Horizont miteinander abzustimmen. Doch diesmal geht es nicht um gleiche Höhe von Augen und Horizont; vielmehr ragen die Figuren über die Grundlinien der Landschaft hinaus. Gern komponiert der Maler seine kleinen Bildchen so, daß ein Landschaftsstreifen schräg von links oben nach rechts unten führt, die Hauptfigur hinterfängt und entweder ihre Büste oder den Oberkörper vom Gürtel an gegen das Blau der Ferne und den Himmel erhebt.

Den Innenraum im Januar nimmt auch hier ein rotes Himmelbett ein, das von links über die Mitte nach rechts reicht. Davor sitzt ein bartloser Herr am runden Speisetisch. Der Tisch mit dem weißen Tischtuch und metallenem Geschirr nimmt die Mitte des Vordergrunds ein. Der Herr hat sich nach rechts zum Kamin gewendet.

Im Februar werden recht dicke Stämme mit einer sonderbaren kurzen Axt getrimmt; doch erinnert das Ganze immer noch an das Stutzen der Weinstöcke.

Bemerkenswert ist die Landschaft, die sich im Nahbereich braungrundig schräg von links oben nach rechts unten absenkt, um dann hinter dem Mann auf dessen Gürtelhöhe nach rechts den Blick ins Blau der Ferne freizugeben.

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Vor einem Bauernhaus und einem Flechtzaun, die den Vordergrund bildparallel abgrenzen, bearbeitet ein Mann mit dem Spaten den Grund; nach Gartenarbeit, die flämische Buchmaler im März gern darstellen, sieht das aber nicht aus, eher wie eine Art von grober Säuberung eines Hofs. Die Landschaft ist nur vage angedeutet; mit seinem Kopf überragt der Bauer den Horizont.

Die sonderbarste Darstellung gilt dem April: In einen langen schwarzen Mantel, dessen Schleppe über den Boden schleift und der mit dickem Pelzkragen versehen ist, schreitet ein junger Mann einen Abhang hinab ins Tal; er hat Frühlingsgrün geholt und überragt den Horizont. Wieder kreuzen sich die Landschaftslinien bereits auf seiner Gürtelhöhe.

In recht ähnlicher Weise taucht zum Mai ein braunes Pferd auf einer nach rechts abfallenden Wiese auf, so rasant, daß der Maler offenbar die Hinterläufe einfach vergessen hat. Ein junges Paar reitet aus; der Mann war wohl als Falkner gedacht; denn er streckt seinen rechten Arm vor seiner Gefährtin aus; doch der Falke selbst ist ihm und unserem Maler entflogen. Dennoch ist das ein ungemein köstliches Bild mit brillantem Pinselgold im Wams des Reiters ebenso wie als Höhung der roten Kleider und des blauen Pferdegeschirrs. Eindrucksvoll wirkt auch der markante Kopf des Tieres, frühlingshaft wirkt das rasch hingetupfte, noch ganz schüttere Laub an den Bäumen.

Bei der Heumahd im Juni hat der Bauer seinen roten Kittel auf den Boden geworfen, steht nun im weißen Hemd, auf die Sense gestützt, nach links gewendet und trinkt aus einem Krug. Das Landschaftskonzept entwickelt sich hier weiter: In waagerechter Schichtung folgen nacheinander die Wiese, die gemäht werden soll, ein sandfarbenes Gelände, und ein grüner Hügel, jeweils rhythmisiert durch Flechtzaun, Bäume oder Büsche, bis hin zur Stadt, die im Blaugrau der Ferne aufscheint.

Bei der Kornmahd im Juli geht ein Bauer, nur im weißen Unterkleid mit einem flachen schwarzen Hut vor dem hohen Korn mit der Sichel in die Hocke. Wie ein Block steht das goldgelbe Getreide, bildet geradezu eine in die Tiefe führende Mauer. Von Garben ist nichts zu sehen, wohl aber erkennt man, daß das Feld von links nach rechts abgeerntet wird. Nur sehr locker sind ein Bäumchen mit wenig Laub links und der Blick über buckliges Feld in die Tiefe ebenso wie die silbernen Wölkchen im Himmel angedeutet.

Nicht unter freiem Himmel, sondern in Scheunen, jeweils mit Ausblick auf das Himmelblau, spielen die nächsten beiden Monatsbilder: Zwei Männer sind im August beim Korndreschen an der aufeinander abgestimmten Arbeit; denn der eine hebt gerade seinen Dreschflegel und schaut nach rechts, wo ein anderer seinen gerade auf ein Kornbündel niedersausen ließ. Sehr lange Halme, am rechten Rand noch als Garbe gebunden und aufrechtstehend, liegen links und weiter hinten so

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am Boden, wie sie zuvor getrennt gebunden waren. Flimmernd fliegt noch Korn durch die Luft.

Die aus Lehm und Stroh gefügte Scheune im August wird genauso wie die ordentlich gemauerte zur Weinkelter im September als Raumeckmotiv mit der Schrägwand links gezeigt; dort öffnet sich beim Dreschen eine Öffnung ins Freie, hier gibt es eine Tür, durch die gerade ein Mann mit einer Bütte voll Reben tritt. Rechts steht ein großer runder Holzbottich, in den ein Mann gestiegen ist, um die Trauben zu zertreten.

Zur Aussaat im Oktober wirft der Sämann, in blauem Kittel mit roten Beinkleidern, aus seiner weißen Schürze Kornsamen auf ein Feld, das ungepflügt und nicht geeggt wirkt; rechts neben ihm steht ein praller Sack mit Saatgut. Die Landschaft ist wieder in Schichten angelegt mit einem nun jedoch nur sacht nach rechts abfallenden Gelände. Wieder schweift dem Blick in die nun blaue Ferne mit buckligen Hügeln rechts.

Der Schweinehirt schlägt im November mit einem Stock Eicheln für seine Schweine ab; er ist nun in dieselben Farben wie der Sämann gekleidet; weiß ist das weite Tuch um Kopf und Schultern. Vor den dicht stehenden schlanken Stämmchen des Eichwaldes rechts bewegen sich zwei dunkelbraune Schweine; ihre Borsten stehen so steil aufrecht, daß man nicht umhinkommt, auch an Stachelschweine zu denken.

Beim Schlachten im Dezember liegt vor einem Bauernhaus ein gerade getötetes Schwein, von brennendem Stroh umgeben. So soll das Tier abgesengt werden. Ein Mann mit einem dicken Pinsel sprüht Wasser darüber; er trägt ein braunes Wams mit goldenen Lichtern; das zeigt, wie rein künstlerisch die Farben eingesetzt sind. Rechts steht ein Tisch mit einem großen Messer. Der Vordergrund ist ähnlich wie im März durch ein Bauernhaus und einen Flechtzaun bildparallel abgegrenzt. Rechts blickt man auch hier über bucklige Wiesen in die Ferne.

Die Farben wirken nicht überall realistisch; denn einerseits bleibt es doch in einigen Bildern beim hübschen und sicher wenig der Zeit angemessenen Zusammenspiel von köstlichem Rot und Blau; auch mag man das Schwarz im April ebenso wenig glauben wie die lange Schleppe des jungen Mannes. Doch drückt sich ein Sinn für die Realität aus, der in diesem Kalender bezaubert.

Ein Kalender in einem Stundenbuch von Hanskin de Bomalia – Nr. 5

2008 haben wir das dritte heute bekannte signierte Manuskript199 vorgestellt, das der seit 1489 in Brügge als Schreiber faßbare Dominikaner Jan van Bommel signiert hat; denn auf fol. 192v, wo der Text zunächst enden sollte, steht „Finis huius libr p(er)

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199 L euchtendes Mittelalter. Neue Folge V, 2008, Nr. 25.

me/ Hanskin de Bomalia“. 200 Mit dieser Handschrift gelangen wir in ein Zentrum bester flämischer Buchproduktion; denn der Schreiber ist wohl mit dem „Thin Descender Scribe“ identisch. Dann wäre er auch, ohne sie zu signieren, für berühmte Handschriften wie das Stundenbuch Jakobs  IV. von Schottland in Wien und das sogenannte Stundenbuch der Maria von Medici in Oxford verantwortlich gewesen. 201

Die großen Miniaturen auf eingeschalteten Blättern in unserem Stundenbuch verraten die Autorschaft eines recht selten anzutreffenden Künstlers, den man nach latin 1166 der Pariser Nationalbibliothek, einem Stundenbuch für Sir Georges Talbot, als den flämischen Talbot-Meister bezeichnen kann. 202 Ob man ihm in unserem Manuskript, das keine offensichtliche Arbeitsverteilung auf verschiedene Hände erkennen läßt, die Kalenderbilder ebenfalls geben sollte, ist ungeklärt. 203 Das sehr kleine Format regt zu einer tupfenden Malweise an, nicht ohne ästhetischen Reiz, aber zugleich von schwer zu ortender Eigenart.

Die Monate sind jeweils auf Vorder- und Rückseite der Blätter verteilt; doch nur auf Recto greift der Illuminator ein: Im Gegensatz zu Nr. 3 haben sich in dieser Nr. 5 im Randschmuck die Streublumen durchgesetzt; damit gehört das Buch bereits in die Zeit um 1500. Nicht nur auf Pinselgold, sondern zum Mai und September auch auf Rot beziehungsweise Rosa sind die mit einer braunen, vergoldeten Leiste gerahmten Vollbordüren – von der Jahreszeit ganz und gar unabhängig – mit Blumen und Früchten besetzt und durch Schmetterlinge, seltener kleine Vögel belebt.

Um den breiten Textspiegel liegen recht schmale Ränder; deshalb greift das kreisrunde Medaillon mit dem Zodiak in der Mitte des äußeren Randstreifens etwas weiter nach links ins Textfeld aus. Wie so oft stehen die Tierkreiszeichen auf Bodenstreifen und das nicht einmal vor Himmel, sondern ornamental verstandenem Farbgrund in Rosa, Grün, Rot und Blau. Das Monatsbild ist hingegen mit Interieur und Landschaft vor die untere Bordüre gesetzt, nimmt keineswegs die Breite des Textspiegels, sondern nur wenig mehr als ein Drittel des unteren Bordürenstreifens ein und ragt leicht ins Textfeld hinauf. Während die Umrandung des Randschmucks ebenso wie die Blüten und kleinen Vögeln oder Insekten auf Licht von links oben reagiert und durch schwarze Linien nach rechts unten Schatten wirft, werden die Kreise des Zodiaks von einer kräftigen schwarzen Linie umrissen; die

200 W H J. Weale, Documents inédits sur les enlumineurs de Bruges, in: Le Beffroi IV, 1872/3, S. 318, 322, 329 und 332. Richard Gay, Scribe Biographies, in: Elisabeth Morrison und Thomas Kren (Hrsg.), Flemish Manuscript Painting in Context, Los Angeles 2006, S. 183–188.

201 Wien, ÖNB , cod. 1897: Faksimile und Kommentar von Franz Unterkircher, Graz 1987, und Oxford, Bodl. Library, Douce 122: Faksimile und Kommentarband von Eberhard König, Luzern 2011. Ausst.-Kat. Los Angeles und London 2003. Nrn. 110 und 137. Zu Handschriften des “Thin Descender Scribe” siehe Leslie Macfarlane, The Book of Hours of James IV and Margaret Tudor, in: The Innes Review 11, 1960, S. 3–21.

202 L eroquais 1927, Nr. 31 und Taf. cvi-cix.

203 Zum allgemeinen Streit um Abgrenzung siehe: Bodo Brinkmann, Offizium der Madonna. Der Codex Vat. Lat. 10293, Stuttgart 1992, Anm. 88 auf S. 153.

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Monatsbilder hingegen erhalten einen eigenen goldenen Rand ohne Schwarz; der ragt spürbar vor dem Schriftfeld auf, das selbst nach rechts und unten mit Schwarz vom Bordürenfond abgesetzt ist.

Die Tierkreiszeichen erscheinen aus rein dekorativen Gründen in der Mitte der ersten Monatshälfte. Gegen den Brauch werden Skorpion und Waage vertauscht: Erst im Oktober folgt die Waage dem schon im September eingesetzten Skorpion; wieder wußte der Maler nicht recht, wie sich dieses Tier von einem Krebs unterscheidet. Menschliche Gestalten werden als Halbfiguren gezeigt; vierbeinige Tiere sind erstaunlich plump. Ikonographisch stimmen die Zeichen des Zodiaks im Wesentlichen mit dem um 1500 in den südlichen Niederlanden gewohnten Brauch überein: Der Wassermann ist ein nackter Knabe mit Krug; die Fische werden mit einem Faden von Maul zu Maul verbunden; der Widder hat weißes, der Stier braunes Fell; die Zwillinge umarmen sich als nacktes Liebespaar; der schwarze Krebs sieht wie ein Skorpion aus; die Jungfrau trägt einen Palmzweig; der braune Skorpion wird von vorn gezeigt und sieht einem Krebs ähnlicher als sonst in der flämischen Buchmalerei gewohnt; die recht kleine goldene Waage wird von einer Matrone gehalten; der Schütze ist ein Kentaur; und der Steinbock ist dunkelbraun mit dicken Hörnern. Für die Monatsbilder charakteristisch ist die Beschränkung auf jeweils einen Mann, der die gewohnte Tätigkeit verkörpert; dabei steht die Arbeit im Vordergrund; denn nur im Januar wird ein Festmahl und im Mai der Ausritt eines Falkners gezeigt. Die Landschaften sind durchweg streng bildparallel angelegt, meist durch einen Flechtzaun oder einen Weg zur Mitte hin begrenzt; in der Mehrzahl mit einem Gebäude links, dessen in der Regel rote Farbe wohl Backstein meint.

Dem runden Speisetisch mit Krug, Fleischplatte und einem Brot wendet der Herr im runden Stuhl vor dem Kamin im Januar den Rücken zu. Bäume, nicht Weinstöcke werden im Februar gekappt. Mit dem Umgraben im umfriedeten Bereich ist Gartenarbeit das Thema für den März. Im April erstaunt die Beschränkung auf einen Jagdgehilfen, der von einem stattlichen Haus links zu Fuß mit einem struppigen Hund ins Feld läuft. Jugendlich wie er ist auch der Falkner auf seinem blau gezäumten Schimmel, der im Mai vor einer Burgkulisse den sonst gern dargestellten Ausritt eines jungen Paars ersetzt, so daß das Tierkreiszeichen mit den einander umarmenden Zwillingen die zum Monat passende Liebesassoziation übernimmt. Bei der Heumahd im Juni wird das Heu von einem Mann gerecht, auf einer bis zum Flechtzaun ansteigenden Wiese vor einem Haus links im Hintergrund; von nun an wenden sich die Gestalten bevorzugt gegen die Leserichtung nach links. Vor der Kulisse eines Hauses steht der Schnitter zur Kornmahd im Juli; das Getreide bildet rechts einen geschlossenen, aber recht niedrigen Block unter Baum- und Busch-kronen. Korn wird im August gedroschen: in einer Scheune, aus dessen bildparalleler Rückwand Fensteröffnungen links und rechts in Freie blicken lassen, liegen blockhaft Garben links; dorthin wendet sich der Bauer; ein Sack rechts hinter

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ihm ist bereits gut mit Korn gefüllt. Die Weinkelter mit dem Mann im Bottich charakterisiert den September; sie findet in der Raumecke einer Scheune statt, die links und rechts mit Bögen geöffnet ist; ein Flechtkorb voller Trauben steht rechts; etwas ratlos wirkt der junge Mann, dem der Traubensaft, was selten sonst zu sehen ist, ein wenig nach rechts vorn übergelaufen ist. Vor Haus, Flechtzaun und Baumstämmen, auf frisch gepflügtem schwarzem Acker steht der Sämann im Oktober, nach links gewendet mit einer viel zu großen und viel zu vollen Säschürze; rechts neben ihm ein Sack mit weiterem Saatgut. Nicht in den Wald, sondern unter Eichen direkt vor einem Bauernhaus ist im November der Schweinehirt mit seiner Herde getreten, um Eicheln von den Bäumen zu schlagen. Im Dezember schließlich wird beim Schlachten ein Schwein abgeflämmt, in einem bildparallel ummauerten Gehöft vor einem Haus links, vor dem auch ein Wasserbottich steht, aus dem der Metzger mit einer Art Besen Wasser zum Sprengen verwendet.

Kalenderbilder von Simon Bening in einem Stundenbuch-Fragment – Nr. 6 Kostbarer, für den Auftraggeber teurer war die Ausstattung eines Kalenders in einem durch Unachtsamkeit fragmentierten Stundenbuch, das der Literatur und den Kennern ebenso entgangen ist wie unsere Nr. 2. Gestaltet wurde der Band ebenso wie der wundervoll ausgemalte Kalender von einem der größten Künstler in der Spätphase der Buchmalerei, jenem hier schon öfter erwähnten Simon Bening, der vielleicht 1483, das wäre im selben Jahr wie Luther und Raffael, als Sohn von Alexander, kurz Sanders, Bening geboren wurde und vom zweiten Jahrzehnt des XVI . Jahrhunderts bis zu seinem Tod im Jahre 1561 eine ganz persönliche und ungemein faszinierende Buchmalerei gepflegt hat. Die Literatur zu ihm ist überbordend; doch bis heute hat sich niemand an eine umfassende Biographie gewagt. 204 Strikt unterscheidet Simon Bening in diesem kleinformatigen Kalender die RectoSeiten mit den Monatsbildern von den Verso-Seiten mit den Tierkreiszeichen: Die Genreszenen finden sich nun in ganzer Breite unter dem Textspiegel; und mit der Vorstellung vom Bild in der Bordüre verbindet Bening stabile architektonische Rahmen, in die er die ganze Bordüre verwandelt. Diese Formen stammen nicht aus der gebauten Architektur, sondern aus Zierformen, wie man sie in der Goldschmiedekunst und auch an Retabeln findet; sie sind fugenlos in Ocker mit warmem, rötlichem Braun und Goldhöhung gestaltet: Das Feld unter dem Text öffnet sich mit einem Bild, das nach oben wie unten nur durch eine dünne Leiste begrenzt ist aber in den oberen Ecken ein wenig Maßwerk erhält. Im Januar und auch sonst zuweilen muß die Rahmenleiste den unteren Hasten von Buchstaben der 14. Zeile ausweichen; im März aber darf sie in den leer gebliebenen Raum dieser Zeile vorstoßen. In einer

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204 Siehe beispielsweise die Arbeiten von Judith Testa und Thomas Kren sowie meinen Kommentar zum Breviarium Grimani; mein Koautor und Schüler Joris Corin Heyder wird in absehbarer Zeit eine Monographie über Benings Umgang mit Bildvorlagen vorlegen.

Anmutung von Trompe-l’œil werden die vertieft verstandenen Randstreifen von den gleichen plastischen Leisten flankiert, die auch die Bilder rahmen. Golden gehöhte Zierarchitektur nistet sich mit Maßwerk und Fialen ein; auf dem dritten Doppelblatt der ersten Lage und auf den ersten beiden Doppelblättern der zweiten finden dort auch Statuetten mit Heiligenfiguren, jedoch ohne präzisen Bezug zum Festkalender, Platz. Die Verso-Seiten sind hingegen durchweg mit Streublumen, Akanthus und Vögeln auf goldenem Grund geschmückt; in der unteren Randleiste wird dann für den Zodiak jeweils ein rundes Medaillon, vorwiegend mit Himmel über einer niedrigen Landschaft ausgespart, von einer einfachen braunen, selbstverständlich wieder goldgehöhten Leiste umgeben.

Der Zyklus der Tierkreiszeichen beginnt wie gewohnt mit dem Wassermann, einem nackten Knaben, der mit den Füßen im Wasser in einer weiten Ebene steht und zwei Krüge ausleert. Die Fische stehen als lebendig modellierte Tiere vor goldenem Grund. Der Widder schreitet auf einer Wiese nach links. Der schwarze Stier hingegen bewegt sich entsprechend nach rechts. Nackt treffen die Zwillinge in Ganzfigur, ohne Abschirmung der Scham, auf einer Wiese einander, der Mann links, die Frau mit langem, wallendem Haar rechts, und umarmen sich. Der graue Krebs mit acht Beinen steht wie die Fische vor Gold. Auf grüner Wiese trabt der Löwe nach links. Die Jungfrau hockt auf einer Wiese vor einer niedrigen Mauer mit Rasenbank wie eine Heilige mit einem Zweig in der Hand, mit einem irritierenden Blick auf eine Sanddüne hinter der Mauer. Grau ist auch der Skorpion, der nicht so platt von oben gesehen wird wie der Krebs und an seinem geschwungenen Schwanz mit dem Stachel zu erkennen ist, erneut vor Gold. Eigentümlich ungleichgewichtig ist das Medaillon mit der Waage. Sie hängt mit ihren beiden runden Schalen in einem Innenraum, ohne daß die Art der Aufhängung gezeigt würde; in die bildparallele Rückwand ist

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New York, PML, M. 399 – Da Costa Hours

links ein vom Rund stark beschnittenes Fenster eingefügt, in das die waagerechte Stange mit der Halterung ragt. Als Kentaur hebt der Schütze die Vorderläufe und zielt mit dem Bogen nach rechts. Ein schwarzer Ziegenbock, mit zotteligem Fell verkörpert wie in Nr. 5 das Zeichen des Steinbocks, diesmal auf Sand vor einem Streifen dunklen Meereswassers unter bleichem Himmel.

Von ganz anderer Lebensnähe sind die breit angelegten Bilder aus dem Jahreslauf auf den Recto-Seiten. Sie spielen mit den traditionellen Beschäftigungen, geben aber wie bei Simon Bening gewohnt jeder Szene eine individuelle Note. Einzelne Figuren aus unserem Zyklus findet man in Benings frühestem Kalender mit Vollbildern wieder, also im Da Costa-Stundenbuch, dessen Bildquellen bis in die 1470er Jahre zurückreichen.205 Noch kennt der junge Meister die Monatsbilder in Berrys Très Riches Heures nicht; die Auswahl der Themen in unseren Randbildern ist stärker flämischer Tradition verpflichtet; doch wird man immer wieder einzelne Figuren finden, die Simon Bening hier wie im Da Costa-Stundenbuch mit der für ihn typischen Varianz eingesetzt hat: Das gilt für den Mann am Kamin im Januar, das seitenverkehrt gezeigte Melken im April, die Schafschur im Juni, einen Schnitter mit der Sense zum Juli, der bei Da Costa im Mittelgrund auftaucht, die Konstruktion der Sicheln im August, den Sämann, der im September bei uns aus dem Mittelgrund nach vorn geholt ist, einen der Männer, die den Flachs schlagen, und wieder mit Sinn für Freiheit im Umgang mit den Vorlagen das seitenverkehrte Schweineschlachten im Dezember.

Dieser Befund, der nicht in gleicher Weise für die Tierkreiszeichen gilt, zeigt: Unser Manuskript entstand in zeitlicher Nähe zum Da Costa-Stundenbuch, wahrscheinlich geht es dem New Yorker Manuskript voraus; denn im Buchblock kehrt Simon Benings Hand zwar in den kleineren Miniaturen wieder, nicht aber bei den textlosen Bildern; sie stammen aus dem Umfeld des Gebetbuchmeisters um 1500. Damit mag unser Stundenbuch noch ein weiterer Hinweis dafür sein, daß dieser Maler kein anderer als Simons Vater Sanders war. Vor uns läge somit ein Werk, an dem Simon noch unter des Vaters Leitung gearbeitet hat. Bis zum Breviarium Grimani aus den Jahren um 1515 scheint der Sohn noch dem Vater verpflichtet gewesen zu sein.

Zu einer fast die ganze breite Rückwand einnehmenden Holzbank, auf der ein vornehmes grünes Kissen liegt, führen die perspektivisch gegebenen Seitenwände im Januarbild: Links prasselt ein Feuer im herrschaftlichen Kamin. Seine Füße streckt ein vornehmer älterer Herr aus; er trägt eine pelzverbrämte rote Jacke und eine blaue Sendelbinde. Sein tonnenrunder Stuhl ist vom runden Tisch weggedreht. Auf ihm richtet eine Magd ein festliches Mahl mit Zinngeschirr. Gerade hat sie den Braten, offenbar eine stattliche Keule, hereingebracht.

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205 New York, PML , Morgan 399: Siehe Faksimile und Kommentar von Gregory Clark 2010.

Von menschlicher Behausung wird in den nun folgenden Bildern mit Geschehen unter freiem Himmel anders als beim Meister des Dresdner Gebetbuchs mit den Stadt- und Burgveduten nichts gezeigt.

Im Februar wendet man sich der Arbeit zu: Weinstöcke trimmt ein Mann in leuchtendem Blau und Rot, während sich ein zweiter mit einem riesigen Reisigbündel über Kopf und Schultern abmüht. Das Holzmachen, das eigentlich zu dieser zweiten Gestalt gehört, wird hingegen erst zum März gezeigt. Das Randbild nimmt für sich noch die letzte Textzeile in Anspruch und kann schon dadurch eine eindrucksvolle Weiterung bieten: Männer arbeiten im Wald; noch tragen die Bäume kein Laub; zwei mächtige Stämme erheben sich links. Die zwei Arbeiter aber kümmern sich nicht um sie, sondern lichten das Unterholz. Wie schon im Februar bemüht sich der Maler um korrekte Schilderung der Jahreszeit in den Partien, wo er Männer bei der Arbeit zeigt, vergißt diesen Ansatz dann aber, wenn es um die Landschaft im Mittelgrund geht: da sind die Wiesen und das Laub saftig grün!

Voll im Saft steht die Natur bereits im April: Auf einer Wiese, die von einem hellen Zaun zum hügeligen Mittelgrund abgegrenzt ist, wird eine braune Kuh von einer Frau gemolken; weiß schimmert die Milch im Holzzuber. Ein in Blaugrau angedeuteter Mann geht hinten rechts einen Weg entlang und hebt sich auf dem Hügelkamm gegen den Himmel ab.

Ein eindrucksvoll bewegtes braunes Pferd reitet im Mai ein Herr, der pelzverbrämtes Rot und ein für das XVI . Jahrhundert charakteristisches schwarzes Barrett trägt, hinter sich seine in Blau gekleidete Frau. Man nimmt einem mit Kieseln besetzten breiten Weg zwischen wundervollen Baumgruppen hinten links und dem frühlingshaft frischen Wald rechts.

Schafschur ist im Juni angesagt, was schon für Le Sénécal 1921/23 ein Zeichen dafür ist, wie wichtig der Wollhandel geworden war. Dafür hat sich ein Mann hingesetzt – in den wenigen Miniaturen aus dem früheren XV. Jahrhundert, die bereits dieses Thema aufgreifen, so in den Très Riches Heures oder den Grandes Heures de Rohan obliegt diese Arbeit einer Frau – die Schafe grasen in anmutiger Ruhe auf dem Hügel um ihn; er hat sich eines von ihnen gegriffen, um es mit der großen eisernen Schere zu scheren.

Im Juli und nicht im Juni, wie manche Monatszyklen vermuten lassen, wird die Heumahd eingebracht; deshalb nimmt der Schnitter mit der Sense die Mitte eines Bildes ein, das in überraschender Schlichtheit nur aus einem großen Stück Wiese besteht mit einem ausgetretenen Weg, der an einem Zaun entlangführt. Von dort kommt eine Frau, um die Mittagsspeise – auch das eine recht charakteristische Zutat späterer Monatsbilder – zu bringen, während der Mann in kurzem roten Gewand über einem weißen Kittel konzentriert die Sense führt.

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Kornfelder sehen Buchmaler gern als fast mannshohe dunkelgelbe Blöcke, die beim Mähen systematisch niedergelegt werden; das bestimmt die August-Miniatur: Von links ist der Schnitter mit der Sichel vorgegangen; er läßt die Halme am Boden liegen; niemand ist zur Stelle, sie zu binden. Um ihn herum wird ein wenig Fernsicht möglich, während die Ähren über den Horizont rechts ragen. Blaue und rote Punkte deuten Kornblumen und Klatschmohn an. Die blockhaft geometrische Form des Korns mag den Maler inspiriert haben, die Angabe vigilia in der letzten Textzeile mit zwei rechteckigen Auszügen seines Bildes zu rahmen.

Im September ist hier bereits Zeit zum Säen: Durch das stark gefurchte Feld, dem sich ein zweites mit Furchen im rechten Winkel und dann ein Ausblick auf Wiese und Bäume anschließt, schreitet der Sämann, in Rot, mit weißer Schürze nach rechts; dort steht ein praller Sack mit Saatgut; Krähen flattern umher. Im Mittelgrund wechseln die Furchen um etwa 90 Grad die Richtung; darüber werden Bäume und eine bucklige Wiese sichtbar; weit entfernt laufen dort zwei Leute durch die Landschaft.

Zweimal wird in diesem Kalender geschlachtet, wie so oft bei Simon Bening; und das geschieht auf zwei unterschiedliche Weisen: Im Oktober hat man einen Ochsen in eine städtische Metzgerei gebracht; dort ist er bereits auf dem blanken Steinboden in die Knie gezwungen: Der Metzger erhebt seinen Hammer, um dem Tier den Todeshieb auf die Stirn zu versetzen, während ein zweiter Mann einen Strick hält, der am Hals des Tiers befestigt, in unsichtbarer Höhe über eine Welle führt und offenbar mit einer blauen Kugel beschwert ist. Gut aufgeräumt wirkt die Metzgerei mit der links in die Bildtiefe führenden und der bildparallelen Wand, die gemeinsam ein Raumeckmotiv schaffen. Ein Fenster ist links, ein Gatter rechts zu Ferne und Himmel geöffnet.

Auch zum November zeigt Simon Bening einen im XV. Jahrhundert in Kalenderbildern noch sehr selten oder gar nicht zu findenden Aspekt der wirtschaftlich immer bedeutender werdenden Textilherstellung: Er stellt dar, wie ein Mann mit dem Bokeholz die Flachsstengel mürbe schlägt, geht also auf die Leinenproduktion zu, führt sie aber wie bei der Wolle im Juni nur auf die Gewinnung des Rohstoffs in der Landwirtschaft zurück; Veredelung des Stoffs und damit dessen Bedeutung für die st ädtische Wirtschaft wird nicht erfaßt. Ein Mann steht mit seinem Bokeholz in einem Kreis aus Flachs. 206 Daß ein Schwein im Bauernhof herumläuft, ist bei Simon Bening nicht selten; sein Auftauchen verbindet mit der Tradition, im November eigentlich das Füttern von Schweinen zu zeigen. 207 Die Raumstruktur mit ihren

206 Den Begriff haben wir bei Hansen 1984, S. 147, gefunden; dort auch eine Abbildung des Novemberbildes im Da Costa-Stundenbuch der Pierpont Morgan Library, M. 399 mit einem Vollbild von Simon Bening, als Abb. 242, wo auch eine Frau einbezogen wird, die mit dem Schwingholz die hölzernen Bestandteile aus dem Flachs herausschlägt, während die Bauersfrau in unserem Monatsbild offenbar nur untätig aus der Haustür schaut.

207 So in der Vollbordüre des Wiener Hortulus animae, Cod. 2706 in Abb. 236, wohl auch von Simon Bening.

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Hecken, Gattern, Haus und Schweinestall bezieht die letzten zwei Zeilen des Schriftfelds mit ein.

Im Dezember liegt bereits Schnee; hier wird das Ausbluten eines soeben geschlachteten Schweines gezeigt. Das geschieht in der freien Natur vor einem ungegliederten Streifen von Blau der Ferne. An eine sauber geputzte Metzgerei ist nicht gedacht, so daß der Eindruck entsteht, hier sei eine urtümlichere Art des Schlachtens als im Oktober gemeint, die aber auch einen Sinn für Sauberkeit und Ordnung verrät: Links liegen gekreuzt zwei Korngarben, von rechts kommt eine Frau mit einer Kasserolle, um das Blut aufzufangen, das beim Schlitzen des Halses austritt.

Dieser Kalender bezaubert gerade durch das kleine Format seiner Monatsbilder und durch sein konsequentes Layout; in unserem Katalog wird diese Arbeit Simon Benings aber durch ein sehr viel stolzeres und bedeutenderes Beispiel seiner Hand übertroffen.

Nr. 7

Panoramabordüren in Kalendern des XV. und XVI. Jahrhunderts

Mit kleinen Kalenderbildern unter dem Text gab man sich auf die Dauer nicht zufrieden: Buchmaler beanspruchten zunehmend die ganzen Randstreifen für ihre Arbeit und schufen Panoramen. Auch in diesem Zusammenhang kommen der Meister der Maria von Burgund als Anreger und Otto Pächts Würdigung von 1948 ins Spiel. 208 Doch nicht am Hof der Maria von Burgund um 1480, auch nicht im Genter Umfeld ihres Vaters Karls des Kühnen um 1470, in dem flämische Buchmaler zum ersten Mal damit experimentieren, sind die Bildbordüren mit großen Landschaftspanoramen erfunden worden, sondern früher und anderswo.

Panorama-Bordüren aus Frankreich

Eine Voraussetzung dafür boten die aus einzelnen Szenen zusammengesetzten Bordüren des Mazarine-Meisters in dessen namengebendem Werk 209 sowie unter dessen Einfluß das reife Werk des Bedford-Meisters vom Londoner BedfordStundenbuch an.210 Eine ganze Buchseite mit Hauptbild über dem Incipit vereinheitlichte der Mazarine-Meister so, daß sich die Wirkung eines Panoramas, jedoch noch vor Rankenmuster statt Himmel zur Eröffnung der Bußpsalmen im sogenannten Stundenbuch des Louis Bonaparte einstellte. 211 In Paris fügte der Dunois-Meister den Bastard von Orléans mit dessen Schutzengel in eine vierseitige Bildbordüre ein, die eine Miniatur mit dem Jüngsten Gericht umgibt. 212

An der Loire wirkte dann zwischen 1440 und 1460 der sogenannte JouvenelMeister, der dieselben Effekte anstrebte und auch in einigen Werken erreichte: im Stundenbuch des Charles de Maine wie auch im sogenannten Stundenbuch der Jeanne de France, dessen übermalte Wappen die Erinnerung an Marie de Bretagne als erste Besitzerin tilgen. 213

208 Pächt 1948, Alexander 1970.

209 Paris, Bibl. Mazarine, Ms. 469: Meiss 1968, Abb. 262–268. Die Definition des Malers geht auf Gabriele Bartz und den ersten Band unserer Serie Illuminationen zurück: Der Boucicaut-Meister. Ein unbekanntes Stundenbuch (Illuminationen. Studien und Monographien, hrsg. von Heribert Tenschert, 1), Ramsen und Rotthalmünster 1999, mit getrennten Werkverzeichnissen des Boucicaut- und des Mazarine-Meisters.

210 Siehe dazu meine Arbeiten zum Bedford-Stundenbuch in London.

211 Paris, BnF, lat. 10538, fol. 116: Meiss 1974, Abb. 257.

212 L ondon, British Library, H. Y. Thompson, Ms. 3, fol. 32v: Farbabb. bei Châtelet 2008. Die Miniatur habe ich bereits 1974 (jedoch mit irriger Datierung) in Beziehung mit den neuen Layout-Konzepten von Jean Fouquet gesehen, der allerdings die Abgrenzung der Miniatur von der Bordüre aufhebt und damit einen genialen neuen Schritt vollzieht, der den südniederländischen Buchmalern fremd bleibt.

213 Cambridge, Fitzwilliam Museum, Ms. 39–1950, und Paris, BnF, NAL 3244: allgemein König 1982, sowie zur Pariser Neuerwerbung der vorher aus dem Kat. der Sammlung Martin le Roy bekannten Heures de Jeanne de France (NAL 3244): François Avril, Les Heures de Jeanne de France, in: art de l’enluminure 47, 2013, S. 4–28; Philippe Contamine und Marie-Hélène Tesnière, Jeanne de France, duchesse de Bourbon et son livre d’heures, in: Monuments Piot 92, 2013, S. 5–65. Inzwischen gibt es auch ein stark irreführendes „Faksimile“, jedoch mit einem vernünftigen Kommentar von Tesnière, Le Livre d’heures de Jeann de France, Paris 2015.

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Die frühesten Kalendarien mit Panoramabordüren

Aus dem engsten Umfeld des Jouvenel-Meisters stammt der erste Buchmaler, der in historisierten Bordüren ein vollständiges Programm von 24 Kalenderseiten ausbreitete, ihn bezeichnen wir als Meister von Poitiers 30. 214 Schon 1925 erschien unter dem Pseudonym Janine Bouissounouse 215 ein poetisch konzipiertes Buch mit vorzüglichen Schwarzweißabbildungen, das den Kalender im Stundenbuch der Adelaide von Savoyen bekannt machte und damit für einen irreführenden Notnamen sorgte. 216 Ein zweiter Kalender, von derselben Hand mit Panoramabordüren bebildert, schmückt ein Stundenbuch der Gulbenkian-Stiftung in Lissabon. 217

214 So schon König 1982; siehe dann die Monographie in der Reihe Illuminationen von 2006.

215 Tatsächlich hieß die Autorin Janine Héron de Villefosse (1903–1977).

216 Chantilly, Musée Condé, Ms. 76. Den Einband schmückt das Wappen einer Tochter von Victor-Amédée II de Savoie. Marie-Adélaïde lebte von 1685 bis 1712; sie war durch ihre Vermählung mit dem ebenfalls 1712 gestorbenen Louis de France zunächst Herzogin von Burgund und dann Dauphine.

217 Lissabon, Museu Calouste Gulbenkian, Ms. LA 135: König 2009: Der Buchblock ist von minderer Hand ausgemalt, der Kalender aber vom Meister, selbst wenn Avril in unseren Gesprächen dieser Einschätzung nicht folgen mag; immer noch unveröffentlicht ist sein Katalog der Sammlung, der gemeinsam mit Textbeiträgen von Aires Naciemiento konzipiert war.

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Chantilly, Musée Condé, Ms. 76 Lissabon, Gulbenkian, LA 135

In Medaillons erscheinen die traditionell nötigen Kalendermotive, das Monatsbild ebenso wie das Tierkreiszeichen, im Lissabonner Kalender und zwar als blaues Camaïeu in den oberen Ecken, auf Recto und Verso verteilt. Nicht nur der Zodiak, auch die Monatsarbeiten senden wie Sterne goldene Lichtstrahlen aus. Goldener Akanthus füllt den Himmel, wo nicht Interieurs angedeutet sind; darunter breiten sich große Panoramen, vor denen sich die Schrift wie ein Schild erhebt. Entsprechende Ausblicke werden in Chantilly hingegen vom Himmel überwölbt; die Tierkreiszeichen aber sind wie Schilde im Randstreifen untergebracht.

Von Gebäuden und Landschaft flankiert, bilden die Randstreifen eine bildnerische Einheit und zwar nur in Chantilly unter kalt blauem Himmel, der zum Horizont hin leicht aufgehellt ist. Die Figurengröße richtet sich in beiden Kalendern nach der Höhe der unteren Bordüre: Da spazieren zierliche Ganzfiguren, nach der Mode der Zeit mit hohen Kopfbedeckungen. Zu beiden Seiten steigt das Gelände steil an, um auf dem breiten äußeren Randstreifen meist noch einmal Bildmotive auszubreiten, während zum Falz hin Architektur und Landschaft ins Blau der Ferne führen.

Inhaltlich schöpfen die Bildbordüren aus dem Volksbrauch; dabei beschränken sie sich nicht auf die Bauern in ihren Dörfern, sondern widmen sich dem Leben in der Stadt – auch das ein Grundzug, der von hier nach Flandern gewirkt hat. Beim Durchblättern erhält man rasch den Eindruck, die jeweils einander gegenüberstehenden Seiten von Monatsende und Monatsanfang seien intensiver aufeinander abgestimmt als Vor- und Rückseite ein und desselben Monats. Der Wandel von Vegetation und Wetter spielt im Jahresverlauf nur dann eine Rolle, wenn es beispielsweise im März explizit darum geht, dürre Büsche und Bäume zu beschneiden, oder wenn Kinder in der zweiten Dezemberhälfte zur Schneeballschlacht in den Straßen spielen. Da Bäume schon in der zweiten Hälfte des Februars voll begrünt und Büsche hinter der verschneiten Straße belaubt sind, ist man also noch weit entfernt von der Aufmerksamkeit, die der Meister des Dresdner Gebetbuchs im Madrider Voustre demeure-Stundenbuch um 1470 beweisen wird. 218

Der berühmte Kalender im Stundenbuch der Adelaide von Savoyen erweist sich zuweilen als unterlegene Version, denn manche Schilderung wirkt in Lissabon sinnvoller. So gilt: Wer wie in Chantilly erst Ende Oktober zur Obsternte in die Bäume steigt, wird dieser Arbeit nicht froh; und Rasenspiele verlangen Wetterverhältnisse, die anders als in Chantilly kaum zur zweiten Novemberhälfte passen. Auch wenn der Lissabonner Kalender sicher nicht so souverän gemalt ist, bietet er häufiger logische Zusammenhänge.

Nur wenige Miniaturen des verantwortlichen Malers lassen sich mit Daten verbinden: Sie schmücken Passagen im Mare historiarum der Familie Jouvenel des Ursins, die

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218 Bodo Brinkmann, Die flämische Buchmalerei am Ende des Burgunderreichs. Der Meister des Dresdener Gebetbuchs und die Miniaturisten seiner Zeit, 2 Bde. (Ars Nova I), Turnhout 1997, S. 191–194.

vor dem 13. August 1448 und dem 20. Januar 1449 geschrieben wurden. 219 So früh wird man den Kalender in Lissabon nicht ansetzen; doch wegen einer Miniatur aus Jean Fouquets engstem Kreis wird das ganze Stundenbuch der Adelaide von Savoyen kaum später als in den frühen 1460er Jahren, dem der Lissabonner Kalender vorausging, entstanden sein. 220

Mit dieser Datierung erweisen sich die beiden wohl in Poitiers entstandenen Kalender als die wichtigste Vorstufe für das, was um die Wende zum XVI . Jahrhundert in den südlichen Niederlanden zu großer Blüte kommen sollte. Den Grundgedanken hat somit ein französischer Buchmaler entwickelt; dessen Konzept verbindet sich so eng mit Neuerungen, die Jean Fouquet in den 1450er Jahren im Stundenbuch des Étienne Chevalier ausprobiert hat, daß man sogar überlegen könnte, ob nicht er selbst im spurlos verschwundenen Kalender seines Hauptwerks derartige Panoramen für Monatsbilder entwickelt hat. 221

Zwar wird man in der flämischen Buchkunst so gut wie keine konkreten motivischen Abhängigkeiten zu den Kalendern in Chantilly und Lissabon finden; unbeachtet blieb jedoch nicht nur die gerade beobachtete Zuwendung auch zum städtischen Leben sowie ein ganz und gar unabweisbarer Zusammenhang: Einer der großen Buchmaler aus der Endzeit der Burgunderherzöge, Lievin van Lathem, nimmt nicht nur durch seine erstaunlichen Miniaturen einen bemerkenswerten Platz in der Entwicklung flämischer Buchmalerei ein; er hat auch hinreißende Grotesken im Randschmuck seiner besten Werke beigesteuert, so im IV. Band des Breslauer Froissart. 222 Van Lathems zuweilen recht große Bordürenfiguren, gern mit kämpferischen Motiven, passen nicht so recht in die Entwicklung der flämischen Bordüren; denn die zielte auf Streublumen oder Architekturen. Sie aber finden ihre wesentliche Voraussetzung im Randdekor der Hauptminiaturen für das Stundenbuch der Adelaide von Savoyen in Chantilly.

Während in dieser Hinsicht der Transfer in die südlichen Niederlande zeitlich so bruchlos geschah, als hätte Lievin van Lathem die Grundgedanken und den Formenschatz für seine Grotesken direkt aus Frankreich mitgebracht, dauerte es eine gewisse Zeit, bis Panoramabordüren vom Wiener Meister der Maria von Burgund im Voustre-demeure-Stundenbuch zunächst auf Textseiten ausprobiert wurden. Noch

219 Paris, BnF, latin 4915: Buch IV ist auf fol. 195 „xiiie die augusti” und Buch V auf fol. 249: „xxe januario 1448” im französischen Annunziationsstil datiert. Nur in davor liegenden Partien, von fol. 80 bis 160bis, wirkte der Meister von Poitiers 30.

220 Avril in Ausst.-Kat. Fouquet 2003, Nr. 54.

221 Dieses Manuskript ist vor allem durch vierzig Blätter mit Miniaturen im Musée Condé, Chantilly, Ms. 70, überliefert. Von der Textgestaltung zeugen ein Doppelblatt in einer belgischen Privatsammlung und einige Rückseiten der in die Welt verstreuten Bilder. Siehe zuletzt meinen Kommentarband von 2018; dort auch eine Diskussion zum Kalender S. 120–122 mit drei Abb. (19–21) aus Lissabon und Chantilly.

222 Berlin, Depot Breslau 1, Bd. IV: zuletzt Zenker 2018.

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war der Kalender dort davon unberührt; es hat eine Generation gebraucht, bis die Panoramen auch die Monatsbilder prägten.

Brillante Monatsbilder Simon Benings in Vollbordüren – Nr. 7

Simon Benings Kalenderbilder vereinen lebendigen Sinn für die Gestaltung von Genreszenen mit einem außergewöhnlichen Talent für die atmosphärische und detailreiche Schilderung von Landschaften. Zu seiner Kunst gehört auch die Gliederung solcher Bildbordüren durch feine Leisten in Umbra, deren Goldhöhung eine Beleuchtung von links oben, also wie beim Lesen von Rechtshändern, suggerieren soll. Die Leisten umfassen das gesamte Feld der Malerei und den Textspiegel; sie sind erst entstanden, als der Schreiber seine Arbeit abgeschlossen hatte; denn sie weichen Buchstaben, die über die Zeilenlänge ausgreifen, aus und erhalten dadurch spielerische Unregelmäßigkeit.

Die Qualität von Simon Benings Arbeiten ist nicht direkt vom Gewicht des Auftrags abhängig; das zeigt sich in den zwölf Vollbordüren seines sogenannten Münchner Blumenstundenbuchs, 223 in dem alle vier Seiten um den Textspiegel mit vollfarbigen

223 München, BSB , Clm 23637: zum Kalender siehe meinen Beitrag im Kommentarband von Bodo Brinkmann, Luzern 1991. Eigentlich ist der Kalender sparsam angelegt, genügt doch ein Ternio mit sechs Blättern, weil die Angaben zu den Monaten in zwei Kolumnen zu je 17 Zeilen auf je eine Seite zusammenrücken.

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München, BSB, clm. 23637

Bildfeldern versehen sind, um den Jahreslauf packend zu schildern. Da der obere Bordürenstreifen angesichts des kleinen Formats der Münchner Handschrift keinen rechten Raum für das Tierkreiszeichen lassen würde, rückt das Medaillon in den äußeren Bordürenstreifen, wo über ihm eine golden beschriftete Tafel den lateinischen Namen aus dem Zodiak in epigraphischer Majuskel verkündet. In einer anderen späteren Handschrift der Bayerischen Staatsbibliothek, dem Fragment eines Stundenbuchs, das man als Benings Münchner Kalender kennt, 224 folgt dieselbe Art von Bildbordüre auf Vollbilder aus der Tradition der Très Riches heures und des Breviarium Grimani.

Unsere Nr. 7 bietet mit ihrem auf nur zwölf Seiten angelegten Layout eine bemerkenswerte Parallele zum Kalender in Benings Münchner Blumenstundenbuch. Inhaltlich verstehen sich unsere Monatsbilder jedoch zugleich als ein Gegenbeispiel; denn während im Münchner Manuskript die Vornehmen viel Raum einnehmen, steht hier wie schon in Nr. 6 das Landleben der einfachen Leute im Zentrum.

In allen Bildbordüren werden in den doppelten Profilrahmen über dem Textfeld Medaillons eingegliedert, mit dem Tierkreiszeichen auf Pinselgold, von Maßwerk eingeschlossen: Nackt ist der Wassermann, der mit den Oberschenkeln hinter dem Rahmen auftaucht, bartlos, aber schon erwachsen, mit seinen zwei Flaschen. Silbern sind die Fische, deren Mäuler auch hier unverbunden bleiben. Anders als in Nr. 6 wendet sich der Widder nach rechts in prächtig weißem Fell. Schwarz, auch er nach rechts blickend, erscheint der Stier. Als das gleiche nackte Paar aus Mann und Frau wie in Nr. 6 steigen die Zwillinge hinter dem Bildrand auf; einander distanziert anschauend, fassen sie sich an den Schultern, wobei der Mann aktiver nach der Frau greift. Silbern ist der Krebs mit vier braunen Beinpaaren und einem quastenartigen stumpfen Schwanz. Stark heraldischen Bildern verwandt zeigt sich der Löwe. In rotem Kleid hockt die Jungfrau im Bild. Von der Seite gesehen ist der Skorpion mit seinem Stachelschwanz; so zeigt sich, daß sein Deckpanzer silbern ist, Körper, Beine und Schwanz aber rotbraun. Die Waage erscheint, ohne daß die Halterung interessierte. Der Schütze stürmt mit schwarzem Pferdekörper nach rechts. Der Steinbock ist ein plumpes schwarzes Tier, das nach links trabt.

224 München, BSB , Clm 23638: Siehe bereits die ausgezeichneten Farbabb. bei Hansen 1984, S. 17–28 und zuletzt: Thomas Kren, Two Miniatures by Simon Bening from the Munich/Montserrat Hours, in: Caroline Zöhl und Mara Hofmann (Hrsg.), Von Kunst und Temperament: Festschrift für Eberhard König zum 60. Geburtstag , Turnhout 2007, S. 143–48. Dieser Kalender hat eine ähnlich breite Öffentlichkeit wie der im Dresdner Gebetbuchs erreicht, weil Georg Leidinger 1935 und in den folgenden Jahren unter verschiedenen Titeln wohlfeile farbige Wiedergaben ausgezeichneter Qualität veröffentlichte.

