Die Traumvektor Tetralogie - IV.Interferenz

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JeaMY Lee DieTRAUM

VEKTOR Tetralogie Teil IV von IV Roman

IV.Interferenz



JeaMY Lee DieTRAUM

VEKTOR Tetralogie Teil IV von IV Roman

IV.Interferenz



fĂźr miranda imgrid


Impressum Copyright: © 2012 Jeamy Lee www.traumvektor.com Druck und Verlag: CreateSpace www.createspace.com ISBN 978-1-4775-1178-7 1. Auflage 2011: 978-1-4709-5327-0 2. verbesserte Auflage 2012: 978-1-4775-1178-7

Titelgestaltung: Jeamy Lee, Hintergrund erstellt mit Mandelbulber.1

Urheberrechtshinweis: Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Die Berner Übereinkunft zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der 1886 in Bern angenommen wurde.2 Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen, Unternehmen, Begebenheiten und Handlungen sind rein zufällig und vom Autor nicht gewollt.

Aktualisiertes Video- und Webverzeichnis mit vielen Links zu Hintergrund- und Zusatzinformationen über das geschichtliche, philosophische, soziale und wissenschaftliche Umfeld der handelnden Personen: www.traumvektor.eu 1

Mandelbulber: http://sites.google.com/site/mandelbulber/home

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Wikipedia: Berner Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst.


Intro Dank an die Zeit ... All jenen gewidmet, die keine haben. Mein Dank gilt auch allen Personen, die an der Entwicklung des Internets1 beteiligt waren und sind2. In jener Zeit, als diese Geschichte seinen Anfang nahm, konnten sich nur wenige vorstellen, welchen Stellenwert dieses Medium in nicht allzu ferner Zukunft einnehmen würde. Alle Informationen, die man damals mühsam aus vielen verschiedenen Büchern, Lexika, Zeitungsartikel und den sich langsam, aber doch stetig ausbreitenden Mailboxnetzen, wie etwa dem FidoNet3, zusammentragen musste, sind heute überall und jederzeit in Echtzeit abrufbar: »Information at Your Fingertips4« ist heute allgegenwärtig! Dieser Roman wurde daher mit vielen Links zu Hintergrund- und Zusatzinformationen versehen, um dem Leser, sofern er gewillt ist, die Möglichkeit zu geben, etwas mehr über das geschichtliche, philosophische, soziale und wissenschaftliche Umfeld der handelnden Personen zu erfahren. Diese Verweise sollen auch als Anregung dienen, selbst nachzuforschen und vielleicht sogar an der Verbreitung des Wissens mitzuwirken; Wissen sollte ein Grundrecht sein und bleiben und für jeden Menschen zugänglich und jederzeit und überall verfügbar sein. Das Internet ist der richtige Schritt in diese Richtung. Jeder, der dieses Medium nutzt, sollte im Rahmen seiner Möglichkeiten dafür Sorge tragen, dass dies auch in Zukunft so bleibt und dieses Medium uns noch lange Zeit in dieser Form erhalten bleibt! Mein Dank gilt allen β-Lesern, allen voran Maximilian, der auch Zeit gefunden hat, das Werk Korrektur zu lesen. Mein besonderer Dank gilt Esther Koch für ihre Geduld beim Korrekturlesen und die vielen nützlichen Anmerkungen.

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»Das Internet (von engl. interconnected network) ist ein weltweites Netzwerk bestehend aus vielen Rechnernetzwerken, durch das Daten ausgetauscht werden.« – Wikipedia: Internet

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»Die Geschichte des Internets lässt sich in drei Phasen einteilen. In der Frühphase ab Mitte der 1960er Jahre wurden die Grundlagen gelegt, die Technologie demonstriert und zur Anwendungsfähigkeit entwickelt. Gleichzeitig mit dem Wechsel von der militärischen zur akademischen Forschungsförderung Ende der 70er Jahre begann das Wachstum und die internationale Ausbreitung des Internet. [...] 1990 begann mit der Abschaltung des Arpanet die kommerzielle Phase des Internets.« – Wikipedia: Geschichte des Internets