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In unseren beiden Kalendern hält sich Simon Bening beim Zugriff auf die Très Riches Heures zurück, setzt aber die Schafschur im Juni ähnlich ein, wie sie um 1515 im Breviarium Grimani erst den Juli charakterisiert. Wie Simon Bening Vorlagen variiert, zeigt sich schon in den Darstellungen zum Januar: So wiederholt er in unserer Nr. 7 die Magd mit dem Speisetisch aus Nr. 6, vertauscht aber die Anordnung der Figuren und des Kamins; so kommt er zu einem ganz anderen Ergebnis; denn nun nutzt er den größeren Bildraum dazu, links das Bett einzurichten, das im kleineren Randbild fehlt. Eindrucksvoll schlicht ist diese Bildbordüre zum Januar mit dem Gastmahl des vornehmen Mannes aufgebaut: Bildparallel steht das Haus, dessen schneebedecktes Dach mit winterlich dürren Baumkronen die obere Hälfte der Bildbordüre einnimmt. Darunter öffnet sich der Blick ins Interieur; er ist wie in florentinischer Perspektive von zwei in die Tiefe führenden Elementen gerahmt: Links das rosafarben ausgeschlagene Bett und rechts der Kamin. Holzvertäfelung sowie ein Stuhl neben dem Kopfende des Bettes und eine breite Truhe bestimmen die Rückwand. Vorn steht ein runder Tisch, der für zwei Personen gedeckt ist; dorthin hat eine junge Frau, Magd oder Gemahlin, gerade den Braten gebracht; doch für sie gibt es hier genauso wenig wie in Nr. 6 einen Sitzplatz. Den einzigen Stuhl hat ein schon recht betagter Mann vom Tisch weg zum Kamin

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Breviarium Grimani

gedreht, um sich die Hände zu wärmen. Eine graue Katze sitzt aufrecht neben ihm und blickt in die Bildtiefe.

Wie im März von Nr. 6 wird das Schriftfeld im Februar reduziert, dessen geringere Tagesanzahl dazu noch einlädt; deshalb kann die Malerei unter der rechten Spalte drei Zeilen zusätzlich einnehmen. Für die Zurichtung eines Weinbergs, wie sie hier meist gezeigt wird, werden Pfähle in die Erde getrieben, an denen sich die zu Boden sinkenden Pflanzen aufrichten sollen. Von links schleppt ein Mann ein Bündel Stöcke heran, ein zweiter richtet eine müde Weinpflanze auf, während ein dritter mit einer Hacke den Boden bearbeitet. Links erhebt sich im breiten Randfeld ein Vogel- oder Waldhaus über einem mächtigen Stamm, mit einer hohen Leiter.

Im März bilden die noch unbelaubten Äste mächtiger Bäume ein famoses Gitter um das Schriftfeld. Dort wird Reisig gemacht; so schlägt ein Mann Feuerholz von den Ästen, während ein zweiter angestrengt ein tragbares Bündel schnürt.

Im April lassen die hohen Bäume bereits das erste Grün sprießen. Die Bewegung im Bild läuft gegen die Leserichtung, also nach links, wo der Blick im breiten Außenrand über einem Gatter in die Tiefe führt. Links steht der Stall, in Fachwerk; aus ihm treibt ein Hirte seine Schafe und Ziegen zur Weide. Ein neugeborenes Lämmchen kann noch nicht mitlaufen; es muß wie von Johannes dem Täufer vom Hirten auf dem Arm tragen werden.

Wie in den meisten flämischen Kalendarien um 1500 widmet sich der Maler erst zum Mai dem Leben der vornehmen Gesellschaft: Drei junge Leute haben es sich in einem Kahn gemütlich gemacht, den sie mit frischem Maigrün geschmückt haben; das musizierende Paar wird offen gezeigt, anders als beispielsweise im Münchner Blumenstundenbuch, wo ein schützendes Tuch oft den Kahn dominiert. Ein Mann rudert und singt dabei; ein Jüngling spielt Flöte, ein Mädchen mit offenem Haar hingegen Laute; sie wirken nicht wie Herrschaften und Bedienstete; doch hinter dem nun voll ergrünten hohen Baum rechts taucht im Wasser ein Schloss auf und gemahnt an die Welt des Adels.

Im Juni werden die Schafe geschoren, wie man das im Juli des Breviarium Grimani und in manch anderen Kalendern Benings kennt: Vor dem gelb angestrichenen Stall, der in einem ganz anderen Winkel im April zu sehen war, steht links ein großer Korb voll weißer Wolle. Daneben sitzen zwei Schäfer in der Wiese; jeder schert ein Schaf auf seinem Schoß, während ein drittes, das sein Fell bereits verloren hat, schon wieder auf der Wiese grast, die vorn ein niedriger Weidenzaun begrenzt. Prachtvoll prangt das Laub an den Bäumen, rechts, weiter zurückgesetzt, führt ein Bauernhaus perspektivisch zur Mitte.

Bei der Heumahd, wie in unserem ersten Bening-Kalender im Juli, hat der Bauer die Wildwiese mit seiner Sense schon fast zu einem ordentlichen Quadrat gestutzt; nun

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macht er sich an den letzten Teil seiner Arbeit, während im Hintergrund eine Frau den Schnitt einsammelt. Zum August wird die Kornmahd gezeigt: Vor weit über mannshohem Korn, in dem Klatschmohn und Kornblume rote und blaue Punkte bilden, und unter einem Blick auf zwei Pappeln, die an berühmte Bilder von Claude Monet denken lassen, holt ein Schnitter mit zwei an Stöckern befestigten Sicheln zum Mähen aus, das er offenbar rhythmisch im Wechsel von linker und rechter Hand meistert, während eine rot gekleidete Frau mit Sonnenhut das geschnittene Korn zur Garbe verschnürt.

Im September werden bereits die Felder gepflügt, da Weinlese im Herbst hier nicht zum Thema gemacht wird: In den Très Riches Heures war Pflügen die Hauptarbeit im März, Eggen und Säen hingegen im Herbst. Aus dem dortigen Oktoberbild sind die streng bildparallelen Furchen vertraut; doch den Pflug ziehen hier zwei Pferde und nicht das Ochsenpaar aus dem März der Berry-Handschrift. Da für solche Arbeit schon lange die Ochsen von Pferden verdrängt waren, erweist sich unser Kalender somit auf der Höhe der Entwicklung – anders als im Breviarium Grimani aus den Jahren um 1515, wo man an dem lange überlebten Ochsengespann festgehalten hat. Bezaubernd wirkt die Tönung des Laubs hin zum goldenen Herbst. Wie so oft bei Simon Bening wird in diesem Kalender zweimal geschlachtet; und das geschieht auf zwei unterschiedliche Weisen: Im Oktober hat man einen Ochsen in eine städtische Metzgerei gebracht; dort steht er nun auf dem blanken Fliesenboden: Der Metzger erhebt seinem gespitzten Hammer, um das Tier mit einem Schlag auf die Stirn zu töten, während ein junger Mann Mühe hat, die Hörner zu halten. In krassem Gegensatz zu der blutigen Schlachterei, die sich anschließen wird, wirkt die Metzgerei genauso aufgeräumt wie die blanke Straße mit dem Haus im Mittelgrund.

Auch hier wird wie in Nr. 6 zum November Flachs bereitet. Zwei Männer stehen in einem Kreis aus Flachs gesäumt wird und bearbeiten ihn mit dem Bokeholz, um der faserigen Struktur des Gewächses beizukommen. Rechts steht der Schweinestall, den ein Taubenhaus bekrönt, während hinten ein Mann immer noch mit dem Dreschen beschäftigt ist. Die Raumstruktur mit ihren Hecken, Gattern, Haus und Schweinestall bezieht das Schriftfeld virtuos ein.

Im Dezember liegt bereits Schnee; nun wird das Ausbluten eines kurz zuvor geschlachteten Schweines gezeigt. Das geschieht in der freien Natur vor einem trutzigen Steinbau links hinten. Wie in Nr. 6 entsteht der Eindruck, eine viel urtümlichere Art von Schlachten als im Oktober sei gemeint. Simon Bening sieht also einen Unterschied zwischen dem Schlachten in der Stadt und auf dem Land.

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Simon Benings früheste Monatsbilder dürften die ganzseitigen Kalenderminiaturen im Da-Costa-Stundenbuch sein, 225 die wohl kurz nach den um 1515 vielleicht von Gerard Horenbout gemalten Kalenderbildern im Breviarium Grimani entstanden sind und damit bereits die Tradition der Très Riches Heures des Herzogs von Berry verarbeiten. Die großzügigen Landschafts- und Genremotive, die Bening schon im Da-Costa-Stundenbuch entwickelt hatte, hat er auch in Bildbordüren gefaßt, die das Textfeld raffiniert umspielen, ohne räumliche Tiefe oder darstellerische Qualität einzubüßen. Daß der Kalender unserer Nr. 7 dem Da-Costa-Stundenbuch noch sehr nahe steht, zeigt der Vergleich zum 1531 datierten Van-Damme-Stundenbuch in New York, in dem Bening stärker von den noch im früheren Œuvre gültigen Vorbildern abweicht und andere Momente des ländlichen Lebens in den Bildbordüren schildert. 226

Die Kalenderbilder vom Davidmeister im Durrieu-Stundenbuch – Nr. 8

Unser Bestand, der in diesem Katalog ausgebreitet werden soll, kennt aber noch eine Steigerung gegenüber Simon Benings überzeugenden und beeindruckenden Monatsbildern in den Randstreifen unserer Nrn. 6 und 7: Vierundzwanzig Vollbordüren im Kalender eines Stundenbuchs schließen sich an, das einmal dem Grafen Paul Durrieu, also dem unübertroffenen Altmeister der Forschung zur Buchmalerei aus den Jahrzehnten um 1900 gehört hat. Diese Monatsbilder stammen von der Hand eines zweiten großen Meisters, der neben Simon Bening zu den wichtigsten Vertretern der flämischen Buchmalerei der ersten Hälfte des XVI . Jahrhunderts gehörte.

Man erkennt ihn wie die meisten seiner Zeitgenossen besonders klar an den Physiognomien: Charakteristisch sind die schlanken Gesichter, die sensible Modellierung insbesondere von Wangen und Schläfen. Die Köpfe passen gut zu den recht schlanken Körpern, die am Ende des hier ausgebreiteten Materials den Eindruck erwecken, es habe im XV. Jahrhundert in Genreszenen der flämischen Buchmalerei eine Entwicklung von gedrungenen zu eleganteren Gestalten gegeben.

Unglücklich definiert wurde dieser Maler, indem man von einigen Davidbildern im Breviarium Grimani ausging und dabei sogar die Salbung Davids, die dort den Psalter eröffnet, auslassen mußte, da sie wahrscheinlich vom Meister des älteren Gebetbuchs Maximilians, also wohl Sanders Bening, stammt. Dem Davidmeister hatten Vater und Sohn Bening wohl gegen 1515 mit den Szenen aus der Geschichte des alttestamentlichen Königs in dieser monumentalen Handschrift besonders ungewöhnliche und schwierige Themen anvertraut. Sie haben sicher erkannt,

226

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225 New York, Pierpont Morgan Library, M. 399: Faksimile und Kommentarband von Gregory Clark, Graz 2010. New York, Pierpont Morgan Library, M. 451: vom Schreiber Antonius van Damme auf fol. 128v-129 mit einem 1531 datierten Kolophon abgeschlossen: Faksimile und Kommentarband von Roger S. Wieck, Simbach 2018. – 140 –Brukenthal-Stundenbuch
– 141 –Nr. 8
– 142 – Nr. 8
– 143 –Brukenthal-Stundenbuch
– 144 –Brukenthal-Stundenbuch
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– 157 –Brukenthal-Stundenbuch – 158 –Brukenthal-Stundenbuch
– 159 –Nr. 8
– 160 – Nr. 8
– 161 –Brukenthal-Stundenbuch

daß er einer der einfallsreichsten und intelligentesten Künstler ihrer Zeit war; und in der Tat faszinieren noch fünfhundert Jahre später seine erstaunlichen ikonographischen Konzepte. 227 Doch stellt seine eindrucksvolle Kunst die Kunstgeschichte vor ein schwieriges Problem: Im Breviarium Grimani finden sich die Davidbilder neben heute allgemein als eigenhändig anerkannten Miniaturen des berühmten Tafelmalers Gerard David (um 1460–1523); die aber verraten ein anderes Temperament mit abweichenden Physiognomien. 228

Der Meister der Davidbilder im Breviarium Grimani hat eine Anzahl von Stundenbüchern ausgemalt, oft in Zusammenarbeit mit anderen Buchmalern, in ihnen aber nur noch einen zweiten heute bekannten Kalender: Der findet sich in einem Stundenbuch in Hermannstadt, rumänisch Sibiu, das von mehreren Malern gestaltet und unter der irreführenden Bezeichnung Brukenthal-Brevier bekannt wurde. 229 Dort kommt jedem Monat nicht ein Blatt, sondern eine gegenüberliegende Doppelseite zu, so daß anders als in unserem Beispiel Verso und Recto auf einen Blick sichtbar sind. Deswegen verändert sich die Komposition einer jeden Bildseite entscheidend, liegt doch auf Verso der breite Außenrand links, bei Recto hingegen rechts. Im Wechsel der beiden Monatshälften sind die Gewichte folglich durchweg vertauscht.

Buchmaler waren Aktionsfolgen gewohnt, die sich wie auf Recto-Seiten in der Tiefe verlieren, statt wie auf Verso aus der Tiefe in die vordere Ebene zu führen; also ändert sich bei der Übertragung von Bildideen für Vollbordüren die Einstellung zur gewohnten Leserichtung von links nach rechts radikal; denn Tiefe entwickelt sich am besten auf Außenseiten von Bordüren, wo breiterer Raum auch Platz für aufragende Architektur bietet. Deshalb hätte es sich angeboten, die Bildmotive der Bordüren einfach auszutauschen; doch waren sie offenbar so stark an die Monatshälften gebunden, daß sich der Maler, der wohl einen noch stärkeren Sinn für freie Variation als Simon Bening hatte, darauf nicht einlassen wollte.

Im Folgenden darf sich der Weg durch den Kalender von Nr. 7 nicht auf dieses eine Beispiel beschränken, sondern sollte sogleich das sogenannte Brukenthal-Brevier in Hermannstadt und die bereits diskutierten Bildfolgen Simon Benings einbeziehen:

Da im Januar traditionsgemäß ein Interieur gezeigt wird, werden wie in unserer Nr. 7 die senkrechten Randstreifen etwa mittig unterbrochen: unten blickt man

227 Siehe zuletzt König und Heyder 2016, S. 214 ff., und den aufschlußreichen Beitrag von Morrison 2006.

228 Mit dem Problem auseinandergesetzt hat sich Thomas Kren im Ausst.-Kat. Los Angeles und London 2003, S. 344 –365, jedoch mit dem Vidal-Stundenbuch des Escorials (Vitr. 12, dort Nr. 99) ein problematisches Beispiel an den Anfang gesetzt. Dort auch zum Davidmeister S. 383–393. Wir haben in Bd. 5 der Neuen Folge von Leuchtendes Mittelalter m it Nr. 26, dem Stundenbuch der Maria Maddalena Negrone, und Nr. 27 bedeutende Handschriften dieses Malers vorstellen können.

229 Hermannstadt (Sibiu), Brukenthal-Museum: Eine gute Beschreibung des in seinem Buch auch abgebildeten Kalenders bietet Hansen 1984, S. 223–226. Zum gesamten Manuskript siehe: Ordeanu 2007, sowie de Maere 2007.

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in ein Haus, in der oberen Hälfte der Bordüre aber nach außen. Der Davidmeister begnügt sich nicht wie Simon Bening mit dem verschneiten Dach, sondern schichtet in der oberen Hälfte Stadträume um einen Kirchenbau hintereinander. Nur in unserer Miniatur setzt draußen leichter Schneefall ein, der die blauen Schindeln des Dachs mit ein wenig Weiß sprenkelt. Das Interieur unten ist bildparallel angelegt, nach oben begrenzt durch einen schmalen Streifen Holzdecke und darüber, bereits von außen gesehen, den Bogenfries der Dachkonstruktion. Die breiten Dielen des Fußbodens führen perspektivisch nach links, wo sich durch einen Rundbogen die dunkle Steinwand zum Blick in die Küche öffnet; dort kniet eine Magd mit weißer Schürze am offenen Kaminfeuer. Der Vordergrund links wird wie ein erstes Raumeckmotiv gestaltet, in dem die hohe Kante des roten Betts auf die Rückwand zuführt. Die Richtung wird durch einen grauschwarz gefleckten Hund betont, der sich einen Fleischrest ergattert hat und am Fußboden daran knabbert.

Nach rechts wiederholt sich das Raumeckmotiv durch das mit einer Holzplatte versehene Kopfende des Bettes, das gemeinsam mit der hohen Rücklehne eines Holzstuhls und dem Kamin die von rechts ins Bild fluchtende Seitenwand ausmacht. Der Kamin wird vom rechten Bildrand abgeschnitten; seine Wange ist mit einer Reliefkonsole, dem Brustbild eines Mannes in Rüstung, geschmückt.

Aus der Küche ist von links eine recht vornehm gekleidete Frau mit einer metallenen Kanne nach vorn an den mit weißem Tuch bedeckten rechteckigen Tisch getreten. Dort vor dem roten Bett ist das Essen angerichtet, unklar bleibt, für wie viele Personen; denn kleine Brote und hellblaue Servietten sind auf drei Plätze verteilt. Doch gibt es am Tisch nur einen Stuhl, mit hoher halbrunder Lehne; auf ihm sitzt ein Mann in pelzgefüttertem Gewand, der sich, zu der Frau vorn zurückgewendet, am Kamin die Hände wärmt.

Im Januar werden in Hermannstadt Räume und Gegenstände aus größerer Distanz betrachtet, so daß der Blick in die Küche höher gegeben ist und der eingeschlagene Vorhang des Himmelbetts sichtbar wird. Die von den Steinplatten des Fußbodens ablesbare Perspektive zielt stärker zur Mitte. Neben dem Bogen zur Küche steht nun der hohe Stuhl, den man vom Kopfende spätmittelalterlicher Betten kennt. Das Bett rechts daneben ist also diesmal um 90 Grad in die Tiefe gedreht. Der an der Längsseite geschlossene Vorhang, den man von innen sieht, bildet nun die von rechts fluchtende Seitenwand, gemeinsam mit dem Kamin, dessen beide Wangen mit ihren figürlichen Konsolen ins Bild passen. Indem sich jedoch noch ein steiler Bogen rechts anschließt, der den Blick auf eine Wendeltreppe eröffnet, wird der Grundgedanke des Raumeckmotivs verunklärt. Der Hund richtet sich auf, statt der Frau schenkt ein junger Mann am diesmal wie bei Bening runden Tisch ein, der nur für den Mann am Kamin gedeckt ist. Der dreht sich nicht zu ihm um.

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Auch von der Architektur in der oberen Partie der Bordüre wird mehr gezeigt als in unserer Miniatur: In beiden Bildern verdeckt das Schriftfeld eine Kirche, von der bei uns nur die Spitze der Fassade und der Vierungsturm auftaucht, während sie sich in Hermannstadt mit ihrer Langseite hinter die Schrift stellt; wiederum wird also ein wichtiges Element um 90 Grad gedreht. Vor den Giebelfronten dreier Häuser steuern dort eine Frau mit einem Hund und eine zweite Person auf das Portal zu. Rechts taucht dazu noch ein Stück Stadtmauer mit Torturm auf. Das Weiß auf den Straßen könnte Schnee bedeuten; doch ist die Stadt nicht wirklich verschneit; denn die Dächer sind nicht weiß, sondern ebenso farbig wie die Wiesen. In unserer Miniatur dürfte eine Frau mit einem Knaben aus der Kirche gekommen sein; sie trippeln im leichten Schneetreiben einher, das in unserer Miniatur eingesetzt hat. Gegen den Himmel hebt sich über ihnen der Wehrgang der Stadtmauer eindrucksvoll ab. Maler haben fallenden Schnee nur sehr selten gezeigt, weil ihre Kunst im Wesentlichen das Unbewegte erfaßt; deshalb sind auch die wenigen Ausnahmen wie Jean Bourdichons Kalenderbild mit Schneetreiben für Anne de Bretagne so unvergeßlich. 230 Ein eher kurioses Vergleichsbeispiel bietet die Januarseite in den sogenannten Fitzwilliam Hours; dort wird das Interieur durch einen Bogen eröffnet – unter der Hausfassade mit dem ersten fallenden Schnee. 231

In unserer Miniatur zur zweiten Januarhälfte ist der Schnee nicht liegen geblieben; die Grachten, die in wunderbarem Zickzack die breiten Ränder durchziehen, sind aber in beiden Versionen zugefroren. Obwohl der Schnee verschwunden ist, führt ein Fuhrmann, der auf den Kufen eines Schlittens steht, sein Pferd, um ein Paar zu befördern. Rechts gleitet ein jüngeres Paar – nur beim Mann sind die Schlittschuhe zu sehen – über das Eis, während zwei weitere junge Männer ohne Schlittschuhe auf dem Eis Hockey spielen. Im Mittelgrund links krümmt sich ein Mann vor Kälte, während rechts ein Knabe einen Karren schiebt. Verschneit ist in Hermannstadt die Stadt, von den Grachten aber hat man den Schnee weggefegt, worauf ein Kind hinweist, das sich unter einem Brückenbogen neben einem Besen aufhält. Diesmal ist der Blick in die Stadt stärker als bei uns begrenzt; ein vornehmer Mann mit breitem Pelzkragen schreitet vor einem jüngeren durch die verschneite Straße rechts.

Der Gedanke, Grachten im Zickzack zu führen, wird im frühen Februar auf Gewässer in freier Landschaft übertragen: In unserer Miniatur mag man eher an einen sich windenden Bach denken als in Hermannstadt, wo deutlich wird, daß die scharfkantigen Ufern und das abrupte Ende eines Ententeichs dort künstlich angelegt sind.

Holzeinschlag ist das Thema der ersten Monatshälfte; dabei müssen Stamm und Äste mit Äxten, Eisenkeilen und Holzhammer zubereitet und die Knüppel

230 Paris, BnF, lat. 9474, fol. 4: Hansen 1984, Abb. 2.

231 Cambridge, Fitzwilliam Museum, Ms. 1058–1975, fol. 1.

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gebündelt werden; Sägen sind nicht zu sehen. 232 Die einzelnen Knüppel sind so zuzurichten, daß sie zu quadratischen Blöcken geschichtet werden können, bei uns jeweils nach zwei, im Vergleichsstück sogar nach drei Lagen um 90 Grad gedreht. In unserer Bordüre wird gezeigt wie ein Mann links Holz abhackt, ein zweiter aus mehreren Knüppeln ein Bündel schnürt, ein dritter einen dickeren Stamm spaltet, nachdem er mit einer Holzschlage einen Eisenkeil hineingetrieben hatte; nun liegt die Holzschlage einfach am Boden, während sie in Hermannstadt gerade erhoben wird. Danach stapelt man das Holz sorgfältig. In unserem Manuskript wird dann im Mittelgrund ein Kahn mit Holz beladen, in Hermannstadt hingegen verfügt man vorn über einen Maulesel mit einem Holzgestell auf dem Rücken, um die Bündel zu transportieren.

Zwischen dieser Arbeit und dem Beladen des Kahns kommt ein ganz anderer Gedanke ins Bild: Ein Pilger mit Stab und Mütze überquert auf einem Steg, der aus einem einzelnen Holzbrett gebildet ist, das Gewässer. Sein Ziel liegt weit außerhalb der engen Welt der Monatsarbeit; angedeutet wird es in Stadt und Burg, mit denen die Landschaft in der Höhe des Schriftfeldes und dann darüber endet – im Blau der Ferne, in das der Pilger in der Hermannstädter Bordüre bereits vorgedrungen ist. Weit weniger Details bietet Simon Bening, der in unserer Nr. 7 die Landleute jeweils in einer vorderen Bildschicht nebeneinander stellt. Darüber erhebt sich bei ihm ein Hügel, und die Wasserläufe tauchen erst in weiter Ferne eines Flachlands rechts hinten auf.

In der zweiten Februarhälfte blickt man in Hermannstadt zunächst auf den Garten eines Herrensitzes; zu beiden Seiten wird Wein hochgebunden; im Zentrum unten gräbt ein Mann am Fuße eines Baums, von einem Herrn angewiesen, der offenbar die Arbeit bezahlt; denn er faßt allzu sichtbar an seine schwarze Geldbörse. Bei uns wird im Vordergrund auch Wein hochgebunden, jedoch über der Tür eines Gasthauses zum Schwan; dort befestigt ein Mann auf einer Leiter ein schräges Weinspalier; eine Frau reicht ihm dazu Weiden; denn nun kommen zu den Männern, die im Freien arbeiten, auch Frauen hinzu. Die Szene spielt in dörflicher Umgebung, an einer Brücke, über die ein Mann mit seinem Maultier Mehlsäcke zum Gasthof bringt. Am Gürtel hat er eine kleine Geldbörse, braucht also Geld; damit wird auf andere Weise das in Hermannstadt angedeutete Motiv durchgespielt, das man in Kalendern zwischen Mittelalter und Neuzeit zuvor nur selten finden konnte.

Der Blick führt dann in die Höhe, in Hermannstadt über die hohen Mauern des herrschaftlichen Gartens, bei uns durch einen sandigen Weg vermittelt. Oben geht es um eine Monatsarbeit, die in zeitgleichen Handschriften nicht sehr häufig zu finden ist: Dicht wie Rohr stehen viele fast mannshohe Stöcker; es sind in den Boden

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232 Das scheint für Kalendarien typisch zu sein; als eine seltene Ausnahme bildet Hansen 1984, Abb. 103, aus dem flämischen Münchner Stundenbuch, lm 23638, fol. 5, die Arbeit mit einer Schrotsäge ab.

gerammte Stäbe. Löcher für sie gräbt ein Mann mit dem Spaten; eine Frau kniet am Boden, um weitere einzusetzen; dann befestigt ein Mann Geäst an schon aufrecht stehenden Pfählen. Sie stehen dann viel zu dicht für Wein und sind deshalb vielleicht für Hopfen gedacht, während Bening, der ja nur eine Bordüre pro Monat hat, rechts Weinstöcke auf Abstand stellt. Das feine Geflecht der dürren unbelaubten Natur scheint Bening so fasziniert zu haben, daß er im März unserer beiden Beispiele beim Holzmachen bleibt.

Die Bildphantasie des Davidmeisters ist so reich, daß Motive, die sich eigentlich gegen den Himmel absetzen müßten, in der teppichhaft aufsteigenden Landschaft stehen: Eine Windmühle besetzt in unserer Bordüre die Mitte rechts, vielleicht etwas zu klein; ein stumpfer Kirchturm duckt sich unter einem prachtvoll aufragenden Felsen; hingegen ragt links ein Faß gegen den Himmel, das auf eine sehr hohe mit Sprossen versehene Stange gesteckt und wie ein Taubenschlag wirkt; Hansen meint, es sei „ein primitiver Wachtturm für den Weinbergwächter.“233

„Im Märzen der Bauer die Rößlein anspannt“ sagt das Volkslied. Im XV. Jahrhundert vollzieht sich der Wandel vom Ochsen- zum Pferdegespann, auch wenn die Ochsen aus Berrys Très Riches Heures noch hundert Jahre zu spät im Breviarium Grimani wiederkehren. Zwei Pferde ziehen den Pflug, wo in Hermannstadt nur ein Pferdejunge im Damensitz auf einem Ackergaul sitzt. Bildparallel verlaufen die Furchen unten, brechen dann um 90 Grad in die Bildtiefe um. Dort treibt der Treiber die Tiere mit einer Peitsche an, die Richtung zu wechseln – doch eigentlich ist die ganze Arbeit schon getan, weil die Furchen ja angelegt sind. Im Vergleich wird deutlich, daß der Pflugbaum bei uns doppelt so lang ist, bei grundsätzlich gleicher Bauweise des Sohlenpflugs mit Sterz und spitzen Pflugeisen, dem Räderpaar und dem Schwengel, an dem die Stricke für die Pferde befestigt sind. Links hinter dem Pflüger, der sich mit seinem Körpergewicht schwer gegen den Pflug stemmt, ist ein anderer Mann beschäftigt, den Flechtzaun instand zu halten, der die Wiesen um das Gehöft links umgibt. Dieses Motiv fehlt in Hermannstadt, wo sich zwischen Scheune und Herrenhaus vorn der noch unbearbeitete Acker als Brache breitet.

Eine schräg verlaufende Gracht in der Außenbordüre trennt den Acker von der Leinenbleiche im Mittelgrund. Ein Mann schöpft mit einem speziellen Gerät Wasser, um die acht Stoffbahnen auf der anschließenden Wiese zu besprengen. Weiter oben bricht die Richtung ähnlich wie beim Acker unten noch einmal um. Hinter weiteren Leinenbahnen kniet eine Frau am Boden und walkt zusammengestauchtes Tuch mit kräftigen Schlägen ihres Klopfholzes, aufmerksam von einem Hund aus einer Hundehütte beobachtet. Auch in Hermannstadt geht es im Hintergrund um die Bleiche; hier wird auch etwas zu Essen gebracht.

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233 Hansen 1984, S. 224.

Ein gerader Wasserlauf, der in leichter Schräge nach rechts führt, trennt den ländlichen Vordergrund von Bäumen und stattlichen Häusern. Über ihnen ragt rechts, neben dem buckligen Berg, der das Schriftfeld überfaßt, eine Kirche in den Himmel; man sieht sie vom Chor mit ihren gotischen Maßwerkfenster her und ist beeindruckt von dem mächtigen Vierungsturm, der in den romanisch anmutenden Formen der Scheldegotik errichtet ist, zweistöckig aus dem Dach aufsteigt und auf dem Niveau, wo ein schlankeres drittes Geschoß ansetzt, mit vier stumpfen Ecktürmchen oder Söllern besetzt ist. Man könnte an den berühmten Vierungsturm der Nikolaus-Kirche in Gent denken, der jedoch viel stattlicher ist; motivisch verwandt sind der dortige Belfried, noch mehr aber der plumpe Westturm von Sankt Salvator in Brügge. Im Vergleich mit der ganz auf den ländlichen Bereich beschränkten Version in Hermannstadt, die hinten nur ein entsprechend stolzes Herrenhaus zeigt, wird deutlich: In unserem Zyklus finden sich ständig Übergänge zwischen Land und Stadt, als sei das zeitgenössische Leben gar nicht immer durch Stadtmauern und Stadttore geordnet gewesen.

Die folgende Bildbordüre, zur zweiten Märzhälfte, wirkt, als solle diese Sicht korrigiert werden: Schauplatz ist hier ein Stadttor mit dem Gelände vor der Stadt links und dem Häusermeer rechts; zugleich geht der Maler darauf ein, warum es Stadtmauern gab; damit wird die ungewöhnliche Themenbreite dieses Kalenders offenbar: Frühling ist auch die Zeit, in der man wieder auf Kriegszug geht. Hauptmotiv unserer Bordüre ist eine sonderbare Begegnung, die gerade zwischen einem Reiter in voller Rüstung und einer Frau vom Lande stattgefunden hat: Der Reiter hat eine Ziehbrücke nach links überquert, die nun eine Frau vom Lande betritt, um einen Korb mit Eiern und drei Hühner durch das offene Tor in die Stadt zu bringen. Diese Frau mit Waren vom Land wird in der ersten Aprilhälfte in Hermannstadt im Mittelgrund und dort noch einmal in der zweiten Dezemberhälfte auftauchen. Über den Dächern erhebt sich ein ähnlicher Turm, wie er eben die Landschaft beherrschte.

Der Reiter strebt ins freie Feld; dort ist ein Feldlager aufgeschlagen; ein einfach gekleideter Mann ist dort dabei, Reisig und Erde zu einer Art Wall vor zwei Männern in schwerer Rüstung aufzuschichten – entsprechend arbeiten in Hermannstadt sogar ein Mann und eine Frau; dem Zeltlager gilt die gleiche Aufmerksamkeit; die Stadt mit einem ähnlichen Turm rückt aber weit in den Hintergrund.

Im April dürfen die Herden endlich wieder ins Freie: Zwei Hirten geleiten vorn ihre Schafherde; einer geht voran mit einer Brosche am blauen Hut und einer langen Pfeife im Mund; ein dritter Hirte hütet seine Tiere im Landschaftsraum weiter zurückgesetzt. Über einer Wasserburg erhebt sich ein runder Felsenberg rechts. Bening beweist in der Panoramabordüre von Nr. 7 noch stärker als in den vorhergehenden Monaten, wie gut er Raum und Horizont begriffen hat; denn mit dem Horizont fast auf der Mitte der Vertikalen vereinfacht er die Bildstruktur.

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Bei der zweiten Darstellung zum April gehen die Kalenderzyklen thematisch getrennte Wege: Während in Hermannstadt analog zu den Schafen nun auch d ie Rinder auf die Weide gelassen werden, kommt bei uns ein seltenes Motiv ins Spiel: Die Rinder, übrigens beide Male natürlich im Sternzeichen des Stiers haben sich über die umzäunte Wiese verteilt; eine Frau melkt eine Kuh – das ist in Benings kleinem Kalenderbild (Nr. 6) einziges Thema. Vorn links aber blickt man in ein Stallgebäude; dort stampft eine Frau Butter in einem Fass unter einem Bord voller weißer Teller. Zu ihr kommt ein Pilgerpaar, das Nahrung erbetteln will; der Mann schreitet voran, den Hut und den Stab in der Rechten, mit der Linken aber einen irdenen Napf vorstreckend, während ihm erschöpft eine Frau folgt, deren Kleid über dem vorgewölbten Leib weit geöffnet ist, als solle eine Schwangerschaft angedeutet werden.

Die Landschaft gewinnt an Tiefe. Immer noch werden die einzelnen Elemente in Schrägen gezeigt, die keine geschlossene Perspektive schaffen; doch ergibt sich nun eine sinnvolle Folge von räumlichen Bezügen aus Haus, Feld und Weg mit Bäumen. Dann wird ein breiter Fluß waagerecht hinter der 4. Schriftzeile geführt; über ihm erhebt sich eine Stadt, wie sie mit dem an Sankt Salvator in Brügge gemahnenden Kirchturm in Hermannstadt im zweiten Märzbild zu sehen war; die steinigen Berge darüber bleiben zwar rundlich konturiert, erreichen aber erst rechts hinten das Blau der Ferne, während im Vergleichsbild eine Windmühle den Ausblick bestimmt.

Im Mai, der traditionell den vornehmen jungen Leuten und der Liebe gewidmet ist, sind die Grenzen zwischen Stadt und Land wieder fließend; sicher entspricht das auch einer gesellschaftlichen Realität; denn angesichts der Tendenz, Landbesitz und Adelstitel zu erwerben, unterschieden sich die großen Familien der Patrizier kaum noch vom Landadel. Charakteristisch dafür sind große Persönlichkeiten wie Lodewijk van Gruuthuse, Herr von Brügge, aus einer Brauerfamilie, die schon im XIII . Jahrhundert bedeutend war, der in seinen prachtvollen Stadtpalais in Brügge und Den Haag den englischen König Edward IV. aufnehmen konnte. Die beiden Bildbordüren zum Mai sind prinzipiell auf Land und Stadt eingerichtet; zum ersten Mal wird nun bei der Übernahme aus dem Vorlagenschatz Rücksicht auf die gegensätzliche Position von Recto und Verso in den beiden Handschriften genommen.

Aus der Welt des Landadels stammt das beliebte Motiv, mit dem in unserer Handschrift die erste Mai-Bordüre eröffnet: Da wird ein Liebespaar von einem Steuermann links und einem Ruderer rechts durch die voll ergrünte freie Landschaft gefahren; wie bei Bening in Nr. 7 kommen die jungen Leute ohne Zelt aus. Die Frau spielt die Fidel, der Mann die Laute, während in der zu einer mächtigen Burg aufgetürmten Landschaft rechts zwei Paare junger Männer auf Jagd gehen. Ganz anders konzipiert ist die entsprechende Seite in Hermannstadt: Da wird ein Unterschied zwischen Knechten und Herren deutlich; denn ein Jüngling mit zwei Hunden rennt unten vor einer Hausfassade; ein schwer bepackter Mann, der uns den Rücken

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zudreht, schultert einen Korb und trägt eine große blaue Glasflasche in der rechten Hand. Beide werden auf einem viel zu schmalen Steg ein Gewässer überqueren, um in die Tiefe zu gelangen, wo zwei vornehme Paare gemeinsam ausreiten, in Wälder unter einem hohen Felsenberg. Jagdgehilfe und Proviantträger folgen also zu Fuß der Herrschaft, die zu Pferd den Dienern bereits weit voraus ist.

Das Boot als Motiv zur Eröffnung des Maienvergnügens ist in Hermannstadt nicht vergessen; es wird aber in die städtische Welt eingebettet: Sie steht jeweils auf Verso, in Hermannstadt also auf der ersten, bei uns der zweiten Seite dieses Monats; dort ist links breiter Raum für eine schräg nach vorn reichende Gracht, in die sich nur in Hermannstadt das Boot zwängt; darin sitzt statt des Steuermanns ein Narr mit Maiengrün; er wendet sich zu einem jungen Paar, das durch ein kleines blaues Zelt vom Bootsmann getrennt ist; das Mädchen singt, mit einem Liederblatt auf dem Schoß; der Schiffer steht wie auf einem Stocherkahn oder einer Gondel – also ebenfalls dem städtischen Leben angemessen.

Das nach rechts verschobene Textfeld verdeckt in Hermannstadt ein einzelnes großes Haus, dessen Dach bis zum rechten Bildrand reicht; davor schiebt sich rechts ein zweites Haus mit einem Mädchen im Fenster. Bei uns aber taucht die in Hermannstadt ganz verdeckte Fassade mit dem Giebel links neben dem Textfeld auf, während rechts zwei Dächer so übereinander gestaffelt sind, als schaue das Mädchen aus einem niedrigeren Gebäude. Links hinter der Gracht ragt in Hermannstadt ein Turm gegen den Himmel, wie er bei uns das erste Märzbild bestimmte, bei uns hingegen wird die Stadt wieder zum Land geöffnet; denn dort türmt sich nun ein Hügel, von einer Windmühle bekrönt.

Die Handlung im Vordergrund wandelt sich: Zu Pferde kommt bei uns von links ein munteres Liebespaar mit einem Maienzweig, während rechts drei Musiker zu Laute, Flöte und Harfe ein Ständchen zu singen; sie sollen die Werbung eines vornehmen in Grün gekleideten Jünglings unterstützen, der ebenfalls mit einem Zweig unter dem Fenster steht, aus dem das Mädchen schaut. Im Vergleichsbild aber ist die Musik auf Laute und Harfe beschränkt; der Werber kommt auf einem Schimmel angeritten, hält sein Roß an und blickt zum Mädchen auf. Nicht er selbst, sondern ein Freund oder Diener bringt das Maiengrün.

Das Blatt mit dem Juni fehlt bei uns. Die Doppelseite für diesen Monat steht in Hermannstadt wie auch bei Simon Bening in Nrn. 6 und 7 ganz im Zeichen der Schafschur: Mit der Thematik war der Maler bereits vertraut; sie war aus Berrys Très Riches Heures bekannt: Juni war bei Barthélemy d’Eyck Heumonat, Juli bei den Limburgs die Zeit für Kornmahd und Schafschur. Die Monatsbilder sind im Breviarium Grimani jedoch wie beim Davidmeister vertauscht.

In unserem Durrieu-Stundenbuch wie auch in Hermannstadt geht es im Juli somit ums Heumachen. Anders als bei Bening zäunen Gatter die Wiese ab. Bei uns tauchen

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Scheune und Bauernhaus links neben dem Schriftfeld auf. Eine Frau ist dabei, mit einer großen Harke kleine Heuhaufen in einer perspektivischen Folge zu schaffen, während ein Mann mit der Sense zu Gange ist und zunächst ebenfalls perspektivisch bemerkenswerte Lagen abgeschnittenen Grases am Boden zurückläßt. Diese Arbeit, die in Hermannstadt zwei Männer verrichten, wird wie in vielen kleinen Kalenderbildern im Bas-de-Page oder in Medaillons durch die beiden Figuren gleichsam nur vertreten.

Viel interessanter für den Maler ist in beiden Handschriften die Rast der Landleute, bei der Brot und Speise auf einem weißen Tuch angeboten werden und – in unserem Beispiel – vielleicht dieselbe Frau wie im Vordergrund und zwei Männer speisen und trinken. Das geschieht bei uns unter Bäumen rechts und läßt an eine verblüffende Parallele denken: Ein Gemälde von Pieter Bruegel dem Älteren aus dem Zyklus der Jahreszeiten, jedoch nicht die Heuernte der Lobkowitz in Prag, sondern die Kornernte des Metropolitan Museums in New York; denn dort wird das Picknick unter einem Baum rechts neben der Arbeit geschildert.

Das Heu muß danach in Häuser, die ganz städtisch wirken, gebracht werden; dazu ist ein Wagen mit Pferdegespann nötig; in unserem Beispiel bringt man das noch recht frische, grüne Heu in die Stadt. Der Wagen ist durch das Tor rechts auf einen gepflasterten Platz gefahren. Statt konkreter Arbeitsabläufe werden zwei Stationen der Heulieferung angedeutet: Schon bevor der hoch bepackte Heuwagen durch das Tor gekommen ist, war ein anderer bereits abgeladen worden; denn auf dem Platz liegt bereits ein großer Haufen Heu, von dem einzelne Ballen unter das Dach eines Hauses geschafft werden. Dieses Grundmotiv hat auch in der ganz anders komponierten Bordüre in Hermannstadt Bestand.

Wie in Bruegels Prager Heuernte wird bei uns Obsternte einbezogen; denn eine Frau vom Land ist hinter dem Heuwagen durch das Stadttor gekommen, um auf dem Kopf einen flachen Korb, wohl mit roten Johannisbeeren, hereinzubringen. In Hermannstadt hingegen steht das Haus mit dem Heuboden direkt hinter der Wiese, nur von einem Bach davon getrennt; und man weiß nicht so recht, wie der breite Heuwagen, der vorn beladen wird, über den hölzernen Steg das Wässerchen überqueren kann.

Im August, mit Kornmahd beim Davidmeister wie bei Simon Bening, flankiert bei uns ein herrschaftliches Gehöft mit blankgefegtem Grund das Schriftfeld; daneben ducken sich kleinere Häuser rechts. Sehr niedrig ist diesmal der Zaun, der ebenso wie der Wiesenrain hinten bildparallel verläuft. Vorder- und Mittelgrund machen Kornfelder aus; darüber erheben sich bewaldete Hügel, zwischen denen rechts oben die Doppeltürme einer stattlichen Befestigung auftauchen. In Hermannstadt interessiert die Architektur weit weniger; dadurch steigt die Landschaft teppichartig und amorph an, während in unserem Beispiel der Raum sehr viel überzeugender

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und fortschrittlicher wirkt, weil sich der Sinn für Ordnung stärker ausprägt: So folgen bildparallel begrenzte Flächen aus erstem Kornfeld und Dorf sowie zweitem Kornfeld und Wäldchen; zwischen denen steht eine stolze Toranlage mit Türmen statt der in Hermannstadt nur angedeuteten Steinhäuser. Die Arbeit ist in beiden Monatsbildern ähnlich auf Mann und Frau verteilt; bei uns aber hat einer der Schnitter die Arbeit unterbrochen, um einen kräftigen Schluck aus einer tönernen Kanne zu nehmen; er ist die eigentliche Hauptfigur der Komposition unter der rechten Ecke des Schriftfeldes.

Ein Mann, der gerade ausruht, dominiert bei uns auch die zweite Bildseite zum August: Er steht links und eröffnet die breite Außenbordüre ebenso wie den unteren Randstreifen. Es geht ums Dreschen, das in der ersten Dezemberhälfte noch einmal zum Thema wird: Korngarben sind zu einer Art Kegel unten angehäuft – nicht wie gewohnt in einer Scheune, sondern in offenbar ruhigem warmen Wetter einfach auf dem Feld. Ein Pferdegespann wird von einem zweiten Landmann geführt, damit es das Korn lostritt. Ein dritter Arbeiter, etwas zu stark verkleinert, erscheint im Mittelgrund und wirft mit einer Schaufel das lockere Getreide in die Höhe, um so die Spreu vom Weizen zu trennen. Seitenverkehrt sieht das in Hermannstadt ähnlich aus; dort liegen die Ähren platter auf dem Boden, sind stärker von oben gesehen, so daß unserer Version durch den Blick von der Seite künstlerisch Vorrang gebührt.

Das Nebeneinander von Verso und Recto mag in Hermannstadt angeregt haben, im September das Pflügen und Säen auf beiden Bildseiten in gleicher Weise auszubreiten, während sich derselbe Maler, nachdem er in unserem Manuskript die entsprechende Komposition auf Recto nutzte, für das Verso etwas ganz Neues einfallen ließ.

Für die Bordüre zur ersten Monatshälfte gilt erneut, daß die Bildflächen bei uns klarer gegliedert sind: Den unteren Bildstreifen nimmt der nur zur Hälfte frisch gepflügte Acker ein, der an ein schräg ins Bild ragendes Wiesenstück grenzt; ein stattlicher Gutshof wird links im schmalen Randstreifen sichtbar, während rechts hinter einem Wiesenweg und einem schräg verlaufenden Zaun der ungepflügt wirkende Boden weitergeht; doch auch dort schreitet ein Sämann mit voller Schürze einher. Hinter ihm tauchen eine Mühle und der Mühlbach mit weiteren Häusern auf, ehe Wald, darüber buckliges Gelände und schließlich im Blau der Ferne Türme einer Burg aufragen.

Die Hauptfiguren im unteren Bordürenstreifen treten in Hermannstadt seitenverkehrt auf und zeigen auf überraschende Weise, woher der Bildgedanke stammt: Der volle Sack mit dem Saatgut vorn links, der nach rechts gewendete Sämann und in einer Bildebene dahinter der Reiter mit dem Ackergaul, der die Egge nach links zieht, erweisen sich als freie Varianten des berühmten Oktoberbilds in den Très Riches Heures, von dem aus Barthélemy d’Eyck als Oktober-Meister bestimmt

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wurde. 234 Diese Beobachtung ist von besonderem Wert; denn als unser Maler für das Breviarium Grimani seine Davidbilder schuf, hatte er somit offenbar Zugang zu den wichtigsten dort von anderen Künstlern verarbeiteten Quellen. Im DurrieuStundenbuch sind die Gestalten gegenüber dem Oktoberbild der Très Riches Heures umgestellt: Der Sämann mit seiner Schürze schreitet dem Mann entgegen, der beim Eggen zu Fuß sein Pferd nach links führt, und der Sack mit dem Saatgut ist bei uns in die Mitte gerückt.

In Hermannstadt verdeckt das Textfeld weitgehend eine Schenke mit Ladenschild, auf die Mühle ist verzichtet; das Feld ragt bis zu einem geöffneten Gattertor vier Zeilen hoch neben dem Text auf. Die Furchen, die bei uns bildparallel verlaufen, fluchten nach rechts hinten; dem entspricht auf der Recto-Seite gegenüber eine perspektivische Flucht nach links, ohne daß aus dem Zusammenspiel von links und rechts eine überzeugende Gesamtwirkung entstünde. In der Bordüre zur zweiten Monatshälfte ist ein Pflug, wie er in unserer Bordüre zur ersten Märzhälfte vorkam, einfach auf dem Feld abgestellt. Als Hauptmotiv des Bildes sitzen unten zwei Männer auf der Egge und nehmen ihre Brotzeit; dafür ist eine Frau hinzugekommen, um ihnen ihr Essen zu bringen. Derweil ist im Mittelgrund, hinter einem losgespannten Pferd, das sich etwas zu fressen sucht, ein weiterer Landmann noch mit dem Pflügen beschäftigt, diesmal mit dem kürzeren Pflug, den wir im März in Hermannstadt gefunden hatten. In unseren beiden Bening-Kalendern werden die zwei Motive aus dem Arbeitsablauf im September getrennt: Das kleinere Bild, in Nr. 6, begnügt sich mit dem Sämann, das größere, in Nr. 7, zeigt den Pflüger mit seinem Pferdegespann.

Die Bordüre zur zweiten Septemberhälfte ist bei uns raffinierter komponiert: Von rechts vorn hat ein junger Falkner die Bildbühne betreten, vor einem Backsteinhaus. Nun ist er im Begriff, nach links eine steinerne Brücke zu überschreiten hin zum Feld, das schräg nach rechts verläuft und noch geeggt werden muß. Ein Sämann ist nicht zu sehen, wohl aber ein Vogelfänger im Mittelgrund, der zwei Vogelbauer auf die kahlen Felder gestellt hat. Wunderbar eingepaßt in den oberen Teil der Außenbordüre ist ein Blick auf eine befestigte Stadt oder doch eher ein Kloster mit großer einschiffiger Kirche, über der triumphierend eine stolze Burg gegen den Himmel steht.