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»Das FidoNet ist ein sogenanntes Mailboxnetz, das sich in den 1980er und 1990er Jahren über die ganze Welt verbreitete, dann aber durch das Internet sehr stark verdrängt wurde.« – Wikipedia: FidoNet

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Bill Gates - Comdex 1994 Keynote »Information at Your Fingertips 2005«



Inhalt Impressum ...................................................................................................................6 Intro ...............................................................................................................................7 IV Interferenz ...........................................................................................................11 Multiversum ..............................................................................................................12 Überlagerung .............................................................................................................19 Machtwechsel ............................................................................................................25 1 26 2 30 03:55.............................................................................................................................42 1 48 2 50 3 51 4 54 5 57 Alternativen ...............................................................................................................60 1990.1...........................................................................................................................64 90.2 67 90.3 69 90.4 72 90.5 74 90.6 80 90.7 82 MOX ............................................................................................................................85 Endzeit ........................................................................................................................91 1 99 Anker ........................................................................................................................111 1 115 Rückkehr ..................................................................................................................121 Experiment ...............................................................................................................123 1 123 2 124 3 128 4 133 5 134 6 140 Mandira ....................................................................................................................150 Ausbruch ..................................................................................................................155 1 159 2 164 3 165 Epilog ........................................................................................................................167 Anhang/Denkanstöße ...........................................................................................171 Literaturverzeichnis ................................................................................................172 Webverzeichnis .......................................................................................................175 Videoverzeichnis .....................................................................................................184 Recherchemaschinen ..............................................................................................189


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IV Interferenz »Nach der Physik der Raumzeit ist die Offenheit der Zukunft eine Illusion, und deshalb können auch Verursachung und freier Wille nichts als Illusion sein.« David Deutsch: Die Physik der Welterkenntnis1

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David Deutsch: Die Physik der Welterkenntnis, München: dtv, 2000, S. 978-3423330510

256, ISBN: 11


Multiversum

Multiversum

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»Das Multiversum in seiner Gesamtheit ist im wesentlichen ein relativ einfach gestricktes Gebilde.«3

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ieses Kapitel für die Nachwelt niederzuschreiben, gehörte mit Sicherheit zu den schwierigsten Aufgaben, die ich in meinem Leben bewältigen musste. Die Ausbildung zum Navigator war im Vergleich dazu ein Kinderspiel. Wie sollte man ein so trockenes Thema, wie es »Dranvehto« eben ist, so zu Papier bringen, dass der Großteil der Leser nicht schon nach den ersten paar Zeilen von heimtückischen Müdigkeitsgefühlen heimgesucht wird, einnickt und vom Sessel kippt? Die frustrierende Antwort: Es gibt keine Antwort auf diese Frage. Was man versuchen könnte, wäre Bilder heraufzubeschwören und die wahre Natur des Universums sichtbar und für eigene Recherchen interessant zu machen. Vielleicht wird ja der eine oder andere, angeregt durch dieses Kapitel, ein paar spannende Bücher zum Thema lesen oder im weltweiten Datennetz stöbern und sich die tägliche Ration an »AhaErlebnissen« gönnen. Denn die Welt der Naturwissenschaften und speziell die der Physik als solche ist voller Wunder und spannender, aufregender, unglaublicher, als man es sich wahrscheinlich vorstellen kann und oft auch will. Beginnen wir einfach mit dem Nichts, einem virtuellen Nichts, einem Vakuum irgendwo weit, weit draußen, im dunklen Raum zwischen den Galaxien. Von diesem Vakuum erwartet man im Allgemeinen, und das zurecht, einen ziemlich leeren Raum – im Schnitt enthält der interstellare Raum ein bis zehn Atom(e) pro Kubikmeter; vielleicht ein oder zwei mehr oder weniger, doch bei dieser geringen Anzahl spielt das im Prinzip keine Rolle. Allerdings zeigt sich im Maßstab kleinster Zeit- und Längeneinheiten überraschenderweise, dass dieses Vakuum eher einem überfüllten Kaufhaus während des Winterschlussverkaufs gleicht, als einem Beamtenbüro freitags nach 12. Überall wird gezerrt, geschoben und gedrückt und es bleibt fast kein Platz zum Atmen, der Weg, den man zurücklegen kann, ohne mit einem anderen Schnäppchenjäger zusammenzustoßen, geht gegen Null. Wie also soll man sich einen leeren Raum vorstellen, in dem zwar keine Atome zu finden sind, es andererseits allerdings nur so von virtuellen, nicht sichtbaren Teilchen wimmelt, die sich gegenseitig das Leben zur Hölle machen? Im ersten Augenblick ist diese Annahme in der Tat ein 2