Feldarbeit und Weinernte sind in flämischen und französischen Kalendern nicht kanonisch auf einen Monat festgelegt: Nachdem in den Très Riches Heures die Weinlese im September der Aussaat im Oktober vorausging, wird hier wie in Hermannstadt der Oktober zur Zeit für Weinlese und Keltern und zwar jeweils in zwei deutlich unterschiedenen Stationen: In der ersten Monatshälfte blickt der Maler auf Weinberge vor Häusern und Stadt, um uns dann in Hermannstadt vor eine

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234 Bellosi 1975; König 1996, S. 78 und passim.

Häuserzeile in einen Ort hineinzuführen, bei uns hingegen in ein sehr stattliches Weingut, wie es in kaum einem anderen Kalender jener Zeit zu sehen ist.

Hübsch prangen die blauen Trauben in unserem ersten Oktoberbild zwischen dem saftigen Grün, eine Frau pflückt die Reben mit einem Messer, hat gerade die erste der zwei Bütten gefüllt, während ein Mann einem Träger die dritte Bütte auf die Schulter lädt. Ein Esel trottet schon voran zum Weingut, das vielleicht in klösterlicher Regie betrieben wird, weil Kirchturm und Kirche dahinter aufragen. Um ein sonst meist unverzichtbares Motiv wenigstens noch anzudeuten, zeigt der Maler in unserem Monatsbild, nicht aber in Hermannstadt, im Mittelgrund einen Hirten, der Eicheln für seine Schweine von den Bäumen schlägt.

In Hermannstadt sind mehr Leute mit der Weinlese beschäftigt. Der Blick führt über das traditionell sehr dichte Laubwerk vorn zum Weinberg im Hintergrund, in dem die Weinstöcke in geradezu moderner Anmutung sauber gereiht sind, in gelungener Perspektive. Fortschrittliche Weinproduktion wird auch bei uns zum Thema, nun aber im zweiten Oktoberbild: Während in Hermannstadt die gewohnte bescheidene Scheune vorn genügt, zu der die Bütten gebracht werden, schildert der Maler im Durrieu-Stundenbuch eindrucksvoll eine viel ertragreichere Wirtschaft. Hinter das Textfeld spannt er die Mauer eines Gehöfts mit hohen Aufbauten; seine Betrachter führt er ins Innere, breitet in gut gemeisterter Perspektive saubere Steinplatten aus, auf denen der große Bottich für die Kelter und viele Fässer für den Traubensaft ordentlich abgestellt sind. Während von links hinten eine Bütte aus der frischen Lese hereingebracht wird, prüft ein vornehmer Herr vorn die Qualität, neben dem ein Knecht Saft in ein Faß füllt. Fortschrittlich ist auch die überzeugende Perspektive, zu der ganz entschieden der Einsatz von Licht und Schatten beiträgt.

Beide Bordüren zum November und daran anschließend auch noch die Bilder zur zweiten Hälfte Dezember sind in unserem Manuskript wie in Hermannstadt dem Schlachten von Rind und Schwein gewidmet, während Bening in Nr. 7 zwei unterschiedliche Arten von Schlachten trente, auf Oktober und Dezember verteilt. Zwischen diese Szenen schiebt sich bei uns – zu durchaus ungewohntem Zeitpunkt – das Dreschen der Korngarben und das Kornsieben, während in Hermannstadt zum November Rinder- und Schweineschlachten gegenübergestellt sind, aber nach dem Dreschen in der zweiten Hälfte des Dezembers schlicht Warenlieferung in der Stadt gezeigt wird.

Eher Stadt als Dorf ist der Schauplatz in der ersten Bordüre zum November: Auf dem Markt rechts oben stehen Rinder, die offenbar verkauft werden sollen. Im Mittelgrund wird ein schwarzes Tier von einem Burschen geführt, wohl für ein vornehmes Paar von Käufern, die nun hinterhertrotten. Sie gehen in Richtung des Schlachthauses links vorn, aus dem eine Frau heraustritt. Sie schaut zu, wie ein Rind von einem Mann gehalten und vom Metzger mit hoch erhobener Axt

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gekeult wird. In Hermannstadt fehlt das Motiv des Rindermarkts hinten; doch seitenverkehrt entspricht die Bordüre mit dem schwarzen Rind, das nun von nur zwei Burschen getrieben wird, und den drei Leuten vor dem Schlachthaus unserer Komposition.

In der zweiten Novemberhälfte wird Fleischmarkt in einer Stadt gezeigt. Vorn sind Tische aufgestellt, auf denen das frische rosige Fleisch von einem Mann und drei Frauen präsentiert wird, während ein Metzger hinter ihnen noch mit einem großen Messer hantiert und eine Frau im Inneren des Hauses Kerzen zieht. Kunden sind herangetreten, besonders eindrucksvoll eine vornehme Frau vorn mit ihrem halbwüchsigen Sohn oder Diener. Ware nicht näher spezifizierter Art kommt auf einem Kahn über eine Gracht in die Stadt.

In Hermannstadt ist für diese sensationelle Darstellung des Fleischmarkts nicht genügend Platz; denn dort drängt sich vorn noch die traditionelle Darstellung vom Schweineschlachten in die untere Bordüre: Eine Frau kniet mit einer Kasserolle, ein Mann schlitzt dem Tier die Kehle, ein Gehilfe kommt hinzu und drei Schaulustige verharren. Der Fleischmarkt rechts kommt ohne die rosige Farbe aus, die in unserer Darstellung so auffällt; doch brilliert der Maler in diesem Monatsbild mit einer köstlich gestalteten Figur, einer Kundin in Blau und Schwarz, die im Mittelgrund an die Marktstände herangetreten ist.

Durchaus ungewohnt ist eine inhaltliche Wiederholung zur ersten Hälfte des Dezembers: Nachdem der ganze August der Kornwirtschaft gewidmet war, wird jetzt erst von Knechten das Korn gedroschen.

Erneut ist unsere Version durch ihren modernen Blick jener in Hermannstadt überlegen: Wie bei der Weinkelter zur zweiten Oktoberhälfte zeigt der Maler das Geschehen aus dem Inneren eines Gehöfts heraus: Da sind Garben gestapelt; Männer lassen ihre Dreschflegel darauf niedersausen; ein dritter trennt mit einer großen Schütte die Spreu vom Korn. Derweil ist der Herr rechts durch die Tür getreten, um zu schauen, ob alles seine Ordnung hat. Unser Blick schweift rechts über einen großen Platz zu Gewässer, eher Meer als Fluß: Vor hoch aufgetürmten Felseninseln blähen sich die Segel eines stolzen Schiffs.

In Hermannstadt bleibt es bei der Sicht auf Häuser, deren Wände teilweise weggelassen sind, um Einblicke ins Innere zu gewähren. In derselben Handschrift schließt sich im Dezember ein letztes Monatsbild mit Warenlieferung in die Stadt an: Auf einem Kahn wird Holz herangeschifft, das dann mit einer Art Schlitten –noch liegt kein Schnee – zu den Häusern gebracht werden muß. Wie im April ist eine Bäuerin zum Tor hereingekommen mit breiten Körben. Unverbunden damit taucht auf dem Stadtplatz vor dem Tor ein vornehmer Reiter auf.

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Dem steht in unserem Kalender noch einmal ein ungewohnt inhaltsreich konzipiertes Monatsbild entgegen, das in drei Stationen das Schweinschlachten schildert: Vorn wird ein Schwein geschlitzt; eine Frau mit Kasserolle fängt das Blut auf; im Mittelgrund werden einem zweiten Schwein die Borsten abgesengt; ein drittes aber ist rechts vorn schon ausgeweidet an einer Leiter aufgehängt. Dieses Motiv wirkt wie eine frühe Vorform jener Gemälde aus der Schlachterei, die in Rembrandts Ochsen von 1655, der lange Zeit im Pariser Louvre als ein Skandalbild aus alter Zeit galt, ihren irritierenden Höhepunkt finden sollte. 235

Ganz fremd in all diesen Zusammenhängen ist eine kleine Szene, die sich zwischen das Töten und das Abbrennen rechts schiebt: Ohne irgend auf das Schlachten zu achten, hält dort eine Kleinfamilie an: Tochter und Mutter schauen zu, wie der Vater einen Kreisel zum Drehen bringt. Spätestens an dieser Stelle wird klar, wie stark in der flämischen Buchmalerei noch um 1500 die französischen Kalenderbilder des Meisters von Poitiers 30 fortleben; denn nur er widmet in seinen beiden Handschriften in Chantilly und Lissabon dem Spiel so viel Aufmerksamkeit.

Der Kalender im Stundenbuch für Orsa Pesaro – Nr. 9

Die herausragende Qualität und Bedeutung der Panoramen in den beiden bisher verglichenen Monatsbildern bestätigt sich noch einmal beim Blick auf ein besonders kleines Stundenbuch, dessen Buchblock vom Meister der Davidsszenen des Breviarium Grimani mit ungemein beeindruckenden Miniaturen ausgestattet wurde. Doch wie so oft wurde der Kalender einem Mitarbeiter überlassen, dessen kurzwüchsigen, trotzdem sehr behende wirkenden Figuren die erstaunliche Eleganz der vom Meister gemalten Gestalten ebenso fehlt wie die magistrale Beherrschung der Perspektive.

Der Band, unsere Nr. 9, war für Orsa Pesaro aus Genua bestimmt, gehört also zu jenen kostbaren Werken, die in Flandern für bedeutende Auftraggeber aus Italien geschaffen wurden. Textlich ist darauf keine Rücksicht genommen worden, nicht einmal in den Eintragungen des Kalenders. Die Monate sind wie in unserer von Simon Bening illuminierten Nr. 7 jeweils zweispaltig auf einer Buchseite geschrieben.

Die Bordüren sind ähnlich angelegt wie im Londoner Stundenbuch der Johanna von Kastilien. 236 Einige Figuren, ja sogar markante Landschaftsmotive wie die Felsenburg im Mai wird man wiedererkennen; denn beide Kalender sind vielleicht von ein und demselben Maler ausgemalt. Doch sind die Monate dort auf zwei Buchseiten

235 Ein derartig aufgehängtes Schwein findet sich auch in der Bordüre zur 1. Septemberhälfte im Ms. Gough Liturg.  7 der Oxforder Bodleian Library, siehe Henisch 1999, Fig. 6–5, S. 144.

236 L ondon, British Library, Add. Ms. 18552: Zu diesem in der Literatur allgegenwärtigen Manuskript, das zu den großartigsten Beispielen von Stundenbüchern mit Einzelmotiven in den Textbordüren gehört, siehe: As-Vijvers 2013, passim.

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verteilt; deshalb wirken die einzelnen Monatsbilder in den Bordüren für Orsa Pesaro wie Resümees der 24 Randbilder in London.

Trotz der Beschränkung auf nur zwölf Seiten mit Text und Bild, beginnt die Kalenderlage mit einem leeren Recto; der Januar steht auf dem ersten Verso dem Februar gegenüber, und bis zum Paar von November und Dezember antworten in den Bordüren durchweg die Bildpanoramen zweier Monate einander: Beim Gastmahl des vornehmen Herrn zum Januar werden wie bei Bening und dem Davidmeister Interieur und Außenansicht des Hauses kombiniert, jedoch mit markanten gestalterischen Abstrichen: Die nun mit einem Zinnenkranz bekrönte Fassade rückt so weit nach oben, daß nur noch das rote Ziegeldach unter dem Himmel mit dem Tierkreiszeichen des Wassermanns gezeigt werden kann. Offenbar sollte vom Innenraum mehr als gewohnt zu sehen sein; denn der Blick in das Zimmer mit seinen sehr kurzen Seitenwänden, in die links ein Fenster und rechts eine Tür gebrochen sind, führt hinauf bis zur quergestellten Holztonne. In der Mitte und rechts stehen am vorderen Bildrand zwei Säulen, die hinter dem Schriftfeld verschwinden. Fußleisten bilden nach rechts eine Art Raumecke, die nicht recht zum Gesamtraum paßt.

Bei umgekehrter Bewegungsrichtung steht der Kamin links. Zu ihm gewendet sitzt unter zwei hohen Gefachen mit Zinngeschirr237 der Herr und dreht sich um, als wolle er sich der zweiten Person widmen, die nun tatsächlich am Tisch Platz genommen hat. Der Hauptgang mit einer großen Fleischplatte ist bereits serviert; denn der jüngere Gast, ein Mann mit roter Kappe, hat seine Gabel gerade zum Munde geführt. Derweil kommt von rechts ein Diener mit einer zweiten Platte und einem großen Zinnkrug; in Bedeutungsperspektive ist er ebenso wie der Gast deutlich kleiner als der Gastgeber.

Wo sonst die roten Tücher des Betts das meist als Raumeckmotiv gestaltete Interieur nach hinten abschließen, ist hier in erstaunlicher Weise der Blick nach außen geöffnet; er führt zu einer saftigen Wiese, die gar nicht zur Jahreszeit paßt. Dorthin strebt ein lebhafter kleiner Hund, sicher das glücklichste Element in dieser Bordüre; er stammt aus dem Vorrat der sogenannten Einzelmotive im Randschmuck flämischer Handschriften, dessen Konzeption Ann-Margreet As-Vijvers 2013 dem Meister der Davidsszenen zuschreiben wollte.

Da Buchmaler die Bordürenpaare nicht so vor Augen hatten, wie sie sich erst ergaben, wenn die Doppelblätter zu Lagen gebunden waren, wird man die Konzeption der Bordüre zum Februar nicht als bewußten künstlerischen Kontrast verstehen dürfen: Vor teppichhafter Kulisse aus Hügeln mit dichten Gruppen kahler Bäume grenzt ein bildparalleler Zaun unten den Vordergrund ab. Dort machen zwei

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237 Entfernt erinnert das an die Étagèren, die vom Januar der Limburgs bis zum Breviarium Grimani Bestand hatten.

Männer in kräftigem Rot und Blau Holz, während ein dritter rechts, leicht nach hinten versetzt, ein Bündel nach Hause trägt. Bildparallele Elemente wie die dürren Bäume zu Seiten des Schriftfelds und über der Hügelkulisse, stehen in Konflikt mit Schrägen: Baumstümpfe sind links so aneinandergereiht, daß dort die Perspektive zum Bildrand hin ansteigt, während auf der anderen Seite ein Steinhaus hinter dem Schriftfeld auftaucht und nach rechts auf ein Tor hin in die Tiefe führt.

Gartenarbeit unterschiedlicher Art wird im März verrichtet: Vorn haben drei Männer mit Spaten und Schubkarren begonnen, Erde auszuheben und wegzukarren. Hinter einem Zaun liegt der eigentliche Garten mit den charakteristischen rechteckigen Beeten; dort kniet eine Magd mit einer nicht näher erkennbaren Aufgabe. Bildparallel erhebt sich eine Backsteinmauer, die links den Blick auf einen steinernen Palas mit romanischen Rundbögen und einen runden Backsteinturm erlauben, rechts hingegen mit ihrem Zinnenkranz hoch aufragt. Noch sind die Bäume kahl.

Im April bleiben die Büsche im Spalier links noch ganz unbelaubt, während die Bäume im Wald rechts oben voll ausgeschlagen sind. Wie in vielen Kalendern ist schon der April ein Monat für die Liebe, und das wird erstaunlich phantasievoll variiert: Unten bilden in Backstein aufgemauerte Rasenbänke 238 ein Rechteck um einen steinernen Brunnen. Ein vornehmer junger Mann sitzt links vorn, mit dem Rücken zum Betrachter; zu ihm ist ein Mädchen getreten; sie legt ihm eine Hand auf die Schulter. Doch schaut er sie nicht an, sondern blickt zu einem Paar, das von rechts an einem Lautenspieler vorbeigegangen ist, der am Brunnen lehnt.

Im Mittelgrund verläßt der Maler auf ungewohnte Weise das wohlhabende Milieu: Im breiten Bildraum rechts hockt hinter einem recht hohen Weidenzaun ein Hirte, wieder mit dem Rücken zum Betrachter, und spielt auf einer Flöte. Ihm wendet sich ein Mädchen zu, das einen Spinnrocken in der Hand hält; beide hüten wohl gemeinsam die Herde, die hinter ihnen vor einem Gehöft weidet. Aus Baumkronen über den Dächern, die bereits im Blau der Ferne gezeigt werden, taucht ein mächtiges Taubenhaus auf. Links hingegen hockt – weiter als das Hirtenpaar in die Bildtiefe versetzt – ein Mädchen auf einer Wiese. Nachdem bisher jeweils die Frau die Initiative ergriffen hatte, ist diesmal ein Mann, ein Soldat mit einer Lanze, aus der Bildtiefe herangetreten, um das Mädchen vom Lande anzusprechen.

Mit der Liebe wohlhabender junger Leute spielt auch der Mai, der unter dem Sternzeichen der Zwillinge steht, die hier wie so oft als Liebespaar kreativ mißverstanden werden. Statt der horizontalen Gliederung der Panoramen der ersten Monate folgt die Landschaft den Biegungen eines Flusses, der jeweils von den Rändern außen und innen unterbrochen wird und somit fünfmal aufscheint, wobei im schmaleren Randstreifen rechts die Landschaftsperspektive etwas zu kühn nach oben springt.

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238 Ein einzigartiges Beispiel für die Errichtung solcher Rasenbänke, nun jedoch mit Holzplanken, findet sich in Petrus de Crescentiis, Opus ruralium commodorum, Speyer: Peter Drach o. J. (1492 – 1500): Antoine 2002, Nr. 82, Abb. S. 188.

Ein Boot vorn wird von einem Mann, der nach links blickt und vielleicht als Narr zu verstehen ist, gerudert. In seinem Rücken sitzt eine junge Frau und singt von einem Notenblatt. Ihr Gesang regt einen jungen Mann an, eine zweite junge Frau energisch zu umfangen; doch die reagiert auf sein Liebeswerben recht steif. Wie ein Betthimmel wirkt hinter diesem Paar das aus roten Tüchern gebildete Zelt auf dem Boot. Ein zweites Boot ohne Aufbauten folgt in einer weiter zurückgesetzten Biegung des Flusses links; dort singen alle jungen Leute gemeinsam. Vielleicht soll diese Gruppe von der adeligen Jugend weiter vorn unterschieden werden, die wohl zur kühn auf steile Felsen gebauten Burg links hinten gehört.

Im Juni kehrt der Zyklus zu den einfachen Landleuten zurück und rückt zugleich sehr viel näher an die Figuren heran: Während in Hermannstadt und im DurrieuStundenbuch erst der Juli als Heumond begriffen ist, wird hier der Juni mit der Heuernte besetzt, wobei all das dicht nebeneinander gezeigt wird, was auch sonst im Umfeld des Davidmeisters zu diesem Thema gehört: Verköstigung der Arbeiter, ihre Pause, Mähen und Aufsammeln des Heus sowie seine Lagerung.

Im schmalen Randstreifen links, fast in der Mitte der Bordüre tritt eine Frau mit einem großen Korb auf dem Kopf durch ein Holztor herzu. Vor ihr, weiter vorn, stärkt sich ein am Boden sitzender Mann mit einem Trunk. Von ihm führt der Blick zu jenem, der das hohe Gras mäht und zu einem zweiten, der das Heu – wohl mit einer Heugabel –zusammenträgt. Was im Durrieu-Stundenbuch die zweite Julihälfte thematisch allein bestimmt, wird in der breiten Außenbordüre im Mittelgrund geschildert: Dort hat man von einem Wagen, der in diese Bildbordüre nicht mehr gepaßt hat, einen großen Heuhaufen abgeladen; zwei Männer sind dabei, eine erste Ladung an einer Kette auf den Heuboden eines stattlichen Hauses hinaufzuschaffen, wo ein dritter darauf wartet. Recht stattlich wirkt die Architektur des Gutshofs zu beiden Seiten des Schriftfeldes, von Wiesen und Bäumen umgeben.

Im Juli folgt die Kornmahd mit ganz erstaunlicher Staffelung in waagerecht geführte Streifen: Im Vordergrund ist links der Ackerboden sichtbar; dort bindet ein Mann eine Garbe, während eine Frau eine zweite faßt, um sie wegzutragen. Zwei Schnitter tauchen mit Kopf und Schultern hinter dem verblüffend hohen Korn auf, sie sind genauso groß gezeigt wie die Gestalten im Vordergrund. Abrupt setzt die perspektivische Verkleinerung mit einem Flechtzaun ein, der das Feld abgrenzt; dahinter, im Bildfeld eher darüber, wird ein Gehöft gezeigt, hinter dem das Grün des Mittelgrundes horizontal endet, um dem Blick ins Blau der Ferne Raum zu geben. Die Mauer des hohen Korns führt in einer Schräge zur Ecke rechts vorn; ein Schnitter beugt sich mit seiner Sichel, während ein weiterer Mann, vielleicht der Landbesitzer, unter einem Bäumchen auf einem Wiesenstück angehalten hat, um die Arbeit – für uns im verlorenen Profil – zu beaufsichtigen. Im schmalen Randstreifen rechts staffeln sich schräg das Kornfeld, eine Wiese und eine Burg, ehe der Blick ins Blaue einsetzt – sehr viel niedriger als links.

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Land und Stadt sind in Flandern eng verbunden; das fiel bereits in Nr. 8, dem Durrieu-Stundenbuch, auf. So führt der Blick beim Dreschen des Korns im August aus der Scheune unten sofort in eine städtische Straße, in der diesmal die Figurengröße perspektivisch bemüht abnimmt. Die Tenne ist ein stattlicher Steinbau, für uns in voller Breite nach vorn geöffnet. An deren Rückwand sind mannshoch wirkende Garben nebeneinander gestellt. Vorn lassen zwei Männer im aufeinander abgestimmten Rhythmus ihre Dreschflegel auf das ausgebreitete Korn am Boden sausen, während ein dritter die gedroschene Frucht in einer Kornwanne siebt. In merkwürdig widersprüchlichen Tiefenzügen stehen die Gebäude auf der rechten Seite: Die Außenwand der Tenne fluchtet, als liege der Fluchtpunkt ungefähr auf der Grundlinie des Textfeldes; dazu passen jedoch die wiederum nicht aufeinander abgestimmten Richtungen der beiden Straßenseiten darüber keineswegs. Vorn trägt ein Mann einen runden Kornsack aus dem rundbogigen Tor der Tenne; ein zweiter, deutlich weiter entfernt, ist mit entsprechender Last gerade an einem stolzen Haus rechts angelangt. Nachdem in den ersten Monaten auf den Grad der Belaubung geachtet wurde, erstaunt der Umstand, daß links wie rechts die Bäume winterlich dürr sind; doch vielleicht hat man ihr Laub beim Ausmalen einfach vergessen.

Vor einer Hügellandschaft, die auch im September mit kahlen Bäumen besetzt ist, wird dieselbe Art Scheune wie die Tenne für das Dreschen wiederholt. Etwas kleiner und seitenverkehrt steht sie vor einem Weinberg, den Stöcke oder Pfähle nach hinten abgrenzen. Die Handlungsfolge ergibt sich nun aus der Tiefe des Raums: Links im Mittelgrund pflücken ein Mann und eine Frau Wein. Ein zweiter Mann bringt mit seiner Bütte Trauben zum Scheunentor. Vor Fässern, die drinnen an der Rückwand gestapelt sind, wird die Schilderung weitergeführt, als sei in einer rasch fließenden Arbeitsfolge alles fast gleichzeitig zu bewerkstelligen: Die Trauben stampft ein dritter Mann in einem großen runden Bottich; danach wird ihr Saft von einem vierten in ein Faß gefüllt.

Nachdem die Landschaftskomposition im September auf beiden vertikalen Randfeldern wieder zur parallelen Schichtung im Raum gefunden hatte, verstärkt sich diese Tendenz im Oktober noch ganz entschieden: Erneut will der Maler möglichst viel im winzigen Bildraum zusammenfassen: Zum Pflügen und Säen kommt – abweichend vom allgemeinen Brauch, der dieses Motiv dem November vorbehält – das Füttern der Schweine mit den Eicheln hinzu.

Der untere Randstreifen wird durch einen Flechtzaun auf Höhe der zweitletzten Zeile des Schriftfeldes abgegrenzt. Nach links strebt das Pferdegespann aus einem Braunen und einem Rappen; es wird von einem Mann angetrieben, dessen kurze Peitsche keineswegs über den sehr langen Pflug, wie wir ihn im DurrieuStundenbuch, Nr. 8, kennengelernt haben, bis zu den Tieren reicht. Die Tiere und die Räder des Pflugs werden vom unteren Bildrand abgeschnitten, als versänken sie im weichen Erdreich. Im zweiten Register schreitet der Sämann im äußeren Randstreifen

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nach rechts; er überragt einen Flechtzaun, der erneut als Abgrenzung, nun zu Fachwerkhäusern und dem Steinbau eines Gehöfts, dient.

Darüber steigt das Gelände mit Wiesen und nun wieder dicht belaubten Bäumen nach rechts hin an. Im äußeren Randstreifen wird dort gezeigt, wie ein Mann mit einem langen Stab in die Äste schlägt; er wirkt zwar von seiner Aufmachung her wie ein Soldat in Rüstung; doch sicher ist ein Schweinehirt gemeint. Deshalb dürften die undeutlich gemalten Tiere auf der Wiese Schweine sein, die vor dem Schlachten noch einmal mit Eicheln gefüttert werden.

Einer Eigenart der beiden wichtigsten Kalender des Meisters der Davidbilder folgen die Bordüren zu November und Dezember: Beide sind dem Schlachten und dem Fleischmarkt gewidmet: Im November wird im Vordergrund ein Schwein geschlachtet; dazu stehen ein Tisch und ein Bottich aus Holz sowie zwei Strohballen bereit: Das allbekannte Motiv wird wie beim Pflügen im unteren Randstreifen so weit auseinandergezogen, daß der Handlungsablauf zerreißt: Links läßt ein Mann die Sau zur Ader; von rechts kommt eine Frau hinzu, um das Blut in ihrer Kasserolle aufzufangen, ist aber – typisch für unseren Kalender – viel zu weit entfernt.

Die zuweilen in diesem Kalender auftretenden Probleme mit der Perspektive finden ihren Höhepunkt in den darüber aufwachsenden vertikalen Randstreifen: Links blickt man in ein reetgedecktes Haus, in dem das aufgebrochene Schwein hängt, das uns schon in Nr. 8 an Rembrandts Ochsen denken ließ. Die Größenverhältnisse irritieren; denn das Schwein im Vordergrund ist sehr viel kleiner. Unstimmig sind auch die Verhältnisse zwischen dem Mann, der im schmalen Bildfeld rechts, sichtlich frierend, nach links läuft, erstaunlich klein und doch etwa in gleicher Entfernung wie die Metzgerei links. Hinter ihm führt ein stark perspektivisch geführter Blick auf eine einschiffige Kirche und einen runden Turm.

Man könnte meinen, der Fleischmarkt, der hier als Monatsbild den Dezember bezeichnet, sei ein Erkennungsmerkmal für den Davidmeister. Zur Motivik aus dem Durrieu-Kalender kommt im unteren Randstreifen der Blick in die Metzgerei hinzu. Dort wird ein Pökelfaß mit dem Fleisch gefüllt, das ein Mann rechts zurechthackt. Rechts außen muß sich dann der Straßenmarkt in steiler Perspektive zwischen die Häuserfronten einzwängen. Zu den Ständen drängen sich vor allem Frauen.

Es genügt, im Buch nur ein Blatt weiter zu blättern, um bei der Vera Icon vor kostbarem Blau die Hand des Davidmeisters in ganzer Wucht zu erkennen Hier spürt man, wie der Sinn für die Wirklichkeit, die Maler mit ihren Augen wahrnehmen und mit ihren Händen gestalten konnten, in dieser späten Phase der flämischen Buchmalerei gerade im Werk des Davidmeisters triumphiert. Deshalb müssen wir uns a m Ende dieses Buchs über Kalender in flämischen Handschriften vom XIII . bis ins XVI . Jahrhundert doch von der Fokussierung auf die Monatsbilder lösen und bei diesem bisher ganz und gar unbekannten Stundenbuch auf das Ganze eingehen.

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Der ungeheure Zuwachs an Naturkenntnis und die treffsichere Virtuosität, mit der jede denkbare Blume, mancher Schmetterling oder Vogel, auch größere Tiere und groteske Wesen von den Buchmalern erfaßt wurden, regte dazu an, auf jeder einfachen Textseite mit jeweils drei Motiven zu verblüffen. Es war die Zeit, in der sich der Sinn für Stilleben langsam entwickelte; deshalb wurden auch Gegenstände aus dem täglichen Leben in den sonst leeren Rändern des Buchs präsentiert. Das überaus zierliche Format des Bandes bestimmt die Größe; denn alles wird auf ein erstaunlich kleines Maß reduziert, wobei eine einzelne Blüte und ein Vogelkäfig statt in ihren Proportionen in den für den Buchschmuck erforderlichen Maßen auftreten.

Damit erweist sich unser Stundenbuch für Orsa Pesaro als eines der unerschöpflich reichen Werke aus einer markanten Handschriftengruppe, der Anne Margreet W. As-Vijvers 2013, ohne unser Manuskript zu kennen, ein prächtiges Buch gewidmet hat. Die in den Niederlanden tätige Autorin geht darin so weit, im Meister der Davidsszenen den Erfinder solchen Randschmucks mit Einzelmotiven zu sehen. Diese Schlußfolgerung sei dahingestellt, da der Davidmeister, wie das Stundenbuch der Johanna von Kastilien, Add. 18552 in London, beweist, erst hinzukam, als dieser Dekor bereits blühte. Doch mindert das nicht den Verdienst ihrer Forschungen: Noch ein weiteres Manuskript, das uns in diesem Katalog beschäftigt hat, gehört zur selben Gruppe: Das Brukenthal-Stundenbuch in Hermannstadt.

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Von besonderem Reiz in unserem Fall ist das noch viel winzigere Format, bei dem die funkelnd farbigen Einzelmotive durch die Virtuosität des Illuminators eindrucksvolle Präsenz behalten konnten.

Ausgerechnet im Bild des Salvators, in der Vera Icon zu Beginn des Buchblocks erreicht die Lebensnähe der Malerei ihren Höhepunkt. Entscheidend dafür ist der Ursprung dieser Miniatur in der ersten großen Phase der Porträtmalerei; denn Jan van Eyck hat in den 1430er Jahren 239 diesen Typus des Bildnisses auch für Christus entwickelt. 240 Vom großen Tafelmaler begründet wurde eine vor allem in Brügge gepflegte Tradition, die unter dem 1482 verstorbenen Willem Vrelant aufblühte und in der Zeit um 1500 zu einer zweiten Blüte kam, für die unsere Miniatur steht.

Beim Betrachten des künstlerischen Reichtums im winzigen Stundenbuch der Orsa Pesaro führen jedoch ganz andere Miniaturen zu unseren Monatsbildern zurück: Es sind die köstlichen Landschaften, die auf die verschiedenste Art in die Tiefe des Raums hinter Maria und Elisabeth bei der Heimsuchung oder der Heiligen Familie bei der Flucht nach Ägypten führen: Subtiler Farbwechsel und Einfallsreichtum könnten an der Aufgabe, Kalender mit Monatsbildern zu schmücken, geschult sein.

239 Bernard Bousmanne erläutert an Beispielen der Vera Icon den Einfluß der Tafelmalerei auf Vrelants Miniaturen mit zehn Beispielen im Ausst.-Kat. Brüssel, 1997, S. 98–101.

240 Siehe zuletzt den Beitrag von Guido Cornini, Von Rom nach Florenz und Brügge – und zurück. Van Eycks Sancta Facies zwischen Transzendenz und Naturalismus, in: Maximiliaan Martens u. a ., Van Eyck. Eine optische Revolution, Ausst.-Kat Gent 2020, S. 284–295, und ein entsprechendes Christusbild vom Chevrot-Meister aus Morgan 421, das Lieve de Kesel dort auf S. 344 abgebildet hat.

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Die künstlerische Leistung der Panoramen

Monatsbilder hat man nicht selten als eine vom Buchblock getrennte Einheit für sich verstanden und sie als Ganzes einem Künstler für sich anvertraut. Deshalb wissen wir nicht sicher, wer die heute geplünderte Ausmalung des Buchblocks in unserem Durrieu-Stundenbuch übernommen hatte. Wie in der Hermannstädter Handschrift, die Miniaturen unterschiedlicher Maler aufweist, wird der Kalender zum Besten im Buch gehört haben. In beiden Handschriften verraten alle Monatsbilder einheitlich den großartigen Geist des einen verantwortlichen Malers. Altertümlichere Züge des Kalenders in Hermannstadt legen nahe, unser Beispiel ein wenig später anzusetzen. Die Monatsbilder in beiden Kalendern gehören in jedem Fall zum Besten, was die flämische Buchmalerei um 1510 zu leisten imstande war!

Ein entscheidender Grundzug unseres Künstlers ist sein Ehrgeiz, der ihn deutlich vom jüngeren Bening unterscheidet. Simon, Sohn des schon in den 1480er Jahren etablierten und 1519 verstorbenen Sanders Bening, gab sich, wie seine beiden hier diskutierten Kalender zeigen, mit weniger Figuren zufrieden und erreichte gerade dadurch zuweilen auf den ersten Blick glücklichere Wirkung. Für seine Arbeiten verfügte Simon Bening über einen soliden Grundbestand an Bildvorlagen, mit denen er gleichsam alles gestalten konnte, was schon sein Vater beherrscht hatte.

Simon Bening wird zuweilen als ein Künstler mißverstanden, der allzu oft und unbekümmert wiederholt habe, was er von seinem Vater, dem bis heute schlecht definierten Sanders Bening, übernommen habe. Eine gerade abgeschlossene Berliner Dissertation von Joris Corin Heyder versucht sogar, aus Repetition ein Prinzip von Simon Benings Kunst zu machen. Doch so wichtig Simons Vorlagenschatz aus den letzten beiden Jahrzehnten vor 1500 war, so ist der Künstler doch bis zum Lebensende 1561 ein erstaunlich wacher Geist geblieben, der sich immer wieder mit Witz und Phantasie bemüht hat, die Vorgaben, auf denen seine ganze Kunst gründet, lebendig zu variieren, obwohl er wie alle Buchmaler seiner Zeit es nicht für nötig hielt, jede Figur neu zu konzipieren. 241 Selbstverständlich greift er Gestalten und ganze Situationen aus älteren Kompositionen mehrfach auf. Doch wie er das macht, beweist seinen künstlerischen Verstand.

Der Davidmeister geht mit seinen Panoramen in Hermannstadt und in unserem Durrieu-Stundenbuch andere Wege als Simon Bening: Sicher verleitet auch ihn die Verteilung der Bildmotive in den steilen Vertikalen der Randfelder zu teppichhafter Bildgestaltung. Wohin das im ersten Ansatz geführt hat, konnten wir beim Meister von Poitiers 30 in dessen Monatsbildern aus der Zeit um 1460 in Lissabon und Chantilly sehen. Perspektive als eine Sicht, mit der Figuren im Raum geordnet werden

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241 Siehe dazu vor allem meinen Beitrag: Der Kalender, in: Bodo Brinkmann und Eberhard König; Simon Bening. Das BlumenStundenbuch, Clm. 23637. Bayerische Staatsbibliothek München, hrsg. von Eberhard König, Luzern 1991, S. 35–70.

konnten, wird dort gestört vom Wunsch, auch in den höheren Registern der Randstreifen die Schilderungen gut lesbar zu machen. Während Simon Bening einfach auf Staffelung mit weiteren Figuren verzichtet, zeugen die Monatsbilder im DurrieuKalender ebenso wie jene in Hermannstadt von reger Auseinandersetzung mit den perspektivischen Problemen, der Figurengröße und dem Farbwechsel im Raum.

Sein Interesse für klare Raumkonzeptionen und seinen erstaunlich fruchtbaren Umgang mit Architektur hat der Meister der Davidsszenen in seinen Buchmalereien erst allmählich entwickelt. Für die Zeitstellung dieses Buchmalers wichtig ist das berühmte Stundenbuch für Johanna von Kastilien: An dessen Ausmalung war der Künstler nur in einer zweiten Arbeitsphase beteiligt, die erst in die zweite Flandern-Reise der Königin um 1506/07 datiert werden kann. 242 Angesichts des Namenszugs cosart in der Disputation der heiligen Katharina, einer der besten Miniaturen des Breviarium Grimani, deren ehrgeizige Architektur von ihm angelegt wurde, deren Figuren aber Simon Bening gemalt hat, und der frappanten Beziehungen zu frühen Zeichnungen habe ich 2016 vorgeschlagen, er sei niemand anders als der junge Jan Gossaert. 243

London, BL, Add. 18852, fol. 12v–13: Dezember

242 Zuletzt das verunglückte „Faksimile“ des Verlags Património, Valencia 2016, mit einem in der Endfassung nicht autorisierten Kommentar, in dem ich festgestellt habe, daß die Handschrift zunächst vor 1500 ohne genauere Kenntnis von Johannas Persönlichkeit als unspezifisches Geschenk angelegt wurde, dann aber bei ihrem zweiten Aufenthalt in den Niederlanden ergänzt wurde, nach Vorstellungen von Beichtigern und anderen Männern ihrer Umgebung; siehe dazu vor allem meinen Beitrag: Books for Women Made by Men, in: Florence Brazès-Moly und Francesca Marini, Medieval Charm. II luminated Manuscripts for Royal, Aristocratic and Ecclesiastic Patronage, Florenz 2017, S. 64–83.

243 König und Heyder 2016, S. 214–215.

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Eine Spur zurück in die Zeit kurz vor 1500

Der für den Kalender von Nr. 9 angesprochene Bezug zum Londoner Stundenbuch der Johanna von Kastilien betrifft nur die Ausmalung; denn in Text und Tintenfarben orientiert sich der Kalender in London an Beispielen aus Frankreich, vor allem aus Paris: Jeder Tag ist besetzt mit Eintragungen in französischer Sprache; doch ebenso dekorativ wie der Wechsel von Blau und Rot und der Einsatz von Gold für die Feste wirkt, so verderbt ist der Text. Bei den kostbaren Initialen KL kommt sogar der Verdacht auf, der Illuminator habe sie durchweg als BL mißverstanden, was der allgemein lieblosen Gestaltung des Grundbestands in diesem Manuskript gut entsprechen würde.

Sicher sind die Monatsbilder im Stundenbuch für Johanna von Kastilien kein epochaler Wurf. Doch für die Chronologie der flämischen Kalender mit Panorama-Bordüren spielt die Londoner Handschrift eine entscheidende Rolle: Ihr Kalender gehört zu den Partien des Manuskripts, die vor Johannas Eintreffen in Flandern 1496 noch ohne jede Kenntnis ihrer Interessen entstanden sind. 244 Ergänzungen aus der Zeit ihres zweiten Aufenthalts in den Jahren 1504 bis 1506 gaben dem Manuskript erst jene erstaunlichen Züge, für die es heute berühmt ist: Nun wurde der Davidmeister einbezogen; erst zu dem Zeitpunkt schuf er die besten Miniaturen mit Johannas Bildnis als Königin von Kastilien (ab 1506!) mit Johannes dem Täufer (fol. 26) und der Vertreibung aus dem Paradies mit dem Totenkopf im Spiegel (fol. 14v–15).

Durch die Verbindung mit dem Londoner Stundenbuch bietet der Kalender unserer Nr. 9, der in unserem Katalog wie ein Anhang zu Simon Bening und dem in den Hauptminiaturen des Stundenbuchs brillierenden Davidmeister erscheint, einen wichtigen Rückbezug ins späte XV. Jahrhundert. Wir haben bereits betont, daß aus der Anfangszeit der panoramahaften Bildbordüren beim Wiener Meister der Maria von Burgund in den 1470er Jahren kein entsprechend gestalteter Kalenderbilder erhalten ist. Über künstlerisch gewichtige frühere Konzeptionen für Monatsbilder in Panoramen, die einen verlorenen Prototypen verrieten, läßt sich nur spekulieren. Mit einer Entstehungszeit um 1496 stehen die Monatsbilder für Johanna von Kastilien vor Bening und dem Davidmeister. Sie können sogar die Vermutung nähren, der Davidmeister habe wichtige Anregungen erhalten, als er im heutigen Londoner Stundenbuch Miniaturen ergänzte: Der Fleischmarkt im Winter, der erst in unserem Durrieu-Kalender zu voller Pracht entwickelt ist, wäre sogar von dem älteren Bestand des Stundenbuchs der Johanna von Kastilien her zu erklären!

Die Panoramen lassen einen gewissen Wandel der Mentalität erkennen: Wie Henisch 1999 zu ihrer kaum lesbaren Abbildung des Fleischmarkts in unserem Durrieu-Stundenbuch 245 erläutert, um es dann mehrmals auszuführen, bricht die

244 Siehe dazu vor allem König 2017.

245 Henisch 1999, Abb. 5–13, S. 130.

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Darstellung von Verkaufen und Erwerben mit einem wichtigen Prinzip: Älteren Buchmalern wäre es ganz und gar fremd gewesen, in ihren Monatsbildern Handel darzustellen. Dem noch mittelalterlichen Verständnis ging es durchweg nur um die Erzeugung dessen, was für das Leben notwendig war; es wird direkt von seinen Erzeugern verbraucht, ohne als Ware verwertet zu werden.

Am Ende eines langen Weges

Das letzte Beispiel versetzt uns zurück in die rätselhafte Zeit zwischen dem Ende der burgundischen Herzöge aus dem Hause Valois und dem frühen XVI . Jahrhundert, in dem es im entstanden ist. Die Bordüre mit der Weinlese macht ein Problem greifbar, das den gesamten hier ausgebreiteten Bestand an Kalenderbildern betrifft; denn an kaum einer anderen Stelle tritt deren didaktischer Charakter ähnlich klar zu Tage wie im September unserer Nr. 9: Maler können nur jeweils einen Moment zeigen, zeitlich aufeinander folgende Momente aber nebeneinander reihen oder in Raumtiefen staffeln. So schildert der Buchmaler den langen Vorgang auf eine Weise, als schreibe er von links nach rechts die Stationen wie in einem Satz auf; und dieser Satz könnte lauten: Nachdem man die Trauben oben im Weinberg geerntet hat, bringt man sie in Kiepen zur Kelter, die mit den Füßen im Bottich erfolgt, ehe der Traubensaft zur Gärung in Fässer gefüllt werden kann.

Hier wird die Spannung deutlich, die moderne Augen beim Betrachten unserer Monatsbilder erleben, vor allem wenn es sich um die famose flämische Kunst handelt, die vor allem geschätzt wird, weil sie Natur in Figur und Raum auf geradezu trügerische Weise nachzuahmen gelernt hat. Man denkt, die Malerei gebe gleich die Wirklichkeit wieder; aber tatsächlich ordnet sie die Gegenstände zu einer Aussage.

Bei dieser Aussage wiederum stehen in der flämischen Buchmalerei nicht die großen Themen von Gott und Menschheit, Geschichte und Erlösung zur Debatte. Vielmehr sucht der gebildete Kunstfreund in diesem Bereich das Tastbare und Lebensvolle ebenso wie Atmosphäre in der Landschaft und Anschauung von menschlichem Tun. Daß der menschliche Körper überzeugend erfaßt wird, ist für die Künstler keine wissenschaftliche Frage wie bei den Italienern oder bei Albrecht Dürer, sondern Ergebnis aufmerksamer Beobachtung, die genauso wirksam Blumen oder Tieren darzustellen weiß. Bildräume sind in dieser Hinsicht kein Konstrukt, sondern ein Problem von Erfahrung und Wiedergabe, genauso wie der schweifende Blick, der vom vollfarbig Nahen ins Blau der Ferne schweifen kann oder im Interieur das Stoffliche im Licht so vor Augen führt, wie es Künstler gesehen haben und Betrachter ihnen folgend wahrnehmen.

Die einzelnen Gestalten in unserem Restwolde-Psalter aus dem XIII . Jahrhundert wiesen einen Weg. Schon sie agieren überzeugend, zwar noch vor goldenen Gründen unter stilisierten Bäumen; aber sie können bereits zufassen. Das Ergebnis ist überraschend, nicht weil der großartige Buchmaler direkt von der Anschauung der Leute bei der Arbeit seine Motive erarbeitet hätte, sondern weil er und seine Zeitgenossen die Bildmuster, die sie von vorangegangenen Generationen geerbt hatten, neu und schärfer überprüften.

Den Rahmen für diese Kunst boten die großen Bürgerstädte, in Flandern Brügge und Gent – aber man sollte nicht vergessen, daß Paris zwar Hauptstadt eines

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Königreichs, aber zugleich auch wirtschaftliche Metropole ersten Ranges war und daß kultureller Austausch zwischen solchen Zentren rege und lebendig war. Die Kunst, die wir hier vorgeführt haben, setzt sich im Wechsel mit dem Leben der einfachen Leute auf dem Lande, mit den Freuden von Jugend und Liebeswerben und genauso mit der winterlichen Behaglichkeit zwischen Kamin und Speisetisch auseinander. Keineswegs ist sie an gesellschaftliche Gruppen so gebunden, daß man Hof und Stadt unterscheiden könnte. Eher bietet sie Sphären des Höfischen im Gegensatz zum einfachen Leben auf dem Lande auch als ein Angebot für wohlhabende Bürger, es den Fürsten gleichzutun. Im XV. Jahrhundert gewinnen Buch- und Tafelmalerei, von neuen Farbrezepten und erstaunlicher Zuwendung zur Natur gefördert, eine stoffliche Überzeugungskraft, die zunächst um die Gunst hoher Herren wie des Herzogs Jean de Berry buhlt, die aber ihre größte Zustimmung in breiteren Bevölkerungsschichten findet.

Die Welt, die mit überwältigender Überzeugungskraft wiedergegeben wird, erschließt sich den Künstlern im Zusammenspiel von handwerklicher Tradition und neuem Ehrgeiz. Ihr Zugriff bleibt, ohne daß wir das bedauern sollten, den Sonnenseiten des Lebens verbunden; denn darin drückt sich eine Zuversicht aus, die religiös zu verstehen ist: Die Kalenderbilder der Gotik und der beginnenden Renaissance verkünden die unverbrüchliche Treue Gottes zu den Menschen, wie sie nach der Sintflut vom Schöpfer verheißen wurde.

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Der Restwolde-Psalter, ein Brügger Pracht-Psalterium mit zehn ganzseitigen Miniaturen und einem außergewöhnlichen Kalender

aus der Zeit um 1270

Psalter mit Kalender und Cantica. Lateinische Handschrift auf Pergament in gotischer Buchschrift in schwarzer Tinte, Feste im Kalender in Rot, wenige Buchstaben in Blau, ohne Rubriken.

Brügge, nicht vor der Kanonisation des heiligen Petrus Martyr im Jahr 1253 bebildert, nicht nach 1297 entstanden: wohl um oder kurz nach 1270.

Insgesamt einunddreißig Bildfelder: neun ganzseitige textlose Miniaturen in Ädikulen aus Spitzbogen, bildparallelem Dach und flankierenden Fialen in breiten Rahmen aus modelliertem Gold; entsprechend gerahmt die Beatus-Seite mit zwei Bildfeldern im B und Grotesken am Rand; neun große historisierte Initialen; die Binnenfelder aller gerahmten Bilder mit bombiertem Blattgoldgrund; dazu zwölf große Monatsbilder von unregelmäßigem Zuschnitt im Schriftfeld schwimmend, deren Darstellungen meist als Einzelfiguren auf bombiertem Blattgold mit Elementen aus Landschaft oder Interieur. Psalmenanfänge mit dreizeiligen Blattgold-Lettern auf einem Grund, der in rote und blaue Flächen geteilt ist und als Rankenklammer von links um den Textspiegel bis zur Mitte herumgreift, zuweilen durch figürliche Elemente belebt. Entsprechend, jedoch zu vier sehr niedrigen Zeilen, das KL im Kalender, im Januar und auf den sechs Verso-Seiten mit Rankenklammer, auf den fünf übrigen Recto-Seiten hingegen nur mit einer oben waagerecht ausstrahlenden Zierleiste. Psalmenverse mit einzeiligen FederwerkInitialen abwechselnd in Blau auf Rot oder Gold auf Blau, vor den Textspiegel gesetzt; Zeilenfüller derselben Art. Keine Versalien in der Textschrift.

184 Blatt Pergament. Gebunden in Lagen von acht Blatt, ganzseitige Bilder im Text auf eingeschalteten Blättern mit leerer Recto-Seite; unregelmäßig die Lage 1 (8–2: die ersten beiden Blätter ohne Textverlust entfernt), Lage 2 (6–1: das fünfte Blatt mit der Kreuzigungsminiatur entfernt; die Beatus-Initiale ist Teil dieser Lage), Lage 6 (6+1: fol. 36 am Lagenbeginn eingefügt), Lage 8 (8+1: fol. 53 nach dem zweiten Blatt eingefügt), Lage 10 (8+1: fol. 69 nach dem ersten Blatt eingefügt), Lage 13 (10), Lage 14 (8+1: fol. 103 am Lagenbeginn eingefügt), Lage 16 (8+1: fol. 122 nach dem zweiten Blatt eingefügt), Text bricht am Ende der vollständigen Lage 23 ab. Ohne Reklamanten.

Sedez: 128 × 95 mm; Textspiegel 90 × 60 mm.

Kaum sichtbare Stiftreglierung: Im Kalender zu 32, im Textblock zu 16 Zeilen; die erste, neunte und sechzehnte Zeile über die ganze Seite ausgezogen; eine doppelte Vertikale links als Hilfslinie für die einzeiligen Initialen, eine einfache als Begrenzung des Textspiegels rechts, alle drei Linien ebenfalls bis zu den Rändern gezogen. Diese Disposition findet sich nicht in den Varianten von Brügger und Genter Psalterien bei Carlvant (Table 10, S. 349–366); gegenüber dem üblichem Maß von 19 und mehr Zeilen pro Seite erstaunt die Beschränkung der Textseiten auf nur 16 Zeilen.

Sterbe-Eintrag am unteren Ende der Seite mit dem Mai, vom Buchbinder getrimmt und schwer lesbar in schlechtem Latein in einer charakteristischen englischen Schrift des XV. Jahrhunderts: Thomas Restwolde, Sohn und Erbe eines Richard Restwolde, gestorben

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am 24. Mai eines hier nicht identifizierbaren Regierungsjahrs von König Edward IV. Die Familie ist insbesondere durch Mitglieder des Parlaments vom XIV. bis ins XVI . Jahrhundert und durch Quellen vor allem aus Westminster faßbar. Mit Unterstützung von Marie Élisabeth Antoine und Jenny Stratford liest sich der Eintrag folgendermaßen: Obitus Thome Restwold armig(er)’ (grammatikalisch unsauber, für esquire, also waffenfähig: Ritter oder Schildknappe)/ filius [sic] e(t) hered’(is) Ric(ard)i Restwold [de für decedit/ decessus] xxiiijmo die mensis maii An(n)o regni Ed(ward [IV.)“. Edward IV. aus dem Hause York hatte in den Rosenkriegen zunächst König Heinrich VI . aus dem Haus Lancaster 1461 bis 1470 entmachtet und sich krönen lassen, mußte nach seinem Bruch mit dem Grafen von Warwick 1470 auf das Festland ausweichen, weilte als Gast bei Lodewijk van Gruuthuse in Den Haag und dann in Brügge, ehe er von 1472 bis 1483 wieder als König nach England zurückkehrte. Edward  IV. war von Gruuthuses Bibliophilie beeindruckt und ließ in Brügge zahlreiche Manuskripte anfertigen. Thomas Restwolde, der wohl 1480 im Alter von 45 Jahren gestorben ist, wird zum Gefolge gehört haben und mag bei dieser Gelegenheit an das Manuskript gelangt sein. Die grobe Tilgung des Festeintrags für Thomas von Canterbury belegt, daß der Psalter noch im XVI . Jahrhundert in England aufbewahrt wurde. Auch andere Psalterien aus Flandern sind offenbar schon im Spätmittelalter nach England gelangt, wie Obituarien im Kalender belegen. So finden sich im Brügger Psalter Walters 36 in Baltimore (Randall  III , 1997, Nr. 214, Bd. I, S. 3–7) nur in Ultraviolett lesbare Eintragungen einer Familie Touke von 1412 und 1416 sowie Erläuterungen zur Bestimmung des Osterzyklus in englischer Sprache.

Der Kalender:

KL in Gold, vierzeilig auf Höhe des Monatsnamens ansetzend zum Januar und dann zu den Monaten auf Verso mit Schmuckleiste als Klammer von links um den Textblock, während mit Ausnahme des Januars auf Recto eine waagerechte Leiste oben ausreicht. In lateinischer Sprache, nicht jeder Tag besetzt, ohne Angaben der Festgrade: Goldene Zahl, Sonntagsbuchstaben b–g, fast durchweg auch die der römischen Tageszählung und einfache Heiligentage schwarz, die Feste rot, Sonntagsbuchstaben A blau; die römische Tageszählung rot, aus Zahlen und jeweils über mehrere Zeilen gezogenen Kürzeln zusammengesetzt, mit Ausnahme der meist in Schwarz geschriebenen Angabe Non. Mit der roten Tinte angestrichen sind auch die Anfangsbuchstaben der einfachen Heiligentage.

Romani m. (28.2. von Rouen, kaum in flämischen Kalendern zu finden), Eligii ep. (1.9.), Bertini abbatis (5.9.), Lamberti (17.9.), Remigii sociorumque eius (1.10.), Leodegari mr. (2.10.), Dionysii sociorumque eius (9.10.), Nichasii epi. (von Rouen, 11.10., kaum in flämischen Kalendern zu finden), Donatiani epi. (14.10. in Brügge das wichtigste lokale Fest), Winnoci abbis. (7.11., auch im Londoner flämischen

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Psalter Add. Ms. 19899), Willebrordi epi. (8.11.), Livini (12.11.), Nichasii epi. (von Reims, als Fest 14.12.).

Die Heiligenauswahl ist also nordfranzösisch und niederländisch geprägt: Donatian von Brügge am 14. Oktober und Nicasius von Reims am 14. Dezember, zu dessen Erzdiözese Brügge gehörte, werden mit Festen geehrt; auch der 1. Oktober als Remigius-Tag unterstreicht die Zugehörigkeit zur Erzdiözese Reims, hier ohne den am selben Tag in Gent gefeierten Bavo. Winnoc von Wormhout bei Dünkirchen gehört zum lokalen Umfeld von Brügge, ist aber nicht in allen flämischen Kalendern zu finden. Romanus und Nicasius von Rouen, in solchen Kalendern unüblich, beziehen ebenso wie die in flämischen Kalendern gewohnten Utrechter Heiligen Willibrord und Livinus (Lebuinus) eine benachbarte Erzdiözese ein; entsprechend verstehen sich Lambert, Patron des Fürstbistums Lüttich, Leodegar von Autun, Eligius von Noyon und Bertinus von Arras.

Es verwundert, daß die mit Bildern hervorgehobenen Heiligen der Bettelorden im Kalender nicht erwähnt werden. Petrus Martyr (19. April) wird in vergleichbaren Kalendarien auch sonst nur ausnahmsweise genannt, jedoch findet er sich im Hamburger Psalter Theol. Fol. 1115a der SUB , dessen besonders dicht besetzter Kalender für Carlvant 2012 (S. 372) als Muster eines flämischen Formulars dient. Dominikus (8.8.), der dort ebenfalls erwähnt ist, kommt in weiteren Psalterien wie 55/171 des Brügger Grootseminarie und Auct. D.4.2. der Oxforder Bodleian Library vor (Carlvant, S. 376). Franziskus (4.10.) wurde fast in allen Vergleichsstücken geehrt, darunter auch Dublin, Chester Beatty, W. 61. Der inkonsequente Umgang mit diesen Bettelmönchen läßt vielleicht darauf schließen, daß in unserem Manuskript Schreiberarbeit und Buchmalerei zunächst nicht miteinander abgestimmt waren. Diese Beobachtung wird unterstützt durch die Tatsache, daß weder die Schrift noch das Layout der Textseiten mit nur 16 Zeilen den von Carlvant charakterisierten flämischen Gewohnheiten entspricht.

fol. 7, 8, 9, 10: textlose Blätter mit einem Christus-Zyklus von Marienverkündigung bis zur Taufe.

Psalmen und Cantica:

Der Textblock bietet die 150 Psalmen in biblischer Reihenfolge ohne Rubriken und ohne ergänzende Texte, wie zu jener Zeit üblich in der Version des Hieronymus nach der Septuaginta; ihnen schließen sich, auch sie nicht rubriziert, Cantica in vertrauter Reihenfolge an.

Wie im XIII . Jahrhundert gewohnt, sind zwei Arten von Psalterteilung in diesem Manuskript kombiniert: Die Dreiteilung in jeweils 50 Psalmen, für die der 1., 51. und 101. Psalm hervorgehoben wird, und Aufteilung nach Matutin und Vesper: Zur Matutin gelesen wurden: Ps. 1 –25 am Sonntag, Ps. 26–37 am Montag,

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Ps. 38–51 am Dienstag, Ps. 52–67 am Mittwoch, Ps. 68–79 am Donnerstag, Ps. 80–96 am Freitag, Ps. 97–108 am Sonnabend, die Psalmen für die Vesper setzen mit Ps. 109 zum Sonntag ein; die Vesper der einfachen Wochentage wird dann nicht mehr betont.

Die zweite Lage ist ein Ternio für ursprünglich fünf Vollbilder auf Verso bei leerem Recto und die ebenfalls auf Verso stehende Beatus-Initiale, textlos bis auf die beiden Anfangsworte der Psalmen Beatus Vir.

Zunächst sollten die insgesamt neun Psalterteilungen im laufenden Text wohl nur wie gewohnt mit großen Initialen betont werden. An fünf Stellen wurden jedoch auf einzelnen textlosen Blättern Bilder eingeschaltet. Die beiden ersten setzen den Zyklus mit Szenen aus dem Ostergeschehen fort; die beiden anderen zeigen Heilige der Bettelorden. Da der erste Einschub, fol. 36, den 25. Psalm unterbricht, hat der Schreiber an dieser Stelle kaum mit einem eingeschalteten Vollbild gerechnet.

fol. 11: textlos; fol. 11v: Ps. 1 : Beatus vir zur Sonntags-Matutin in Auszeichnungsschrift, fortgesetzt mit Qui non abiit auf fol. 12.

fol. 36: eingefügtes textloses Blatt zu fol. 37: Ps. 26: Dominus illuminatio mea zur Montags-Matutin. fol. 53: eingefügtes textloses Blatt zu fol. 54 Ps. 38: Dixi custodiam zur Dienstags-Matutin. fol. 68: Ps. 51: Quid gloriaris im Rahmen der Dreiteilung des Psalters. fol. 69: eingefügtes textloses Blatt zu fol. 70: Ps. 52: Dixit insipiens zur Mittwochs-Matutin. fol. 84v: Ps. 68: Salvum me fac zur Donnerstags-Matutin. fol. 103: eingefügtes textloses Blatt zu fol. 104: Ps. 80: Exultate deo zur FreitagsMatutin. fol. 121v: Ps. 97: Cantate domino canticum novum zur Samstags-Matutin, dazu fol. 122: eingefügtes textloses Blatt. fol. 124v: Ps. 101: Domine exaudi im Rahmen der Dreiteilung des Psalters.

fol. 141: Ps. 109: Dixit dominus domino meo zur Sonntags-Vesper.

fol. 178: Cantica: Ego dixi in dimidio dierum meorum, Is. 12 (fol. 178), Exultavit cor meum in domino, 1. Regum, 2, 1–11 (fol. 179), Cantemus domino gloriose enim magnificatus, Ex. 15,2–20 (fol. 180), Domine audivi auditionem tuam, Hab. 3 (fol. 1 81v), Audite celi que loquar, Deut. 32, 1–44 (fol. 183v), fol. 184v: Text bricht in Vers 17 ab.

Die Bebilderung

Die Bebilderung verwendet drei unterschiedliche Bildformen: Frei konturierte Monatsbilder, textlose Vollbilder in breiten Goldrahmen und große Bildinitialen Zwischen Vollbild und Bild-Initiale steht das B zum 1. Psalm, wegen der zwei Anfangsworte Beatus Vir zwar strenggenommen nicht textlos, aber von derselben Wirkung wie die Vollbilder.

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Monatsbilder im Kalender:

Zwölf große Monatsbilder von unregelmäßigem Zuschnitt, im Schriftfeld schwimmend, sind von den Einzelfiguren her konzipiert; abweichend von den anderen flämischen Psalterien des XIII . Jahrhunderts wird überall auf die Fassung durch Architektur und Rahmen verzichtet. Die Gestalten werden meist von einem Motiv aus Landschaft oder Interieur nach rechts begrenzt; ihre Bewegung wird von Blattgoldflächen mit frei entwickelten Konturen aufgenommen. Nur im Dubliner Psalter, Chester Beatty Western Ms. 61, sind einige Kalenderbilder genauso behandelt, nachdem dort die Monatsbilder von Januar und Februar in Architekturrahmen gefaßt waren. Auch bei den einzelnen Themen bestehen die engsten motivischen Bezüge zum Dubliner Exemplar. Ikonographisch stimmt der Zyklus weitgehend mit Brügger Kalenderbildern des XIII . Jahrhunderts überein; charakteristisch sind der Bezug auf Lichtmeß im Februar und Holztransport im Juni; die beiden letzten Monate sind nach Genter Brauch bebildert: Verzichtet ist auf den Schweinehirten im Eichwald im November; dadurch wird Schlachten bereits in diesem Monat gezeigt, während der Dezember Zeit des Brotbackens ist.

Den Januar verkörpert ein bartloser Mann, der wie in den meisten flämischen Psalterien des XIII . Jahrhunderts aus einer flachen Schale trinkt und den nackten Fuß am Feuer wärmt. Abweichend von den Parallelhandschriften trägt er zwei hochgestellte Flügel am Kopf; in Dublin, wo die Darstellung noch in einer Ädikula erscheint, trägt die eng verwandte Figur einen Helm. Diese beiden Darstellungen des Januars stehen offenbar noch in der Tradition, den Monatsnamen mit Janus zu verbinden und das Monatsbild nicht als schlichte Genreszene zu verstehen. Der Helm in Dublin ebenso wie die Flügel in unserem Psalter lassen an Merkur denken; die Flügel versinnbildichen sichtlich zurückblickende und vorausschauende Erkenntis. Zum Februar orientiert sich das Monatsbild am Festkalender und stellt das Kerzenopfer zu Mariä Lichtmeß, am 2. Februar, dar. Anders als in den meisten flämischen Psalterien der Zeit wird die Kerze hier durch die Jungfrau Maria selbst dargebracht. Sie ist angezündet; ihre Flamme ragt ins freie Pergamentfeld hinauf. Mit dieser Konkretisierung geht die Darstellung im Restwolde-Psalter mit anderen Brügger Hauptwerken zusammen, dem Psalter des Grootseminarie, dem Dubliner Psalter und dem Dampierre-Psalter – in diesen Beispielen wirkt die Ädikula, die bei uns weggelassen ist, noch wie eine Anspielung auf Kirche oder Tempel. Maria als Kerzenträgerin zur Lichtmeß widerspricht der Bildtradition in Marienzyklen, in denen die Muttergottes ihr Kind trägt, von einer Dienerin mit dem Kerzenopfer begleitet; bei der einzigen Parallele in einem flämischen Kalender, die wirklich die Darbringung zeigt, in Ms. 14 des J. Paul Getty-Museums, erweist die Ausmalung dieses Manuskript als moderne Fälschung.

Im März wird ein Baum mit einer großen Axt bearbeitet. Diese Darstellung ist Standard in den Vergleichshandschriften; jedoch kommt ihr – beispielsweise im

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Vergleich mit der entsprechenden Miniatur in Morgan 72 – der Verzicht auf die sonst übliche Rahmung in einer Ädikula zugute. So ist unsere Version als einzige mit einer Baumkrone versehen, die wie ein einzelnes großes Blatt zusammengefaßt ist. Eine besondere Qualität unserer Kalenderbilder tritt hier zu Tage; denn das unregelmäßige Bildfeld wird nach links vom Goldgrund, nach rechts vom Baum in geradezu expressiven Kurven umrissen.

Beide anschließenden Frühlingsmonate sind dem Zeitvertreib junger Leute gewidmet: Im April wird zum ersten Mal eine Figur gegen die Leserichtung gedreht; dort steht ein Jüngling mit zwei kräftig bunten großen Blütenzweigen auf vier stilisierten Blüten; ältere Psalterien wie das Londoner Ms. Harley 2844 zeigen keine Blumen, sondern ornamentales Federwerk; die anderen deuten die Blumen nur mit wenigen Strichen an. Ein Vergleich mit dem April in der Oxforder Handschrift Auct. D.4.2 oder im Brüsseler Dampierre-Psalter zeigt den Ausdrucksgehalt, der hier wiederum nur deshalb erreicht werden konnte, weil auf begrenzende Architektur verzichtet wurde, so daß die Blumen Rahmung werden und sehr viel mehr Platz erhalten können.

Auch der eindrucksvollste Effekt im Mai konnte nur durch die neue Freiheit gewonnen werden, die unsere Kalenderbilder auszeichnet: Statt der in vielen anderen Psalterien gezeigten Einzelfigur eines Falkners (so zu Pferde im Manuskript des Brügger Grootseminarie oder zu Fuß im Madrider Psalter) bewegt sich ein Liebespaar zu Pferde frei unter einem Baum, der wie ein umgedrehtes Herz die Köpfe bekrönt. Ähnlich gestaltet ist der Mai in Dublin; doch während das Liebespaar bei uns auf einem weißen Zelter nach rechts reitet, ist dort die Bewegung umgekehrt.

Im Juni wird frisch geschlagenes Holz transportiert, damit es bis zum Winter trocknen kann. Die Binnenstruktur des über die Schulter gewuchteten Bündels ist bei uns weitgehend verloren; im gerade genannten Oxforder Beispiel wie auch in Dublin sind die zusammengebundenen Äste klar zu erkennen. Dort wird der Packen bereits so schräg getragen wie in unserem Manuskript, während er in der älteren Gruppe von Brügger Psalterien wie Morgan 106 waagerecht und sehr übersichtlich mit drei Knüppeln gebildet ist.

Im Juli folgt die Heumahd mit der großen blauen Sense: Den Mäher umgibt der Blattgoldgrund mit geschwungenen Konturen, als wirke noch der Brauch nach, solche Gestalten in Ädikulen einzustellen. Die Gestalt zeigt sich, weil sie gedrungener ist, kraftvoller als in manch anderem Psalter. Die Sense durchbricht zwar das vom Gold definierte Bildfeld, ragt aber nicht so weit aus wie beispielsweise in Morgan 106.

Entsprechend in blauen Kittel und rotes Beinkleid gehüllt ist bei der Kornmahd im August der Mann mit seiner blauen Sichel. In Vergleichshandschriften wie dem

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Oxforder Ms. Auct D.4.2 verführt das mannshohe Korn dazu, die Ädikula zu durchbrechen und rechts einfach auf den rahmenden Pfeiler zu verzichten. Bei uns aber ragt das erstaunlich hohe Korn ähnlich wie die Bäume im Frühling auf und bildet eine Spitze des Bildfeldes. Der Dubliner Psalter fügt noch eine Frau hinzu, die unten, also im Vordergrund, Garben bindet; das mag ein Hinweis auf etwas spätere Zeitstellung sein.

Im September wird Wein gelesen; dabei treten die Vorzüge unserer Kalenderbilder noch einmal eindrucksvoll zu Tage: Zwar bliebt es bei der Einstellung auf die Leserichtung von links nach rechts; doch wird der auf diese Weise im Profil gezeigte Pflücker von zwei Weinstöcken gerahmt, deren ausstrahlende Blätter einen zierlichen Rahmen um den Goldgrund bilden.

Unter einer nach rechts aufragenden Baumkrone wird im Oktober gesät; dazu greift der Sämann nach links, also gegen die Leserichtung gewendet, mit seinem Unterarm aus; der Goldgrund umschließt diese Geste. Die Vergleichsbeispiele sind ähnlich, aber als freie Varianten nicht spezifisch verwandt.

Für die beiden letzten Monate löst sich der Zyklus in unserem Psalter von Brügger Konventionen. War dort der November in der Regel mit dem Schweinehirten besetzt, der Eicheln für seine Herde abschlägt, und der Dezember dem Schlachten vorbehalten, so rückt hier das Schweineschlachten um einen Monat vor, so daß im Dezember wie in Genter Psalterien (Carlvant 2012, Tabellen S. 296, 301 und 304) Brot gebacken wird. Im November wird also ein Schwein geschlachtet: Es liegt unter dem Metzger, der mit seiner großen Axt ausholt; die Geste findet sich bereits in älteren Brügger Beispielen wie Harley 5765 in London oder Arsenal 604, jedoch ist das Tier dort noch nicht wie dann im Manuskript des Grootseminarie oder im Dampierre-Psalter auf den Boden gedrückt; bei uns bildet der Körper die Basis des Bildes.

Beim Brotbacken im Dezember ersetzen Laibe von Brotteig geradezu die Grundlinie der Darstellung. Dazwischen steht der Bäcker, der mit seinem langen hölzernen Brotschieber einen runden Laib in den gemauerten Backofen schiebt. Aus der Bildfläche bricht der Rauchabzug des Backofens nach oben aus.

Die zwei Bildfolgen im Text: Einzelne Heilige in Initialen und Szenen aus dem Leben Jesu sowie Heilige der Bettelorden in Vollbildern

Integraler Bestand der lückenlos erhaltenen Textfolge ist nur die Bebilderung der Initialen, von denen sich die Eröffnung des Texts mit dem 1. Psalm energisch unterscheidet, da diese sogenannte Beatus-Seite formal wie ein Vollbild wirkt und inhaltlich auch in den Zyklus der Vollbilder integriert ist. Auf Bezüge zu König David als Autor wird verzichtet. Frühe flämische Psalterien des XIII . Jahrhunderts verfügen über Bild-Initialen mit nicht einzeln gekennzeichneten Aposteln.

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Hier wirkt bereits die ikonographische Neuerung, die für Carlvants zweite Brügger Generation typisch war: Man stellt namentlich nicht bezeichnete Heilige dar, die an ihrem Martyrium (so den Protomartyr und Erzdiakon Stephanus) oder an Attributen (Petrus und Paulus) zu erkennen sind. Daneben finden sich geläufige ikonographische Formeln wie Margaretes Ausbruch aus dem Rücken des Drachens, aber im Falle des heiligen Nikolaus eine sonst selten zu findende, für Brügger Psalterien aber charakteristische Szene aus dem Leben – die Spende der drei Goldkugeln.

Bild-Initialen im Psalter:

Die Bild-Initialen passen durchweg zu dem in Brügge üblichen Bestand; die meisten sind jedoch wie in den Handschriften der zweiten Generation, die sich von den Apostelbildern gelöst und zu Heiligendarstellungen gefunden hatte, relativ unspezifisch:

Zu Ps. 26 steht auf fol. 37 als erste Bild-Initiale aus dem Heiligenkult die Steinigung

Stephani: Ein bartloser Mann, eher Heide als Jude, dreht sich nach rechts und hebt einen Stein gegen den von ihm abgewendet knienden jugendlichen Diakon, der tonsuriert ist und bereits von einem Stein verletzt ist, der in der Kopfwunde steckt.

Es folgen zu Ps. 38 auf fol. 54 Petrus und Paulus thronend, in lebendigem Gespräch, Petrus tonsuriert und mit seinem großen Schlüssel nach rechts gewendet, Paulus bärtig mit dem Schwert.

Auf fol. 68 wird zu Ps. 51 das Laurentius-Martyrium gezeigt: Auf dem Rost über rotem Feuer richtet sich der nackte Heilige, auch er tonsuriert, auf und wird von rechts von einem Schergen mit einer sehr großen Gabel auf den Rost zurückgezwungen – in einer gewissen Freiheit zur Legende, die schildert, wie stark Lorenz in sein Schicksal ergeben war.

Ein besonders für Burgund bedeutendes Apostelmartyrium, die Kreuzigung des Andreas, ist in der Initiale zu Ps. 52 auf fol. 70 dargestellt: An das charakteristische grüne X-förmige Kreuz wird der in einen grauen Rock gekleidete Märtyrer von zwei Männern mit groben Tauen gebunden. Daß Andreas gemeint ist, verrät nur die Kreuzform; er wirkt sehr jung und deshalb kaum wie ein Apostel.

Zu Ps. 68 auf fol. 84v nimmt das S wie in manch anderem flämischen Psalter die heilige Margarete auf, die mit ihrem Kreuzstab aus dem Rücken des Drachens Beelzebub ausbricht. Die Buchstabenform scheint dabei die Buchmaler inspiriert zu haben.

Nicht ganz einfach zu identifizieren ist zu Ps. 80 auf fol. 104 die Morgengabe des Nikolaus: Durch die Waagerechte in der Mitte des runden Buchstabens E wird das Bildfeld in zwei Hälften geschieden: Unten liegt der verarmte Vater im Bett; er ist weder krank noch moribund; nur spielt eben die Szene bei Nacht. Oben drängen sich links die drei Töchter an einer turmähnlich aufragenden Tür, neben der rechts

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der jugendliche, bereits als Geistlicher tonsurierte Heilige steht, um drei Kugeln als Mitgift für die Töchter des Alten durchzureichen. Ähnlich wird Nikolaus in einer Anzahl von Vergleichshandschriften dargestellt, bis hin zur ganzseitigen Miniatur im Andachtsbuch der Madame Marie.

Ebenfalls auf den ersten Blick problematisch ist auf fol. 121v das Ölmartyrium

Johannes des Evangelisten z u Ps. 98. Nach rechts gerichtet sind Scherge und Märtyrer; der Henkersknecht gießt Flüssigkeit in ein hölzernes Faß; darin sitzt der jugendliche Heilige, auch er tonsuriert, obwohl der Lieblingsjünger und Evangelist

Johannes lockiges Haar haben müßte. Zudem wäre auch eine Andeutung nötig, daß der Bottich, in den man ihn gesteckt hat, auf einem Feuer steht. Entsprechend unspezifisch sind jedoch entsprechende Initialen mit der Ölmarter des Johannes in einer Reihe anderer Psalterien.

Zum irrig als Ps. 102 nummerierten Ps. 101, der auf fol. 124v das letzte Drittel des Psalters einleitet, wird statt König Davids ein mittelalterlicher König an einem Altar kniend gezeigt: Vermutlich ist ein Gebet des heiligen Ludwig gemeint, der als einziger ohne Nimbus in diese Serie von Heiligenbildern aufgenommen ist. Sonst wird dieser Psalm gern für ein Bild der Persönlichkeit genutzt, der ein solcher Psalter zugedacht war, so im Psalter der Blanche von Kastilien, Arsenal 1186 in Paris.

Ps. 109 zu Beginn der Sonntags-Vesper erhielt auf fol. 141 eine acht Zeilen hohe Initiale mit der Marienkrönung. Maria sitzt mit Christus auf dem gemeinsamen Thron, wendet sich betend nach links und hat gerade von ihrem Sohn die Krone erhalten. Sonst wurde dieser Psalm gern genutzt für ein Trinitätsbild als Beleg, daß schon im Alten Testament die Dreieinigkeit begriffen war (Es sprach mein Herr zu meinem Herrn); in Brügger Psalterien des XIII . Jahrhunderts, die ihre Initialen mit Heiligenbildern schmücken, scheint jedoch die Marienkrönung die sonst gültige Ikonographie verdrängt zu haben (vgl. Liste bei Carlvant 2012, S. 334).

Lage 2: Von der Marienverkündigung zu Osterbildern in der Beatus-Initiale:

Die Initialen bieten für sich bereits einen bemerkenswerten Bestand von guten Bildern. Unser Psalter zeichnet sich jedoch in erster Linie durch eine ikonographisch schlüssige Folge von textlosen Miniaturen aus. Sie sind unter Einbeziehung der Beatus-Initiale zunächst dem Leben Jesu gewidmet und widmen sich danach den Hauptheiligen der beiden großen Bettelorden.

Die ersten fünf ganzseitigen Bilder, zu denen auch die Beatus-Initiale zu zählen ist, stehen als textloser Block im Ternio zwischen Kalender und dem ersten Psalm; dann folgen weitere fünf auf eingeschalteten Blättern, neun von den insgesamt zehn finden sich auf Verso bei leerem Recto, die letzte Miniatur hingegen auf Recto mit leerem Verso. Alle Bilder sind ungemein kostbar und kunstreich gerahmt: Die Figuren bewegen sich vor bombiertem Goldgrund in einer gotischen Ädikula, die

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nur durch einen mit Maßwerk versehenen Spitzbogen sowie ein quergestelltes Dach angedeutet wird; zwei Fialen, deren Spitzen über die Rahmung bis in den Pergamentgrund dringen, flankieren dieses Dach. Das Bildfeld ist von einem breiten Kastenrahmen umgeben, der raffiniert mit unterschiedlichen Formen von Gold spielt, das zum Teil plastisch hervorgehoben, also bombiert wird. Nur ein Vergleichsbeispiel arbeitet mit ähnlich raffinierter Rahmung: Western Ms. 61 der Chester Beatty Library in Dublin.

fol. 7v: Der Zyklus setzt mit der Marienverkündigung mit aufrecht stehenden Figuren ein: Wie in allen flämischen Vergleichsbeispielen aus dem XIII . Jahrhundert tritt der Erzengel von links auf. Nur in unserer Miniatur ist Gabriel als Diakon gekleidet; und nur hier trägt Maria ein Surcot, also ein ärmelloses, nur an den Schultern gefaßtes Oberkleid; selten ist ihr hier bereits ein weißer Schleier gegeben, den sie auch in den anschließenden Szenen behalten wird. Auffällig verwandt ist die Szene im Andachtsbuch der Madame Marie.

fol. 8v: Die architektonische Rahmung inspiriert dazu, beim Weihnachtsbild weiße Tücher von oben wie Schleier oder Vorhänge einzusetzen und damit die Menschwerdung als Wunder wahrnehmen zu lassen. Dieses Motiv wird in zahlreichen Vergleichshandschriften variiert, auch im Andachtsbuch der Madame Marie. Wie dort und wie im Dampierre-Psalter hat Maria das Jesuskind aus der Krippe genommen – hier zum Stillen, während Joseph schläft. Die Krippe ist eine Art romanische Zierarchitektur, das bleibt sie noch im Dampierre-Psalter, wird aber für Marie gotisch dekoriert.

fol. 9v: Bei der Anbetung der Könige sind die Weisen aus dem Morgenland von links gekommen. Der älteste König, der barhäuptig niederkniet, hat wie im DampierrePsalter seine goldene Krone über den rechten Unterarm gestülpt; in den meisten anderen flämischen Psalterien wie Morgan 72, aber auch im Andachtsbuch der Madame Marie hält er seine Krone mit der Linken auf dem Knie. Hier indessen hat er beide Hände frei, um eine Schale mit Gold zu reichen. Wie bei der Verkündigung trägt Maria im Restwolde-Psalter ein Surcot. Ihre goldene Krone ist sichtlich von französischem Typus. Die Kronen der beiden jüngeren Könige sind rot vor Goldgrund; nur die des ältesten Königs ist vor den umgebenden Buntfarben golden.

fol. 10v: Besonders streng komponiert ist die Taufe Christi, auch sie in einer Ädikula, die kein Interieur bezeichnet, sondern nur rahmen soll. Jesu Leib wird von einem steilen Berg aus blauen Wellen verdeckt. Links im Bild hebt Johannes der Täufer seine Rechte wie bei einem Segen; mit der Linken faßt er den Täufling an der Schulter. Den grauen Rock des Erlösers hält ein Engel, der auch, ganz und gar ungewohnt, ein Salbgefäß in der Hand hat. Die Bebilderung bleibt – abweichend von fast allen Vergleichsbeispielen – der Legende vom Ungenähten Rock verpflichtet, den Maria

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gewebt hatte und der von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter Jesu mitgewachsen sein soll.

Im Anschluß fehlt ein Bild, das gewiß die Kreuzigung zum Thema hatte. Eine Vorstellung davon dürfte die in Dublin erhaltene Darstellung (Carlvant 2012, Abb. 29h) geben, deren Rahmung wie in Morgan 72 (ebenda, Abb. 44f) mit zusätzlichen Bildfeldern aufwartet.

Vollbilder im Psalter:

fol. 11v: Im besten Einklang mit flämischen Psalterien der Zeit, setzt sich der Zyklus, der mit Vollbildern begonnen hatte, in der Beatus-Initiale fort. Schon der Schreiber hat an dieser Stelle mit einer ungewohnten Disposition gerechnet. Das B wird wie ein Vollbild begriffen; es strahlt oben und unten in Voluten mit Blattwerk aus und wird mittig von einer grotesken Figur begleitet: einem Knaben, der ein monumentales mattgoldenes Blasinstrument spielt. Die beiden unterschiedlich großen Felder des Buchstabens werden wie im Psalter des Brügger Grootseminarie mit zwei Szenen aus dem Ostergeschehen gefüllt – nicht der Erzählung folgend, sondern eher räumlich in Oben und Unten geschieden; von den Motiven wie vom Stil her ist jedoch vor allem an die Beatus-Initialen in Morgan 72 und dem Dubliner Manuskript zu denken: Unten findet sich der Abstieg in den Limbus vor dem aufgerissenen Maul der Hölle. Oben taucht Jesus bei der Auferstehung aus dem Grabe mit Kreuzstab und Fahne aus seinem Grab auf. Christus richtet das Kreuz, das eigentlich den Stab bekrönen müßte, nach unten als Waffe gegen den glühenden Kopf des grünen Todes. Die Ureltern entsteigen dem Höllenmaul.

fol. 36: In der Formel des Noli me tangere zeigt das in den 25. Psalm eingefügte textlose Blatt den auferstandenen Christus als Gärtner am Ostermorgen mit der in die Knie gesunkenen heiligen Magdalena rechts. Die Vergleichsbeispiele richten diese Szene durchweg seitenverkehrt ein. Nur im Dampierre-Psalter und im Bilderbuch der Madame Marie trennt der Baum wie in unserer Miniatur die beiden Gestalten –in einer bemerkenswerten Analogie zu vielen Bildern des Sündenfalls. Sonst rückt er nach links und breitet sein Laub über Magdalena aus; so in Morgan 106 und in Arsenal 604, wo die Heilige näher zum Auferstandenen rückt, während Christus in Morgan 72 nach rechts ausweicht.

fol. 53: Vor dem 38. Psalm eingefügt ist der Ungläubige Thomas. Auch hier steht ein Baum; er ragt aber von links auf und schwingt zur Mitte; darunter kniet der Apostel Thomas, bartlos wie sonst nur Johannes der Evangelist. In der Linken hält er ein Buch; mit der weit ausgestreckten Rechten erreicht er die Seitenwunde des Auferstandenen, in die er Zeige- und Mittelfinger taucht. Jesus weicht ähnlich wie die Jungfrau Maria bei der Verkündigung nach rechts aus, wieder im grauen Umhang mit Kreuzesstab. In den Vergleichshandschriften wie auch in der allgemeinen Ikonographie gesellt sich gern eine Gruppe Apostel hinzu. Im Oxforder Psalter

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Auct. D.4.2, in Dublin und im Dampierre-Psalter bleibt es jedoch bei den zwei Figuren wie in unserer Miniatur.

fol. 69v: Nicht zum 51. Psalm, der das zweite Drittel des Psalters eröffnet, sondern zum 52. Psalm (Dixit insipiens) gehört die Himmelfahrt Christi. Zwischen den Apostelfürsten steht im Zentrum die Muttergottes, die diesmal ihren braunroten Mantel über den weißen Schleier gezogen hat. Vom in den Himmel entrückten Sohn über ihr nimmt Maria nichts wahr, während Petrus und Paulus zum Erlöser aufblicken, von dem in allen hier herangezogenen Beispielen im Bogenabschluß nur noch die nackten Füße und der Saum des grauen Rocks sichtbar sind. Gegen den biblischen Bericht ist im Restwolde-Psalter aus Saulus bereits Paulus geworden. Mit Petrus flankiert er die Muttergottes; beide drängen, geradezu mit Schlüssel und Schwert bewaffnet, alle übrigen Apostel in den Hintergrund.

fol. 103v: Mit dem vor den 80. Psalm eingefügten Blatt, der Vogelpredigt des heiligen Franziskus, lösen sich die textlosen Vollbilder vom Jesus-Zyklus. Nicht die in der Geschichte der Franziskus-Ikonographie sehr viel wichtigere Stigmatisation, sondern die Vogelpredigt kehrt ebenso in unseren Vergleichsbeispielen, so in Morgan 72 und im Dubliner Psalter, wieder: Den Bezug zur Stigmatisation findet man nur in unserer Miniatur und in Dublin, wo die Kutte des Heiligen so aufgerissen ist, daß die Seitenwunde deutlich zu sehen ist. Alle drei textlosen Bilder sind mit architektonischer Rahmung versehen, obwohl das Geschehen im Freien spielt; alle drei verfügen auch über die breiten Rahmen. Nur in Morgan 72 ist der Name des Heiligen eingeschrieben.

Zum 97. Psalm ist fol. 122 eingefügt, mit dem einzigen textlosen Bild auf Recto, Petrus Martyr und Dominikus: Die beiden Hauptheiligen der Dominikaner stehen in ihrer Ordenstracht einander gegenüber; beide sind unversehrt; der linke aber hat eine große Waffe in der Hand, nicht recht ein Schwert und sicher keine Axt. Gemeint ist Petrus von Verona, dem 1252 der Schädel gespalten wurde und der schon im folgenden Frühjahr 1253 heiliggesprochen wurde, datiert ist zumindest dieses Bild nach 1253.

Entstehungsort und Entstehungszeit

Zwar erlauben die im Manuskript enthaltenen konkreten Hinweise nur, die Geschichte des Buchs ins mittelalterliche England zurückzuverfolgen; die Entstehung in Brügge ist jedoch unbestreitbar, selbst wenn in den Monatsbildern zu November und Dezember eine Genter Eigenart zu erkennen ist: Die gültige Bestimmung ergibt sich aus der Heiligenauswahl im Kalender, der Gestalt des Manuskripts und der Buchmalerei. Der erhebliche Aufwand an Gold in unterschiedlichen Techniken deutet auf das Milieu der wohlhabenden Patrizier; die Einbeziehung der Bettelorden in der Bebilderung auf die neue Spiritualität, die zwar auch Könige wie den heiligen

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Ludwig  IX . von Frankreich, mehr aber die gebildeten Kreise der städtischen Oberschicht in Bann schlug. Magdalena und Margarete machen die Bestimmung für eine Frau, wohl eine Nonne aus wohlhabendem Haus, eher Stadt- als Landadel, wahrscheinlich.

Die Bild-Initiale von fol. 124v, mit der ein König ohne Nimbus den Heiligenzyklus beschließt, legt nahe, dort den heiligen Ludwig zu erkennen. Ludwig wurde von den Franziskanern, deren Einfluß auf das Buch unverkennbar ist, wie einer der ihren behandelt. Wie dem Ordensgründer selbst konnte man ihm und seiner Mutter Blanche Züge verleihen, die an Jesus und Maria gemahnten. Der Ludwig-Kult war sicher zugleich ein politisches Moment in der Auseinandersetzung des französischen Königreichs mit Kaiser und Papst; er blieb aber nicht auf Frankreich begrenzt. In Brügge trafen beide Machtbereiche aufeinander; die französische Partei huldigte dem 1270 verstorbenen französischen König Ludwig  IX . sicher schon lange vor dessen Kanonisation 1297. Deshalb wird jeder, der hier ein Gebet des Heiligen Ludwig erkennt, unser Manuskript recht kurz nach Ludwigs Tod 1270 und eine gute Weile vor seiner Heiligsprechung 1297 datieren.

Der Literatur, die durch das Buch von Kerstin Carlvant aus dem Jahr 2012 auf eine neue und solide Stufe gestellt wurde, ist unser Psalter bisher entgangen. Das dort ausgebreitete Material erlaubt nicht nur eine sichere Lokalisierung, sondern auch eine würdigende Einschätzung der Verdienste unseres Buchs: Es gehört vom Bilderreichtum und dem Aufwand an Gold zu den kostbarsten Beispielen: Bei den textlosen Vollbildern und der Beatus-Initiale ersetzt die technisch ungemein aufwendige und ästhetisch beeindruckende Rahmung den sonst gewohnten Farbwechsel von Blau und Rot; d as geschieht sonst nur noch in einem einzigen stilverwandten Psalter: Ms. W 61 der Chester Beatty Library in Dublin (Carlvant 2012, Abb. 29 a–r, 76–81, 219–222 und passim). Von ganz herausragender Qualität zeugt schließlich der Kalender mit seinen dynamischen Gestalten vor unregelmäßig begrenztem, prachtvoll bombiertem Gold. In ihm befreit sich noch entschiedener als im Dubliner Parallelstück die Darstellung von der Einengung durch Bildgrenzen. Gerade hier gilt, was Maurits Smeyers gemeint hat, als er in der Tradition von Henry Thode (Franz von Assisi und die Anfänge der Kunst der Renaissance in Italien, Berlin 1904) schrieb, die Menschlichkeit und Gefühlsstärke der Bettelorden verbinde sich mit dem lebendigen und direkten Stil der Buchmalereien (Smeyers 1998, S. 136–142).

Das letzte in fast allen Punkten vergleichbare Psalter-Manuskript wurde am 6. Juli 2000 bei Sotheby's in London versteigert, der sogenannte Hachette-de Boisrouvray-Psalter: Amiens, ca. 1260; 3,5 cm höher als unser Manuskript, mit acht ganzseitigen Miniaturen (von zwölf = vier herausgeschnitten), acht hist. Initialen 'und 24 sehr kleinen Kalender-Medaillons, Erhaltung in etwa vergleichbar: es kostete £ 3.050.500, damals ca. sfr. 7,5 Millionen – vor 21 Jahren.

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Ein sensationeller Fund, den wir hier nach der englischen Familie Restwolde aus der Zeit Edwards IV. nennen, die in einer nachträglichen Sterbenotiz zum 24. Mai genannt wird: Eines der extrem seltenen Prachtpsalterien des späten XIII . Jahrhunderts aus Brügge, zugleich das Zeugnis einer Buchkunst, die sich vom Klosterbetrieb löst und in einer aufstrebenden Bürgerstadt auch als Ausdruck der neuen Wirtschaftskraft zu verstehen ist und das am deutlichsten in dem hinreißend lebendigen Zyklus von Monatsbildern. Der Literatur ist das Manuskript noch völlig unbekannt; es ist jedoch zweifelsfrei einzuordnen in den von Kerstin Carlvant 2012 versammelten Bestand als Schwesterstück des Psalters in der Chester Beatty Library in Dublin, mit ungemein eindrucksvoll bearbeitetem Gold.

In der Geschichte des flämischen Kalenders nimmt dieses Manuskript eine herausragende Rolle ein; denn während in den enger verwandten Beispielen doch nicht ganz auf Rahmung verzichtet wird, gilt hier das Prinzip der ins Textfeld eingestreuten einzelnen Figur vor bombiertem Blattgold konsequent in allen Monaten. Deshalb ist für die Gestalten jeweils besonders viel Platz und freier Raum gewonnen!

Literatur

Carlvant, Kerstin, Manuscript Painting in Thirteenth-Century Flanders. Bruges, Ghent and the Circle of the Counts, London 2012.

Haseloff, Günther, Die Psalterillustration des 13. Jahrhunderts. Studien zur Geschichte der Buchkunst in England, Frankreich und den Niederlanden, Kiel 1938.

Smeyers, Maurits, L’art de la miniature flamande, Antwerpen 1988.

Gänzlich unbekanntes Stundenbuch mit ganzseitigen Kalender-Miniaturen vom Meister des Dresdner Gebetbuchs

aus der Zeit um 1480

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Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Rom.

Lateinische Handschrift in Schwarzbraun und hellem Rot auf Pergament, in einer gotischen Rotunda.

Brügge, um 1480: Meister des Dresdner Gebetbuchs.

Vierundzwanzig Bilder und zwei spätere Titelseiten: 23 ganzseitige Miniaturen, mit flachem Bogen abgeschlossen, textlos in Vollbordüren; eine achtzeilige historisierte Initiale. Zwölf der Vollbilder auf Doppelseiten mit entsprechend dekorierten Textanfängen, die jeweils mit 5zeiligen Zierbuchstaben (blaue Lettern mit roten Binnenfeldern auf Blattgold) eröffnen; die sieben Vollbilder im Kalender hingegen mit Monatslisten, die nur von zwei senkrechten Randstreifen begleitet werden. Der Textspiegel im fortlaufenden Text mit drei Goldleisten von unten gerahmt, darum herum Vollbordüren wie bei den großen Incipits, die nach außen durch doppelte rote Linien begrenzt sind. Alle Vollbordüren, unabhängig von der Texthierarchie jeweils in der Mitte des unteren und äußeren Randstreifens mit jeweils einem Tier (Vogel, Insekt, Schnecke oder Groteske) belebt. Psalmenanfänge mit zweizeiligen, Psalmenverse (im Zeilenverlauf) mit einzeiligen Goldbuchstaben auf weinroten und blauen Feldern. Versalien nicht farblich hervorgehoben.

149 Blatt Pergament, zu einem späten Zeitpunkt wurde das bereits beeinträchtigte Manuskript teils in den oberen Ecken außen, teils am Falz unten mit Bleistift von 1 bis 306 paginiert; danach wurden jedoch noch zumindest vier Blätter im Kalender entfernt (exoriare aliquis ... ultor). Wohl durchweg in Quaternionen aufgebaut; die Vollbilder –außer jenen im Kalender – auf eingeschalteten Blättern mit leerem Recto.

Kleines Sedez: 100 × 70 mm (Testspiegel: 51 × 39 mm). Zu 17, im Kalender zu 32  Zeilen, in hellem Grün regliert; die meist doppelten Randlinien der Bordüren im für Reglierung gewohnten Rot.

Ohne Einband in Einzelblättern oder unvollständigen Lagen. Viele Blätter gewellt, mit unregelmäßigen Rändern; frühere Beschneidung ohne Beeinträchtigung des Randschmucks. Einzelne Bordüren unwesentlich berieben, Miniaturen allermeist in sehr gutem Zustand (einige Bereibungen, vor allem im Blau, sensibel retuschiert).

Keine Hinweise auf frühere Besitzer.

Der Text

p. 1: Titelblatt officiv(m)/ b(eatae) m(ariae) vir/ginis; p. 2 leer.

p. 3: Kalender: In lateinischer Sprache, nur wenige Tage besetzt: Goldene Zahl, Sonntagsbuchstaben a und Feste in hellem Rot; Sonntagsbuchstaben b–g und einfache Heiligentage in schwarzbrauner Tinte. Die meisten Angaben finden sich in Brügger Stundenbüchern wie Cambridge, Fitzwilliam Museum 1975–1058 (mit

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späten Miniaturen auch vom Dresdner Gebetbuchmeister) wieder. Die Bezeichnung des heiligen Laurentius zu seinem Fest am 9. August als „epi“, Bischof, irritiert. Auffällig ist die Erwähnung des heiligen Rochus von Montpellier (1295–1379), der nie offiziell heiliggesprochen wurde. Sein Kult entwickelte sich in Südfrankreich zwar schon im frühen XV. Jahrhundert; doch verbreitete er sich erst um 1480 europaweit, nachdem Francesco Diedo seine Rochus-Legende 1478 in Venedig veröffentlicht hatte (siehe z. B. Heinrich Dormeier, St. Rochus, die Pest und die Imhoffs, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1985, S. 7–72).

Der Kalender war auf zwei Quaternionen verteilt: In Lage 1, deren erste beiden Blätter nicht paginiert waren, ist nur das 3. Doppelblatt mit dem Titel sowie Februar-Text und März-Bild erhalten; dazwischen fehlen Januar und Februar-Bild (p. 1–4) und am Ende mit p. 7–10 auch März-Text bis Mai-Bild. Nach der Mitte der zweiten Lage, die von Bild und Text zum September eingenommen wird, fehlt das Blatt p. 19/20 mit Oktober-Text und November-Bild; p. 21–23 enthalten November- bis Dezember-Text und auf dem Verso p. 24 eine Art von zweitem Titel.

Textanfänge, meist auf Doppelseiten mit Vollbild auf Verso:

p. 26: Horen des Heiligen Kreuzes mit Kreuzigung (p. 26/27) und des Heiligen Geistes mit Pfingstwunder (p. 34/35).

p. 42/43: Madonnenbild zur Marien-Messe.

p. 54: Marien-Offizium secundum usum Romanum: Verkündigung zur Matutin (p. 54/55), Heimsuchung zu den Laudes (p. 90/91), Weihnacht zur Prim (p. 112/113), Königsanbetung zur Terz (p. 122/123), Hirtenverkündigung zur Sext (p. 132/133), Non (Anfang fehlt), Kindermord zur Vesper (p. 150/151), Flucht zur Komplet (p. 164/165), Marienkrönung zum Advents-Offizium (p. 174/175).

Bußpsalmen (Anfang fehlt).

p. 224: Toten-Offizium: Auferweckung des Lazarus zur Vesper (p. 224/225).

p. 284/285: Gregorsmesse zu Versen des heiligen Gregor: O domine adoro te in cruce pendentem.

Suffragien:

Pfeilmarter des hl. Sebastian (p. 288), Auferweckungswunder des hl. Nikolaus (p. 290), Text zu Johannes dem Evangelisten (p. 291).

p. 292: Mariengebet Obsecro te mit der Pietà in der Initiale.

p. 305 (in Schrift des XVI . Jahrhunderts): Georgs-Suffragium; p. 306 leer.

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Schrift und Schriftdekor

Die Schrift ist kompakt, tendenziell eckig; sie gehört zu jenen gotischen Schriften, die vor allem in Brügge für Exportstücke eingesetzt wurden, insbesondere wenn man in Flandern ansässige Auftraggeber aus dem Mittelmeerraum bediente. Sie ist niedriger als die durchaus verwandte Schrift des Dresdner Gebetbuchs (siehe Brinkmann 1997, Abb. 22). Die Buchseiten sind mit jeweils 17 Zeilen für den Textblock sehr ähnlich angelegt; der Kalender in Dresden wurde jedoch zweispaltig konzipiert.

Die Bordüren mit blaugoldenem Akanthus, stilisierten Blüten und Resten von Dornblatt auf Pergamentgrund sowie dem Einsatz von kleinen Lebewesen jeweils in der Mitte außen und unten sind in beiden Manuskripten eng verwandt. In Dresden wird der Randschmuck jedoch nur mit einfachen roten Linien und nicht den hier vorherrschenden doppelten begrenzt; zudem grenzen dort Doppelstäbe und nicht einfache Goldleisten das Textfeld ab. In Dresden gibt es noch große DornblattInitialen. Die kleineren mit Gold und Farben gestalteten Zierbuchstaben sind nicht verwandt; denn sie sind dort tendenziell quadratisch, während sie in unserem Stundenbuch extrem querformatig bemessen sind.