Empfohlene Bettlektüre: http://space.mit.edu/home/tegmark/crazy.html »Parallel Universe Overview (Levels I-IV)« auf der Webseite von Max Tegmark. Man kann dieses Kapitel über das »Multiversum« auch getrost überspringen, ohne den Faden zu verlieren. Es ist nur ein kleiner Ausflug in die vielen möglichen »Parallelen Welten« und die Konsequenzen, die sich daraus ergeben.

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Rham (21 201 v. NZ): Die Geschichten der Universen.

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wenig verwirrend. Woher sollen diese Teilchen denn kommen? Weshalb können sie mit herkömmlichen Methoden nicht gemessen werden und welchen Zweck erfüllen sie? Die einfache Antwort ist die: Diese Teilchen haben ihre Existenz einzig und allein der Unvollkommenheit der Natur zu verdanken. Und es gab auch schon zu jener Zeit, als ich noch Gemüsesuppe aus Päckchen konsumierte, zwei Theorien, die, zu Ende gedacht und etwas modifiziert, in eine »Dranvehto« münden hätten können. Zum einen sind nach Einsteins Spezieller Relativitätstheorie (SRT)4 Energie und Masse äquivalent5, nur zwei verschiedene Betrachtungsweisen ein und derselben Sache. Zum anderen sagt uns Heisenberg, dass es unmöglich ist, zwei Messgrößen eines Teilchens unabhängig voneinander beliebig genau zu bestimmen6. Ort und Impuls, also die Wucht, mit der ein Teilchen in eine bestimmte Richtung gelenkt wird, sind zwei dieser Größen oder auch Energie und Zeit. Und diese kleine, nicht negierbare und von Natur aus nicht korrigierbare »Unschärfe« in der Messgenauigkeit und die Austauschbarkeit von Energie und Masse schaffen Platz für ein riesiges Schattenreich, in der scheinbar bis in die letzte Kommastelle berechenbaren Realität. Aus diesen beiden Theorien ergibt sich nämlich, dass aus konzentrierter Energie spontan Teilchenpaare aus Materie und Antimaterie entstehen können, die sich sehr schnell, um nicht zu sagen sofort, wieder gegenseitig auslöschen. Diese Teilchen sind paradoxerweise einerseits sehr real, andererseits sind sie für uns nicht sichtbar; im Grunde existieren sie in unserer Wirklichkeit gar nicht. Wie das? Zuerst muss man sich klar werden, was virtuelle Teilchen eigentlich sind. Es sind zuerst einmal Konstrukte, ohne die es eine Welt,wie die unsere, nach der quantenmechanischen Beschreibung, nicht geben könnte. In der Quantenphysik geht man davon aus, dass jede Wechselwirkung zwischen den Grundbausteinen des Universums durch den Austausch virtueller Teilchen erfolgt. Dort kommunizieren z. B. negativ geladene Elektronen mit positiv geladenen Protonen nach den Gesetzen der Quantenelektrodynamik, der quantenfeldtheoretischen Beschreibung des 4

»Die spezielle Relativitätstheorie (kurz: SRT) ist eine physikalische Theorie über Raum und Zeit. Sie verallgemeinert das galileische Relativitätsprinzip der klassischen Mechanik auf alle Gesetze der Physik.« – Wikipedia: Spezielle Relativitätstheorie