Da der Dresdner Gebetbuchmeister zu jenen flämischen Buchmalern gehört, die zunächst mit herkömmlichem Randschmuck auf Pergamentgrund mit Dornblattresten, blaugoldenem Akanthus und stark stilisierten Blumenzweigen arbeiteten, in den 1480er Jahren oder wenig später aber mit Streublumen auf bunten Gründen ihre Bücher dekorieren ließen, unterstützt der Blick auf die Bordüren die durch das Auftauchen des heiligen Rochus im Kalender angeregte Datierung um 1480.

Die Bilder

Mit Ausnahme der Bild-Initiale am Schluß hat man Vollbilder mit flachem Bogenabschluß in Vollbordüren verwendet. Sie orientieren sich an den Maßen des Textspiegels, haben deshalb auf allen vier Seiten Randschmuck. Auf den Umstand, daß die Textseiten des Kalenders die Justifikation sprengen, wird nicht reagiert.

Die Monatsbilder:

Die Bilder von Januar, Februar, April und Mai sowie November sind mit den auf den Recto-Seiten vorausgehenden Texten für Januar, März, April und Oktober verschwunden. Doch dürften die entsprechenden Miniaturen im Dresdner Gebetbuch bei aller kreativen Freiheit des Künstlers einen ungefähren Eindruck vom ursprünglichen Bestand geben. Im Januar speist dort ein Herr beim Kamin, dem ein Diener einen Krug aus dem verschneiten Hof bringt. Im Februar sammeln die Landleute in Dresden Holz.

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Im März weicht unsere Miniatur auf unerhörte Weise vom bekannten Brauch ab: Statt wie im Dresdner Gebetbuch das Umgraben im Garten einer Burg zu zeigen, ist ein Totengräber im Zeichen des Widders dabei, in der harten Erde am Übergang vom Winter zum Frühling auf einem Begräbnisplatz vor einer Stadtkulisse ein Grab auszuheben. Blumen am Eingang zum Bild lassen an die Disteln denken, mit denen Jan van Eyck im verbrannten Turiner Gebetbuch um 1440 das Juliansbild eröffnet hatte (Riss durch Bordüre und Miniatur fachgerecht geschlossen).

April und Mai dürften wie im Dresdner Gebetbuch jeweils den Spaziergang und den Ausritt eines Liebespaars gezeigt haben.

Vor einer Stadtvedute, die an die Brügger Liebfrauenkirche denken lässt, obwohl der Bau hier noch unvollendet ist, tritt im Juni unter dem roten Krebs, der fast wie der zehnbeinige Skorpion im November aussieht, ein Bauer auf, der im Heumonat das Gras mit einer Sense mäht. Ihre schwarze, vom Gras unterbrochene Linie schreibt den Schnitter in ein Rund ein, das von der Sensenspitze unter den Füßen über das Sensenblatt verläuft und dann von Buschwerk und Flechtzaun hinter dem Kopf des Schnitters fortgesetzt wird – typisch für den Dresdner Gebetbuchmeister, auch wenn der im namengebenden Werk nüchterner vorgegangen ist. Dort bindet eine Frau das Heu zu einer dicken Garbe.

In der Miniatur zum Juli sind im Zeichen des Löwen Frau und Mann vom Feldweg aus mit dem Mähen des Kornfelds beschäftigt, das keine plastische Einheit bildet. Die Draperien deuten auf die Mithilfe eines Werkstattmitarbeiters, der am Ende des Stundenbuchs zwei Suffragien bebildert hat.

Im August wird unter dem hochovalen Medaillon mit der Jungfrau Korn gedroschen: Von links ragt eine Scheune mit schadhaftem Dach ins Bild – geometrisch nicht ganz schlüssig. Zwei Landleute, knapp unter die Horizontlinie gebeugt, bewegen sich ähnlich der Dresdner Miniatur, wie überall im Kalender unseres Neufunds etwas größer und in wärmerem Kolorit gehalten: Der eine holt mit dem Dreschflegel aus; der andere läßt ihn niedersausen.

Schon der September ist unter dem Zeichen der Waage, die ein sitzendes Mädchen im recht großen Medaillon hält, die Zeit für die Weinlese; nicht im Hof des Weinbauern, sondern im Weinberg spielt die neu aufgetauchte Miniatur: Eine Frau kniet links und hebt Trauben auf, um sie in einen Korb zu legen; fast auf allen Vieren sammelt rechts ein Mann Trauben ein, während ein Hund in der Mitte eingerollt schläft. Über ihm steht als Hauptfigur ein Mann mit einer Bütte, in die von rechts ein zweiter Mann, mit einem Geldbeutel am Gürtel einen der Körbe ausleert.

Die Darstellung der Aussaat im Oktober ist von besonderem farblichen Reiz: Über den geeggten Acker, vor weit gestaffelter Landschafts- und Klosterkulisse, schreitet der Sämann in derselben Haltung wie in der Dresdner Miniatur. Der Skorpion, der

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sich im Wesentlichen durch das Paar stärkerer Arme vorn vom Krebs unterscheidet, wird in einer ovalen Gloriole gezeigt.

Wie in Dresden wird zum November dargestellt gewesen sein, daß man vor der großen Zeit des Schlachtens die Schweine noch einmal in Eichenwälder trieb, damit sie sich an den Eicheln satt fressen.

Schweineschlachten gehörte traditionell zum Dezember; deshalb wird in beiden Kalendern unter dem Zeichen des Steinbocks die Arbeit des Metzgers geschildert. Das geschieht auf einem Marktplatz. Der Metzger schwingt in gekonnter Drehung einen großen Hammer, um einen Eber zu betäuben. Vorn liegen Gerätschaften bereit, eine große Axt, ein Wasserbottich und ein Besen. Diese Miniatur gehört wie die Mehrzahl der Kalenderbilder zu den hinreißendsten Malereien in diesem Manuskript.

Die Bilder zu den wichtigsten Incipits: Nicht nur im Kalender, dem der Dresdner Gebetbuchmeister gern neue Facetten gab, präsentiert sich seine überwältigende Kunst: Thematisch bewegen sich die Bilder zu den wichtigsten Incipits im Spektrum dessen, was man von ihm gewohnt ist; dazu gehört allerdings eine erstaunliche Freiheit im Detail. Präzise Übereinstimmungen mit Miniaturen in anderen Stundenbüchern wird man kaum finden, mit Ausnahme des noch kleineren Manuskripts Morgan 1077, wo die Gewänder in Grisaille gehalten sind und somit des Feuers der Farben in unserer Handschrift entbehren. Die Umstellung der Bilder zu Terz und Sext des Marien-Offiziums mag auf einen Irrtum eines Buchbinders zurückgehen.

p. 26: Die Horen werden wie gewohnt mit den üblichen Erkennungsbildern eröffnet: Zur Matutin des Heiligen Kreuzes ist das die dreifigurige Kreuzigung (p. 26): Maria, ganz in Blau, und Johannes, ganz in Rot, stehen unter dem Kreuz mit schmerzlich abgewendeten Häuptern; der Horizont der Flachlandschaft ist vor dem niedrigen Hügelzug im Hintergrund auf die beiden Köpfe abgestimmt.

Zur Matutin des Heiligen Geistes wird das Pfingstwunder (p. 34) in einem Innenraum gezeigt, der links ein Fenster zum blauen Himmel hin und rechts einen Bogen zu einem dunklen Nebenraum hat. Darin steht bildparallel ein niedriges Möbelstück, vor dem Maria in der Mitte der Apostel hockt. Sie schaut als einzige nicht auf zur Taube des Heiligen Geistes, die vor der bildparallelen Mauer in einem Kreis nach außen züngelnder goldener Flammen erscheint.

p. 42/43: Von berückendem Charme ist das Madonnenbild zur Marien-Messe: Von flämischen Miniaturen der Heimsuchung her könnte meinen, die Jungfrau habe noch einmal Elisabeth besucht; denn im Hintergrund rechts steht ein Haus, vor dem ein Greis so sitzt, wie man das zuweilen von Zacharias kennt. Auf einem mit

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Gold verzierten Savonarola-Stuhl, die Füße auf einem Kissen, sitzt Maria mit dem Kind vor einer Mauer, die den Vorplatz des stattlichen Hauses zu einem Fluß hin abgrenzt, dessen Brücke ein fernes Echo von Jan van Eycks Madonna im Louvre sein mag (man vergleiche das nämliche Bild in Morgan 1077, wesentlich simpler im Aufbau).

p. 54: Mit Ausnahme des Bildes zur Non ist die gesamte Bebilderung zum MarienOffizium erhalten; sie folgt dem aus südniederländischen Stundenbüchern geläufigen Brauch mit Einbeziehung des Kindermords zur Vesper; an der wenig sinnvollen Umstellung von Terz und Sext ist der Maler sicher nicht schuld.

Hinter zwei vorgeschalteten Maßwerkbögen findet die Marienverkündigung zur Matutin (p. 54) statt, gestisch den meisten Varianten im Werk des Dresdner Gebetbuchmeisters verwandt, aber mit charakteristischer Freiheit variiert: Unter einem Okulus, durch den vom Himmel goldene Strahlen eindringen, die auch die Taube des Heiligen Geistes mit sich bringen, ist links der Erzengel in weißem Ornat niedergekniet. Maria wendet sich von ihrem auf dem grünen Betpult aufgeschlagenen Buch sacht zu Gabriel um. Auch hier ist der Vergleich mit Morgan 1077, v. a . durch die subtilen Abwandlungen, aufschlussreich.

Bei der Heimsuchung zu den Laudes (p. 90) stehen Maria und Elisabeth einander in einer Flachlandschaft gegenüber; ähnlich wie die Beifiguren der Kreuzigung ist die Jungfrau ganz in Blau, die Greisin in Rot gekleidet; ihre Häupter ragen vor der Hügelkette im Hintergrund ein wenig über die Horizonthöhe hinaus. Links breitet sich ein Teich, rechts blickt man im Mittelgrund auf eine Häusergruppe; von dort wird Elisabeth der schwangeren Maria entgegen gegangen sein.

Streng in zwei Hälften komponiert ist das Weihnachtsbild zur Prim (p. 112) mit einem Blick ins Freie links und dem Dunkel des Stalls rechts: Von links ist Maria mit Joseph niedergekniet, um das Kind in der Krippe anzubeten, deren Kasten in strenger Verkürzung gezeigt wird. Ein schadhafter Flechtzaun vorn, der Ochs, der Esel, schließlich eine aufrechtstehende Korngarbe füllen den Raum, der durch zwei Fensterluken nach hinten geöffnet ist; von dort blicken bereits Hirten herein.

Die Königsanbetung zur Terz (p. 122) folgt wie die Weihnacht der Leserichtung nach rechts; doch spielt die Szene nun nicht mehr im schadhaften Stall, sondern in der steinernen Ruine von Davids Palast: Von links sind die Weisen aus dem Morgenland eingetreten, von Joseph begrüßt. Der älteste kniet vor der Muttergottes, die auf einem grünen Bett vor einem tiefblauen Goldbrokat sitzt. Zumindest der König und das zum Betrachter gewendete Jesuskind könnten seitenverkehrt am Berliner Monforte-Altar von Hugo van der Goes orientiert sein.

Bei der Hirtenverkündigung zur Sext (p. 132) fällt der Blick auf eine nach rechts zu einem fächerförmig ausgebreiteten Busch ansteigende Wiese mit drei Männern; den

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linken kennen wir aus der Bild-Initiale in unserem Karmeliter-Stundenbuch (Nr. 21 in LMNF  V). Unregelmäßig verteilt sind die Schafe, rechts vorn wacht ein schwarzer Hund. Erst im Mittelgrund wird die Landschaft strukturiert: Ein Felsen mit einer Kapelle steigt links auf; dahinter blickt man auf eine Stadt mit einem hohen Zentralbau, wie er in den Kreuzigungsbildern nach Van Eyck für den Tempel von Jerusalem steht.

Von besonderer Ausdruckskraft ist der Kindermord von Bethlehem zur Vesper (p. 150): Während sich eine Mutter schmerzerfüllt flehend nach links wendet, greift ein Soldat, der ihren in einer Windel am Boden liegenden Säugling getötet hat, erneut zum Kurzschwert. Offenbar vergeblich versucht eine zweite Mutter, ihn mit einem Griff ins Gesicht aufzuhalten; denn ihr Söhnchen ist gerade aus dem Haus rechts gekommen und steht schreiend neben ihr. Vor dem runden Tor des Steinhauses rechts blüht mit großen weißen Blüten in der rechten Bildecke eine Staude. Im Mittelgrund schiebt sich von links hinter einem Wassergraben eine Burg ins Bild, über deren Brücke Reiter und Fußvolk nach rechts ausbrechen, wohl auch sie zum Kindermord bestimmt. Diesmal überblickt man die Hauptfiguren aus einer etwas erhöhten Perspektive zur eindrucksvollen Landschaft hin.

Bei der Flucht nach Ägypten zur Komplet (p. 164) fehlt der Kindermord; er tauchte im Hintergrund der Flucht in unserem Amienser Stundenbuch mit Miniaturen des Dresdner Gebetbuchmeisters auf, das wir Bodo Brinkmann zugänglich gemacht hatten, ehe wir es selbst 1998 vorstellten (LMNF  2, Nr. 30; Brinkmann 1997, S. 248–252 und Farbtaf.): Die Hauptfiguren, Maria ganz in Blau auf dem Esel und Joseph in Rot mit schwarzem Hut, halb vom Reittier verdeckt, sind nahezu dieselben; nur drückt die Muttergottes ihr winziges Wickelkind nun eng an ihren Körper. Ihr Weg führt nach rechts, wo schützende Bäume warten. Die Landschaft mit bildparallelem Gewässer vor einer Stadt im Mittelgrund wird wie in unserer Handschrift gewohnt mit einer Horizonthöhe gezeigt, die korrekt auf die Köpfe abgestimmt ist.

Wie aus einer Bildvorlage für eine historisierte Initiale entwickelt wirkt die Marienkrönung zum Advents-Offizium (p. 174): Vor einer nach oben rund abgeschlossenen Fläche aus Pinselgold kniet die Jungfrau, en-face zum Betrachter gewendet, zwischen in Camaïeu modellierten Thronbänken für die beiden Personen der Trinität in gleicher Gestalt; von ihnen erhält sie die Krone, über der die Taube des Heiligen Geists schwebt. Das Gold ist einbeschrieben in ein grünes Zelt, das von innen mit rotem Brokat ausgeschlagen ist und über tiefblauen Wolken vor zartblauem Himmel schwebt.

p. 224: Zum Toten-Offizium wird die Auferweckung des Lazarus nach derselben Vorlage gestaltet, die auch für das Dresdner Gebetbuch (Brinkmann 1997, Abb. 26) gedient hat: In einer Flachlandschaft, bei auf die Hauptfiguren abgestimmtem

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Horizont, blickt man auf den von einer bildparallelen Mauer begrenzten Friedhof neben einem vom rechten Bildraum abgeschnittenen Sakralbau. Vorn ist das Grab des Lazarus geöffnet; der gerade wieder Auferweckte sitzt nackt betend, von Petrus gestützt, der sich in einer für den Dresdner Gebetbuchmeister charakteristischen Verkürzung zu ihm beugt. Hinter dem Apostel steht eine Frau, die mit ihrer Haube und rosafarbenem Mantel eher an die biedere Martha als an Magdalena denken läßt, auch wenn Magdalena gemeint sein dürfte, Jesus steht segnend hinter dem Grab, nur von einem weiteren Apostel begleitet. Zeugen der Auferweckung sind ein jüdischer Priester und drei weitere Männer.

p. 284: Die Verse des heiligen Gregor eröffnet ein Bild der Gregorsmesse: Links steht der Altar in einer zur Mitte weisenden Schrägansicht, wo sich gegen die Wand der Kirche ein Lichtschein abhebt, der wohl kreisförmig die Vision umgeben soll. Auf dem weißen Altartuch über kräftig blauem Antependium sind die Arma Christi um ein leeres Kreuz gereiht; vor dem Kreuz steht der Schmerzensmann, wie lebend, aber sehr viel kleiner als die Männer, die ihn von rechts erstaunt wahrnehmen. Er segnet den barhäuptigen Papst, der nah am Altar kniet. Zwei Geistliche, en face zum Betrachter, begleiten ihn. Ein Mitarbeiter könnte für die Malerei verantwortlich gewesen sein.

Nur zwei Bilder zu Suffragien sind erhalten, sie wurden wohl von demselben Mitarbeiter ausgeführt: Bei der Pfeilmarter Sebastians (p. 288) hockt links vorn ein Schütze und hat den Bogen so verdreht, als habe er aufgehört; hinter ihm steht ein zweiter ohne Bogen; die Mitte nimmt der karge Baum ein, an den man den fast nackten Heiligen gebunden hat; rechts schließlich weist ein Jüngling auf den Gemarterten, der mit wenigen Pfeilen gespickt ist. Im Hintergrund rechts auf der zu Buschwerk ansteigenden Wiese stehen drei Männer, die die Marter angeordnet haben; links nimmt eine Stadt wieder mit einem auffällig orientalisierenden Zentralbau den Mittelgrund ein. Eine Himmelsgloriole, links in den Bogenabschluß einbeschrieben, soll wohl Trost spenden.

Vor einer nicht konsequent konzipierten Architektur aus Säulen und Bögen, mit einem Blick in einen Sakralraum links steht beim Nikolauswunder (p. 290) der Bischofsheilige, das Haupt nach oben gewendet. Er segnet die drei Jünglinge, alle durch Tonsur als Geistliche bezeichnet, die betend aus dem Pökelfaß auftauchen, in dem sie getötet wurden.

Zum Mariengebet Obsecro te ist nur eine acht Zeilen hohe Initiale eingerichtet; sie birgt ein Bild der Pietà mit nach rechts gewendeter Muttergottes und dem toten Erlöser.

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Die beiden Maler

Der Meister des Dresdner Gebetbuchs gehört zu den am stärksten individuell ausgeprägten flämischen Buchmalern der Jahrzehnte um 1500. Man erkennt ihn an seinen Physiognomien und zugleich an der Neigung, Köpfe zuweilen in kühner Verkürzung und ungewohnten Ansichten zu zeigen. Er ist ein großartiger Kolorist und – gerade für unseren Katalog entscheidend – ein Pionier der Landschaftsmalerei. Das beweist er im Kalender ebenso wie in vielen Bildern zum Text. Dabei fällt immer wieder auf, wie raffiniert und gekonnt er mit der Vorstellung umgeht, die Augenhöhe der Hauptfiguren und der Horizont müßten übereinstimmen.

Wir haben in unseren Katalogen diesen Meister immer wieder würdigen können, weil uns einige überraschende Funde gelungen sind, die den Lebensweg des Künstlers erhellen: Brinkmann hat 1997 gemeint, der Buchmaler stamme aus Utrecht und knüpfe an das Werk des Meisters der Katharina von Kleve an. Er verfolgt den Weg des Dresdner Gebetbuchmeisters zunächst nach Brügge, dann nach Amiens und dann wieder zurück nach Flandern. Wie aus der Beschreibung hervorgeht, entstand die hier beschriebene Handschrift in enger zeitlicher Beziehung zum namengebenden Werk, das Brinkmann in die 1470er Jahre setzt. Mit dem Auftreten des heiligen Rochus, dessen Kult erst um 1480 aufblühte, steht eine Datierung um 1480 in bestem Einvernehmen mit dem, was wir inzwischen von diesem Künstler wissen.

Die wenigen Arbeiten eines Gehilfen zeugen vom Brauch, bei solchen Aufträgen auch Buchmaler schlichteren Formats einzubeziehen. Dieser Maler mag an unserer Nr. 16a in Leuchtendes Mittelalter III beteiligt gewesen sein.

Zwar erheblich geplündert, erweist sich die hier beschriebene Handschrift als eindrucksvoller Fund: Am wichtigsten ist für uns im hier vorgelegten Katalog der Kalender mit seinen sieben erhaltenen ganzseitigen Miniaturen, die in enger Beziehung zum Dresdner Gebetbuch stehen; damit ist ein zweites Beispiel für den Einsatz textloser Monatsbilder im Werk des Künstlers aufgetaucht! Schon dieser Umstand zeigt, wie wichtig dieses Stundenbuch für unsere Kenntnis des eminenten Künstlers ist – zumal wenn man bedenkt, daß die Miniaturen in Dresden durch Wasserschaden zerstört sind. Zugleich bieten die textlosen Bilder im Buchblock ein eindrucksvolles Panorama der großen Landschaftskunst und der koloristischen Wucht dieses Künstlers – wäre die Handschrift komplett, dürfte man von einem der schönsten Manuskripte des Dresdner Meisters, ja der gesamten Periode vor 1500 in der flämischen Buchmalerei sprechen!

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Das Charron de Menars-Stundenbuch mit einem Kalender im Stil des Dresdner Gebetbuchmeisters und Vollbildern vom Meister des Raphael de Mercatellis in einem französischen Mosaik-Einband für Maria von Medici

Stundenbuch. Horae B.M.V. für den Gebrauch von Rom, mit Kalender für Brügge.

Lateinische Handschrift in Schwarzbraun und Rot auf Pergament, in burgundischer Bastarda.

Brügge, um 1480: Meister des Raphael de Mercatellis, die Kalenderbilder im Stil des Dresdner Gebetbuchmeisters.

Insgesamt 35 Bilder: 11 textlose Miniaturen auf Doppelseiten mit dem Incipit und 24 Medaillons im Kalender; die Vollbilder und insgesamt 14 Textanfänge mit 4- bis 5-zeiligen Dornblatt-Initialen in reichen vierseitigen Bordüren aus blaugoldenem Akanthus und Blumen; nur die Incipits mit jeweils zwei Grotesken; die Kalender-medaillons in dreiseitigen Bordüren derselben Art; alle Textseiten akanthusgeschmückter Dornblattbordüre außen. Psalmenanfänge mit zweizeiligen, Psalmenverse im Zeilenverlauf mit einzeiligen Goldbuchstaben auf weinroten und blauen Feldern, eine später hinzugefügte Wappenmalerei. Versalien gelb laviert.

153 Blatt Pergament, gebunden vorwiegend in Lagen zu 8 Blatt, einige Miniaturen auf eingeschalteten Blättern; abweichend: 1 (8–1 – das leere zweite Blatt entfernt), 2 (8+2), 4 (8–1 vor fol. 30 ein Blatt entfernt), 8 (8+1), 9 (8–1 – vor fol. 69 ein Blatt entfernt), 10 (8+1), 11 (8–1 – vor fol. 84 ein Blatt entfernt), 12 (8+2), 14 (8+1), 17 (8–1 – vor fol. 133 ein Textblatt entfernt). Keine Reklamanten.

Oktav (175 × 118 mm, Textspiegel 77 × 58 mm); zu 17, im Kalender zu 34 Zeilen. Bis auf die vermutlich drei fehlenden Blätter vorzüglich und frisch erhalten.

Dunkelroter französischer Maroquinband der Zeit um 1620-30, mit Maroquinintarsien in Grün und Schwarz, auch elfenbeinfarbenem Pergament und reichster PointilléVergoldung von Macé Ruette, höchstwahrscheinlich für Maria von Medici, die Frau König Heinrichs IV. von Frankreich. Er gehört zu einer besonderen, sehr kleinen Gruppe von Mosaikeinbänden von Macé Ruette, die Esmerian in seinem Appendix zum Katalog unter II , D als Einbände "à la cathédrale" verzeichnet: es sind insgesamt acht, wovon nur zwei durch ihr besonders intrikates Muster und die Kompliziertheit der Machart mit unserem Einband verglichen werden können. Es sind dies das auf der Gougy-Auktion II , 1934 als Nr. 783 verkaufte Stück (ein Stundenbuch von 1610) sowie das Gebetbuch der Maria von Medici in Chantilly, siehe Abb. in Reliures françaises du XVII e siècle, 2002, Nr. 3, mit mehreren Farbabbildungen. Es ist demnach mehr als wahrscheinlich, daß unser Einband für die Königin gefertigt und von dieser (einer Italienerin) an ein weibliches Mitglied der Veroneser Familie Pinella weitergegeben wurde, die ihr Allianzwappen zentral einfügen ließ. Letzter Beweis für diese Provenienz ist ein weiterer vergleichbarer, Esmerian unbekannter Einband, der ebenfalls aus dem Besitz der Maria von Medici stammte, sie schenkte ihn ihrer Tochter Christine de France mit handschriftlicher Widmung, siehe Catalogue [Van der Elst] Monaco 1985, Nr. 143 mit Abb. auf Tafel (300.000 Francs).

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Danach kam das Werk in den Besitz des bedeutenden Sammlers Charron de Menars, sein Wappen findet sich eingemalt auf dem Verso des pergamentenen Vorsatzes: Von zwei Schwänen gehalten auf Blau in Gold ein Sparren und drei fünfzackige Sterne, unter einer Krone mit fünf Spitzen. Jean-Jacques Charron de Menars (1643–1718) hatte 1678 die Bibliothek de Thou erworben; vieles in der Pariser Nationalbibliothek, sein Rosenroman jedoch z. B. heute Ms. Fr. 39 der Harvard Library, Cambridge Mass. Im XVIII . Jahrhundert bei Maffeo Pinelli: Bd. III , 1787, Nr. 7916; Auktionskat. 1789, Nr. 12822; in beiden Kat. wird das Wappen Charron de Menars irrtümlich den Venezianer Loredan zugeschrieben. James Gibson Craig (1799–1886), lot 1278 in dessen Auktion Sotheby’s 1.7.1887; an Quaritch’s; Samuel Putnam Avery (1822–1904), mit dessen KupferstichExlibris (signiert von C. W. Sherborn): in Averys Auktion der Anderson Art Galleries New York, 10.11.1919, Nr. 463: $ 925.- Zuschlag. Zuletzt in der weltberühmten Sammlung von Henry Bradley Martin, sale IX , 9.6.1990, Nr. 3352 ($ 77.000.-).

Der Text

fol.1: Kalender, in lateinischer Sprache, nicht jeder Tag besetzt; einfache Heiligentage und die Sonntagsbuchstaben b–g in Braun; Feste, Goldene Zahl und Sonntagsbuchstaben a in Rot. Die Heiligenauswahl, zwischen Arras und Utrecht, weist mit Donatian (14. 10.) als Fest auf Brügge.

fol. 8: Horen: des Heiligen Kreuzes (fol. 8), des Heiligen Geistes (fol. 15).

fol. 27: Marienmesse: Salve sancta parens.

fol. 25v: Perikopen: Johannes (fol. 25v), Lukas (fol. 26v), Matthäus (fol. 28), Markus (fol. 29).

fol. 30: Marien-Offizium secundum usum romanum: Matutin mit Psalmen für die Wochentage (nur Textanfang fol. 30), Laudes (fol. 47), Prim (fol. 57), Terz (fol. 61), Sext (nur Textanfang fol. 66), Non (fol. 69), Vesper (fol. 73), Komplet (fol. 80), Salve regina (fol. 83), Advents-Offizium (nur Textanfang fol. 84).

fol. 92: Bußpsalmen mit Litanei ohne spezifischen lokalen Bezug (fol. 102v).

fol. 109: Toten-Offizium: Vesper (fol. 109), Matutin (fol. 115v, mit Rubrik), Laudes (fol. 135v, mit Rubrik). fol. 145v leer.

fol. 146: Mariengebet Obsecro te für einen Mann redigiert.

fol. 149v: Suffragien: Michael (fol. 149v), Johannes der Täufer (fol. 149v), Petrus und Paulus (fol. 150), Nikolaus (fol. 150v), Magdalena (fol. 151), Barbara (fol. 151v), Katharina (fol. 152), Margareta (fol. 152v); fol. 153v leer.

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Schrift und Schriftdekor

Von der Gestaltung her gehört diese Handschrift mit Werken des Dresdner Gebetbuchmeisters zusammen; das verrät die niedrige dunkle Bastarda mit den roten Rubriken; doch sind die Versalien hier gelb laviert. Die einzeiligen und zweizeiligen Initialen in Blattgold; sie sind stark querrechteckig; der Übergang vom weinroten zum blauen Grund wird kaum durch Konturen abgegrenzt sein. Durchweg sind die Textseiten, unabhängig von den dort auftretenden Initialen, mit einem Bordürenstreifen außen versehen: das rotumrandete Rechteck wird beherrscht von einer mächtigen Akanthusform in der Mitte oder zwei Zweigen derselben Art außen. Das dunkle Blau, das immer zusammengeht mit rot modelliertem Pinselgold gibt dem Kolorit einen ernsten Grundton. Grüne Blättchen und rote Blüten bilden keine Blumenzweige eigenen Rechts, sondern begleiten nur die in Tinte gezeichneten Spiralranken. Dornblatt bleibt Grundmuster; doch wird es statt mit Blattgold mit Pinselgold gefüllt.

Besonders reich ist der Kalender geschmückt mit drei Streifen derselben Art, die als Klammern von außen das Textfeld umschließen. Zunächst wurden nur die senkrechten Bordüren außen ausgeführt; dann beschloß man, Tierkreiszeichen und Monatstätigkeiten in Medaillons zu zeigen, die eigene Randstreifen brauchten. Die waagerechten Bordüren im Kalender sind dichter mit Blattwerk besetzt; Dornblatt hat dort kaum noch Platz.

Dieselbe Art dichten Randschmucks findet man bei den großen Textanfängen. Sie werden durch vier- bis fünfzeilige Dornblattinitialen eröffnet; von diesen gehen Zierleisten aus, Doppelstäbe und nicht die einfachen Goldleisten unserer Nr. 2, die das Textfeld von unten umschließen, nach oben aber offen bleiben. Die Bordüren sind mit einfachen, nicht doppelten roten Linien umrandet, von Akanthus dominiert; doch fügen sich grüne Blätter und Blüten hier zu wirklichen Zweigen, teilweise auch zu Pflanzen. In die Mitte außen, seltener unten, wird gern ein Bodenstreifen gesetzt. Die Bordüren zu den Incipits bevölkern zwei Motive, Vögel, Tiere oder groteske Halbwesen, wie in Nr. 2 jeweils in der Mitte unten und außen. In derselben Werkstatt und nach denselben Prinzipien, aber in getrenntem Arbeitsgang entstand der Randschmuck der Bilder – nur ausnahmsweise mit Bodenstreifen und ganz ohne Grotesken oder Tiere.

Die Miniaturen

Den Kalender begleiten runde Medaillons mit dem Zodiak oben und dem Monatsbild unten:

Nicht alle Tierkreiszeichen stehen wie der nackte Wassermann, der aus zwei Metallflaschen Wasser gießt, auf einer Wiese; die Fische hingegen schwimmen im Wasser oder vor dem Himmel, wie gewohnt einander entgegengesetzt und am Maul

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miteinander verbunden. Wollig wirkt der Widder, gedrungen der Stier. Als Liebespaar umarmen die nackten Zwillinge einander, die in Halbfigur aus Wolken auftauchen. Vor einer blauen Fläche schwebt der Krebs, in Schwarz, silbern gehöht, mit vier Beinpaaren und einem gebogenen Schwanz, der eher zum Skorpion paßt. Der Löwe hat ähnlich dunkelbraunes Fell wie der Stier; seine Wiese schließt kreisförmig zum Himmel ab. Wie die Zwillinge taucht die Jungfrau, jedoch in rotem Kleid mit offenem Haar, mit ihrer Märtyrerpalme aus Wolken auf. Die Waage schwebt einfach vor Himmelsgrund. Vor Blau zeigt sich der Skorpion mit ungleichen Beinzahlen in leuchtendem Rot, das eigentlich zum Krebs gehört. Als Kentaur zielt der Schütze nach links, mit nur einem Beinpaar. Ein dunkelgrauer Ziegenbock vertritt den Steinbock.

Die Monatsbilder beeindrucken durch die Konzentration auf einzelne Gestalten, jeweils einen Mann in kräftig buntem Zusammenspiel von Rot und Blau, wie es flämische Buchmaler liebten, die Bauern ihrer Zeit aber sicher nicht als Kleidung trugen. Die kreisförmigen Medaillons regten den Maler dazu an, den Horizont jeweils auf etwa die halbe Höhe des Bildfeldes einzustellen; mit Schultern und Haupt vor dem Himmel erhalten die kleinen Figuren eine eindrucksvolle Präsenz. Der Dresdner Gebetbuchmeister selbst hat hingegen meist Kopfhöhe und Horizont aufeinander abgestimmt. Thematisch finden sich gewisse Abweichungen vom Gewohnten:

Nur der Januar spielt im Innenraum: Vor rotem Betthimmel steht ein runder Speisetisch mit Braten, drei Broten und metallenem Becher. Dem Tisch kehrt der Herr, nach rechts zum Kamin gedreht, den Rücken zu.

Statt der Pflege des Weinbergs werden im Februar recht dicke Stämme mit einem krummen Messer getrimmt. Seinen Spaten setzt ein Mann zur Gartenarbeit im März an; dabei entsteht mit dem Gattertor vor einem Fachwerkhaus aus Wiese und Himmel ein kluges Landschaftsbild. Ungewohnt ist das Auftauchen eines fahrenden Gesellen zum April, der mit einem Stock über den Schultern durch das Land zieht. Ein Falkner, also ein Jüngling aus der wohlhabenden Gesellschaft, reitet zum Mai aus. Bei der Heumahd mit der Sense im Juni zeigt sich die Kunst des Buchmalers im Zusammenspiel der waagerechten Linien in der Landschaft mit Figur und Kleidung des Schnitters. Bei der Kornmahd im Juli ist ein Bauer vor dem hohen Korn mit der Sichel in die Hocke gegangen. Die nächsten beiden Monatsbilder spielen in Scheunen, jeweils mit Ausblick auf das Himmelblau: Im August wendet sich ein Bauer mit dem Dreschflegel nach rechts, wo die bereits gelösten Garben aufgeschichtet sind. Zur Weinkelter im September hat man einen großen Holzbottich auf zwei Bretter gestellt, in dem ein Mann die Trauben stampft. Zur Aussaat im Oktober wirft der Sämann aus seiner weißen Schürze Kornsamen auf ein Feld, das ungepflügt und nicht geeggt wirkt; neben ihm steht ein praller Sack mit Saatgut. Der Schweinehirt schlägt im November mit seinem Stock Eicheln für

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seine dunklen Schweine ab, die rechts vor ihm davon fressen. Ein sehr viel helleres Schwein wird im Dezember geschlachtet und abgesengt; das geschieht im Dorf vor rahmenden Fachwerkhäusern.

Große Miniaturen zum Text

Doppelseiten aus textlosen Bildern auf eingeschalteten Blättern und Incipits mit fünfzeiligen Dornblatt-Initialen eröffnen die wichtigeren Texte, in gleichartigen, dicht mit Akanthus und Blumen besetzten Bordüren. Als entscheidender Stilunterschied zum Kalender wirkt die Art, wie nahe der hier tätige Maler an die Hauptfiguren heranrückt; selbst bei der Kreuzigung werden Christi Hände vom Bildrand abgeschnitten. Landschaft wird ganz anders begriffen als in den Kalendermedaillons.

fol. 7v: Die Erkennungsbilder zu den Horen bieten Überraschendes: Bei der Kreuzigung (fol. 7v) kniet Johannes wie ein Stifter links vor Magdalena und Maria, während rechts zwei Männer miteinander sprechen; der Hauptmann, der sonst zum Gekreuzigten weist, wird gemeint sein, ist aber kaum als solcher kenntlich gemacht. Zum Pfingstwunder (fol. 14v) sind die Apostel um Marias Betpult versammelt, über dem die Taube in einer Gloriole erscheint; geradezu irreal wirkt der Kirchenraum mit drei mächtigen Säulen und vier Durchblicken in helle Kapellenräume.

Die Marienmesse eröffnet mit einem Bild der Madonna mit Kind (fol. 26v) vor einem runden weinroten Zelt; das Kind ist in einen goldenen Rock gehüllt; mit entsprechenden Goldborten verziert sind die weißen Gewänder zweier Engel, die Flöte spielen, der linke als Diakon in Dalmatika, der rechte als Priester im Chormantel.

fol. 30: Im Zyklus zum Marien-Offizium fehlen die Verkündigung, die Königsanbetung und die Marienkrönung.

Bei der Heimsuchung zu den Laudes (fol. 46v) sind Maria und Elisabeth weit nach vorn gerückt vor ein Panorama in Grau aus steilen Felsen links und stattlicher Burg rechts. Zur Prim (fol. 56v) wird im Weihnachtsbild vor der stattlichen Kulisse des ruinösen David-Palasts das winzige Kind in der Krippe von Maria, Joseph und einem Engel angebetet; der Ochse kommt herbei; der Esel fehlt.

Bei der Hirtenverkündigung zur Terz (fol. 60v) gilt der Landschaft besondere Aufmerksamkeit: Ein wacher Hund vorn, zwei Schafe, ein junger Hirte, der sich aufrichtet, während ein Greis schon steht, und ein dritter verteilen sich auf dem sacht ansteigenden Gelände. Über ihnen erscheint in Goldcamaïeu der Engel.

In engem Kapellenraum haben sich bei der Darbringung zur Sext, nicht zur Non (fol. 68v), um einen runden Altar Maria mit ihrer Dienerin, Joseph im Zentrum

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sowie der Priester Simeon mit einem jugendlichen Akolyten versammelt. Simeon hält den nackten Knaben, die Finger seiner Rechten umfassen dessen Stirn. Der Kindermord zur Vesper (fol. 72v) spielt vor der Kulisse schlichter Häuser: Zwei Figurengruppen werden gezeigt: Jeweils von links kommt ein Soldat, der erste ist im Begriff, ein Wickelkind zu erstechen, der zweite setzt einer fliehenden Frau nach, die eine schöne Rückenfigur bildet. Bei der Flucht nach Ägypten zur Komplet (fol. 79v) beeindruckt dann doch die Landschaftskunst des Meisters mit aufgetürmten Felsen, zarten Wiesen und einem Gewässer; fein getupft heben sich dürre Bäume gegen den Himmel ab; in der Farbperspektive verschwimmt die Ferne.

Auch Davids Buße zu den Bußpsalmen (fol. 91v) wird von subtil gemalter Landschaft umgeben; von hohen Felsen links hinterfangen, wendet sich der König zum strafenden Engel, der ihm rechts oben erscheint. Die Auferweckung des Lazarus (fol. 108v) spielt in einem Kreuzgang neben einer nur ausschnittsweise gezeigten mächtigen Kirche; die Figuren sind weit nach vorne gerückt, damit sie möglichst monumental dargestellt werden können.

Zum Stil

Die Monatsbilder im Kalender profitieren von der neuartigen Landschaftsmalerei des Dresdner Gebetbuchmeisters, verzichten aber auf dessen Einstellung des Horizonts auf die Kopfhöhe der Hauptfigur und insistieren nicht in gleicher Weise auf dem Wechsel von Stimmung und Atmosphäre im Jahreslauf. Dem hier verantwortlichen Maler gelingt es jedoch, die Figuren in ihrer Geschäftigkeit glaubhaft wiederzugeben. Er erreicht besondere Wirkung durch stärker gedrungene Proportionen der Gestalten, die zuweilen mit ihren schweren Köpfen und kurzen Körpern fast wie kindhafte Erwachsene wirken. Man könnte an Maler aus dem Umfeld des Dresdner Gebetbuchmeisters wie jenen denken, den Brinkmann 1997, S. 346–356, nach dem kuriosen Codex Rotundus des Hildesheimer Dommuseums definiert hat; den Sinn für Landschaft wird man dort finden, nicht jedoch die zeichnerische Klarheit, mit der die Figuren hier gestaltet sind (siehe hier die folgende Nummer).

In den Hauptbildern verdrängen andere stilistische Tendenzen den Einfluß des Dresdner Gebetbuchmeisters. Die Bilder sind sehr klar konstruiert und die Figuren weit nach vorn genommen, verdrängen die Landschaft fast ganz; das Kolorit wirkt nüchterner. Eher ist an Loyset Liédet (vgl. Nr. 35 in unserem Katalog XXI ) oder den nach Edward IV. von England benannten Maler (nach der 1479 datierten Bible historiale für diesen König, Royal 18 D IX und X in der British Library) zu denken.

Ein späteres Stundenbuch derselben Hand, das vielleicht schon kurz nach 1500 entstand und die moderneren flämischen Blumenbordüren zeigt, befindet sich in Harvard (Richardson 9 – Wieck 1983, Nr. 27); dort erscheinen die Kalenderbilder

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ebenfalls in der Art des Dresdner Gebetbuchmeisters. Auch das Wiener Stundenbuch Cod. Ser. n. 13238 ist verwandt (vgl. Thoss 1987, Kat. Nr. 76 und Abb. 95).

Der Aesop in Waddesdon Manor (Ms. 15 – vgl. Delaissé, de Wit und Marrow 1977, S. 297 ff.), der auf das Engste verwandt wirkt, aber wiederum später entstanden ist, stellt die Verbindung mit den Handschriften für Raphael de Mercatellis her. Mercatellis war Abt von St. Bavo in Gent; seine Bibliothek ist in einer beispielhaften Studie von Albert Derolez erforscht worden. Zur dort als Group 2 erarbeiteten Handschriftengruppe (darunter der Aesop als Nr. 23) gehören Bordüren und Miniaturen wie in unserem Stundenbuch. Auch die Schrift paßt zu dieser Einordnung; sie ist etwas förmlicher als die des Genter Aristoteles-Kommentars von 1479 (Ms. 72, Derolez Nr. 10), könnte aber vom selben Schreiber herrühren.

In einem Katalog über flämische Monatsbilder müssen bemerkenswerte Eigenschaften eines solchen Stundenbuchs wie der großartige französische Intarsien-Einband Macé Ruettes für Maria von Medici und die bemerkenswerte neuere Provenienz zurücktreten. Auch die eigenwilligen textlosen Bilder zu den großen Incipits, deren nüchterne Klarheit und auf die Hauptfiguren bezogene Kompositionsweise eher Traditionen von Loyset Liédet fortzusetzen scheinen, steht hier nicht im Zentrum des Interesses, auch wenn es sich wohl um den frühen Meister des Raphael de Mercatellis handeln wird, der das Buch noch in Brügge illuminierte, ehe er nach Gent ging, um für den Abt von St. Bavo zu arbeiten.

Schon von seiner Gesamtgestaltung in Schrift und Dekor gehört dieser kostbare Kodex zum Kreis um den Meister des Dresdner Gebetbuchs. Sein Kalender überträgt Anregungen dieses eminenten Landschaftsmalers in eindrucksvoller Weise auf kreisförmige Medaillons, in denen jeweils ein Mann mit erhobenem Haupt zupackend zeigt, welche Tätigkeit man mit dem einzelnen Monat verband, farbenfroh und eindrucksvoll!

Literatur

Albert Dérolez, The Library of Raphael de Marcatellis, Abbot of St. Bavon’s, Ghent (1437–1508), Gent 1979, zuletzt Dogaer 1987, S. 150–155. LM II , 32.

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Ein Stundenbuch für den Gebrauch von Sarum vom Meister der Gebetbücher um 1500, der Kalender vom Meister des Hildesheimer Codex rotundus

Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Sarum, mit einem für den Gebrauch in England ausgerichteten flämischen Kalender.

Lateinische Handschrift in Schwarzbraun und Rot auf Pergament, in Textura. Antwerpen, um 1500: Gebetbuchmeister um 1500 und Firmian-Gruppe; der Kalender vom flämischen Meister des Hildesheimer Codex rotundus.

Insgesamt 54 Bilder: davon vier ganzseitig auf Doppelseiten mit dem Incipit als 5zeilige Akanthus-Initiale, umgeben von Trompe-l’œil-Bordüren; dazu 26 Kleinbilder mit dreiseitigen Trompe-l’œil-Bordüren und 12 Medaillons mit den Tierkreiszeichen sowie zwölf Monatsbilder in den dreiseitigen Bordüren des Kalenders; drei Textanfänge mit fünfzeiliger Akanthus-Initiale und einer mit dreizeiliger PinselgoldInitiale, jeweils mit entsprechenden Vollbordüren; Psalmenanfänge mit zweizeiligen, Psalmenverse im Zeilenverlauf mit einzeiligen Goldbuchstaben auf weinroten oder blauen Feldern. Versalien unbehandelt.

189 Blatt Pergament, dazu je ein fliegendes Vorsatz, gebunden vorwiegend in Lagen zu 8 Blatt, Kollation unmöglich. 18 systematisch am Ende einzelner Texte leer gelassene Blätter. In zwei Folgen paginiert: 1–26 für den Kalender und ein leeres Blatt; sodann 1–352 für den Text. Keine Reklamanten.

Groß-Oktav (210 × 142 mm, Textspiegel 103 × 72 mm); zu 16, im Kalender zu 17  Zeilen.

Breitrandig und gut erhalten; die Malereien tadellos; die untere Bordüre des Novembers teilweise ausgeschnitten und wieder eingefügt. Wenige Textlücken.

Einband von Gruel: Auf fünf erhabene Bünde gebunden in blindgeprägtes Kalbleder auf Holzdeckeln. Auf den Vorderdeckel hat man den Lederbezug des ersten Einbands montiert, der mit vier blind geprägten Platten gegliedert ist, eine moderne Nachbildung dieses erhaltenen Fragments auf dem Rückendeckel des. Goldschnitt. Mit grünen Seidenbändchen und regelmäßig eingesetzten Seitenfindern aus Pergamentstreifen, die an den Außenrand der Blätter geklebt sind.

Für einen Auftraggeber aus England; im XVI . Jahrhundert hat man Einträge von Päpsten, vor allem aber alles, was Erzbischof Thomas von Canterbury betrifft gestrichen: Sein Fest, die Oktav, die Translatio am 7.7. ebenso wie das Suffragium. In der Litanei musste auch der Apostel Thomas dran glauben. Der Text ist sehr viel entschiedener für englischen Gebrauch eingerichtet und weicht deshalb stark von unseren anderen Beispielen aus den Niederlanden ab.

Laut Eintrag im Vorderdeckel hat der Kodex am 27. Mai 1872 bei der Auktion J. A. J. Delignières de Bommy 60 £ gekostet. Dessen Stempel auf den Seiten 1, 13 und 350.

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Der Text

p. 1: Kalender, in lateinischer Sprache, nicht jeder Tag besetzt; einfache Heiligentage und die Sonntagsbuchstaben b–g in Braun; Feste, Goldene Zahl und Sonntagsbuchstaben a in Rot. Die Heiligenauswahl in ihrem Grundbestand mit Amandus und Vedastus (6.2. als Fest), Adrian (5.3.), Gertrud (17.3.) Bonifatius (5.6.), Hubert von Lüttich (3.11.) und Judocus (13.12.) unspezifisch, jedoch angereichert durch die erwähnten drei Tage des Thomas von Canterbury; dazu Elphegus von Canterbury (20.4.), König Edward (19.6.) und Hugo von Lincoln (17.11.).

Zweite Paginierung:

p. 8: Fünfzehn Christusgebete: O domine christe eterne.

p. 17: Gebete, teils als Suffragien: Trinität, mit Psalmen (p. 17), Johannes der Täufer (p. 21); 1 Blatt leer (p. 23/24). Georg (Anfang fehlt), Christophorus (p. 26); 1 Blatt leer (p. 27/28). Maria Magdalena (p. 30), Katharina (p. 33), Barbara (p. 35), Margarete (p. 37); 1 Blatt leer (p. 39/40).

p. 43: Marien-Offizium nach dem Gebrauch von Sarum mit eingeschalteten Horen des Heiligen Kreuzes sowie Suffragien nach den Laudes, wie in Rouen und England häufig: Matutin (p. 43), Laudes (p. 57); 1 Blatt leer (p. 71/72).

p. 73: Suffragien: Michael (p. 73), Peter und Paul (p. 74), Andreas (p. 76), Stephanus (p. 77), Laurentius (p. 78), Thomas von Canterbury (p. 79), Nikolaus (p. 80), Margarete (p. 82), Alle Heiligen (p. 83); 1 Blatt leer (p. 85/86).

Kreuz-Matutin und Marien-Prim (Anfang fehlt vor p. 77), Terz (p. 94), Sext (p. 99), Non (Anfang fehlt vor p. 69), 1 Blatt leer (p. 107/108), Vesper (Anfang fehlt vor p. 109), Komplet (p. 112).

p. 119: Mariengebete, für einen Mann redigiert: Salve regina als Suffragium (p. 119), Fünfzehn Freuden Mariä: Gaude virgo mater (p. 122), Sieben Freuden Mariä: Gaude flore virginale (p. 123), Salve virgo virginum (p. 127), O intemerata (p. 137), Obsecro te (p. 141), Ave mundi spes Maria (p. 147), Ablaßgebet zu den Sieben Freuden: Virgo templum trinitatis (p. 152).

p. 159: Gebete zur Passion: Zum Bild des Gekreuzigten (p. 159), zum Kreuz (p. 160), zum Haupt (p. 161), zu den Wunden der Hände (p. 162, 163), der Seite (p. 164), der Füße (p. 165, 166).

p. 167: Suffragium Johannes des Evangelisten.

p. 170: Beda Venerabilis zugeschrieben, Sieben Worte Christi am Kreuz.

p. 181: Ablaßgebet zur Elevation der Hostie: Domine ihesu xpriste qui hanc sacratissimam carnem; 1 Blatt leer (p. 183/184).

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p. 185: Bußpsalmen mit Litanei (p. 205); darin Primus, Edward, Oswald, Alanus, Wallepaxtus, Gildardus, Medardus, Swichinus, Birinus, Sotheris, Prosca, Edith, Affra; 1 Blatt leer (p. 225/226).

p. 227: Toten-Offizium; Commendationes animarum (p. 277); 1 Blatt leer (p. 307/308).

p. 309: Passionspsalmen, Hieronymus zugeschrieben; 1 Seite leer (p. 324).

p. 325: Kurzpsalter, Hieronymus zugeschrieben.

p. 352: Textende.