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Kennt jeder: E = m c2. Eine interessante Tatsache ist vielleicht, dass die Sonne allein durch ihr abgestrahltes Licht (Gesamtleistung ca. 3,7·1026 W) in jeder Sekunde rund 4 Millionen Tonnen Masse verliert (verglichen mit der Sonnenmasse von rund 2·1030 kg ist dieser Anteil jedoch vernachlässigbar). – Wikipedia: Äquivalenz von Masse und Energie

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»Die heisenbergsche Unschärferelation oder Unbestimmtheitsrelation ist die Aussage der Quantenphysik, dass zwei Messgrößen eines Teilchens nicht immer unabhängig voneinander beliebig genau bestimmbar sind. Das bekannteste Beispiel für ein Paar solcher Messgrößen sind Ort und Impuls.« – Wikipedia: Heisenbergsche Unschärferelation 13


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Elektromagnetismus, mittels virtueller Photonen. Da diese Felder, also die Entfernungen, die diese Photonen zurücklegen können, theoretisch bis ins Unendliche reichen, dürfen die virtuellen Teilchen, laut heisenbergscher Unschärferelation keine Ruhemasse besitzen – was gleichbedeutend mit Null Energie ist. Weshalb? Nun, da in diesem Fall Energie und Zeit nicht gleichzeitig mit unendlicher Genauigkeit gemessen werden können, der Zeitraum, über den diese Photonen existieren können, unendlich lange ist, muss ihre Ruheenergie Null betragen. Und welch ein Wunder, Photonen haben tatsächlich keine Ruhemasse7, sie definieren sich nur über ihre Frequenz, je höher diese ist, umso energiereicher das Teilchen. Eine weitere Grundkraft der Physik ist die starke Wechselwirkung. Das ist jene Kraft, welche die positiv geladenen Protonen in den Atomkernen zusammenhält – da sich gleiche Ladungen gegenseitig abstoßen, würden sie ohne eine Kraft, die sie zurückhält, sehr bald in möglichst entgegengesetzte Richtungen fliegen. Auch hier spielen natürlich virtuelle Teilchen eine Rolle, welche allerdings in diesem Fall sehr schwer, also mit Energie vollgepumpt sein müssen, um die Protonen bei Laune zu halten und zu zwingen, nicht bei erstbester Gelegenheit das Weite zu suchen. Man ahnt es schon, große Energie ergibt kurze Lebensdauer. Und es trifft tatsächlich zu, die durchschnittliche Lebensdauer ist zu kurz, als dass man sie begreifen könnte.8 So weit so gut!? Nun versuchen wir, ein Elektron aus der Nähe zu betrachten. Wir zoomen uns heran, kommen näher und näher und was sehen wir? Nach der weitverbreiteten Vorstellung müsste irgendwann so etwas wie ein kugelähnliches Objekt erscheinen, ein gelber Ball oder eine durchsichtige Kristallkugel. Doch man hat die Rechnung ohne die Doppelnatur von Welle und Teilchen9 gemacht. Je kleiner der Abstand wird, je genauer man den Aufenthaltsort bestimmen will, umso unbehaglicher fühlt sich das Elektron. Es reagiert 7

Für die Ruhemasse – das ist die Masse, die ein Teilchen bei der Geschwindigkeit Null hat – eines Photons im Vakuum muss der Wert mit Null angenommen werden, da sich zeigen lässt, dass sich unter anderem Magnetfelder anders verhalten würden, wäre dem nicht so. Experimentell konnte so ein Verhalten bisher nicht nachgewiesen werden (Stand 2009 n. Chr.), woraus sich die Obergrenzen für die Photonmasse ergeben (http://pdg.lbl.gov/2008/listings/s000.pdf). Messungen deuten aber darauf hin, dass Photonen zumindest in Supraleitern nicht Masselos sind. Wikipedia: Photon

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Lebensdauer 10-23 Sekunden, Reichweite ungefähr 10-15 Meter.