Schrift und Schriftdekor

Die gleichmäßige steile Textura wirkt altertümlich; die Zierbuchstaben in Pinselgold auf braunroten, nur wenn zweizeilig auch auf blauen Gründen hingegen verraten die Entstehungszeit um 1500. Die harten Konturen der Grundflächen und das feine Blattwerk, aus dem die Lettern entwickelt werden, gehören zur FirmianGruppe, die wir in Leuchtendes Mittelalter III anlässlich der Nr. 25 charakterisiert haben. Die Neigung, den Randschmuck auf farbigen Gründen von links als Rankenklammer dreiseitig um den Textspiegel zu legen und dabei die vertikale Bordüre auf Verso nur so schmal zu halten wie im Falzstreifen auf Recto, kommt als Charakteristikum hinzu.

Die Miniaturen

Den Kalender begleiten runde Medaillons mit dem Zodiak oben und rechteckigen Monatsbildern mit Bogenabschluß unten:

Einige Tierkreiszeichen stehen wie der kindliche nackte Wassermann, der aus einer Metallflasche Wasser gießt, auf einer Wiese; die mit Silber modellierten Fische hingegen schwimmen im Wasser oder vor dem Himmel, wie gewohnt einander entgegengesetzt und am Maul miteinander verbunden. Zottelig wirkt der Widder, der hier keine Hörner hat, wie er nach links trabt vor weinrotem Fond, der mit Goldranken besetzt ist. Vor mit weißen Ranken geschmückten tiefen Blau hingegen hockt der Stier, ebenfalls nach links gewendet, das langlockige Fell mit Gold gehöht. Wie vor einem großen weinroten Stern, der mit Silber gegen den tiefblauen Grund abgesetzt ist, erscheinen die nackten Zwillinge als Liebespaar: Der Mann will die nach links ausweichende Frau umarmen. Vor einer blauen Fläche schwebt der krebsrote Krebs. Wie eine heraldische Figur sitzt der Löwe vor tiefblauem Grund. Unter einem Rundbogen vor tierblauem Grund zeigt sich die Jungfrau, in rotem Kleid mit offenem Haar, mit ihrer Märtyrerpalme. Behutsam die Waage haltend, schreitet ein Mädchen gesenkten Hauptes unter blauem Himmel, der mit Silber gehöht ist, durch eine Landschaft. Vor Blau zeigt sich der Skorpion auf Altrosa in Wolken, die silbern gehöht sind. Als Kentaur zielt der bärtige Schütze nach rechts; der Tierkörper

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ist nur vage charakterisiert; das braune Fell mit goldenen Tupfen wirkt umgekehrt leopardenhaft; er jagt durch die Landschaft unter einem von Silber durchzogenen Himmel mit zwei Beinpaaren. Ähnlich wie die Zwillinge erscheint der schwarze Steinbock, nach links gewendet, vor einem zackigen Stern; der ist diesmal ein Goldgrund in blauen Wolken.

Wie in Nr. 3 beeindrucken die Monatsbilder durch die Konzentration auf einzelne Gestalten, mit zwei Ausnahmen jeweils nur einen Mann, diesmal nicht nur in kräftig buntem Zusammenspiel von Rot und Blau, sondern auch viel Weiß; damit wird das von flämischen Buchmalern bevorzugte Farbenspiel durch etwas realistischere Töne vor allem im Sommer ergänzt.

Wie fast immer spielt der Januar im Innenraum: Vor einem roten Himmelbett sitzt ein bartloser Herr am runden Speisetisch; er hat sich nach rechts zum Kamin gewendet. Nicht ganz klar ist, ob im Februar ein Weinberg gestutzt oder recht dicke Stämme getrimmt werden. Nach Gartenarbeit, die flämische Buchmaler im März gern darstellen, sieht die Darstellung eines Mannes mit dem Spaten nicht aus, eher wie Säuberung eines Hofs. In einen langen schwarzen Mantel schreitet ein junger Mann im April einen Abhang hinab ins Tal; er hat Frühlingsgrün geholt. Im Monatsbild zum Mai t aucht ein junges Paar zu Pferde auf einer nach rechts abfallenden Wiese auf; der Mann streckt wie Falkner seinen rechten Arm aus; doch kein Falke ist zu sehen im hingetupften Laub. Bei der Heumahd im Juni hat der Bauer seinen roten Kittel auf den Boden geworfen; nach links gewendet im weißen Hemd, gestützt auf die Sense, trinkt er. Bei der Kornmahd im Juli geht ein Bauer, nur im weißen Unterkleid mit einem flachen schwarzen Hut vor dem hohen goldgelben Getreide mit der Sichel in die Hocke. Die nächsten beiden Monatsbilder spielen in Scheunen, jeweils mit Ausblick auf das Himmelblau: Zwei Männer sind im August beim Korndreschen: Der eine hebt gerade seinen Dreschflegel; der andere hat ihn auf ein Kornbündel niedersausen lassen. Die Scheune im August bildet wie die ordentlich gemauerte zur Weinkelter im September ein Raumeckmotiv nach links; von dort tritt ein Mann mit einer Bütte voll Reben zum Holzbottich, in den ein Mann gestiegen ist. Zur Aussaat im Oktober wirft der Sämann Korn auf ein Feld, das ungepflügt und nicht geeggt wirkt. Der Schweinehirt schlägt im November mit seinem Stock Eicheln für seine Tiere ab. Vor einem Bauernhaus liegt ein gerade getötetes Schwein unter brennendem Stroh beim Schlachten im Dezember; das Tier wird abgesengt von einem Mann, der mit einem dicken Strohwedel Wasser darüber sprüht.

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Die Bilder zu den Texten mit der zweiten Paginierung

p. 17: Die Gebete eröffnen mit Kleinbildern: Der Gnadenstuhl verkörpert die Trinität (p. 17), Johannes der Täufer in der Einöde (p. 21), Christophorus mit dem Christuskind (p. 26), Maria Magdalena als Einsiedlerin (p. 30), Katharina mit dem Rad, unter dem ihr Vater winzig als Besiegter liegt (p. 33), Barbara mit modellhaftem Turm (p. 35), Margarete aus dem Drachen ausbrechend (p. 37).

p. 42: Das Marien-Offizium ist mit Passionsszenen in Kleinbildern von sechs Zeilen Höhe bebildert: Nur zur Matutin eine Doppelseite mit textlosem Bild: Nächtliches Gebet am Ölberg; vorn die Lieblingsjünger, jenseits des Bachs die Ankunft von Judas und den Häschern, die von Malchus mit der Laterne auf dem Steg angeführt werden (p. 42/43), Gefangennahme zu den Laudes (p. 57).

p. 73: Auch die Suffragien mit Kleinbildern, die Gestalten als Kniestücke vor neutralem Grund, teilweise Ehrentüchern: Michaels Kampf mit dem Teufel (p. 73), Peter und Paul (p. 74), Andreas lesend vor dem X-förmigen Kreuz (p. 76), Stephanus als Diakon mit Steinen in der Hand (p. 77), Laurentius als Diakon mit dem Rost (p. 78), Nikolaus mit den drei tonsurierten Knaben im Bottich (p. 80), Alle Heiligen im Kreis und Christus mit der Sphaira (p. 83).

Geißelung Christi zur Terz (p. 94), Kreuztragung zur Sext (p. 99), Grablegung zur Komplet (p. 112)

p. 119: Zu den Mariengebeten wiederum Kleinbilder von sechs Zeilen Höhe: Zum Salve virgo virginum die Heilige Familie mit Joseph, der dem nackten Knaben ein Buch hält (p. 127), zum Virgo templum trinitatis der Tempelgang Mariens (p. 152).

p. 159: Die Passionsgebete ebenfalls mit Kleinbildern: Der Gekreuzigte vor roter Gloriole (p. 159), die Drei Kreuze von Golgatha (p. 160), Christi Haupt mit den Wunden der Dornenkrone wie auf einer Johannesschüssel liegend (p. 161), die rechte Hand (p. 162), die linke Hand (p. 163), das von links durchbohrte Herz Christi (p. 164), der rechte Fuß (p. 165), der linke Fuß (p. 166).

p. 184: Zu den Bußpsalmen eine Doppelseite mit textlosem Bild und Incipit: Davids Buße: Vom Palast hinten durch Wasserläufe getrennt, kniet der König vorn auf einer Uferbefestigung; Gott erscheint ihm als Halbfigur im Himmel.

p. 226: Zur Toten-Vesper eine Doppelseite mit textlosem Bild und Incipit: Auferweckung des Lazarus vor einem Sakralbau; noch liegt der Verstorbene in Leichentücher gehüllt; Magdalena (eher wie Martha gezeigt) schaut, wie sich Petrus zu ihm hinkniet, Jesus ihn segnet, während ein weiterer Apostel und ein Zuschauer dabei stehen.

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p. 308: Zu den Passionspsalmen eine Doppelseite mit textlosem Bild und Incipit: Schmerzensmann mit den Passionswerkzeugen als ein Andachtsbild, wie es bei der Gregorsvision dem Kirchenvater erschienen ist.

Zum Stil

Seit wir diese Handschrift 1998 im zweiten Band der Neuen Folge von Leuchtendes Mittelalter vorgestellt haben, hat sich, was unsere Kenntnis der hier verantwortlichen Gruppe von Malern betrifft, wenig getan. Die große Zusammenschau, die Kren und McKendrick 2003 von der flämischen Buchmalerei geben konnten, hat auch nicht viel beigetragen, die komplexe Verbindung unterschiedlicher Tendenzen zu erklären.

Wir stellen das Manuskript hier zwischen Nr. 3, für Charron de Menars und Nr. 5, Hanskin de Bomalia, örtlich ins Umfeld von Brügge und zeitlich im Anschluß an das Wirken des Dresdner Gebetbuchmeisters dort. Gestaltet hat den Kalender wie auch die meisten Kleinbilder ein Buchmaler, den Bodo Brinkmann nach einem sehr sonderbaren Stundenbuch in der Hildesheimer Dombibliothek benannt hat: Dort liegt mit Hs. 690 A ein kostbar gebundener Band mit runden Blättern, sorgfältig illuminiert in einem Stil, der wesentliche Anregungen dem Dresdner Meister verdankt. Das spürt man in den Monatsbildern mit ihrem Sinn für Landschaft, in der die Figuren jeweils sehr überzeugend ihren Platz finden. Doch zeigen die hier präsentierten Kalenderbilder des Dresdner Meisters selbst in Nr. 2 ebenso wie die von ihm beeinflußten in Nr. 3 zwar einen ähnlichen Sinn für das Genre, für die Landschaft und das Kolorit; zugleich wird aber deutlich, daß wir es nicht mit denselben Künstlerhänden zu tun haben.

Abstand zu den anderen hier präsentierten Handschriften, der die Anordnung am Ende unseres Katalogs sinnvoll macht, ergibt sich auch durch den Text und seine Gestaltung, und zwar mit mehr als einem Aspekt: Da ist zunächst die liturgische Zuordnung für den Gebrauch von Sarum, also für Export nach England; damit hängt sicher zusammen, daß statt der für die Anwohner des Mittelmeers in den flämischen Zentren entwickelte Schrifttyp der fere-humanistica hier durch eine strenge Textura ersetzt ist. Der Text weicht nicht nur durch die Offizien ab, die man nach Sarum, also dem älteren Bischofssitz der Diözese Salisbury, benennt; auch die auf dem Festland nur in Rouen gewohnte Anordnung von Suffragien zwischen Marien-Laudes und Prim sowie eine ganze Anzahl auf dem Kontinent kaum bekannte Gebete, gibt diesem Stundenbuch seine unverkennbare Eigenart.

Daß für das Marien-Offizium die Passions-Ikonographie eingesetzt wird, ist sicher mit dem englischen Auftraggeber abgesprochen. Doch nicht im Einzelnen von der englischen Bestimmung des Buchs hängt wohl die Zuordnung von Bild und Dekor ab. Auch sie ist ungewöhnlich; sie löst sich von dem, was in Gent und Brügge

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üblich war, weist auf Antwerpen, also das im XVI . Jahrhundert erst aufblühende und dann die künstlerische Entwicklung zu Neuem prägende Zentrum. Mit der Firmian-Gruppe, die man nach dem Stundenbuch des Nicolas von Firmian, Hs. 241 der Berliner Staatsbibliothek bezeichnet und die wohl in Antwerpen angesiedelt war, haben wir uns 1991 und 1998 intensiv beschäftigt. Das in dieser Gruppe übliche Layout bestimmt unser Stundenbuch; die großen Miniaturen schuf jedoch ein Vertreter des Stils, den man unter Winklers wenig präzisem Begriff des „Meisters der Gebetbücher um 1500“ zu fassen sucht.

Wohl in Antwerpen um 1500 entstanden, setzt sich dieses Manuskript von den übrigen in unserem Katalog diskutierten Stundenbüchern ab: Die Bebilderung folgt einem stark hierarchisierenden System aus Bildern unterschiedlicher Formate; auch der Randschmuck mit den sonst in den südlichen Niederlanden gewohnten Trompe l’œil-Bordüren folgt in seinem Layout eigenen Prinzipien. Das Stundenbuch ist, wie die Offizien und die Textauswahl stärker als der Kalender zeigen, für englische Auftraggeber bestimmt; deshalb wird noch zu dieser späten Zeit strenge Textura verwendet.

In einem Katalog, der sich in erster Linie dem Kalender widmet, hat das Manuskript seinen Platz, weil hier, wohl beeinflußt durch die Neuerungen des Dresdner Gebetbuchmeisters ein munterer Sinn für wunderbare Bilder des Jahreslaufs lebt, zwar in Kleinformat unter dem Text, aber doch mit prächtiger Schilderung des menschlichen Tuns im ländlichen Raum mit zauberhaft angedeuteter Landschaft.

Literatur

Leuchtendes Mittelalter. Neue Folge II , 1998, 31.

Zum Meister des Hildesheimer Codex rotundus siehe: Bodo Brinkmann, Flämische Buchmalerei am Ende des Burgunderreichs, Turnhout 1997, S. 346–356.

Zum Firmian-Stundenbuch siehe: Gerard Achten, Das christliche Gebetbuch im Mittelalter, Ausst.-Kat. Berlin, 2. Aufl. 1987, Nr. 78; zur Firmian-Gruppe unser Leuchtendes Mittelalter III , 1991, Nr. 25.

Zum Gebetbuchmeister siehe Ausstellungskatalog, Los Angeles und London 2003, S. 394–407.

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Das vom Schreiber Hanskin de Bomalia signierte Stundenbuch für den Gebrauch der Karmeliter, überreich illuminiert vom flämischen

Meister des Sir George Talbot

Stundenbuch. Lateinische Handschrift auf Pergament, in brauner und roter Bastarda.

Südliche Niederlande, um 1500: illuminiert vom flämischen Talbot-Meister, signiert vom Schreiber Hanskin de Bomalia.

Insgesamt 67 Bilder in Vollbordüren mit Streublumen, Festons, Architekturen, zum Teil belebt, zuweilen auf den Text anspielend, einige mit Inschriften; darunter fünf textlose Vollbilder zu Doppelseiten kombiniert mit Textanfängen mit fünfzeiliger Akanthus-Initiale; eine Kopfminiatur in Textspiegelbreite; fünfunddreißig achtzeilige Kleinbilder; zwei vierzeilige Bild-Initialen; zwölf querrechteckige Monatsbilder und zwölf kreisrunde Medaillons mit dem Zodiak; drei Astwerk-Initialen, fünf bis sechs Zeilen hoch. Dreizehn dreizeilige Initialen mit goldenen Astwerkbuchstaben auf einfarbigen gerahmten Gründen zu den Horenanfängen von Heilig Kreuz und Heilig Geist sowie auf fol. 187v; die übrigen Initialen bis zu drei Zeilen hoch mit Astwerkbuchstaben auf ungerahmten Farbgründen; die einzeiligen im Zeilenverlauf. Versalien kalligraphisch verziert.

224 Blatt Pergament; dazu ein Doppelblatt Pergament vorn und ein Einzelblatt Pergament hinten als fliegende Vorsätze sowie Doppelblätter Marmorpapier vorn und hinten; gebunden vorwiegend in Lagen zu acht Blatt, ohne echte Zäsuren, die Vollbilder auf eingeschalteten Blättern: 1(12), 2–3(8), 4(8+1), 5(8+1), 6(8), 7(8+1), 8–11(8), 12(8–1: leeres Blatt vor Vesper entfernt), 113–14(8), 15(8+1), 16–17(8), 18(8+1), 19(8), 20(6), 21(10), 22–27(8). Keine Reklamanten.

Zu 17 Zeilen in Text und Kalender; rot regliert.

Klein-Oktav (142 × 98 mm; Textspiegel 65 × 40 mm).

Ausgezeichnet erhalten. Text komplett, jedoch drei eingeschaltete Vollbilder entfernt.

Gebunden auf fünf Bünde in (die originalen?) Holzdeckel, diese bezogen mit violettem Brokat mit Gold- und Silberfäden aus dem 19. Jahrhundert, originaler gepunzter Goldschnitt, zwei Messingschließen.

Leder-Buchzeichen mit dem Monogramm E. P. R. sowie dem Motto „In Labore Quies“ sowie Exlibris-Radierung von Emmanuel Rodocanachi mit dessen Motto „Otium in Labore“: Auktion Rodocanachi, Paris, Drouot, 7.5.1934, lot 52. Rodocanachi (1859–1934) war ein französischer Bibliophiler und Historiker; seine Italien betreffende Bibliothek ging ans Institut de France.

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Der Text

Kalender:

In lateinischer Sprache, nicht alle Tage besetzt; Feste, Goldene Zahl und Sonntagsbuchstabe a in Rot, die übrigen Sonntagsbuchstaben und die einfachen Heiligentage in Braun. Für Flandern charakteristische Heiligenauswahl mit Festen der heiligen Amandus (6.2.), Bonifatius (3.6., der in Braun am 14.5. genannt ist), Basilius (14.6.), Eligius (26.6. und 1.12.), Egidius (1.9.), Remigius und Bavo (1.10.), Donatian (14.10.) und Nicasius von Reims (14.12.); dazu die einfachen Heiligentage von Aldegundis (30.1.), Eucharius von Tongern (20.2.), Walburgis (25.2.), Gertrudis (17.3.), Lambertus (17.9.), Hubertus (3.11.), Livinus (12.11.). Der selten zu findende Focatus (14.7.) meint wohl Phokas, Bischof von Sinope. Hervorgehoben sind Heilige der Bettelorden, besonders der Dominikaner, zu denen der Schreiber gehörte; so wird am 29.4. ausgeführt: „Petri m(arty)ris de me/diolano pred(icatorum) ord(inis)“ .

Die Monate sind jeweils auf Vorder- und Rückseite der Blätter verteilt; nur auf Recto greift der Illuminator ein: Die mit einer goldenen Leiste gerahmten Vollbordüren sind, wie gewohnt, von der Jahreszeit unabhängig mit Streublumen besetzt. Ein kreisrundes Medaillon in der Mitte des äußeren Randstreifens nimmt den Zodiak auf, dessen Tierkreiszeichen nicht im Himmel schweben, sondern auf einem Bodenstreifen vor ornamental verstandenem Farbgrund – Rosa, Grün, Rot und Blau – stehen. Das Monatsbild hingegen ist mit Interieur oder Landschaft vor die untere Bordüre gesetzt. Während die Umrandung mit ihren Blüten und kleinen Vögeln oder Insekten auf Licht von links oben reagiert und durch schwarze Linien nach rechts unten Schatten wirft, werden die Kreise des Zodiaks von einer kräftigen schwarzen Linie umrissen; die Monatsbilder hingegen erhalten einen eigenen goldenen Rand ohne Schwarz; der ragt spürbar vor dem Schriftfeld auf, das selbst nach rechts und unten mit Schwarz vom Bordürenfond abgesetzt ist.“

Die Tierkreiszeichen erscheinen zwar in der Mitte der ersten Monatshälfte, aber nur aus dekorativen Gründen; da man ihren Wechsel um den 15. ansetzte, beziehen sie sich aber jeweils auf das folgende Verso. Gegen den Brauch folgt die Waage erst im Oktober dem schon für den September eingesetzten Skorpion; auch hier hat der Maler nicht recht gewußt, wie sich dieses Tier von einem Krebs unterscheidet: Der „Krebs“ zum Juni auf fol. 6 sieht einem Skorpion ähnlicher als das hier zum September auf fol. 9 eingesetzte Tierkreiszeichen. Ansonsten stimmt der Zodiak mit der um 1500 in den südlichen Niederlanden gewohnten Ikonographie überein: Wassermann ist ein nackter Knabe mit Krug; die Zwillinge sind ein nacktes Liebespaar in Umarmung; der Schütze ein Kentaur. Statt beim Steinbock mit Ammonshorn zu spielen, wird hier ein gehörntes Tier in Dunkelbraun dargestellt.

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Für die Monatsbilder charakteristisch ist wie in unserer Nr. 3 die Beschränkung auf jeweils einen Mann, der die gewohnte Tätigkeit verkörpert; dabei steht die Arbeit im Vordergrund; denn nur im Januar wird ein Festmahl und im Mai der Ausritt eines Falkners gezeigt. Ein vornehmer Herr am Speisetisch vor dem Kamin eröffnet somit den Zyklus im Januar. Das Beschneiden der Weinstöcke findet im Februar statt. Mit dem Umgraben im umfriedeten Bereich ist Gartenarbeit das Thema für den März. Nicht so vertraut ist der Jagdgehilfe mit Hund im April. Der Falkner auf seinem Schimmel ersetzt im Mai den sonst gern dargestellten Ausritt eines jungen Paars; doch übernimmt das Sternkreiszeichen der einander umarmenden Zwillinge die zum Monat passende Liebesassoziation. Bei der Heumahd im Juni das Heu wird gerecht. Kornmahd ist im Juli angesagt. Korndreschen folgt im August. Die Weinkelter mit dem Mann im Bottich charakterisiert den September. Der Sämann auf dem frisch gepflügten Acker bestimmt den Oktober. Im November schlägt der Schweinehirt für seine Herde Eicheln von den Bäumen. Im Dezember schließlich wird beim Schweineschlachten ein Tier in einem ummauerten Gehöft abgeflämmt.

Text, Dekorationshierarchie und Bebilderung: Die Ausstattung des anschließenden Buchblocks ist hierarchisch gewichtet: Haupttexte eröffneten wohl alle mit Doppelseiten aus Bild und mit Vollbordüren versehenen Incipits; doch verführte der Einsatz von eingeschalteten Blättern für die textlosen Bilder dazu, drei von ihnen zu entfernen. Mit eindrucksvoller Bordüre setzt das Salve sancta facies (fol. 13) ein; denn den Textanfang umgeben Pilgerzeichen und Votivbildchen. Die Perikopen werden mit kleinen ganzfigurigen Bildern von Johannes auf Patmos (fol. 14v), Lukas (fol. 16), Matthäus (fol. 17) und Markus (fol. 19) jeweils in ihrem Studio eröffnet; die JohannesPassion (fol. 21) mag ihr Bild verloren haben. Die Horen von Heilig Kreuz und Heilig Geist sind durch Doppelseiten mit der Kreuzigung (fol. 32v–33) und der Ausgießung des Heiligen Geistes (fol. 40v–41) hervorgehoben. Das Bild zur Marienmesse (fol. 49) fehlt.

Das Marien-Offizium erhielt nur eine Doppelseite; für die übrigen Stunden genügen Kleinbilder, bis zur Komplet acht Zeilen hoch: Mit der Verkündigung zur Matutin (fol. 55v–56) zeigt der Maler, wie er zauberhaft ein sorgsam studiertes Interieur mit dem Licht der Heiliggeisttaube kombinieren kann. Danach eröffnen bis zur Non die gewohnten Bilder aus Marienleben und Kindheitsgeschichte die einzelnen Stunden auf fol. 74, 85, 89, 93 und 97. Südniederländischem Brauch folgend wird zur Vesper der Kindermord gezeigt (fol. 101), und die Komplet eröffnet mit der Flucht nach Ägypten (fol. 108), ausnahmsweise von einer Landschaftsbordüre umgeben. Beim Advents-Offizium gibt ein nur fünf Zeilen hohes Bildfeld Gelegenheit für die Marienkrönung (fol. 113), bei der Mutter und Sohn vor goldenem Grund thronen.

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In Vollbildern zeigen Davids Buße vor seiner Burg zu den Bußpsalmen (fol. 124v–125) und die Auferweckung des Lazarus auf einem Kirchhof zum Toten-Offizium (fol. 144v–145), wie eindrucksvoll der Maler seine Figuren vor Architekturen gestaltet. Die Litanei (fol. 135v) geht von Pariser Formularen aus, hebt aber Donatian am Ende der Bekenner hervor und bekennt sich damit zu Brügge. Im Toten-Offizium wird nur die Vesper hervorgehoben. Am Ende des Toten-Offiziums setzt nach fünf Leerzeilen auf fol. 187 die Verso-Seite neu an mit einem Psalmus in exitu israel . Zunächst sollte der Buchblock an dieser Stelle enden; das bezeugt auf fol. 192v das Explicit mit der Signatur des Schreibers: Finis libri huius p(er) me/ Hanskin de Bomalia.

Im Anschluß daran hat Hanskin de Bomalia eine umfangreiche Folge von Gebeten und Suffragien kopiert, die das Buch beschließt; Kleinbilder veranschaulichen jeweils, worum es im Einzelnen geht: Auf das Trinitäts-Suffragium mit Gottvater-Pietà und das Gebet O bone ihesu mit dem nackten Jesuskind, das in einer Vision, an den Kreuzstamm gelehnt, segnet (fol. 193 und 193v), folgen Gebete des Kirchenvaters Gregor und des Bernhard von Clairvaux: O domine ihesu xpr(ist)e adoro te in cruce pendentem mit Kopfbild der Gregorsvision (fol. 196), Illumina oculos meos (fol. 197v) mit einem Kleinbild, darin die Halbfigur des Zisterziensers in der Landschaft, in der Bordüre der erstaunliche Gedanke, die in acht Formeln gefaßte Bitte um Erleuchtung der Augen mit acht Pfauenaugen zu umrahmen!

Die Mariengebete sind für einen Mann redigiert und alle drei mit Kleinbildern versehen: Obsecro te mit einer Pietà, die von Johannes und Magdalena begleitet wird (fol. 199), O intemerata auch für Johannes mit Maria und Johannes in nur vierzeiliger Initiale (fol. 203), Stabat mater als Suffragium (fol. 205v) mit Maria und Johannes am Kreuz , die in ungewöhnlicher Weise stehend gezeigt und von den Rändern abgeschnitten sind.

Die Heiligen-Suffragien reihen nach Johannes dem Täufer (fol. 207v) und dem Evangelisten (fol. 208) die Apostel Petrus, Andreas sowie Jakobus den Älteren, dann die Pestheiligen Sebastian und Christophorus. Auf Laurentius folgen Franziskus, Antonius von Padua, Hieronymus, Dominikus. Die Frauen sind durch Anna, Magdalena, Katharina, Barbara, Margareta und Apollonia vertreten, ehe die Serie mit Allen Heiligen (fol. 223) endet; fol. 224v ist dann leer. Zu einigen Besonderheiten hier: es mag der Felsen hinter Petrus auf den Namen anspielen. Sebastian und Laurentius werden nicht in der Marter, sondern als Soldat bzw. Diakon gezeigt. Franziskus erlebt die Stigmata, Hieronymus büßt in der Einöde. Mit einem Hund erscheint Dominikus, in Anspielung auf die domini canes, als die sich auch der Schreiber Hanskin de Bomalia verstanden haben wird, der selbst Dominikaner war. Über der unermeßlichen Schar Aller Heiligen erscheint geisterhaft das Antlitz Christi.

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Zu Schrift und Schriftdekor

In überraschendem Gegensatz zu den meisten südniederländischen Stundenbüchern der Zeit wurde dieses Manuskript in einer großzügigen und ausdrucksstarken Schrift geschrieben. Ihre Größe läßt an die gut lesbare burgundische Bastarda für weltliche Texte in großformatigen Handschriften denken. Auffällig ist der kalligraphische Sinn, der die in einfacher Tinte geschriebenen Versalien hervorhebt. Die gemalten Initialen zeichnen sich durch Farbvielfalt ihrer Gründe aus; das Astwerk der Buchstaben ist individuell ausgebildet. Nach Größen unterschiedlich behandelt sind die kleineren Initialen: dreizeilige sind wie Bilder mit modellierten Leisten gerahmt; bei ein- und zweizeiligen Zierbuchstaben genügen dünne Linien, um die Farbfelder zu begrenzen. Ungemein vielfältig sind die Bordüren; erstaunlich „impressionistisch“ gemalt ist die Bordüre zum Textanfang des Toten-Offiziums.

Auf fol. 192v hat der Schreiber im Rot der Rubriken in der Art eines Explicit signiert: Finis libri huius p(er) me / Hanskin de bomalia. Die anschließenden Suffragien sind deshalb wohl erst nachträglich bei ihm in Auftrag gegeben worden. Sie sind in gleicher Weise geschrieben und dekoriert worden wie der vorausgehende Buchblock.

Ein „broeder Jan van Bomale“ ist seit 1489 in der Brügger Illuminatoren-Gilde der heiligen Johannes und Lukas erwähnt. Er firmiert zwischen 1492 und 1495 als „Ian Bomale“; in einem Vertrag von 1499 heißt er in einer Mischung aus Französisch und Flämisch „heer Ian de Bomalia presbitre religieux van sinte Dominicus ordene“. Er war Dominikaner. Von seiner Hand sind zwei weitere Handschriften: ein von Simon Bening illuminiertes Stundenbuch im Haager Museum Meermanno-Westreenianum (Ms. 10 E.3) und ein Prozessionale in der UB Berkeley, Calif. (Ms. O745). Der Stil der durch Signaturen beglaubigten Manuskripte erlaubt, Hanskin de Bomalia das ganze Œuvre jenes Schreibers zu geben, den Kren und McKendrick im Ausst.Kat. Los Angeles und London 2003 als Thin Descender Scribe erfaßt haben. Dazu gehören einige der bedeutendsten Manuskripte der Zeit, so das Stundenbuch Jakobs IV. von Schottland und seiner Frau Margaret Tudor, cod. 1897 der Wiener ÖNB (Faksimile mit Kommentar von Franz Unterkircher, Graz 1987) und das sogenannte Stundenbuch der Maria von Medici, Oxford, Bodleian Library, Douce 122 (Faksimile mit Kommentar von Eberhard König, Luzern 2011).

Nach Ms. Gough Liturg. 7 der Bodleian Library in Oxford wird der Meister des George Talbot benannt, den man von einem Buchmaler unterscheiden muß, der in Rouen um 1430 für John Talbot, Earl of Shrewsbury, einen Helden aus Shakespeares Königsdramen, gearbeitet hat und der uns beispielsweise in unserem Kat. Wiedersehen mit Rouen, 2013, in der Nr. 1 begegnet ist. George Talbot, Earl of Shrewsbury, wurde 1488 zum Ritter geschlagen und starb 1541; er besaß das Stundenbuch latin 1166 der Pariser BnF. Derselbe Buchmaler illuminierte unter anderem Pal. 195 in der Palatina von Parma, Capponi 218 im Vatikan, cod. Series nova 13238

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in Wien sowie Morgan 390 in New York, das für Jean Carondelet, Erzbischof von Palermo, Primas von Sizilien und Kanzler von Flandern entstanden ist. Das Kopfbild mit der Gregorsmesse auf fol. 196 wurde von einem zweiten Maler geschaffen, der auch in Capponi 218 mit dem flämischen Talbot-Meister zusammengearbeitet hat; Brinkmann meint, er habe diese Hand unter anderem auch in Add. 15677 der British Library aufgespürt. Für den Kalender ist dieser Maler ohne Belang. Bereits 2008, im fünften Band der Neuen Folge unserer Reihe Leuchtendes Mittelalter, haben wir dieses wunderbare Stundenbuch des flämischen TalbotMeisters ausführlich beschrieben. Damals trat sein Kalender hinter der Vielfalt der sonstigen Ausstattung zurück; denn dieser Teil des Manuskripts ist sparsam konzipiert, nur auf Recto-Seiten ausgemalt: Für die Zeichen des Zodiaks genügen kreisförmige Medaillons im äußeren Randstreifen; auf Einzelfiguren beschränkt sind die Monatsbilder im unteren Bordürenstreifen. Fast überall geht es in den Schilderungen um die Arbeit der Landleute. Sie ist treffend charakterisiert in Bildern, die deutlich machen, was für ein guter Beobachter ihr Maler war.

Von ihnen aus läßt sich auch eine Eigenart der größeren Miniaturen mit ihren würdigen Themen besser verstehen: Der flämische Talbot-Meister begreift beispielweise die Auferweckung des Lazarus als eine Genreszene, bei der die Neugierigen ins Bild drängen oder im Gegensatz dazu das Bußgebet König Davids als ein Geschehen, das ganz ohne Zuschauer auskommen muß. Dabei entwickelt der Maler Bilder von eindrucksvoller Kraft, die von genrehafter Beobachtung der eigenen Umwelt inspiriert sind.

Literatur

Leuchtendes Mittelalter Neue Folge V, 2008, Nr. 25, S. 377–399.

Zu Jan van Bommel: W. H. J. Weale, Documents inédits sur les enlumineurs de Bruges, in : Le Beffroi IV, 1872-3, S. 318, 322, 329 und 332.

Ausst.-Kat. Los Angeles und London 2003, S. 373 und 442.

Richard Gay, Appendix: Scribe Biographies, in: Elisabeth Morrison und Thomas Kren (Hrsg.), Flemish Manuscript Painting in Context, Los Angeles 2006, S. 183–188, bes. S. 185

Zu den Malern:

Leroquais 1927, I, S. 91–92 und Taf. CVI – CIX . Brinkmann 1992, S. 153, Anm. 88.

Isabel von Bredow-Klaus, Heilsrahmen. Spirituelle Wallfahrt und Augentrug in der flämischen Buchmalerei des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, Diss. Trier 2003, 3. Aufl. München 2009; S. 2 und passim, mit der Aussage, unser 2008 aufgetauchtes Stundenbuch stelle die wichtigste Ergänzung für die Neuauflage dar.

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Gänzlich unbekanntes Miniatur-Stundenbuch mit hinreißendem Kalender und Kleinbildern von Simon Bening

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Stundenbuch-Fragmente. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Rom.

Lateinische Handschrift, Rubriken in Rot, in schwarzer Textura auf Pergament.

Brügge, um 1510: Simon Bening und Meister des Sir George Talbot

43 Seiten mit Bildern, darunter vier mit textlosen Vollbildern in Bordüren, fünfzehn mit 7zeiligen Kleinbildern im Textfeld sowie zwölf rechteckige Monatsbilder und zwölf Medaillons mit Tierkreiszeichen, jeweils im unteren Bordürenstreifen. Vierzehn Incipits mit 4zeiligen Akanthus-Initialen auf farbigen Feldern. Diese Incipits ebenso wie alle Bilder, auch die des Kalenders in Vollbordüren. Dabei wird –mit drei Ausnahmen – konsequent gewechselt zwischen Architekturdekor in bräunlichem Gold-Camaïeu und buntfarbigem Dekor, meist Streublumen auf Pinselgold, zuweilen auch Landschaften und einmal Akanthus in bräunlichem Gold-Camaïeu. Psalmenanfänge mit 2-zeiligen Akanthusinitialen in Goldcamaïeu meist abwechselnd auf Rosa und dunklem Blau; Psalmenverse im Zeilenverlauf entsprechend, meist ins farbige Alternieren einbezogen. Keine Zeilenfüller. Versalien nicht farblich hervorgehoben.

83 von ursprünglich 165 (?) Blatt Pergament; sicher vorwiegend in Lagen zu 8 Blatt gebunden, die Vollbilder vielleicht nicht alle auf eingeschalteten Blättern. Erhalten sind die Kalenderlage 1–2 (6), Lage 3 (8–2; zweites Doppelblatt fehlt), Lage 4 (8–3, die drei letzten Blätter fehlen), Lage 5 (8–1, 2. Blatt fehlt), Lage 6 (nur fol. 42 und das angefügte Blatt mit Bild zu den Laudes), 7 (8–6, nur die ersten beiden Blätter erhalten), Lage 8 (8+2–2, äußeres Doppelblatt fehlt, eingefügtes Doppelblatt für Bilder erhalten), Lage 9 (8+2–1, Text ganz erhalten, Bild zur Sext fehlt, zur Non erhalten), Lage 10 (nur zwei Blätter erhalten), Lage 11 (8+1-5; das Bild zur Komplet und die beiden mittleren Doppelblätter fehlen), vermutlich fehlt eine Lage 12 (4), Lage 13 (8+1–6, Bild zu den Bußpsalmen und die drei mittleren Doppelblätter fehlen), 14 (8+1–1, Text vollständig, doch fehlt das Bild zur Toten-Vesper), 20 (6, vollständig erhalten. Keine Reklamanten, moderne Bleistift-Foliierung rechts oben.

Zu 17 Zeilen im Kalender wie im Text, rot regliert.

Sedez (118 × 84 mm, Textspiegel 80,5r × 56 mm).

Vor allem am unteren Rand knapp beschnitten. Gebrauchsspuren, einige unauffällige Retuschen, vor allem im Blau der Gewänder.

Keine Hinweise auf Vorbesitzer.

Der Text

fol. 1: Kalender in lateinischer Sprache, nicht jeder Tag besetzt, Heiligennamen in Schwarz, Festtage und Sonntagsbuchstabe A in Rot; Goldene Zahl und Sonntagsbuchstaben b-g in Schwarz. Die Heiligenauswahl geht von Pariser Grundbestand aus, bezieht Patrone von Rouen und Reims sowie die Gründer der Bettelorden

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ein; lokal bedeutend sind die in Nordfrankreich und Flandern verehrten Heiligen Amandus (6.2.), Adrian (4.3.), Gertrudis (17.3.), Bonifatius (5.6. als Fest), Bertinus (5.9.), Remigius und Bavo (1.10. als Fest), Donatianus (14.10. als Fest), Hubertus (3.11.);.

(fol. 13v: Bild des Salvators auf eingeschaltetem Blatt fehlt).

fol. 14: Salve sancta facies (Textende fehlt.)

(fol. 15v: Kreuzigung fehlt).

fol. 16: Horen von Heilig Kreuz , nur die Vesper, fol. 20, fehlt.

fol. 22v: Pfingstwunder als Bild zu den Horen von Heilig Geist, auf eingeschaltetem Blatt.

fol. 23: Horen des Heiligen Geistes: Text vollständig bis fol. 26v.

(fol. 27v Madonnenbild fehlt ebenso wie fol. 28 mit Textanfang der Marienmesse: Salve sancta parens): erhalten nur die letzte Seite mit Beata viscera marie und dem Abschlußgebet Gratiam ago auf irrig als fol. 28 foliiertem Blatt; es fehlen die drei Endblätter von Lage 4.

fol. 28v: Perikopen: Johannes (fol. 28v), Lukas (Anfang fehlt vor irrig als fol. 29 foliiertem Blatt), Matthäus (fol. 30), Markus (fol. 31v).

(fol. 32v: Verkündigung auf eingeschaltetem Blatt fehlt):

Marienoffizium für den Gebrauch von Rom: Matutin (fol. 33, Text auf fol. 34 mit Ps. Venite exultemus und Hymnus Quem terra bruchlos; danach nur noch fol. 42 erhalten mit Ps. Dominus regnavit, dem 2. Ps. der 3. Psalmengruppe und der Ankündigung der Antiphon Dignare me), Laudes (Doppelseite mit Bild und Textanfang fol. 49v/50, dazu fol. 51 mit Ps. Deus deus meus und der Ankündigung der Antiphon In odorem, 57 mit dem Benedictus, und 59 mit den Schlußgebeten), Prim und Terz (Miniaturen auf eingeschaltetem Doppelblatt fol. 60v/65v; vollständige Prim auf fol. 61–64 mit – für Rom typisch – der Antiphon Assumpta und dem Capitulum Que est ista), (Textanfang der Prim fol. 66, Textlücke, danach die als fol. 67–68 gezählten Textblätter mit – für Rom typisch – der Antiphon Maria virgo und dem Capitulum Et sic in syon), Sext (Bild fehlt; vollständiger Text auf fol. 69–72 mit –für Rom typisch – der Antiphon In odorem und dem Capitulum Et radicavi), Non (Bild auf eingeschaltetem Blatt fol. 73v, Textanfang auf fol. 74–75, mit – für Rom typisch – Ankündigung der Antiphon Pulcra); Vesper (Textanfang fol. 78, dazu fol. 81 mit – für Rom typisch – der Antiphon Speciosa und dem Capitulum Ab initio sowie fol. 84 mit dem Textende), Komplet (fol. 85 Textanfang, wie für Rom typisch ohne Antiphon).

fol. 90: Mariengebet: Obsecro te mit zweitem Textblatt fol. 91, bricht ab.

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(fol. 94v: Bild zu den Bußpsalmen fehlt)

fol. 95: Bußpsalmen mit fol. 102 als Doppelblatt, dazu Schlußgebet auf fol. 112, fol. 112v leer.

(fol. 113v: Bild zum Totenoffizium fehlt)

fol. 114: Totenoffizium: Vesper (fol. 114, Text der Vesper vollständig), Matutin mit einer Rubrik hervorgehoben: Venite exultemus (fol. 118v), Rest des Textes fehlt bis auf das vorletzte Blatt mit auf Verso Ego sum resurrectio und dem Ps. De profundis. (fol. 155v: Bild der Gregorsmesse fehlt).

fol. 156: Sieben Verse des heiligen Gregor: O domine iesu xpe adoro te in cruce pendente, vollständig.

fol. 156v: Gebet des Kirchenvaters Augustinus, hier bezeichnet als Oratio in afflictione: O dulcissime domine iesu criste verus deus qui de sinu patris, wird auf fol. 157/v bruchlos fortgesetzt. Zu dem sehr seltenen Gebet, das bei Leroquais nur sechsmal vorkommt, wird in zwei Handschriften aus dem XVI . Jh. auf Augustinus hingewiesen: lat. 1428, fol. 4 (I, S. 274): Oratio sancti Augustini devotissima dicenda XXX–II diebus, genibus flexis, ad obtinendam omnem gratiam; entsprechend in lat. 1430, fol. 31v (ebenda, S. 280) vollständig.

fol. 159v: Suffragien: Michael (fol. 159v), Johannes der Täufer (fol. 160), Peter und Paul (fol. 160v), Jakobus (fol. 161), Sebastian (fol. 162), Christophorus (fol. 162v), Nikolaus (fol. 163v), Magdalena (fol. 164), Katharina (fol. 164v), Barbara (fol. 165).

Die Abfolge entspricht den etwas reicheren Suffragien im Münchner Blumenstundenbuch; dort werden noch der Schutzengel, Johannes der Evangelist, Franziskus, Antonius, und Anna sowie in Gruppen die Apostel, Märtyrer und Bekenner bedacht; alle Suffragien für Männer verwenden den gleichen Wortlaut; die für weibliche Heilige (dort fol. 207–219) weichen jedoch ab.

Schrift und Schriftdekor

Wie in vielen Stundenbüchern aus Simon Benings Umfeld ist eine rundliche Ferehumanistica verwendet, die sehr kräftig und voluminös erscheint, sehr ähnlich die Schrift im Blumenstundenbuch der Münchner Bibliothek (clm 23637). Hier blieben zwar die einfachen Textseiten – anders als in unserem Stundenbuch der Orsa Pesaro (hier Nr. 8) undekoriert; doch schließt sich der Randschmuck der mit Bildern versehenen Buchseiten an die dortige Art von Randmalereien an.

Im Unterschied zu der Münchner Handschrift, wo die Vollbilder die ganze Seite beanspruchen, umgeben durchweg Vollbordüren alle Bildseiten. Schon im Kalender wechseln aus Maßwerk gestaltete Ränder mit Streublumen auf farbigen Gründen ab. Die architektonisch gestalteten Bordüren sind in Brauntönen als Camaïeu

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konzipiert und mit goldener Höhung versehen; sie schließen an Konzepte an, die in drei Bordüren unserer Nr. 7 verwirklicht sind und die Brinkmann (1992, S. 41–104) als Architekturbordüren gesammelt hat, reduzieren aber den Randschmuck auf ein flaches Relief, das an geschnitzte oder von Goldschmieden gestaltete Rahmungen denken läßt.

Die Kalenderbilder

Querrechte mit den Monatsbildern besetzen in der Nachfolge des Bas-de-page den unteren Bordürenstreifen auf Recto; da man den Wechsel des Zodiak um die Monatsmitte ansetzte, folgen die kreisrunden Medaillons mit den Zierkreiszeichen auf Verso, somit unter der zweiten Monatshälfte.

Die Tierkreiszeichen entsprechen dem gewohnten Brauch: Nackt ist der Wassermann, bartlos, noch ein halbes Kind,, wie er mit zwei Flaschen vor einer fernen Kulisse mit voll belaubten Bäumen in einem flachen Gewässer, vielleicht einem bildparallelen Fluß steht. Silbern vor Gold-Camaïeu sind die Fische, deren Mäuler unverbunden bleiben. Nach links wendet sich auf einer Wiese in grauem Fell der Widder mit seinen kleinen Hörnern. Mit einem Streifen fernen Blaus im Hintergrund erscheint nach rechts gewendet der schwarze Stier. Als nacktes Paar aus Mann und Frau gehen die Zwillinge in winzigen Ganzfiguren aufeinander zu; sie fassen sich an den Unterarmen, vor weitem Landschaftsblick. Grau ist der Krebs mit vier Beinpaaren und einem stumpfen Schwanz vor Gold-Camaïeu. Heraldischen Bildern verwandt zeigt sich der Löwe, wie er über den Horizont ragend nach links schreitet. In blauem Kleid hockt die Jungfrau mit Palmzweig vor einem begrasten Mäuerchen, das rechts zur Landschaft offen ist. Platt vor Gold-Camaïeu nach rechts gewandt ist der Skorpion mit seinem Stachelschwanz. Die Waage erscheint, ohne daß die Halterung interessierte in einem Steinhaus mit großer Öffnung zum Himmel links. Der Schütze hebt die Vorderfüße seines braunen Pferdekörpers und zielt nach rechts. Der Steinbock ist ein plumpes schwarzes Tier, das nach links trabt und einen starken Schatten auf den hellgrauen Boden wirft.

Im Januar hat der ältere Herr seinen runden Stuhl vom runden Tisch zum Kamin weggedreht; für ihn richtet eine Magd ein festliches Mahl mit Zinngeschirr und stattlicher Bratenkeule angerichtet.

Das kleine Format der Monatsbilder läßt in Szenen, die im Freien spielen, mit Ausnahme des November auf Häuser, Stadt- oder Burgveduten verzichten.

Im Februar trimmt ein Mann Weinstöcke, während ein zweiter ein riesiges Reisigbündel schleppt. Holzmachen wird aber erst im März zum Thema: Männer arbeiten im noch unbelaubten Wald. Voll im Saft steht die Natur bereits im April: Auf einer Wiese melkt eine Frau eine braune Kuh; weiß schimmert die Milch im Holzzuber.

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Im Mai reiten Herr und Dame in den frühlingshaft frischen Wald rechts. Zur Schafschur im Juni hat sich ein Mann hingesetzt und eines der auf dem Hügel um ihn herum grasenden Schafe gegriffen, um es mit der großen eisernen Schere zu scheren. Im Juli nimmt bei der Heumahd der Schnitter mit der Sense die Mitte des Bildes ein; zu ihm kommt eine Frau mit der Mittagsspeise. Das Kornfeld bestimmt fast mannshoch den August : Der Schnitter läßt die Halme am Boden liegen; weil niemand zum Binden da ist. Im September schreitet der Sämann nach rechts; dort steht ein praller Sack mit Saatgut; Krähen flattern umher. Im Oktober ist ein Ochse in einer städtischen Metzgerei bereits auf dem blanken Steinboden in die Knie gezwungen, damit ihm der Metzger den Todeshieb auf die Stirn versetzen kann, während ihn ein zweiter Mann an einem Strick hält, der weit oben befestigt ist. Im November zeigt Simon Bening die im XV. Jahrhundert in Kalenderbildern noch sehr seltene Flachsbereitung: Ein Mann schlägt vor einem Bauernhaus mit dem Bokeholz die Flachsstengel mürbe. Im bereits verschneiten Dezember wird das Ausbluten eines soeben geschlachteten Schweines in der freien Natur gezeigt.

Die Zierseiten und die Miniaturen (hier ist, im Gegensatz zum Text, nur der erhaltene Bestand vermerkt).