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»Unter Welle-Teilchen-Dualismus versteht man einen klassischen Erklärungsansatz der Quantenmechanik, der besagt, dass Objekte aus der Quantenwelt sich in manchen Fällen nur als Wellen, in anderen als Teilchen beschreiben lassen. Mit der Interpretation der statistischen Wahrscheinlichkeiten im Rahmen der Kopenhagener Deutung (1927) bekam der Begriff eine etwas andere Bedeutung: Jede Strahlung hat sowohl Wellen- als auch Teilchencharakter, aber je nach dem durchgeführten Experiment tritt nur der eine oder der andere in Erscheinung.« – Wikipedia: Welle-Teilchen-Dualismus

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mit Ablehnung und verschleiert seine wahre Position, springt quasi aufgeregt hin und her. Bis man letztendlich so weit in die Intimsphäre des Elektrons eingedrungen ist, dass man nur noch eine Aufenthaltswahrscheinlichkeit, eine Wolke möglicher Positionen zur Auswahl hat und maximal raten kann, wo es sich gerade befindet. Was theoretisch auch bedeuten kann, dass es sich gerade in einem »Restaurant am Ende des Universums«10 aufhält oder sich auf einer Einkaufstour amüsiert und wir hier vergeblich warten – noch wahrscheinlicher ist, dass es beide Dinge, und vieles mehr, gleichzeitig erledigt. Warum ist das so? Reduziert man die Ausdehnung eines Objektes so lange, bis der Radius Null beträgt, es also nicht mehr als ein mathematischer Punkt ist, dann konzentriert sich auch die gesamte Masse auf diesen Punkt und die Dichte dieses Objektes und auch die Krümmung der Raumzeit gehen gegen unendlich. Die einsteinschen Gleichungen der Relativitätstheorie versagen und wir befinden uns in einem Land voller wunderlicher Paradoxien, in dem die Kausalität aufgehoben wird und sogar die Zeit rückwärts laufen kann. Das unentdeckte Wunderland der Alice11. Und Heisenberg hatte die Antwort auf dieses Problem: Es ist schlicht und ergreifend unmöglich, den exakten Ort eines Teilchens zu bestimmen. Und es ist nicht die Folge von Unzulänglichkeiten entsprechender Messvorgänge, denen wir dieses Dilemma zu verdanken haben, sondern es ist von der Natur, warum auch immer, so gewollt. Kommt man dem oben erwähnten Elektron zu nahe, was nichts anderes heißt, als dass man in der Lage ist, seinen Aufenthaltsort immer genauer zu bestimmen, wird automatisch die elektromagnetische Energie dieses Elektrons größer und größer. Je kleiner der betrachtete Raum ist, umso größer werden die Energiefluktuationen, umso mehr virtuelle Teilchen werden erzeugt, bis uns eine undurchdringliche Wolke aus Elektronen-/Positronenpaaren die Sicht auf das darunter liegende Elektron versperrt und uns daran hindert, näher heranzukommen. Die Natur schützt sich so vor allzu neugierigen Intelligenzen. Doch wir lassen uns nicht aufhalten und forschen weiter. Um zum Vakuum zurückzukommen, auch in diesem scheinbar leeren Raum gibt es auf kleinsten Längeneinheiten aus genau den gleichen Gründen immer wieder Schwankungen im Quantenfeld, spontane Ener10 »Das Restaurant am Ende des Universums (engl.: The Restaurant at the End of the Universe) ist das zweite Buch aus der fünfteiligen Serie Per Anhalter durch die Galaxis (The Hitchhikers Guide to the Galaxy) von Douglas Adams. Der Titel bezieht sich auf das fiktive Restaurant Milliways aus Per Anhalter durch die Galaxis.« – Wikipedia: Das Restaurant am Ende des Universums 11 »Alice im Wunderland (ursprünglich: Alices Abenteuer im Wunderland; englischer Originaltitel: Alice’s Adventures in Wonderland) ist ein erstmals 1865 erschienenes Kinderbuch des britischen Schriftstellers Lewis Carroll. Die fiktionale Welt, in der Alice im Wunderland angesiedelt ist, spielt in solch einer Weise mit Logik, dass sich die Erzählung unter Mathematikern und Kindern gleichermaßen großer Beliebtheit erfreut.« – Wikipedia: Alice im Wunderland 15


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giespitzen12, die nach Einstein ja nichts anderes sind, als hoch energetische, massereiche Teilchen, welche ununterbrochen ein wahres Teilchengewitter erzeugen. Überall im Universum. Nicht der kleinste Raum bleibt davon verschont. Auch in uns, zwischen den Molekülen, in den Atomen entstehen und vergehen in jeder beliebig kleinen Zeiteinheit Myriaden von Geisterteilchen. Verkleinert man den Maßstab noch weiter, kommt man irgendwann an einen Punkt, an dem alle bisher bekannten Gesetze ihre Gültigkeit verlieren. Unterhalb der sogenannten Planck-Grenze13 gibt es keine Zeit, kein vorher oder nachher, keine Größe, Masse oder Richtung, alles ist nur noch Energie. Nun wollen wir uns ansehen, welche Auswirkungen diese Teilchenflut auf die Umgebung hat. Man könnte versuchen, das Universum mit den Augen eines Statistikers zu sehen – natürlich nur als reines Gedankenexperiment, denn nur wenige von uns sind mit der Gabe gesegnet, sich in die Gedankengänge eines Statistikers hineinzuversetzen – der das Vakuum als ideales Gas14 betrachtet und die Quantenfluktuationen15 als virtuelle Teilchen, die sich darin zufällig bewegen. Dann landet man schnell bei einer modifizierten »Äthertheorie«.16 Da dieses Wort zu meiner Zeit sehr negativ vorbelastet war und der mardukianische Name »Gsar Dranvehto«, eine Erweiterung des »Dranvehto«, in meinen Ohren zu nichtssagend klang, entschied ich mich, diese Theorie »Quantensuppen Theorie« (QST) zu nennen. Und das Bild einer heißen, brodelnden Suppe beschreibt die Vorgänge, die sich im Mikro12 Man möchte es kaum für möglich halten, wie viel Energie sich in so einem »Vakuum« für kurze Zeit aufstauen kann. Eine Kaffetasse »Vakuumenergie« würde ausreichen, um unsere Erde in kleine handliche Stücke zu zerlegen – Tony Darnell, http://www. deepastronomy.com/how-to-destroy-earth-with-a-coffee-can.html 13 Z. B.: Planck-Länge: 1,61 . 10−35 Meter oder die Planck-Zeit: 5,39 . 10−44 Sekunden. Dies sind ausgeschrieben 0.000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 05 4 Sekunden. Eigentlich ist das Leben eines virtuellen Teilchen, wenn man es auf diese Weise betrachtet, schon ziemlich kurz. – Wikipedia: Planck-Einheiten 14 »Als ideales Gas bezeichnet man in der Physik und Physikalischen Chemie eine bestimmte idealisierte Modellvorstellung eines realen Gases. Obwohl es eine starke Vereinfachung darstellt, lassen sich mit diesem Modell bereits viele thermodynamische Prozesse von Gasen verstehen und mathematisch beschreiben.« – Wikipedia: Ideales Gas 15 »Vakuumfluktuationen (auch Quantenfluktuation oder Nullpunktsfluktuation) sind Teilchen-Antiteilchen-Paare, die in der Quantenfeldtheorie aus dem Vakuum entstehen und wieder zerfallen.« – Wikipedia: Vakuumfluktuation 16 »Der Äther (griech. αἰθήρ [„aithär“] für der (blaue) Himmel) ist eine Substanz, die im ausgehenden 17. Jahrhundert als Medium für die Ausbreitung von Licht postuliert wurde. Später wurde das Konzept aus der Optik auch auf die Elektrodynamik und Gravitation übertragen, vor allem um auf Fernwirkung basierende Annahmen zu vermeiden. Seit der allgemeinen Akzeptanz der speziellen Relativitätstheorie Albert Einsteins und der Quantenmechanik wird ein solcher Äther nicht mehr als physikalisches Konzept benötigt.« – Wikipedia: Äther 16