Die großen Incipits eröffneten mit Doppelseiten aus textlosem Bild auf eingeschaltetem Blatt und Textanfang mit 4zeilliger Akanthus-Initiale; die Perikopen, das Mariengebet und die Suffragien hingegen mit 7zeiligen Kleinbildern, in Bordüren.

fol. 13: Zu Salve sancta facies: Auf Rosa goldene Rauten mit Perlen, in Gold gefaßten Edelsteinen und Schmuck, darunter eine Pensée in blauem und weißem Email.

fol. 14: Zur Matutin von Heilig Kreuz: auf blaugrauem Grund Rosen, Raupen und kleine weiße Schmetterlinge.

fol. 19v/20: Pfingstwunder mit den Apostel um Maria, die kleiner und tiefer in den Raum verteilt sind als die Figuren in den übrigen textlosen Bildern, zur Matutin von Heilig Geist: In einem hohen Sakralbau die Taube mit blutroten Flammen über Maria, Johannes und einer großen Schar von Aposteln und Gläubigen, die am Boden sitzen in einer Maßwerkbordüre mit Statuette und Relief; dazu AkanthusAstwerk auf Rosa mit zwei weißen Rosen.

fol. 25v: Perikopen eröffnen mit 7zeiligen Kleinbildern: Johannes auf Patmos mit dem Adler, Maßwerkbordüre (fol. 25v), Matthäus über seinen Text gebeugt, hinter ihm der Engel, in Streublumenbordüre mit Rosen und anderen Blüten, Schnecken und Raupen (fol. 28), Markus auf ein Blatt schreibend, das er am Pult befestigt hat, in seinem Rücken rechts unten der Löwe (fol. 29v).

fol. 31: Zur Marien-Matutin: Streublumen mit weißen und roten Rosen, Raupen, Schmetterlingen und Schnecken. Zu den Laudes Heimsuchung : Maria von links aus

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flacher Landschaft, Elisabeth vor dem stattlichen Haus des Zacharias, der rechts im Mittegrund wie ein Mönch sitzt (fol. 34v); der Textanfang (fol. 35) mit Streublumen auf Blau. Zur Prim die Anbetung des Kindes (fol. 39v) In einem aus grauen und brauen Steinen gemauerten Stall mit Reetdach sieht man Ochs und Esel hinter Maria, Joseph rechts; das nackte Knäblein auf dem Boden, drei kleine Engel hinter ihm; zwergenhaft der Hirte, der von rechts vorn gekommen ist. Der Textanfang (fol. 40) in Landschaftsbordüre mit Maßwerk oben; unten Zweikampf im Wasser zwischen einem Phantasiewesen und einem Wilden Mann, der auf einem Mischwesen reitet. Hirtenverkündigung zur Terz (fol. 44v) mit fünf Hirten auf einer durch Zaun und Gatter umschlossenen Wiese, mit den Schafen in der Mitte; im Himmel nur ein Lichtschein. Der Textanfang (fol. 45) in Streublumen mit rosafarbenen und roten Rosen. Zur Sext Streublumen unterschiedlicher Art (fol. 48). Zur Non die Darbringung im Tempel mit Maria und Joseph von links, Simeon und der greisen Hannah rechts unter einem grünen Baldachin mit weiteren Personen (fol. 52v) in Architekturbordüre. Der Textanfang (fol. 53) mit Landschaft, oben Maßwerk, unten Schwäne. Vesper (fol. 55) mit Festons und Vögeln auf Rosa. Komplet (fol. 58) mit Streublumen unterschiedlicher Art.

fol. 59: zum Mariengebet Obsecro te ein Kleinbild von 7 Zeilen Höhe mit Madonna in Halbfigur, die den in ein durchsichtiges Hemdchen gekleideten Knaben im Arm hält, in einer Architekturbordüre mit Statuette sowie einem Männerkopf, vielleicht mit Tonsur unter dem Text.

fol. 61: Bußpsalmen mit Architekturbordüre.

fol. 64: zur Toten-Vesper auf grünem Grund dicht gereihte Vögel, im Wechsel mit Kopf nach oben und Kopf nach unten.

fol. 72: zu den Versen des heiligen Gregor: Hasenbordüre mit kreisrundem Flechtzaun und Gatter.

fol. 73v: zum Gebet in tiefer Verzweiflung ein 7zeiliges Kleinbild: Der Kirchenvater Augustinus in Halbfigur als Bischof mit Mitra, Chormantel und Krümme, das glühend-rote Herz in der Hand, in Architekturbordüre mit Propheten-Statuette.

fol. 77v: 7zeilige Kleinbilder zu den Suffragien abwechselnd mit Architektur und Streublumen in den Bordüren: Männlichen Heilige im Wechsel als Vollfiguren in Architekturbordüren und Halbfiguren in Streublumen: Michael schwebend im Drachenkampf (fol. 77v); Johannes der Täufer weist auf das Lamm (fol. 78); Peter und Paul als Ganzfiguren in Sakralbau (fol. 78v); Jakobus als Pilger (fol. 79); Sebastian als Ganzfigur bei der Pfeilmarter (fol. 80), Christophorus trägt Christus in uferlosem Wasser (fol. 80v); Nikolaus sitzt neben dem Bottich mit den drei Knaben und segnet die Tonsurierten (fol. 81v). Die weiblichen Heiligen als Halbfiguren: Magdalena mit dem Salbgefäß (fol. 82); Katharina mit dem Schwert (fol. 82v); Barbara mit Turmmodell ohne Hinweis auf die Trinität (fol. 83).

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Zum Stil:

Das Manuskript gehört durch Schrift, Initialen und Bordüren zur Brügger Buchkultur im Umfeld von Sanders und Simon Bening. Die vier ganzseitigen Bilder im Buchblock gehören dem Meister des Sir George Talbot und seinem Atelier (vgl. auch Nr. 5). Vor allem die Kalenderbilder und die 15 kleineren Miniaturen hingegen erweisen sich als vorzügliche eigenhändige Werke von Simon Bening – man vergleiche hierzu nur den Kalender in Morgan M. 451, dem hochberühmten, von Antonius Van Damme signierten Miniatur-Manuskript Simon Benings, neben dem unsere Miniaturen nicht nur durch signifikante Ähnlichkeiten in den Sujets, sondern vor allem die intensiveren farblichen und gestalterischen Qualitäten bestehen!

Zwar nur Fragment, aber doch eine Trouvaille von eindrucksvoller Kraft ist dieses Brügger Stundenbuch von der Hand von Simon Bening und dem flämischen Talbot-Meister. Uns interessiert hier vor allem der Kalender, der mit seinen Monatsbildern im unteren Rand und den Medaillons mit den Tierkreiszeichen nicht nur von überzeugender Frische ist, sondern sich auch im Vergleich mit anderen Miniatur-Manuskripten Simon Benings würdig zu behaupten weiß. Hier entfaltet der große Meister von Landschaft und Genre, der für mehr als ein halbes Jahrhundert großartige Buchmalereien schuf, seine Kunst der treffenden Charakteristik des Menschen und der Natur im Jahreslauf!

Literatur

Das Manuskript ist der Literatur bisher unbekannt.

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Ein Stundenbuch mit einem herrlichen Kalender von Simon Bening

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Stundenbuch. Horae B.M.V. für den Gebrauch von Rom.

Lateinische Handschrift, Rubriken in Rot, in schwarzer Textura auf Pergament. Brügge, um 1520: Simon Bening.

12 Kalenderbilder in Vollbordüren und vier weitere Vollbordüren; zwei in GoldCamaïeu, davon eine historisiert und eine mit Astwerk gefüllt, die dritte als rotgrundige Kandelaberbordüre, die vierte als illusionistische Architekturbordüre mit Banderole vor blauem Grund. 6zeilige Akanthusinitialen in Gold-Camaïeu auf farbigen Gründen mit einem goldenen profilierten Rahmen, Psalmenanfänge mit 2zeiligen, Psalmenverse, am Zeilenbeginn, mit einzeiligen Initialen in Akanthusformen aus GoldCamaïeu auf roten, blauen oder grünen Gründen mit goldenem oder weißem Liniendekor oder in weißen Akanthus auf braunem Grund; Zeilenfüller der gleichen Art. Versalien nicht farbig hervorgehoben.

166 Blatt Pergament, dazu je ein festes und fliegendes Vorsatz aus modernem Pergament vorne und hinten. Gebunden vorwiegend in Lagen zu 8 Blatt, davon abweichend die Kalenderlage 1 (6), Lage 4 (6), Lage 6 (8–1, 5. Blatt fehlt), Lage 8 (8–1, 7. Blatt fehlt), Lage 10 (8–2, 2. und 7. Blatt fehlen), Lage 11 (8–1, 6. Blatt fehlt), Lage 12 (8–1, 3. Blatt fehlt), Lage 13 (4+2, 4. und 6. Blatt eingestellt), Die Endlage des Marienoffiziums, Lage 14 (6), Lage 15 (8–1, 1. Blatt fehlt), Lage 17 (4), Lage 18 (8–1, 1. Blatt fehlt), Lage 22 (8–1, 8. Blatt fehlt), Lage 28 (6–1+1, 1. Blatt fehlt, 6. Blatt eingestellt), Lage 29 (6–1, 2. Blatt fehlt). Keine Reklamanten, moderne Bleistift-Foliierung rechts oben.

Zu 17 Zeilen, im Kalender zweispaltig, rot regliert.

Oktav (185 × 126 mm, Textspiegel 95 × 65 mm).

Aller textlosen Miniaturen auf eingeschalteten Blättern und der meisten Textanfänge mit Initialen und Bordüren beraubt. Modern gebunden in violetten Samt mit Blumenmuster auf Holzdeckel, eine Schließe.

Das Manuskript wurde am 1. Juli 1886 von J. J. Leighton verkauft und blieb in der Familie des Erwerbers bis zur Sale Sotheby’s, 1. Dezember 1987, Nr. 59. Ersteigert von Ladislaus von Hoffmann. Seine (Arcana I) Auktion Christie’s, 7. Juli 2010, Nr. 46.

Der Text

fol. 1: Kalender in lateinischer Sprache, nicht jeder Tag besetzt, Goldene Zahl (als arabische Ziffer!), Sonntagsbuchstabe a und Festtage in Rot; Sonntagsbuchstaben b-g und einfache Heiligentage in Schwarz. In der wenig spezifischen Heiligenauswahl finden sich die in Nordfrankreich und Flandern verehrten Heiligen Gertrud (17.3.), Hubertus (28.5.), Amelberga (14.6.), Guido von Anderlecht (11.9., eigentlich 12.9.).

fol. 7: Johannespassion Christi.

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fol. 17: Päpstliches Ablassgebet: Ave vulnus lateris nostri redemptoris …

fol. 18: Perikopen: Johannes (fol. 18), Lukas (fol. 20), Matthäus (fol. 22), Markus (fol. 24).

fol. 25: Horen von Heilig Kreuz (fol. 25) und Heilig Geist (fol. 31).

fol. 37: Marienmesse: Salve sancta parens.

fol. 41: Marienoffizium für den Gebrauch von Rom; alle Anfänge bis auf den der Non fehlen: Matutin (fol. 41), Laudes (fol. 58), Prim (fol. 68), Terz (fol. 72), Sext (fol. 76), Non (fol. 78), Vesper fehlt, Komplet (fol. 82), Adventsoffizium (fol. 92).

fol. 100: Bußpsalmen (Anfang fehlt), mit Litanei (fol. 110), wenig spezifisch, aber mit Ursula, die besonders in Brügge verehrt wird.

fol. 119: Totenoffizium: Vesper (fol. 119, Anfang fehlt), Matutin (fol. 124, mit Rubrik), Laudes (fol. 147, mit Rubrik).

fol. 157: Suffragien, die Anfänge fehlen: Trinität (fol. 157), Johannes (fol. 160).

fol. 163: Mariengebet: O intemerata, für einen Mann redigiert (Anfang fehlt), gefolgt von drei Pater noster (fol. 166).

fol. 166v: Textende.

Schrift und Schriftdekor

Mit der Fere-humanistica, die man in den flämischen Metropolen vor allem einsetzte, wenn Gebetbücher für den Mittelmeerraum bestimmt waren, gehört dieses Stundenbuch zu den charakteristischen Handschriften aus dem Umfeld von Simon Bening. Von besonders hoher Qualität sind die vorzüglichen kleinen Initialen, die in Akanthusformen aus Gold-Camaïeu gebildet sind und, unabhängig ob zweizeilig für Psalmenanfänge oder einzeilig für Psalmenverse, im steten Wechsel die drei Farben für den Fond alternieren und dazwischen auf weiße Akanthus-Initialen auf Braun streuen. Die Psalmenverse beginnen jeweils am Zeilenanfang; das erfordert schöne Zeilenfüller, deren Grundfelder ebenso wie die der Zierbuchstaben unkonturiert bleiben. Zur gleichen Dekorationsfamilie gehören die größeren Initialen, die jedoch mit den für den Bening-Kreis gewohnten Leisten aus Gold-Camaïeu gerahmt sind.

Die Kalenderbilder

Zu Simon Benings Kunst gehört die Gliederung von Bildbordüren durch feine Leisten in Umbra, deren Goldhöhung eine Beleuchtung von links oben, also wie beim Lesen von Rechtshändern, suggerieren soll. Die Leisten umfassen das gesamte Feld der Malerei und den Textspiegel. Sie sind nach den Eintragungen des Schreibers

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entstanden; denn sie weichen in spielerischer Unregelmäßigkeit Buchstaben aus, die über die Zeilenlänge ausgreifen. Über dem Textfeld grenzen sie auch in ovalen Medaillons den Pinselgoldgrund aus, in dem die Tierkreiszeichen gezeigt sind. Kleine Verstrebungen stehen noch in der Tradition des gotischen Maßwerks und sorgen variantenreich für ornamentale Wirkung.

Die Tierkreiszeichen in ihren ovalen Medaillons stehen jeweils auf Pinselgoldgrund: Nackt ist der Wassermann, bartlos, aber schon erwachsen, mit seinen zwei Flaschen, hinter dem Rahmen taucht er mit den Oberschenkeln auf. Silbern sind die Fische, deren Mäuler unverbunden bleiben. Nach rechts wendet sich in prächtig weißem Fell der Widder. Schwarz und ebenfalls nach rechts blickend erscheint der Stier. Als nacktes Paar aus Mann und Frau steigen die Zwillinge hinter dem Bildrand auf; einander distanziert anschauend, fassen sie sich an den Schultern, wobei der Mann aktiver nach der Frau greift. Silbern ist der Krebs mit vier braunen Beinpaaren und einem quastenartigen stumpfen Schwanz. Stark heraldischen Bildern verwandt zeigt sich der Löwe. In rotem Kleid hockt die Jungfrau im Bild. Von der Seite gesehen ist der Skorpion mit seinem Stachelschwanz; so zeigt sich, daß sein Deckpanzer silbern ist, Körper, Beine und Schwanz aber rotbraun. Die Waage erscheint, ohne daß die Halterung interessierte. Der Schütze stürmt mit schwarzem Pferdekörper nach rechts. Der Steinbock ist ein plumpes schwarzes Tier, das nach links trabt.

Das Gastmahl des vornehmen Mannes zum Januar (fol. 1) erfordert unten ein Interieur, erlaubt aber darüber den Blick auf das schneebedeckte Dach mit winterlich dürren Baumkronen. Der Blick ins Haus ist wie in florentinischer Perspektive von zwei in die Tiefe führenden Elementen gerahmt, dem Bett links und dem Kamin rechts. Eine junge Frau oder Magd bringt gerade den Braten herein. Den einzigen Stuhl hat der Mann vom Tisch weg zum Kamin gedreht, um sich die Hände zu wärmen, neben ihm eine graue Katze.

Im Februar (fol. 1v) nimmt die Malerei unter der rechten Spalte drei Zeilen zusätzlich ein. Im Weinberg werden Pfähle in die Erde getrieben, an denen sich die zu Boden sinkenden Pflanzen aufrichten sollen. Von links schleppt ein Mann ein Bündel Stöcke heran, ein zweiter richtet eine müde Weinpflanze auf, während ein dritter mit einer Hacke den Boden bearbeitet.

Im März (fol. 2) bilden die noch unbelaubten Äste mächtiger Bäume ein Gitter um das Schriftfeld. Ein Mann schlägt Feuerholz, während ein zweiter daraus ein Bündel schnürt.

Im April (fol. 2v) sprießt in hohen Bäumen das erste Grün. Gegen die Leserichtung läuft die Bewegung nach links, wo der Blick im breiten Außenrand über einem Gatter in die Tiefe führt. Aus dem Stall rechts treibt ein Hirte seine Schafe und Ziegen zur Weide.

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Im Mai (fol. 3) musizieren drei junge Leute aus der noblen Gesellschaft auf einem mit frischem Maigrün geschmückten Kahn; rechts taucht im Wasser ein Schloss auf.

Im Juni (fol. 3v) werden wie im Breviarium Grimani von zwei Schäfern in der Wiese die Schafe geschoren; rechts sorgt, weiter zurückgesetzt, ein Bauernhaus für perspektivischen Zug zur Mitte hin.

Im Juli (fol. 4) wird die Heumahd gezeigt; fast zu einem ordentlichen Quadrat hat der Bauer die Wildwiese mit seiner Sense schon gestutzt und macht sich nun an den letzten Teil seiner Arbeit, während im Hintergrund eine Frau den Schnitt einsammelt.

Zum August (fol. 4v) hat ein Schnitter zur Kornmahd zwei Sicheln an Stöckern befestigt, die er rhythmisch mit linker und rechter Hand führt, während eine Frau Garben schnürt.

Beim Pflügen im September (fol. 5) ziehen zwei Pferde den Pflug des Bauern. Die Tönung des Laubs hin zum goldenen Herbst bezaubert.

Im Oktober (fol. 5v) hat man einen Ochsen in eine städtische Metzgerei gebracht, wo ihm der Metzger mit gespitztem Hammer den Todesstoß versetzt, während ein Jüngling mit Mühe die Hörner halten muß. In der Metzgerei und draußen herrscht erstaunliche Ordnung.

Zum November (fol. 6) wird Flachs geschlagen: Zwei Männer stehen in einem Kreis und bearbeiten den Flachs. Die Raumstruktur bezieht virtuos das Schriftfeld mit ein.

Im Dezember (fol. 6v) liegt bereits Schnee; hier wird das Ausbluten des soeben geschlachteten Schweines gezeigt; offenbar ist eine viel urtümlichere Art des Schlachtens gemeint als im Oktober.

Die Bildbordüre zur Johannespassion:

Von der Bebilderung des Buchblocks ist nur die Camaïeu-Bordüre zur JohannesPassion erhalten: Ganz in der Art der architektonisch gestalteten Reliefbordüren, die in Nr. 5 in stetem Wechsel zu Streublumen zu finden sind, ist der Randschmuck als Einheit mit Maßwerkschmuck als oberem Abschluß konzipiert. Unten ist Judas am mit Ziegeldach geschützten Tor des Palisadenzauns zu Jesus getreten, um ihm den Kuß des Verräters zu geben; derweil drängen von rechts die Soldaten heran, greifen nach ihm. Petrus aber, im verlorenen Profil richtet sich mit gezogenem Schwert auf, er wird dem kahlköpfigen Malchus, der eine Laterne hält, das Ohr abschlagen. Im äußeren Randstreifen wird dann der erste Blick über Soldatenköpfe zweimal hinter Hügeln wiederholt, so daß aus deren ungezählten Scharen mit Lanzen und Fackeln ein befremdliches Ornament als Randschmuck entsteht.

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Zum Stil

Während die vier Vollbordüren und der herausragende Initialdekor die hohe Qualität von Simon Benings Werkstatt verraten, die den Buchblock illuminiert hat, sind die zwölf Monatsbilder in den Vollbordüren des Kalenders von der Hand dieses großen Brügger Meisters selbst. Simon Bening, der die flämische Buchmalerei der ersten Hälfte des XVI . Jahrhunderts dominierte und erst 1561 starb, vereinte in seinen berühmten Monatsbildern einen lebendigen Sinn für Genreszenen mit einem außergewöhnlichen Talent für die atmosphärische und detailreiche Schilderung von Landschaften.

Die Zuschreibung an Simon Bening und seine Werkstatt, die wohl für die Bordüre zur Johannespassion verantwortlich war, ist unstrittig. Der Kalender gehört zu den besten und charakteristischsten Werken des hauptsächlich in Brügge tätigen Künstlers. Er verbindet sich mit einer ganzen Reihe seiner Werke, u. a . Spencer 36 in der New Yorker Public Library oder dem Blumenstundenbuch in München. Bemerkenswert ist die Einbeziehung von Voraussetzungen für die Textil-Industrie mit Schafschur und Flachsbereitung sowie die Differenzierung zweier Formen des Schlachtens, einmal in der Stadt und dann im Dorf. So gern Simon Bening auch auf Vorlagen aus dem späten XV. Jahrhundert zurückgriff, so lebendig und variantenreich erweist er sich doch in einem Werk wie dieser bisher unbekannten Folge von Monatsbildern.

Literatur:

Das Manuskript ist der Literatur bisher unbekannt.

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Das Stundenbuch aus der Sammlung Durrieu mit 22 genialen Kalendergemälden vom Meister der Davidsszenen im Breviarium Grimani

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Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Rom.

Lateinische Handschrift mit Orthographien im Lateinischen, die auf Nordfrankreich weisen, und einem hinzugefügten Gebet in französischer Sprache, Rubriken in Rot, in schwarzer Textura auf Pergament.

Brügge, vielleicht bereits um 1480 angelegt; erst um 1510 von verschiedenen Illuminatoren ausgemalt; der Kalender ein Hauptwerk vom Meister der Davidszenen im Breviarium Grimani (Jan Gossaert, genannt Mabuse – oder doch Gerart David?)

22 Kalenderbilder in historisierten Vollbordüren; 15 große Incipits mit Vollbordüren, davon eine historisiert, drei aus dem Vorlagenschatz der Architekturbordüren, eine mit goldenem Akanthus auf rotem Grund, die übrigen mit Streublumen auf Pinselgold, die Zierinitialen von 5 bis 7 Zeilen Höhe vorwiegend auf rotem Grund, die meisten in das Bordürenfeld integriert . Die übrigen Zierbuchstaben ohne Randschmuck, vielleicht eine Generation älter: Sechs Initialen von 5 bis 8 Zeilen Höhe in Schwarz mit Dornblatt auf Blattgold; die übrigen Lettern in Blattgold auf schwarzem Grund, der mit Weiß geschmückt ist: je eine 5- und 4zeilig, elf 3zeilig, mindere Incipits und Psalmenanfänge 2zeilig. Psalmenverse am Zeilenanfang abwechselnd blau auf rotem und golden auf schwarzem Federwerk; Zeilenfüller ohne Federwerk aus Blau und Rot zusammengesetzt.

200 Blatt Pergament, der Textblock nach dem Kalender von späterer Hand in schwarzer Textura i – clxxxviii foliiert; dazu je ein festes und fliegendes Vorsatz Papier mit Blumenmuster bedruckt, dazu vorn zwei und hinten ein weiteres Blatt Papier des 18. Jahrhunderts. Gebunden vorwiegend in Lagen zu 8 Blatt, davon abweichend Kalenderlagen 1 – 2 (6), Lage 8 (8–1, das Endblatt der Marienmatutin fehlt nach fol. liii), Lage 9 (8+1–1: fol. lxiv als 1. Blatt hierhin versetzt, das 2. Blatt fehlt), Lage 10 (8–2: das 3. Blatt fehlt; das 8. Blatt als fol. lxiv falsch eingebunden), Lage 11 (8–2: 1. und 6. Blatt fehlen), Lage 12 (8–1, 7. Blatt fehlt), Lage 14 (4), Lage 17 (8–1, 7. Blatt fehlt), Lage 23 (8–1: 6. Blatt fehlt), 24 (4), 26 (4). Eine Reklamante auf fol. clxxxivv.

Zu 17 Zeilen in Kalender und Text, rot regliert.

Klein-Quart (224 × 160 mm, Textspiegel 117 × 72 mm).

Breitrandig und durchweg tadellos erhalten, jedoch aller textlosen Miniaturen beraubt. Der untere Randstreifen von fol. lxii, cxxxviii und clxxiii durch neueres Pergament ersetzt, ebenso die Initiale auf fol. xix und das Wappenschild im unteren Randstreifen von fol. xc. Spätere Eintragungen im Kalender getilgt.

Roter spanischer Maroquinband des frühen 18. Jahrhunderts, mit vier sichtbaren Bünden, Goldschnitt mit reliefierten Rändern.

Keine Hinweise auf Vorbesitzer; zu Marien-Vesper und -Komplet jeweils ein von Löwen präsentiertes Wappenfeld (davon eines nach dem Vorbild des anderen restauriert),

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Katalognummer 8

jedoch ohne heraldische Zeichen. Comte Paul Durrieu und dessen Erben aus der Familie Charnacé. Von uns aus europäischem Privatbesitz erworben.

Der Text

In ungewöhnlicher Weise finden sich im Lateinischen Orthographien aus Nordfrankreich, das wegen des „chi“ verspottet wird: so cheraphin (fol. clxxviv).

fol. 1: Kalender in lateinischer Sprache, nicht jeder Tag besetzt, Heiligennamen in Schwarz, Festtage in Rot; Goldene Zahl in Schwarz, Sonntagsbuchstaben b–g in Schwarz, Sonntagsbuchstabe a in Rot. Die Heiligenauswahl für Nordfrankreich und Flandern charakteristisch: Aldegundis (30.1.), Amandi (6.2. Fest), Wallerii episcopi (1.4.), Bertini (5.9.), Remigii et Bavonis (1.10. Fest), Donatiani (15.10. Fest), Huberti (3.11.), Nichasii (14.12. Fest).

fol. i: Johannespassion; Ende auf fol. xvii–xviii; fol. xviii auf Verso leer.

fol. ix: Horen von Heilig Kreuz (fol. ix, unterbrochen auf fol. xvii–xviii; die Komplet auf fol. xix) und Heilig Geist (fol. xxi).

fol. xxviii: Marienmesse: Introibo ad altare.

fol. xxxv: Marienoffizium für den Gebrauch von Rom: Matutin (fol. xxxv – mit drei Psalmengruppen; Ende des Te deum in späterer Schrift nachgetragen), Laudes (fol. liv), Prim (fol. lxv), Terz (fol. lxx), Sext (fol. lxxiv), Non (fol. lxxviii), Vesper (lxxxii), Komplet (fol. xc); Adventsoffizium, bezeichnet als mutatio adventus (fol. xcvi).

fol. ciii: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. cxv v), die Heiligenauswahl vom Pariser Brauch bestimmt, ohne spezifische Hinweise auf Nordfrankreich und die südlichen Niederlande; die beiden französischen Ludwig, der König wie der Erzbischof von Toulouse, sind erwähnt; immerhin findet sich Ursula, die u.a. in Brügge verehrt wird, unter den weiblichen Heiligen.

fol. cxxv: Totenoffizium: Vesper (fol. cxxv), Matutin (nicht markiert fol. cxxxiii), Laudes (mit Rubrik fol. clviiiv).

fol. clxxi: Mariengebete: Obsecro te, für eine Frau redigiert, so famule tue (fol. clxxi )

O intemerata, für einen Mann redigiert, so ego miserimus peccator (fol. clxxiv).

fol. clxxvii: Suffragien: Drei Könige (fol. clxxvii), Drei Engel (fol. clxxviiv), Sebastian (fol. clxxviii), Martin (fol. clxxix), Johannes der Täufer (fol. clxxix v), Franziskus (fol. clxxx), Adrian (fol. clxxx v), Arnulf (fol. clxxxi), Margarete (fol. clxxxii), Barbara (fol. clxxxiiv), Katharina (fol. clxxxiii).

fol. clxxxiv: in Bastarda hinzugefügt: Devote oroison en francois à la vierge marie: O digne préciosité / marie sainte purité, in zwölf Strophen zu je zwölf Versen.

fol. clxxxviiiv: Textende.

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Schrift und Schriftdekor

Kalender und Text sind in großformiger Textura geschrieben; mit dem Text wird sehr großzügig umgegangen; selbst die immer wiederkehrenden Formeln, beispielsweise das Gloria werden möglichst ohne Abkürzungen ausgeschrieben, so daß bei Matutin von Heilig Kreuz und Geist ebenso wie im Marien-Offizium die Eingangsseite allein mit der Eröffnung bis zum Sicut erat… gefüllt wird. Der Text, der in fortlaufenden Passagen auch kompakt gefaßt sein kann, wird vor allem bei den am Zeilenanfang einsetzenden Versen recht locker verteilt, so daß zahlreiche Zeilenfüller erforderlich werden.

Der Schriftdekor setzt mit dem vor allem in Brügge beliebten Federwerk ein, das jedoch in den Zeilenfüllern keine Rolle spielt. So ergibt sich ein gewisser Gegensatz: Die Zeilenfüller sind mit recht kräftigen blauen und roten Formen besetzt, wo diese Farben entweder in klarem Wechsel nebeneinander oder in der Waagerechten alternieren, so daß abwechselnd blauer und roter Schmuck langgezogen übereinander stehen. Die einzeiligen Initialen, die hier anders als in vielen südniederländischen Handschriften durchweg an den Zeilenbeginn gesetzt sind, verwenden hingegen den gewohnten Farbwechsel mit blauen oder goldenen Buchstaben auf sehr lebhaftem Federwerk in Rot oder Schwarz. Derartige Zierbuchstaben markieren auch die Anfänge der Strophen im französischen Mariengebet.

Von ganz anderem Gewicht sind dann die größeren Initialen, die in gestaffelten Größen vorkommen: Die Buchstaben in bombiertem Blattgold stehen auf schwarzem Fond, der gezackt um die Lettern und seinerseits mit weißem Lineament geschmückt ist: Zweizeilig sind die Psalmenanfänge, aber auch Incipits wie die Anfänge der Horen des Heiligen Geistes und des Mariengebets O intemerata, die sonst stärker hervorgehoben werden. Dreizeilig hingegen werden die Suffragien eröffnet, obwohl deren Eingangstexte eigentlich nur Antiphonen sind. Vier Zeilen nimmt dann die entsprechende Initiale zum französischen Mariengebet am Schluß ein, mit fünf Zeilen eröffnet schließlich das Obsecro te.

Davon unterscheiden sich die mächtigen Dornblatt-Initialen zum Advents-Offizium: Ihre Buchstabenkörper sind in der gleichen Art in Schwarz mit weißem Lineament gestaltet wie die Fonds der eben beschriebenen nachgeordneten Kategorie. In denselben Farbtönen werden die Letter und das ins Binnenfeld ausstrahlende Dornblatt gestaltet; diese Initialen stehen aber entweder ganz auf Goldgrund oder umfassen Gold im Binnenfeld, während die Grundfläche außen in Rosa ausgeführt und mit kräftiger Leiste umrandet ist. Wieder ist auf bombierte Wirkung Wert gelegt. Beim Advents-Offizium reichen fünf Zeilen aus, bei den kleinen Horen von Heilig Kreuz steigert sich die Buchstabengröße bis zu acht Zeilen. Das gilt für alle Horen, doch mit Ausnahme nicht nur der Matutin, sondern auch der Komplet. Vielleicht ging eine Planungsphase voraus, in der man vorhatte, die großen Initialen mit Szenen der Passion zu historisieren. Aller bisher charakterisierte Dekor kommt ganz ohne

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Randschmuck aus, da ja das rote und schwarze Federwerk nicht als Rand-, sondern als Buchstabenzier verstanden wird.

Derartige Buchstaben sind ungemein selten zu finden. Eine überzeugende Parallele bietet das Stundenbuch des Claude de Toulongeon (um 1421–1503, Ritter des Goldenen Vlieses ab 1481), der mit dem Ordenscollier in einem sehr streng kolorierten Stundenbuch vom Meister Edwards  IV. erscheint (Leuchtendes Mittelalter I, 1989, Nr. 39 und demnächst unseren Katalog 88 als Monographie zu diesem Hauptwerk). In diesem mit burgundischer Bastarda arbeitenden Manuskript, das auch die einzeiligen Zierbuchstaben in Gold auf Schwarz setzt, gehört zu solchem Initialschmuck aus Gold und mit Weiß verziertem Schwarz ein altertümlicherer Randschmuck, der in strenger Stilisierung auf Dornblatt mit Blüten und Akanthus aufbaut. Die Tatsache, daß für Claude de Toulongeon auch einige große historisierte Initialen gemalt wurden, unterstützt die eben geäußerte Annahme, man habe für die Horen des Heiligen Kreuzes vielleicht zunächst die Zierbuchstaben mit einem Bildzyklus schmücken wollen. In unserem Zusammenhang sei bemerkt, daß der Kalender des Toulongeon-Stundenbuchs mit Miniaturen in reduzierten Grautönen ausgestattet ist, die thematisch und motivisch mit der hier ausgebreiteten Bildphantasie nichts gemeinsam haben.

Zu der vom Toulongeon-Stundenbuch aus den Jahren spätestens kurz nach 1481 repräsentierten Entwicklungsphase gehört wohl auch die Initiale zur Matutin des Heiligen Kreuzes: Älterem Brauch folgend dient Blattgold als Fond für den Zierbuchstaben, der nun allerdings mit farbigem Rankenwerk gefüllt ist. Zu diskutieren wäre, ob der Unterschied dieser Initialen zur weiteren Ausmalung inhaltlich oder stilistisch zu interpretieren ist: Bei Claude de Toulongeon deutet die insgesamt zurückgenommene Farbigkeit auf eine strenge Spiritualität hin, die nur durch die bunten Wappen belebt ist. Doch besteht wohl auch ein zeitlicher Unterschied zwischen dem Buchstabenschmuck in Schwarz und Gold zur ungemein prachtvollen Ausmalung der Ränder, die bereits der Matutin des Kreuzes zugutekommt; denn dieses Incipit wurde ebenso wie vierzehn weitere mit prächtigen Vollbordüren geschmückt, die alle vier Arten von Randschmuck repräsentieren, die im frühen XVI . Jahrhundert in den südlichen Niederlanden blühten.

Die meisten Prachtseiten folgen dem Prinzip der flämischen Streublumenbordüre: Akanthus bildet den Buchstabenkörper, der entweder auf einem gesonderten farbigen Feld erscheint oder häufiger auf Pinselgold, meist integriert in die Bordüre, deren plastisch modellierter Rahmen so um das Feld mit der Initiale herumgeführt ist, daß eine einheitliche Grundfläche ermöglicht wird. Licht fällt von links oben auf die Randleisten und auf die wundervoll ausgebildeten Blüten und Früchte. Das Kolorit und der Einsatz von kleinen Tieren läßt wohl verschiedene Hände unterscheiden: Raupen, Schnecken Schmetterlinge und Käfer zur Kreuz-Komplet sowie

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eine Groteske und Vögel zu Marien-Terz und -Sext setzen diese drei Incipits von den anderen Streublumen-Beispielen ab.

Allein steht die rotgrundig angelegte Bordüre zur Kreuz-Matutin mit wunderbar goldenem Akanthus, nur wenigen Blüten und einem Vogel. Aus einem Fundus, den Bodo Brinkmann (1992, S. 41–104) untersucht hat, stammen drei weitere Bordüren: Sie umrahmen den Textspiegel mit Renaissance-Architektur, in der sich auch charakteristische Elemente der Spätgotik erhalten haben. Von besonders fortschrittlicher Gesinnung zeugt die Randzier zur Johannespassion, mit der der Textblock einsetzt: Hier herrscht allein der neue Stil mit perspektivischen Elementen und fünf nackten Putten. Vom Charakter des Dekors erfährt man jedoch noch mehr bei Marien-Vesper und Komplet; denn für beide Incipits hat man sich derselben Vorlage bedient: Wie eine schon manieristische Kombination aus RenaissancePfeilern und spätgotischen Gewölben wirkt die Architektur, die sich wie ein Gitter aus Gold-Camaïeu über dunkelblauen Fond legt. Ein gotischer Kelch und eine entsprechende Engelsstatuette besetzen die senkrechten Felder, während ein Löwenpaar unten einen Kranz für ein Wappen hält, in den dann doch gotisches Maßwerk einbeschrieben ist. Die Illuminatoren verfügten über mehr als zwei Dutzend solcher Muster, die sie gern sehr sorgfältig in unterschiedlichen Formaten wiederholten. Zum selben künstlerischen Umfeld gehörten übrigens auch die von Anne Margreet As-Vijvers studierten Einzelmotive in sonst leeren Randfeldern zum Text, von denen unser Stundenbuch der Orsa Pesaro (Nr. 9) ein hinreißendes Beispiel gibt. Nach diesen beiden Arten von ornamentalem Randschmuck wirkt die letzte Prachtseite in unserem Stundenbuch, die das Toten-Offizium eröffnet, wie eine Abkehr von all der Stilisierung zwischen Natur, Architektur und Ornament: Da schwimmt, in Gold-Camaïeu von der Umgebung unterschieden, eine Nixe mit einem silbernen Schwert und einem spitzen roten Schild, in einem Bach, in dem sich Vögel unterschiedlicher Größe tummeln, während von rechts ein Hund auftaucht, um eine Ente zu verfolgen. Schauplatz ist ein Garten, der zur Bildtiefe durch eine bildparallele Mauer abgetrennt ist. Dort hat sich ein Pfau niedergelassen, die Landschaft betrachtend, während um einen Baum rechts Vögel fliegen und im Geäst anhalten. Auch diese Bordüre gehört zu einem scheinbar unerschöpflichen Fundus von Bildvorlagen in der flämischen Buchmalerei, der unser Stundenbuch verdankt wird.

Die Kalenderbilder

Die 22 Monatsbilder in den Vollbordüren des Kalenders sind von der Hand eines großen Meisters, der neben Simon Bening zu den wichtigsten Vertretern der flämischen Buchmalerei der ersten Hälfte des XVI . Jahrhunderts gehörte: Man nennt ihn den Meister der Davidbilder des Breviarium Grimani.

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In einem Stundenbuch in Hermannstadt, rumänisch Sibiu, das unter der irreführenden Bezeichnung Hermannstadt-Brevier bekannt wurde, hat derselbe Künstler recht ähnliche Monatsbilder gemalt. Doch ist der Kalender dort so eingerichtet, daß jedem Monat eine Doppelseite zukommt, also Verso und Recto auf einen Blick sichtbar sind. Deswegen verändert sich die Komposition einer jeden Bildseite entscheidend, liegt doch auf Verso der breite Außenrand links, bei Recto hingegen rechts. Deshalb sind die Gewichte vertauscht; denn aufragende Architektur und breiterer Raum regen an, dort auch Tiefe auszuloten. Zudem verändert sich die Einstellung zur gewohnten Leserichtung von links nach rechts nicht unerheblich: Statt aus der Tiefe in die vordere Ebene zu führen, waren Buchmaler Aktionsfolgen gewohnt, die sich in der Tiefe verlieren. In keinem Falle wurden die Seiten verkehrt. In beiden Handschriften wird das Tierkreiszeichen wie gewohnt der zweiten Monatshälfte zugeordnet; es erscheint in buntfarbiger Himmelsgloriole: Nackt ist der geflügelte Wassermann mit seinen Wasserflaschen in beiden Händen, bartlos mit irdenen Gefäßen ist er bei uns, bärtig mit metallenen in Hermannstadt. Unverbunden, aber gegenständig sind die beiden blauen Fische angeordnet. Auffällig sind die schwarzen Hörner des wolligen weißen Widders. Wie eine zahme Kuh grast der braune Stier. Die Zwillinge sind geflügelte Putten, die sich umarmen. Der Krebs, der bei uns mit dem Juni verloren ging, wird in Hermannstadt feurig krebsrot gezeigt. Der Löwe, in Hermannstadt im Profil nach links, schreitet nach rechts, dreht aber den Kopf nach links. Die Jungfrau sitzt beide Male nach rechts gewendet am Boden. Besonders auffällig ist das Sternzeichen der Waage, bei der die Maler nicht einig sind, wie sie gehalten wird: in Hermannstadt von einer Frau in Halbfigur, bei uns aber von einer nackten geflügelten Gestalt, die im Profil nach rechts aus der Höhe herabfliegt und klar macht, welche Bedeutung die beginnende Renaissance für unseren Maler hat. Schwarz ist der Skorpion, bei uns nach rechts, in Hermannstadt seitenverkehrt gezeigt. Entsprechend seitenverkehrt zeigt sich der Kentaur, der sich mit seinem Bogen umdreht. Braun ist der nach rechts aufspringende Steinbock, schwarz und ruhig nach links blickend in Hermannstadt.

Zum Januar (fol. 1) wird der Blick ins Haus unten mit der Sicht auf die Dächer bei leichtem Schneefall (!) oben kombiniert: Vor der Küche, in der eine Magd am Feuer arbeitet, hat sich ein Hund über Fleischreste hergemacht. In einem Raumeckmotiv mit Seitenwand rechts, die mit dem Kamin einsetzt, steht das rote Himmelbett, mit Kopfende und Stuhl rechts hinter Hauptfiguren. Von links tritt eine Frau mit einer Metallkanne an den Eßisch; dort sitzt ein Mann, schaut zur Frau vorn, wärmt sich jedoch die Hände am Kamin.

In Hermannstadt ist das Bett um 90 Grad gedreht; der hohe Stuhl steht links neben der Küche. Der Hund blickt auf, statt der Frau schenkt ein junger Mann am nun

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runden Tisch ein. Die Stadt ist verschneit, während in unserer Miniatur gerade ein alles verzaubernder Schneefall eingesetzt hat.

Anders als in Hermannstadt ist der Schnee in der zweiten Hälfte des Januars nicht liegen geblieben; die Grachten, die in wunderbarem Zickzack die breiten Ränder durchziehen, sind zugefroren; auf ihnen kann ein vornehmes junges Paar Schlittschuh laufen, während zwei Knaben ohne Schlittschuhe auf dem Eis Hockey spielen. Ein Pferd zieht über den trockenen Boden einen Schlitten mit einem Fuhrmann und einem vornehmen Paar als Passagieren.

Im Februar ist Holzeinschlag das Thema der ersten Monatshälfte: Gewässer sind in freier Landschaft künstlich angelegt; in unserem Manuskript sind sie schiffbar; auf einen Kahn wird Holz geladen, in Hermannstadt hingegen ein Pferd beladen. Das Holz wird zuvor zu quadratischen Blöcken geschichtet. Zwischen dieser Arbeit und dem Beladen des Kahns überquert ein Pilger mit Stab und Mütze das Gewässer; sein Ziel wird im Blau der Ferne durch Stadt und Burg angedeutet.

In der zweiten Februarhälfte kommen bei uns zu den Männern, die im Freien arbeiten, auch Frauen hinzu: Über der Tür des Gasthauses zum Schwan wird ein Weinspalier befestigt. Ein Bauer treibt einen Esel mit zwei Säcken nach links ins Dorf, um Mehl gegen Geld zu verkaufen.

Nicht ganz klar ist die zweite Monatsarbeit, die nicht sehr häufig in zeitgleichen Handschriften zu finden ist: Für Wein viel zu dicht werden hohe Stöcke in die Erde getrieben, vielleicht für Hopfen, was besser zur Landschaft paßt als die Vorbereitung von Weinbergen bei Bening.

Pflügen ist die wesentliche Feldarbeit im März: Ein Pferdegespann mit Treiber zieht den Pflug, wo in Hermannstadt ein Ackergaul geritten wird. Wie dort liegt hinter einer Gracht die Bleiche; weiter hinten walkt eine Frau kniend gestauchtes Tuch. Bemerkenswert ist die Kirche, die vom Chor aus gezeigt wird, mit dem Vierungsturm im Stil der Scheldegotik.

In der zweiten Märzhälfte hat ein Reiter in voller Rüstung gerade eine Ziehbrücke an einem Stadttor nach links überquert, während eine Frau vom Lande einen Korb mit Eiern und drei Hühnern in die Stadt bringt. Links ist ein Feldlager aufgeschlagen; ein Mann schichtet aus Reisig und Erde einen Wall auf; entsprechend arbeiten in Hermannstadt sogar ein Mann und eine Frau, wo die Stadt weit in den Hintergrund rückt.

Im April dürfen die Herden endlich wieder in die Landschaft; wo sich über einer Wasserburg ein runder Felsenberg erhebt. In der zweiten Aprilhälfte werden in Hermannstadt Rinder auf die Weide gelassen, das wohl auch zum Sternzeichen des Stiers passen sollen: Eine Frau melkt eine Kuh; eine zweite stampft vorn links ein Butterfaß; bei ihr bettelt ein Pilgerpaar.

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Im Mai tauchen Grundzüge der Komposition auf Verso in Hermannstadt in der ersten, bei uns in der zweiten Monatshälfte auf: Während das nach rechts verschobene Bildfeld dort ein einzelnes großes Haus verdeckt, dessen Dach bis zum rechten Bildrand reicht und vor das sich rechts ein zweites Haus mit einem Mädchen im Fenster schiebt, stehen bei uns beide Häuser nebeneinander. Bei uns kommt von links ein munteres Liebespaar mit einem Maienzweig. Ein Jüngling wirbt mit Musikern, die Laute und Harfe spielen, um ein Mädchen; in Hermannstadt kommt er auf einem Schimmel und schickt einen Freund oder Diener mit Maiengrün vor.

Das Boot mit einem Liebespaar, das man gern in Maibildern darstellte, taucht in Hermannstadt nur im Mittelgrund der Bordüre auf Verso auf. Dieses Motiv hat in unserer Handschrift ebenfalls in der ersten Monatshälfte seinen Platz, freilich auf Recto in freier Landschaft, in der zwei Paare junger Männer auf Jagd gehen.

Das Blatt mit dem Juni fehlt bei uns; in Hermannstadt wird Schafschur auf der gemeinsamen Doppelseite gezeigt, die aus Berrys Très Riches Heures ins Breviarium Grimani, jedoch mit Umkehr der Monate, gelangt war.

Bei der Heumahd im Juli legt eine Frau kleine Heuhaufen in perspektivischer Folge an, während ein Mann mit der Sense mäht; in Hermannstadt aber zwei Männer an der Arbeit sind. In beiden Handschriften wird dann die Rast der Landleute geschildert. Das Heu wird danach offenbar in die Stadt gebracht. Statt echter Arbeitsabläufe werden zwei Stationen der Heulieferung gezeigt. Wie in Bruegels Prager Heuernte wird bei uns Obsternte einbezogen; denn eine Frau bringt auf dem Kopf einen flachen Korb mit roten Beeren herein.

Bei der Kornmahd im August bilden um ein herrschaftliches Gehöft Kornfelder den Vordergrund und den Mittelgrund; in Hermannstadt interessiert die Architektur kaum; auch ist der Sinn für Ordnung sehr viel geringer ausgeprägt. Die Arbeit ist in beiden Monatsbildern ähnlich auf Mann und Frau verteilt; nur bei uns hat ein Schnitter die Arbeit unterbrochen, um als eigentliche Hauptfigur aus einer tönernen Kanne zu trinken.

Ein Moment des Ausruhens dominiert bei uns auch die zweite Augusthälfte. Ein Mann schaut zu, wie nun das Korn, statt in einer Scheune auf dem Feld gedroschen wird. Ein Pferdegespann wird von einem zweiten Landmann geführt, damit es das Korn lostritt. Ein dritter Arbeiter wirft mit einer Schaufel das lockere Getreide in die Höhe, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Seitenverkehrt sieht das in Hermannstadt ähnlich aus.

Das Nebeneinander von Verso und Recto mag in Hermannstadt angeregt haben, das Pflügen und Säen im September auf beiden Bildseiten in gleicher Weise auszubreiten: Während auf Recto der Sämann einem Landmann entgegengeht, der ein Pferd mit einer Egge nach links führt, sitzen auf der Egge zwei Männer und nehmen

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ihre Brotzeit. Bei uns hingegen ist die zweite Septemberhälfte ganz anders besetzt: Ein junger Falkner tritt ins Bild, in dessen Mittelgrund ein Vogelfänger zwei Vogelbauer auf die kahlen Felder gestellt hat. Wunderbar eingepaßt ist eine befestigte Stadt (oder ein Kloster), darüber hebt sich triumphierend eine stolze Burg gegen den Himmel ab.

Oktober ist die Zeit für Weinlese und Keltern in zwei Stationen: In der ersten Monatshälfte blickt der Maler auf Weinberge vor Häusern und Stadt, um uns dann hineinzuführen, in Hermannstadt in einen Ort, bei uns hingegen in ein sehr stattliches Weingut, wie es in kaum einem anderen Kalender jener Zeit zu sehen ist. Überzeugend wirkt die Perspektive durch Licht und Schatten.

Beide Bordüren zum November und daran anschließend auch noch die Bilder zur zweiten Hälfte Dezember sind in unserem Manuskript wie in Hermannstadt dem Schlachten gewidmet; dazwischen schiebt sich – zu durchaus ungewohntem Zeitpunkt – das Dreschen der Korngarben und das Kornsieben, während in Hermannstadt zum November Rinder- und Schweineschlachten gegenübergestellt sind, aber nach dem Dreschen in der zweiten Hälfte des Dezembers schlicht Warenlieferung in der Stadt gezeigt wird.

Eher Stadt als Dorf ist der Schauplatz in der ersten Bordüre zum November: Im Hintergrund warten Rinder darauf, verkauft zu werden; vorn wird ein Rind von einem Mann gehalten und vom Metzger getötet. In Hermannstadt fehlt das Motiv des Rindermarkts hinten. Die thematisch ungewöhnlichste Darstellung, die nur hier ganz in ihrer Neuheit ungestört hervortritt, wurde durch den früheren Besitzer der Handschrift, den Grafen Paul Durrieu, schon früh durch eine Heliogravüre in Originalgröße bekannt gemacht: Städtischer Fleischmarkt in der zweiten Novemberhälfte, dazu der Blick in ein Haus, in dem eine Frau Kerzen zieht. In Hermannstadt drängt sich hingegen noch die traditionelle Darstellung vom Schweineschlachten in die untere Bordüre.