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kosmos abspielen, wie ich meine, und der eine oder andere Leser es mittlerweile auch schon nachvollziehen kann, ganz gut. Sehen wir uns nun die Photonen auf ihrem Weg durch das Universum an. Sie treffen dabei unweigerlich immer wieder auf diese virtuellen Hindernisse und werden abgelenkt, verzögert oder beschleunigt. Dabei verlieren sie einen Teil ihrer Energie oder bekommen welche dazu – die Kommunikation zwischen den Photonen und den virtuellen Teilchen erfolgt natürlich ebenso über andere virtuelle Teilchen – und möglicherweise werden die Photonen auch ganz verschluckt; sie verwandeln sich in Materie-/Antimateriepaare und werden, da sich diese Paare gleich wieder in Energie verwandeln, wieder ausgespuckt. So gesehen muss ein Photon, welches wir vielleicht irgendwo in einen Lichtleiter gesteckt haben, nicht mit dem identisch sein, welches wir am anderen Ende messen. Auch dann nicht, wenn wir nur ein Einziges auf den Weg geschickt und nur eines empfangen haben. Die Vakuum-Lichtgeschwindigkeit ist daher nur ein statistischer Mittelwert, der Lokal sehr stark abweichen kann. Die maximal erreichbare und im Falle eines Photons auch minimale Geschwindigkeit ist eine ganz andere, unter Umständen sogar eine sehr viel höhere, als die nach der Relativitätstheorie erlaubte. Auf mikroskopischer Ebene ist der Weg durch die »Quantensuppe« (QS) demnach alles andere als geradlinig und geschwindigkeitsneutral. Da sich aber alle Photonen gleichen und normalerweise auch kein Erkennungszeichen dabei haben, fallen diese Vorgänge auf makroskopischer Ebene nicht auf, man bemerkt sie erst gar nicht. Dieser »QS-Widerstand« erklärt auch, warum sich nichts schneller als »das Licht« bewegen kann: Die »Reibung« in der QS ist ab einem gewissen Grad, einer bestimmten Geschwindigkeit einfach zu groß17 – vergleichbar mit dem elektrischen Widerstand in einem Leiter. Und die schönste Konsequenz, die sich daraus ergibt, ist die eines sogenannten Bose-Einstein-Kondensat-Raumschiffes18, welches sich unge-

17 Die Überprüfung der QST gestaltet sich überraschend einfach: Man schickt Lichtstrahlen in verschiedene Richtungen und misst die Zeit, die es für extrem kurze Strecken benötigt (< 10E-23 Meter). Es zeigen sich für unterschiedliche Richtungen, unterschiedliche Laufzeiten des Lichts. Daher auch der Hinweis auf die (unangenehme) Ähnlichkeit mit der »Äthertheorie« auf makroskopischer Ebene, die längst widerlegt wurde. – Wikipedia: Michelson-Morley-Experiment 18 »Das Bose-Einstein-Kondensat ist ein extremer Aggregatzustand eines Systems ununterscheidbarer Teilchen, in dem sich der überwiegende Anteil der Teilchen im selben quantenmechanischen Zustand befindet. Das ist nur möglich, wenn die Teilchen Bosonen sind und somit der Bose-Einstein-Statistik unterliegen. Bose-Einstein-Kondensate sind makroskopische Quantenobjekte, in denen die einzelnen Bosonen vollständig delokalisiert sind. Die Wahrscheinlichkeit jedes Bosons, es an einem bestimmten Punkt anzutreffen, ist also überall innerhalb des Kondensates gleich. Der Zustand kann daher durch eine einzige Wellenfunktion beschrieben werden. Daraus resultieren Eigenschaften wie Suprafluidität, Supraleitung oder Kohärenz über makroskopische Entfernungen.« – Wikipedia: Bose-Einstein-Kondensat 17