Durchaus ungewohnt ist eine inhaltliche Wiederholung zur ersten Hälfte des Dezembers: Nachdem der ganze August dem Thema gewidmet war, wird nun Korn noch einmal gedroschen; erneut ist unsere Version durch ihren modernen Blick jener in Hermannstadt überlegen: Wie bei der Weinkelter zur zweiten Oktoberhälfte zeigt der Maler das Geschehen aus dem Inneren eines Gehöfts heraus. In Hermannstadt schließt sich im Dezember ein letztes Monatsbild mit Holzlieferung in die Stadt an. Wie im April ist eine Bäuerin zum Tor hereingekommen mit breiten Körben. Bei uns jedoch wird in der zweiten Dezemberhälfte Schweineschlachten in drei Stationen geschildert: Vorn wird ein Schwein geschlitzt; eine Frau mit Kasserole fängt das Blut auf; im Mittelgrund werden bei einem zweiten Schwein die Borsten abgebrannt; ein drittes aber ist rechts vorn an einer Leiter aufgehängt, im Vorgriff auf Rembrandts Ochsen im Louvre.

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Ein kaum auffälliges Motiv verdeutlicht an dieser Stelle, wie stark in der flämischen Buchmalerei noch um 1500 Ideen des Meisters von Poitiers 30 fortleben, der in seinen beiden Kalendern in Chantilly und Lissabon dem Spiel besondere Aufmerksamkeit widmet: In unserem Kalender bringt ein Vater für seine kleine Tochter einen Kreisel zum Drehen.

Zum Stil

Während die Bordüren zu den großen Incipits im Text von spezialisierten Kräften aus dem Kreis der flämischen Buchmaler geschaffen wurden, die man seit Kren und Brinkmann von ihren Architekturbordüren her definiert, stammen alle Monatsbilder von einem der ganz Großen jener Kunst. Händescheidung innerhalb des Kalenders verbietet sich; denn überall herrscht derselbe großartige Geist jenes Malers, der unglücklicher Weise von Davidbildern im von Sanders und Simon Bening verantworteten Breviarium Grimani definiert wurde. Als einer der einfallsreichsten und intelligentesten Künstler seiner Zeit hat dieser Davidmeister des Breviarium Grimani erstaunliche ikonographische Konzepte entwickelt. Im Breviarium Grimani steht seine Kunst neben heute allgemein als eigenhändig anerkannten Miniaturen von Gerard David. Am Londoner Stundenbuch der Johanna von Kastilien, Add. Ms. 18852, war der Künstler erst in einer zweiten Arbeitsphase beteiligt, die während der zweiten Flandern-Reise der Königin 1505 entstanden sind. Man erkennt den Maler in erster Linie an seinen Physiognomien; charakteristisch sind die schlanken Köpfe, die sensible Modellierung insbesondere von Wangen und Schläfen. Er gehört zu jenen Flamen, die sich am eifrigsten mit italienischer Renaissancekunst auseinandergesetzt haben. Das Interesse für Perspektive, die klaren Raumkonzeptionen und erstaunlich fruchtbare Auseinandersetzung mit Architektur scheinen sich in seinen Buchmalereien von 1505/06 an rapide zu entwickeln. Die altertümlicheren Züge in Hermannstadt legen nahe, darin eine frühere Arbeit als unseren Kalender zu sehen. Angesichts der engen Beziehungen zu Zeichnungen von Jan Gossaert, genannt Mabuse, habe ich in meinem Kommentar zum Breviarium Grimani den Vorschlag gemacht, in den Davidbildern und dem gesamten Bestand der zugehörigen Buchmalereien Frühwerke Gossaerts zu sehen. (Es sei nicht verschwiegen, daß H. T. bei der Identifikation dieses großen Künstlers eher für Gerard David optiert.)

Von einzigartiger Bedeutung ist unser Kalender schon deshalb, weil der Meister der Davidsszenen, soweit wir es überblicken, nur in der Hermannstädter und in unserer Handschrift auch die von ihm selbst gewöhnlich an weniger qualifizierte Mitarbeiter delegierte künstlerische Bewältigung der Monatsbilder übernommen hat. Tatsächlich gehören die 22 Gemälde von seiner Hand zum Hinreißendsten, was uns die zu jener Zeit ohnehin unver-

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gleichliche Kunst der flämischen Maler hinterlassen hat. Dass Graf Paul Durrieu, der eminente Kenner und Liebhaber von Handschriften, dem auch das persönliche Stundenbuch Karls des Kühnen gehörte, dieses um seine ganzseitigen Miniaturen bestohlene Manuskript in seine Sammlung aufgenommen hat, ist ein weiterer Grund dafür, bei dessen Kalenderbildern von einem einzigartigen Ereignis in unserem Metier zu sprechen. Um welche Geniestreiche mögen uns die Räuber der ganzseitigen Miniaturen gebracht haben!

Literatur

Comte Paul Durrieu, La miniature flamande, Taf. LXXVI und S. 82; Joseph Casier und Paul Bergmans, L’art ancien dans les Flandres. Mémorial de l’Exposition rétrospective organisée à Gand en 1913, Brüssel und Paris, 1921, Taf. CLXII  – CLXIII .

Anne Margreet W. As-Vijvers, Re-Making the Margins. The Master of the David Scenes and Flemish Manuscript Painting around 1500, Turnhout 2013.

Eberhard König (mit J. C . Heyder) Das Breviarium Grimani, Simbach am Inn 2016.

E. Morrison, im Ausstellungskatalog Los Angeles und London 2003, S. 383–391 und 438–442, erwähnt unser Manuskript in einer Fußnote, ohne es gesehen zu haben.

Das Stundenbuch der Orsa Pesaro: Ein überwältigendes Werk vom Meister der Davidsszenen im Breviarium Grimani, mit 1000 Einzelmotiven auf allen Rändern der Textseiten: das schönste Manuskript dieser Art

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Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Rom.

Lateinische Handschrift in Schwarz und Rot auf Pergament, in Fere-humanistica. Brügge, um 1508–10: Meister der Davidsszenen des Breviarium Grimani und sein Atelier; der Kalender von einem Gehilfen, der vielleicht schon den Kalender im Londoner Stundenbuch der Johanna von Kastilien gestaltet hat.

Alle Textseiten mit jeweils drei in die Mitte des unteren, äußeren und oberen Randstreifens gesetzten Einzelmotiven (Blüten, Pflanzen, Tiere, Grotesken, aber auch Elemente von Stilleben, häusliches Zubehör etc.): insgesamt mehr als 1000 Darstellungen! 15 ganzseitige Miniaturen auf eingeschalteten Blättern, mit den Incipits verbunden, die mit 5zeiligen Akanthus-Initialen eröffnen, zu mit Vollbordüren ausgestatteten Doppelseiten kombiniert; ein Kopfbild über 9 Zeilen Text, vier 7zeilige Kleinbilder jeweils in Vollbordüren. Drei Initialen von 6, 5 bzw. 4 Zeilen Höhe mit Vollbordüren. Psalmenanfänge mit zweizeiligen goldenen Akanthus-Initialen auf farbigen Flächen, Psalmenverse (im Zeilenverlauf) mit einzeiligen weißen Akanthus-Initialen auf Pinselgold mit entsprechend gestalteten Zeilenfüllern, vor allem in der Litanei. Versalien farblich nicht hervorgehoben.

225 Blatt Pergament mit jeweils drei Vorsätzen vorn und hinten. Gebunden vorwiegend in Lagen zu acht Blatt, die fünfzehn textlosen Bilder auf eingeschalteten Blättern. Ohne Reklamanten.

Extremes Kleinformat: 80 × 60 mm (Textspiegel 60 × 40 mm), rot regliert.

Zu 14, im Kalender zweispaltig zu 17 Zeilen.

Komplett und makellos erhalten.

Weinroter Maroquinband des XVIII . Jahrhunderts mit dem Wappen von Antoine-Marie Paris d’Illins, Vorsätze mit blauer Seide bezogen. In einem Maroquin-Steckschuber mit demselben Supralibros.

Aus dem wiederholten Wappen auf fol. 9v und 29v geht unzweideutig hervor, daß es die berühmte Venezianer Familie Pesaro repräsentiert, für die u. a. Tizian drei bedeutende Gemälde geschaffen hat. Durch die halbseitige Miniatur eines jungen Mädchens mit Portraitcharakter auf fol. 31 ist sichergestellt, daß es sich hierbei um Orsa Pesaro, die Tochter Pietro (oder Piero) Pesaros handelt, die um jene Zeit wohl ca. 12 bis 14 Jahre alt war (dies mit herzlichem Dank an Jean-Luc Deuffic). Piero Pesaro trieb schwunghaften und sehr einträglichen Handel mit Flandern, finanzierte unter anderem dessen Galeeren, was die Wahl des bedeutendsten damaligen Brügger Malerateliers für diesen exzeptionellen Auftrag erklärt (ein vergleichbares Phänomen zeigt sich in unserem Negrone-Stundenbuch (Leuchtendes Mittalter Neue Folge V, n° 26, wo ebenfalls das Mädchen portraitiert ist, dem das vom gleichen Meister gemalte Stundenbuch zugedacht war – ein Hauptwerk des Davids-Malers, allerdings ohne jegliche Einzelmotive in den Texträndern. Im späten

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18. Jahrhundert kam das Juwel in den Besitz des Sammlers Antoine-Marie Paris d’Illins (1746–1809), wie das Wappen auf dem Einband und dem Schuber bezeugt. Dessen Auktion 1791 in London war das größte Ereignis der Bibliophilie nach der La VallièreVersteigerung von 1784, allerdings enthält der Katalog unser Manuskript nicht (während z. B. das weltberühmte Stundenbuch des Engelbert von Nassau vom Wiener Meister der Maria von Burgund (Nr. 15) dort versteigert wurde und später über Fr. Douce in die Bodleian Library in Oxford gelangte). Offenbar war es Mr. Paris so ans Herz gewachsen, daß er es behielt. Sein weiterer Weg ist leider nicht eruierbar. Zuletzt europäischer Privatbesitz.

(Vergleiche zu Antoine-Marie Paris d'Illins vor allem J. Guignard, Nouvel armorial du bibliophile, Paris 1890, Bd. II , S. 386; Olivier, Hermal, Rotond, Manuel de l’amateur des reliures armoriées françaises, V. Serie, 1925, S. 516; M. McGatch, The Bibliotheca Parisina, in: The Library 12, 2011, S. 90–118).

Der Text

fol. 2v: Kalender in lateinischer Sprache, zweispaltig, nur sparsam besetzt, wegen des winzigen Formats mit derartig kühnen Abbreviationen, daß manche Einträge nur für die lesbar sind, die den vollen Heiligennamen auswendig kennen (so am 1.5. das Fest „Phi“ für Philippi et Iacobi): Die Goldene Zahl, die Sonntagsbuchstaben a und die Feste in hellem Rot; die Sonntagsbuchstaben b – g und die einfachen Heiligentage in Schwarz. Die Heiligenauswahl aus Pariser Tradition ohne Blick auf den Export nach Italien charakteristisch für Brügge mit Donatian als Fest (14.10.), dazu Feste von Amandi (6.2.), Remigii (1.10. – ohne Bavonis), Dionysii (9.10.), Nycasii (14.12.) und Thome (von Canterbury 29.12.).

fol. 9v/10: Salve sancta facies.

fol.12v–13: Horen von Heilig Kreuz (fol. 13) und Heilig Geist (fol. 22). fol. 29v–30: Marien-Messe mit dem Introitus; auf der anschließenden Recto-Seite der Haupttext der Messe Salve sancta parens (fol. 31).

fol. 36v: Perikopen: Johannes (fol. 36v), Lukas (fol. 38), Matthäus (fol. 39v) und Markus (fol. 42).

fol. 44v–45: Marien-Offizium für den Gebrauch von Rom: Matutin (fol. 45) Laudes (fol. 66v), Prim (fol. 80v), Terz (fol. 86v), Sext (fol. 92v), Non (fol. 98v), Vesper (fol. 104v), Komplet (fol. 113v), Advents-Offizium (fol. 121v).

fol. 133: Mariengebete für einen Mann: Obsecro te (fol. 133), O intemerata (fol. 137v).

fol. 142v–143: Bußpsalmen und Litanei (fol. 156v) sehr kurz gefaßt, und zwar mit einer Heiligenauswahl, die auf Pariser Brauch aufbaut.-

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fol. 167v–168: Toten-Offizium für den Gebrauch von Rom: Vesper (fol. 168), Matutin (fol. 176) und Laudes (fol. 204v) jeweils durch Rubriken gekennzeichnet.

fol. 218: Symbolum Athanasii: Quicumque vult.

fol. 222v: Textende.

Schrift und Schriftdekor

Geschrieben ist der Text in einer vor allem auch für den Export in die Mittelmeerländer geeigneten fere-humanistica. Versalien sind nicht hervorgehoben. Psalmenverse stehen im Zeilenverlauf und eröffnen mit einzeiligen Akanthus-Initialen in violett modelliertem Weiß auf Pinselgold. Von besonderer Eleganz sind die größeren, zweizeilig für Psalmenanfänge, vier-, fünf oder sechszeilig bei Incipits mit Vollbordüren, also den zwei Mariengebete und dem Symbolum Athanasii wie den mit textlosen Bildern kombinierten Haupttexzen: Als goldene Akanthuszweige schweben die Zierbuchstaben vor farbigen Flächen und werfen Schatten, der einen Lichteinfall von links oben voraussetzt und dem Buchstabenfeld erstaunliche plastische Qualität gibt.

Diese dekorative Kraft prägt die größeren Initialen in einer ganzen Reihe von Stundenbüchern mit Miniaturen des Davidmeisters, so das von uns 2008 vorgestellte Stundenbuch der Maria Maddalena Negrone und ein kleineres Manuskript aus derselben Werkstatt (Leuchtendes Mittelalter, Neue Folge V, Nrn. 26 und 27). Dort wie auch im für Miniaturen zum Vergleich heranzuziehenden Oxforder Stundenbuch der Maria von Medici, Douce 112 der Bodleian Library, sind jedoch nur die großen Initialen entsprechend plastisch gestaltet; somit setzt sich in diesem Manuskript ein für den Davidmeister charakteristisches Prinzip durch, das im Durrieu-Manuskript Nr. 8 noch nicht voll entwickelt ist. An einer für das Verständnis des Künstlers entscheidenden Stelle sind diese Initialen ein überaus wichtiges Indiz: Das in zwei Phasen entstandene Stundenbuch der Johanna von Kastilien in London, Add. Ms. 18552, verwendet sie nur in der zweiten Kampagne, also jener, in der erst der Davidmeister auftritt.

Viel auffälliger jedoch und prachtvoller sind die jeweils drei Einzelmotive der unterschiedlichsten Art, mit denen alle Textseiten in der Mitte des unteren, äußeren und oberen Randstreifens besetzt sind. Derartige Motive hat Margreet As-Vijvers 2013 untersucht – ohne Kenntnis unseres Exemplars. Auch das eben zitierte Stundenbuch der Johanna von Kastilien in London, Add. Ms. 18552, verwendet sie, jedoch in größerem Format. In unserem Stundenbuch der Orsa Pesaro stellen die sehr kleinen Dimensionen den verantwortlichen Künstler ganz besonders auf die Probe, wenn er nicht nur Blütenzweige, Insekten oder kleine Vögel, sondern eine ganze Menge von Gegenständen wie Vogelbauer erfassen will.

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Die lebendige Vielfalt des für die Einzelmotive nötigen Vorrats an Bildelementen kommt den mit Streublumen geschmückten Vollbordüren auf den Doppelseiten zur Geltung. Wie in flämischen Handschriften der Zeit gewohnt, wird der Randschmuck nicht paarweise aufeinander abgestimmt. Ebenso wenig ist mit inhaltlichen Bezügen zu rechnen; ein gutes Beispiel dafür ist ausgerechnet die Marien-Terz, die ja mit den Hirten als Vertretern der Ärmsten bebildert ist und deren Bordüre mit Juwelen besetzt ist.

Das Manuskript gehört wie viele der mit Einzelmotiven ausgestatteten Werke zur Gruppe der flämischen Stundenbücher mit Architekturbordüren, die von Bodo Brinkmann (1992, S. 41–104) zusammengestellt wurde. Meist ohne konkrete darstellerische Absicht werden Zierarchitekturen in goldenem Camaïeu eingesetzt; doch da motivisch mit Altar- und Kapellenformen gespielt wird, können auch die Arma Christi am Rand präsentiert werden.

Illustration

Das auszeichnende Moment dieses einmaligen Manuskripts ist der Umstand, daß alle Textseiten auf sehr breiten Rändern mit jeweils mindestens drei Einzelmotiven bedeckt sind: diese sowohl aus der Fauna – vor allem Vögel jeglicher Art und Gattung –bzw. der Botanik, dem Repertoire der Grotesken oder dem häuslichen Umfeld entlehnten Sujets sind von ebenso herrlicher Vielfalt wie mikroskopischer Genauigkeit und machen mit ihren über eintausend Darstellungen aus dem malerischen Kleinod ein Kunstwerk ohnegleichen: von den wenigen bei As-Vijvers erwähnten im Format vergleichbaren Handschriften in öffentlichen Bibliotheken ist kein einziges vergleichbar, wenn wir zur jeweils unbefragten künstlerischen Qualität als weitere Kriterien Vollständigkeit und makellose Erhaltung hinzunehmen. Da wir hier darauf nur summarisch eingehen können, sehe man die Dutzenden einschlägigen hier gegebenen Abbildungen.

Der Kalender und seine Monatsbilder

Zweispaltig sind die Monate in diesem besonders kleinen Stundenbuch angelegt. Thematisch werden die Monatsbilder im Stundenbuch der Johanna von Kastilien in London, Ms. Add. 18852 auf jeweils einer Seite zusammengefaßt. Trotzdem beginnt die Lage mit einer leeren Recto-Seite – wie im dortigen Kalender, der auf jeweils zwei Buchseiten verteilt ist. Für den Januar genügt das erste Verso, auf Doppelseiten stehen dann jeweils zwei Bildpanoramen einander gegenüber:

Für den Buchblock im Wesentlichen verantwortlich war der Meister der Davidsszenen im Breviarium Grimani. Folgerichtig haben die Monatsbilder bis hin zum Fleischmarkt im November viel mit dessen beiden Kalendern gemein, also unserer Nr. 7 und dem sogenannten Brukenthal-Brevier in Hermannstadt. Die Monatsbilder

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waren jedoch einem Mitarbeiter anvertraut, wie die Proportionen der Figuren verraten; vielleicht handelt es sich um denselben Illuminator, der im Londoner Stundenbuch der Johanna von Kastilien den Kalender gestaltet hat. Seinen kurzwüchsigen, aber flinken Gestalten fehlt die erstaunliche Eleganz der dortigen Gestalten ebenso wie der Sinn für Perspektive; gekleidet sind sie einheitlich in kräftiges Blau und Rot. Die Tierkreiszeichen werden in der Mitte des oberen Randstreifens als winzige Gestalten in goldgehöhtem braunen Camaïeu tupfend angedeutet, vor rosafarbenem Grund im aufbrechenden Himmel, der um diese Erscheinungen dunkleres Blau erhält. Ihre Reihenfolge entspricht dem Brauch.

Beim Festmahl zum Januar rückt die Fassade so weit nach oben, daß unter dem Himmel mit dem Tierkreiszeichen des Wassermanns nur noch das Dach Platz hat. Der Blick ins Innere erfaßt auch die Holztonne. Zwei verschwinden hinter dem Schriftfeld. Gegen die in den anderen Kalendern gültige Leserichtung steht der Kamin links; der Herr dreht sich zu einem deutlich kleineren Mann am Tisch um. Die Fleischplatte ist bereits serviert. Statt des Betts im Raumeckmotiv ist hier der Blick in Freie geöffnet.

Im Februar grenzt bildparallel ein Zaun den Vordergrund ab. Dort machen zwei Männer Holz, während ein dritter ein Bündel nach Hause trägt. Bildparallele Elemente wie die dürren Bäume stehen in Konflikt mit Schrägen. Die Fische sind silbrig.

Gartenarbeit unterschiedlicher Art wird im März unter dem Widder verrichtet: Vorn mühen sich drei Männer mit Spaten und Schubkarren, Erde auszuheben und wegzukarren. Im Garten dahinter kniet eine Frau mit einer nicht näher charakterisierten Aufgabe. Noch sind die Bäume kahl.

Im April unter dem Zeichen des Stiers bleiben die Büsche im Spalier links noch ganz unbelaubt, während Bäume voll ausgeschlagen sind. Die Verbindung von Frühling und Liebe wird phantasievoll variiert: Zu einem vornehmen Jüngling links vorn ist ein Mädchen getreten; sie legt ihm eine Hand auf die Schulter. Doch er blickt an ihr vorbei zu einem Paar, das von rechts kommt. Am Brunnen lehnt ein Lautenspieler. Im Mittelgrund hingegen wird mit zwei Paaren ländliche Liebe zum Thema.

Liebe der wohlhabenden Jugend kennzeichnet den Mai, der unter dem Zeichen der Zwillinge steht, die hier wie in vielen Kalendern als Liebespaar erscheinen. Ein Boot vorn wird vielleicht von einem Narren gerudert. Der Gesang eines Mädchens regt einen vornehmen jungen Mann an, energisch eine andere junge Frau zu umgreifen, die recht steif reagiert. Auf einem zweiten Boot singen alle jungen Leute. Die auf steile Felsen gebaute Burg beton: Hier sind Adelige gemeint.

Der Juni ist Heumond im Zeichen des recht gut getroffenen rundlichen Krebses, während das Brukenthal-Brevier und unsere Nr. 7 erst im Juli dazu kommen. Alles, was

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der Meister der Davidsszenen des Breviarium Grimani mit Heumachen verbindet, findet sich hier: Verköstigung der Arbeiter, Pause, Mähen und Aufsammeln des Heus sowie seine Lagerung werden dicht nebeneinander gezeigt.

Im Juli unter dem Löwen folgt die Kornmahd. Auf Ackerboden vorn bindet ein Mann eine Garbe; eine Frau trägt eine zweite weg. Zwei Schnitter tauchen n hinter dem hohen Korn auf. Erst mit einem Flechtzaun setzt die perspektivische Verkleinerung abrupt ein bis hin zum Blau der Ferne. Rechts vorn beugt sich ein Schnitter mit der Sichel; im schaut ein Aufseher oder Landbesitzer zu.

Beim Dreschen des Korns im August steht die Scheune in einer städtischen Straße. Vorn arbeiten zwei Männer rhythmisch aufeinander abgestimmt mit Dreschflegeln; ein dritter schüttelt die gedroschene Frucht in einer Kornwanne.

Im September steht eine ähnliche Scheune, seitenverkehrt, vor einem Weinberg. Die Handlung entwickelt sich aus der Tiefe des Raums: Links im Mittelgrund wird Wein geerntet; dann werden Trauben zur Scheune gebracht, an deren Rückwand sich Fässer stapeln. Die Trauben zertritt ein Mann in einem großen runden Bottich mit den Füßen; danach wird ihr Saft in ein Faß gefüllt. Der didaktische Charakter solcher Kalenderbilder tritt beispielhaft zu Tage: Der Maler reiht Stationen eines langen Vorgangs wie in einem Satz: Nachdem man die Trauben im Weinberg geerntet hat, bringt man sie in Kiepen zur Kelter, die mit den Füßen im Bottich erfolgt, ehe der Traubensaft zur Gärung in Fässer gefüllt werden kann.

Im Oktober will der Maler noch mehr in den winzigen Bildfeldern zusammenfassen: Zum Pflügen und Säen kommt – abweichend vom allgemeinen Brauch, der dieses Motiv erst dem November vorbehält – das Füttern der Schweine mit den Eicheln hinzu.

Die Bordüren zu November und Dezember sind dem Schlachten und dem Fleischmarkt gewidmet: Im November wird ein Schwein geschlachtet. Links öffnet ein Mann die Hauptschlagader einer Sau; die von rechts hinzukommende Frau müßte das Blut in einer Kasserole auffangen, ist aber dafür zu weit entfernt.

Fleischmarkt bestimmt das Monatsbild zum Dezember: Hier blickt man zunächst in eine Metzgerei, wo ein Pökelfaß mit dem Fleisch gefüllt wird, das ein Mann rechts zurechthackt. Daneben eröffnet sich eine steile Perspektive zwischen städtischen Häuserfronten; dort wird auf dem Straßenmarkt ausschließlich gezeigt, wie vor allem Frauen Fleisch einkaufen. Das Thema war fast ganz Eigenart des Meisters der Davidsszenen; doch hat vielleicht derselbe Maler, der auch die hier besprochene Bordüre gestaltete, schon dasselbe zur zweiten Dezemberhälfte des Stundenbuchs der Johanna von Kastilien (Add. Ms. 18852) variiert, dessen Grundbestand wohl vor ihrem Eintreffen in Flandern 1496 entstanden ist,.

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Die Bebilderung des Buchblocks

In einer vertrauten Texthierarchie wird die Ausstattung nach Bildgrößen und Initialen differenziert; doch werden Incipits geringeren Gewichts durchweg mit Vollbordüren hervorgehoben: Ein Kopfbild, vier Kleinbilder und drei Prunkseiten mit vier-, fünf- oder sechszeiligen Akanthus-Initialen schöpfen die Möglichkeiten der Hierarchie des Dekors aus. Das extrem kleine Buchformat sorgt dafür, daß die winzigen Maße des Textspiegels nicht für alle Bildfelder, vor allem mit figurenreichen Szenen, gelten.

fol. 9v: Die Vera effigies zum Gebet Salve sancta facies erscheint vor monochrom blauem Grund, auf dem silberne Strahlen den Kreuznimbus evozieren und ebenso silberne Wölkchen statt einer Himmelsillusion die himmlische Sphäre im mittleren Feld der Zierarchitektur bezeichnen. Das eindrucksvolle Bildnis ist als Büste begriffen, mit sehr schmalen Schultern, die noch zur Tradition Jan van Eycks gehören, dessen Christus-Ikonen aber auf das Haupt begrenzt blieben. Christus hält in der Linken die kostbar gestaltete Sphaira aus Bergkristall mit dem goldenen Kreuz und segnet. Der Maler hat Christus im sogenannten Stundenbuch der Maria von Medici, Oxford, Bodleian Library, Douce 112, entsprechend dargestellt. Wie treu der Maler dieser Konzeption blieb, zeigen die beiden Stundenbücher, die wir in Leuchtendes Mittelalter, Neue Folge V, 2008, als Nrn. 26 und 27 vorgestellt haben.

fol.12v: Ein erstaunlicher Wandel vollzieht sich beim Lanzenstich zu den Heilig Kreuz-Horen: Offenbar wollte der Maler so viele Momente aus dem Geschehen wie möglich in das extrem kleine Bildfeld einpassen, nutzt er eine Sicht auf Golgatha, die im hügelig ansteigenden Gelände mehrere Figurengruppen aufnehmen kann; dabei kommen recht ungewohnte Dinge zusammen: Vorn links sind die würfelnden Soldaten in Streit geraten, während sich ihr Befehlshaber, Pilatus oder der Centurio, bereits mit anderen Soldaten auf den Weg vom Kreuz abgewendet hat, um auf den Betrachter zu wegzureiten. Nicht nur Christi Kreuz, auch die der beiden Schächer sind gezeigt, nicht plan in der Bildfläche, sondern räumlich verrückt. Während Longinus den Lanzenstich vollzieht, sind Maria, Johannes und die Frau links hinter einer Bodenwelle zusammengerückt. In ganz anderem Realitätsverständnis werden vorwiegend in goldenem Camaïeu die Arma Christi in der Architekturbordüre zum Incipit gezeigt.

fol. 21v: Beim Pfingstwunder zu den Horen von Heilig Geist empfiehlt sich wieder ein Blick ins Oxforder Stundenbuch der Maria von Medici – und man gewinnt den Eindruck, auch das dort geraubte Kreuzigungsbild habe wohl einmal ähnlich wie in unserem Manuskript ausgesehen: Statt der sonst gern beachteten Symmetrie herrscht unter der leuchtenden Erscheinung der Taube ein erstaunliches Durcheinander um Maria, die nach links gewandt vor ihrem Betpult kniet und von einigen Aposteln vorn umgeben ist, während der Blick tief in einen Saal, vorbei an einem Kamin hin zu einer Art Altar führt.

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fol. 29v: Ähnlich ikonenhaft wie der Salvator wird zum Introitus der Marien-Messe die milchspendende Muttergottes gezeigt. Sie erscheint wie in einem italienischen Madonnenbild und hat den nackten Knaben, dem sie die Brust gibt auf einem samtenen Kissen auf eine steinerne Fensterbank, ein parapetto, gebettet. Golden strahlt der Fond. Die explizite Zuschaustellung der Milchspende läßt an die Bitte des heiligen Bernhard von Clairvaux denken: Zeige, daß du wahrhaft Mutter bist (monstra te esse matrem). Ein Textblatt mit dem Incipit schiebt sich zwischen diese Miniatur und die nächste Bildseite, nun auf Recto mit dem Kopfbild einer jugendlichen Beterin zum eigentlichen Haupttext der Messe Salve sancta parens (fol. 31). Als Halbfigur kniet die zarte junge Frau nach links gewendet, als sei eigentlich daran gedacht, ihr gegenüber das Madonnenbild zu schalten; vielleicht hat die einzigartige Disposition den zuletzt tätigen Buchbinder dazu verleitet, das textlose Blatt fol. 29 vor das eigentliche Incipit zu setzen und nicht dahin, wo der Maler damit rechnete. Dem Meister der Davidsszenen werden wundervolle Miniaturen derselben Art verdankt; sie finden sich im Brukenthal-Manuskript, aber auch in der hinreißenden Handschrift, die wir als Stundenbuch der Maria Maddalena Negrone vorstellen konnten. Dort eröffnet die Marienmesse mit einer Variante unserer Madonna; die Beterin als Kopfbild über einem Textanfang ist dort allerdings dem seltenen Gebet O domina glorie und dort einem anderen Typ von Madonnenbild zugeordnet.

fol. 36v: Zu den Perikopen genügen Kleinbilder von einmal sieben und danach nur noch sechs Zeilen Höhe; sie variieren Motive, die man aus anderen Stundenbüchern des Stilkreises kennt: So hockt Johannes auf Patmos (fol. 36v) als Ganzfigur in leuchtendem Rot nach links gewendet auf der Insel. Die anderen Evangelisten rücken als Kniestücke mit ihren Attributswesen näher an die vordere Bildebene heran Lukas (fol. 38), Matthäus (fol. 39v) und Markus (fol. 42), jeweils in Kleinbildern, besonders auffällig Markus, der wie im Brukenthal-Stundenbuch en-face gezeigt wird.

fol. 44v: Bei den Bildern aus Marienleben und Kindheitsgeschichte zum Marien-Offizium, die wie in Flandern üblich den Kindermord zur Vesper einsetzen, empfiehlt sich der Vergleich mit unserer Nr. 27 in Leuchtendes Mittelalter, Neue Folge V sowie mit dem Stundenbuch Vat. lat. 10293, von dem Brinkmann 1992 aus die Architekturbordüren erschlossen hat:

Die Verkündigung zur Matutin (fol. 44v) spielt in einer großen gotischen Kirche; Der Engel ist von links eingetreten, Maria wendet sich von ihrem Buch zu ihm um; charakteristisch für diese Miniatur wie auch Vergleichsbeispiele in Nr. 27 der Neuen Folge V von Leuchtendes Mittelalter sowie in Vat. lat. 10293 ist die hölzerne Abtrennung einer Kapelle hinter der Jungfrau. Die Lilie, die in den beiden anderen Versionen fehlt, ist hier gleich zweimal in irdener Vase gezeigt, im Bild zwischen den beiden Gestalten und sehr viel größer in der Bordüre links.

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Maria ist bei der Heimsuchung zu den Laudes (fol. 66v) sichtlich über’s Gebirg von links gekommen; Elisabeth ist ihr einen weiten Weg vom Haus des Zacharias, das rechts im Mittelgrund steht, entgegengekommen: Zwei schlanke Bäume flankieren die Begegnung, die im Vergleichsstück, das verblüffend ähnlich aufgebaut ist, eine etwas andere kompositorische Rolle spielen; denn einer der beiden steht dort zwischen den Frauen und der andere verweist perspektivisch auf das Haus im Mittelgrund. Das Weihnachtsbild zur Prim (fol. 80v) verblüfft mit der Teilung durch eine ruinöse Mauer, die von links hinten zur Mitte des Bildes vorstößt. Sie trennt den Ziehvater Joseph, der mit einer brennenden Kerze als Zeichen von Weihe und Nacht vor einem Türdurchbruch verweilt, von der Jungfrau und dem Kind rechts: Maria kniet unter schadhaftem Dach, hat den nackten Knaben auf den Boden gelegt; zu ihm beugen Ochs und Esel ihre Häupter. Der Bildgedanke geht vielleicht auf Simon Marmion zurück; er findet sich exakt in Vat.lat. 10293 wieder.

fol. 86v: Die Verkündigung an die Hirten zur Terz variiert anmutig, was man um 1500 für dieses Thema kannte: Hier steht links ein Hirte mit einer Sackpfeife und richtet den Blick auf zum Engel, während der zweite noch am Boden liegt, sich aber aufrichtet. Zwischen beide schiebt sich ein einzelnes Schaf.

fol. 92v: Die Anbetung der Könige zur Sext spielt in demselben Stall, den wir aus dem Weihnachtsbild zur Prim kennen. Der älteste König ist bereits durch den Torbogen in der Scheidewand getreten und kniet In zeitnaher flämischer Buchmalerei kommt diese Konzeption des Stalles von Bethlehem in der Ruine von Davids Palast zuweilen vor der Muttergottes mit dem Kind, die auf einem grün ausgeschlagenen Bett thront, während Joseph am rechten Bildrand wohl vor dem greisen König in die Knie sinkt. Die beiden jüngeren Könige stehen noch draußen, also in der linken Bildhälfte; der jüngste ist ein Mohr; exakt so sieht auch die Königsanbetung in Vat. lat. 10293 aus.

fol. 98v: In einer eher romanischen Kirche spielt die Darbringung im Tempel zur Non: Gegen die Leserichtung wartet Simeon links unter einem quadratischen Baldachin auf die Jungfrau mit dem Kind, die von rechts zum Altar getreten ist. In Vat. lat. 10293 wie auch im Londoner Stundenbuch der Johanna von Kastilien ist dieselbe Bildvorlage verwendet mit einer jugendlichen Magd, die Kerze und Taubenkörbchen bringt und der greisen Prophetin Hanna, die sich wie eine Begleiterin Maria angeschlossen hat. Im Hermannstädter Brukenthal-Stundenbuch wird nur die Begegnung von Simeon und Maria am Altar in einem weiten Sakralraum ohne Baldachin wiederholt.

fol. 104v: Südniederländischem Brauch folgend wird der Kindermord zur Vesper gezeigt: Dazu haben Buchmaler die unterschiedlichsten Varianten entwickelt. Hier konzentriert sich die Komposition auf eine einzelne Mordzene im Vordergrund: Da hockt auf einer Wiese eine Mutter und versucht, ihr nacktes Kind vor dem Soldaten

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zu bergen, der mit erhobenem Schwert danach greift. In traurigem Gegensatz entwickelt sich die Landschaft an einem Fluß, der um einen hohen Felsen biegt, hin zur Stadtmauer. Über Bäumen steigt das Gelände an, und in der Ferne sind noch zwei Mordszenen zu erkennen.

fol. 113v: Die Komplet eröffnet mit der Flucht nach Ägypten: Im Wortsinne der Hintergrund für die Flucht ist der Kindermord von Bethlehem, den eine Szene im Mittelgrund vor Augen führt. Gegen die Leserichtung bewegt sich die Heilige Familie nach links. Maria hat den Jesusknaben in ihren blauen Mantel gehüllt, Joseph folgt ihr. Wieder besteht verblüffende Ähnlichkeit zur entsprechenden Miniatur in Vat. lat. 10293, wo auch der Kindermord den Hintergrund bildet.

fol. 121v: Vor dem Advents-Offizium ist Platz für die Marienkrönung , die hier wie in Vat.lat. 10293 schon vollzogen ist, so daß Mutter und Sohn unter Maßwerkbögen vor goldenem Grund einander zugewandt thronen. Für die anschließenden Mariengebete Obsecro te (fol. 133) und das auch an Johannes gerichtete O intemerata (fol. 137v), die beide für einen Mann eingerichtet sind, genügen Zierseiten mit Vollbordüre und großen Initialen.

fol. 142v: Die Bußpsalmen werden durch ein Bild von König David als Büßer eröffnet: Vor einer weiten Landschaft, die mit der im Mittelgrund gespannten Brücke wohl immer noch aus der Tradition der Varianten nach Jan van Eycks Madonna im Louvre zu erklären ist, kniet König David im Gebet. Sein Palast mit einem mächtigen runden Turm steht rechts im Mittelgrund. Am ehesten verwandt ist die Miniatur in Vat. lat. 10293, aber auch sie stimmt wie die Davidbilder in den hier zum Vergleich bemühten Stundenbüchern nicht voll überein.

fol. 167v: Das erstaunlichste Einzelbild eröffnet die Toten-Vesper: Es veranschaulicht das Gebet für die Seele des Toten, um die Engel und Teufel streiten: Man blickt geradezu in ein blaues Himmelbett, das mit dem Kopfende nach links bildparallel steht; auf einer hölzernen Kante sitzen zwei Ordensleute, die für den Mann beten, der nackt auf der blauen Bettdecke liegt, seine Scham bedeckt und gerade den letzten Atemzug getan hat. Über seinem offenen Mund schwebt die Seele, nach der ein Teufel greifen will, den jedoch ein Engel mit Schwert und Rundschild abwehrt. In Vat. lat 10293 wird ein ähnlich begriffener Toter auf eine Wiese zwischen Hölle oder Fegefeuer unten und Himmel mit Gotteserscheinung gelegt, während Engel und Teufel um die auch dort wie ein Kind gezeigte Seele kämpfen. Am engsten verwandt hingegen ist die Darstellung in einem Wolfenbütteler Stundenbuch, das jedoch über dem blauen Bett einen unheimlich dunklen Raum vorsieht, in dem die winzige Seele umkämpft wird (Cod. Guelf. 84.2.1. Aug. 12°, fol. 186v: Helmar Hertel, Das Stundenbuch Herzog Augusts d.J., Patrimonia 258, 2004, Abb. S. 49).

fol. 218: Das sogenannte Symbolum Athanasii Quicumque vult wird als letzter Text noch durch eine vierzeilige Initiale und Vollbordüre hervorgehoben.

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Zum Stil

Unser Stundenbuch ist vielleicht vom Format her das kleinste Manuskript mit Hauptwerken vom Meister der Davidbilder im Breviarium Grimani. Eng verbunden ist das von uns 2008 mit Maria Maddalena Negrone verbundene Stundenbuch, das in der vorhergehenden Literatur nach ehemaligen Besitzern als Ince-Blundell Hours bezeichnet wurde (Ausst.-Kat. Los Angeles und London 2003, Nr. 115). Schon mit der Autorität von Elizabeth Morrison, die 2003 dieses Manuskript richtig eingeordnet hat, besteht kein Zweifel an der Eigenhändigkeit einerseits unseres NegroneStundenbuchs wie auch der nun vorgestellten Handschrift.

Der Kalender erweist sich zwar als bemerkenswerte, phantasievolle Variante der Monatsbilder des für den Buchblock verantwortlichen Malers, ist jedoch nicht von seiner Hand, sondern eher von einem Maler aus dem Umfeld der Stundenbücher mit Einzelmotiven, wie es von As-Vijvers 2013 definiert wurde; zu den Eigenarten dieser Gruppe gehört auch die Verwendung der 1992 von Brinkmann zusammengestellten Architekturbordüren. Vielleicht hat derselbe Maler schon um 1496 den inhaltlich verwandten Kalender im älteren Teil des Stundenbuchs der Johanna von Kastilien (Add. Ms. 18852) gestaltet.

Ein Hauptwerk der Brügger Buchmalerei mit eindrucksvollen Miniaturen des Meisters der Davidsszenen im Grimani-Brevier und seinem Atelier. In unserem Zusammenhang bemerkenswert wegen seines konzisen Kalenders, dessen Monatsbilder wie ein Resümee des Kalenders für Johanna von Kastilien im Add. Ms. 18852 der British Library wirkt. Dazu ein Buch, das auf bezaubernde Weise die junge Orsa Pesaro in ihrer Frömmigkeit, Schönheit und Eleganz feiert. Zur Einmaligkeit erhoben, selbst in dieser künstlerisch subtilsten, überragenden Phase der flämischen Buchmalerei, wird die Zimelie durch eine ganze Welt von Einzelphänomenen auf allen Textseiten, wo in über 1.000  Miniaturen die Natur im Tier- und Pflanzenreich ebenso wie der tägliche Lebenskreis und der Traumbereich der Grotesken auf eine Weise gefeiert werden, die dieses makellose und vollständig erhaltene Kleinod mit keiner anderen Handschrift dieser Art und Zeit vergleichbar machen.

Literatur: A.-M. As-Vijvers, Remaking the Margins, 2013, kennt unser Manuskript nicht. Von den dort behandelten Manuskripten sind nur drei bei ähnlicher Größe überhaupt vergleichbar: das Stundenbuch der Juana la Loca in der British Library (Add. Ms. 18852), dem fünf Blätter mit Miniaturen fehlen; Walters 427, worin die wichtigste Miniatur der Maria mit dem Kind fehlt, sowie Manuskript Dutuit 36 im Petit Palais, Paris, in dem nur eine einzige Miniatur vom Davidmeister stammt.

A. Dutuit kaufte dieses Manuskript vor der Auktion der Sammlung Germeau 1869 für 10.000 Goldfrancs, was der heutigen Kaufkraft von ca. drei Millionen Schweizer Franken entspricht.

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Anhang

Serie von acht bedeutenden Miniaturen aus einem Stundenbuch vom Meister der Davidsszenen, einem kleineren Geschwister von Douce 112, mit fünf dort verlorenen Sujets

Stundenbuch. Horae B M. V. (wohl Gebrauch von Rom).

Handschrift auf Pergament.

Brügge, um 1505–15: Meister der Davidsszenen im Breviarium Grimani (evtl. Jan Gossaert oder Gerart David?).

8 Blatt Pergament, allein oder zu zweien gerahmt, unter Glas.

In-16 oder in-24: ca. 105 × 62 mm, soweit sichtbar.

In alter Rahmung (18. Jahrhundert?), diese teils mit Läsuren bzw. Absplitterungen. Überseeischer Privatbesitz, ohne weitere Provenienz-Hinweise.

Bei dieser unverhofft in unsere Hände gekommenen Reihe – handeln wir doch normalerweise nicht mit Einzelminiaturen – dreht es sich um mehr als die Hälfte des Miniaturenbestandes eines ehemals herrlichen Stundenbuchs vom Meister der Davidsszenen, die nach Zerstörung des Manuskripts trotz ihrer Kleinheit wie Gemälde gerahmt wurden und dies aufgrund ihrer stupenden Qualität auch verdienen. Das ist der Grund, weshalb wir die Serie hier als Anhang präsentieren, zumal mit unseren Handschriften 8 und 9 weitere Werke dieses großen Künstlers vorliegen.

Es handelt sich dabei um

1) Maria, die Muttergottes, ihrem Sohn die Brust reichend (wohl zum „Obsecro te“): einzeln gerahmt.

2–3) d ie Verkündigung an Maria, sowie die Heimsuchung, zu Matutin und Laudes im Marienoffizium, Bilder von atemberaubender Innigkeit und Schönheit trotz der traditionellen Sujets; zu zweit nebeneinander gerahmt;

4) Verkündigung an die Hirten, zur Terz des Marien-Offiziums: einzeln gerahmt;

5–6) Geburt Christi und Anbetung der Könige, zu Prim bzw. Sext im Marienoffizium, ebenfalls zu zweit nebeneinander gerahmt;

7) Pfingstdarstellung, zu den Horen des Heiligen Geistes: einzeln gerahmt;

8) Auferweckung des Lazarus, zum Totenoffizium: einzeln gerahmt.

Es fehlen allenfalls ein Salvator Mundi, die Darbringung, Kindermord und Marienkrönung zum Marienoffiz; eine Kreuzigung (bzw. Kreuztragung) zu den KreuzHoren sowie eine Davidsminiatur zu den Bußpsalmen.

Alle Miniaturen sind, evtl. mit Ausnahme des leicht fleckigen Gesichts Mariens in der Geburtsszene, ausgezeichnet erhalten, nur hie und da etwas gedunkelt, allerdings meist am Bildrand beschnitten, sodaß nicht erkennbar ist, ob ursprünglich noch Bordüren mit Streublumen die Bilder gerahmt haben – was wahrscheinlich ist.

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Katalognummer Anhang
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Anhang

Umso mehr ist die künstlerische Exzellenz der kleinen Kunstwerke hervorzuheben, die ein simpler Vergleich unanfechtbar macht: die Serie dieser Miniaturen scheint eine Art identischer Vorreiter zur berühmten Illustration des Hauptwerks unseres Davidmeisters zu sein, Ms. Douce 112 der Bodleian Library, indem die beiden direkt vergleichbaren Bilder der Maria mit demKind und des Pfingstgeschehens dort (man vergleiche Miniatur Nr. 7 hier mit der mehr als doppelt so großen seitenverkehrten Pfingstdarstellung, Abb. im Ausst.-Kat., London und Los Angeles 2003, S. 441, um sich davon zu überzeugen) fast alle Züge bis in die nebensächlichen Details mit unseren Miniaturen teilen, wobei vor allem der Altmeister-Gemälde-Charakter in Oxford hier auf eine zwar formatreduzierte, aber ähnlich überwältigende Entsprechung trifft. Eine Folgerung aus dieser Fast-Identität führt noch weiter: da in Douce 112 die neutestamentlichen Bilder zum Marien-Offizium fehlen, kann man für die fünf bei uns vorhandenen Sujets Verkündigung, Heimsuchung, Geburt, Hirten und Drei Könige mit Fug und Recht von einer entsprechenden Behandlung der Sujets ausgehen und hätte damit statt einer Reihe von "Ghosts" auf einmal evidente Vorstellungen dieser verlorenen Sujets gewonnen.

Wir offerieren hier eine bislang völlig unbekannte Serie von eigenhändigen Miniaturen des Davidmeisters, die für sich genommen schon in hohem Maße bemerkenswert ist und das nicht sehr umfangreiche Œuvre dieses großen Malers unerwartet und erfreulich bereichert, darüber hinaus durch ihre enge Verwandtschaft mit dem Hauptwerk des Meisters erhebliche zusätzliche Strahlkraft gewinnt, was sowohl künstlerisch als auch kunsthistorisch ins Gewicht fällt.

Literatur: Siehe die Angaben zu Nr. 8 und 9.

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Bibliographie

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New York 2017 (Ausst. 2018): The Medieval Calendar. Locating Time in the Middle Ages, Roger S. Wieck.

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Paris 2002: Sur la terre comme au ciel. Jardins d’Occident à la fin du Moyen Âge, von Élisabeth Antoine.

Paris 2003: Jean Fouquet. Peintre et enlumineur du XVe siècle, hrsg. v. François Avril.

Wien 1978: Flämische Buchmalerei. Handschriften aus dem Burgunderreich, von Dagmar Thoss.

Wien 2018/19: Bruegel. Die Hand des Meisters.

Kataloge des Antiquariats Heribert Tenschert

Das Genie der Zeichnung. Ein unbekanntes Manuskript mit 30 großen Darstellungen von einem der Brüder Limburg – wohl im Auftrag des Herzogs von Berry für Louis d’Orléans & Valentina Visconti (Illuminationen. Studien und Monographien, hrsg. von Heribert Tenschert, 23), Bibermühle 2016.

HORAE B. M. V. 365 gedruckte Stundenbuchdrucke der Sammlung Bibermühle. 1487 – 1586, hrsg. von Heribert Tenschert, in 9 Bänden, jeweils drei Bände erschienen Ramsen 2003, 2014 und 2015.

Leuchtendes Mittelalter I: 89 libri manu scripti 89 illuminati vom 10. bis zum 16. Jahrhundert, Rotthalmünster 1989.

Leuchtendes Mittelalter II : Sechziog illluminierte Handschriften des Mittelalters unbd der Renaissance, Rotthalmünster 1990.

Leuchtendes Mittelalter  III : Das goldene Zeitalter der burgundischen Buchmalerei. 1430 – 1560, Rotthalmünster 1991.

Leuchtendes Mittelalter V: Psalter und Stundenbuch in Frankreich von 13. bis zum 16. Jahrhundert, Rotthalmünster 1993.

Leuchtendes Mittelalter VI : Manuskripte vom 14. – 17. Jahrhundert, Rotthalmünster 1993 – 94.

Leuchtendes Mittelalter, Neue Folge I: Boccaccio und Petrarca in Paris, Ramsen und Rotthalmünster 1997

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Leuchtendes Mittelalter. Neue Folge  II : Dreiunddreißig mittelalterliche Handscbriften, Ramsen und Rotthalmünster 1998.

Leuchtendes Mittelalter. Neue Folge IV: 32 illuminierte Handschriften aus Frankreich vom 13. bis zum15. Jahrhundert, Ramsen 2007.

Leuchtendes Mittelalter. Neue Folge: 30 holländische und flämische illuminierte Manuskripte des 15. und 16. Jahrhunderts, Ramsen 2008.

Der Meister von Poitiers 30. Ein unbekanntes Gegenstück zum Stundenbuch der Adelaide von Savoyen (Illuminationen. Studien und Monographien, hrsg. von Heribert Tenschert, 12), Ramsen und Rotthalmünster 2006.

Paris Mon Amour, 5 Bände, Ramsen 2017 (Bd. I – II ), 2018 (Bd. III – V).

Tour de France, 2 Bände, Ramsen 2013.

Vom Psalter zum Stundenbuch. Zwei bedeutende Handschriften aus dem 14. Jahrhundert, Ramsen 2015. Monographien und Aufsätze:

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