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hindert durch die QS manövrieren lässt – wie elektrischer Strom, der in Supraleitern auf keine Widerstände trifft. Sich mit minimalem Energieaufwand und maximaler Geschwindigkeit, die um etliche Zehnerpotenzen höher ist, als die im Einsteinraum zulässige, durch die Raumzeit bewegen, ist eine atemberaubende Vision. Von anderen Konsequenzen, die für einen Menschen zum Teil vollkommen verrückt klingen müssen, ganz zu schweigen. Zum Beispiel ist die Trägheit der Masse19 identisch mit dem QS-Widerstand, die Gravitation kann durch die Summe der erzeugten virtuellen Teilchen pro Zeitund Raumeinheit definiert werden und ist daher, wie die Teilchen selbst, nur eine virtuelle Erscheinung. Der Raum ist in der QS nichts anderes, als die freie Weglänge zwischen den virtuellen Teilchen und daher, in Anwesenheit von Masse, wie Einstein es richtig erkannt hat, formbar wie ein Knetgummi. Und die Zeit, sie ist alles andere als ein gleichmäßiger Strom aus einer bekannten Vergangenheit in eine ungewisse Zukunft, dem man nicht entfliehen kann, sondern ein sehr kantiges Gebilde, welches von einem Zustand in den nächsten springt – mal abgesehen davon, dass unterhalb der Planck-Zeit die Zeit ohnehin ihre Existenzgrundlage verliert und nicht existiert. Die Zeit, die wir als Mensch als lückenlos begreifen und in unserer Vorstellung auch nicht anders begreifen würden, ist auf mikroskopischer Ebene alles andere als stetig und wohldefiniert. Die Zeit wird durch die Veränderungen im virtuellen Teilchenmeer definiert, was nichts anderes heißt, als dass sie nur die Übergänge zwischen den einzelnen »Bildern« eines Universums anzeigt – ein virtueller Pfeil, der nur in unserer Fantasie existiert. Zeit ist der Abschnitt zwischen den einzelnen, voneinander unterscheidbaren Zuständen eines Universums. Und der kann sehr kurz sein, verdammt kurz. Und daher erscheint uns die Zeit als dass, was sie nicht ist, als ein kontinuierlich andauernder Prozess. Und bei einer gequantelten Zeit, also eine Zeit in Paketform, gibt es keinen Grund, warum zwischen den Übergängen von einem Zustand des Universums in den nächsten nicht alles passieren kann, was man sich nur vorstellen will. Im Prinzip ist jeder beliebige Zustand möglich und alles kann geschehen. Was natürlich auch dazu verwendet werden könnte, das gesamte Universum nach Belieben zu manipulieren. Doch das ist eine andere Geschichte.

19 Die Theorie, dass ein spezielles Teilchen, das Higgs-Teilchen, für die träge Masse verantwortlich ist, wurde verworfen, als man das Teilchen endlich gefunden hatte und seine Eigenschaften letztendlich mehr Fragen aufwarfen, als sie zu lösen vermochten. – Wikipedia: Higgs-Teilchen 18


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arum gerade Mars? Warum nicht die Tiefsee, der Mond oder Pluto? Und die Antwort, die Nash mir daraufhin gegeben hatte, half mir auch nicht wirklich weiter. »Weil wir hier im Raum es so wollen. Zumindest die Mehrheit sieht im Mars etwas Geheimnisvolles. Es ist ein Ort, den wir mit unseren derzeitigen technischen Mitteln nur schwer erreichen können, also muss dort die Antwort oder wenigstens ein Hinweis darauf, wo wir suchen müssen, zu finden sein. Sogar du, auch wenn es dir nicht bewusst ist, hast dich längst für Mars entschieden.« Er hatte natürlich recht, Mars lag außerhalb unserer und ganz sicher meiner Reichweite. Doch warum sollte sich das Universum einen Teufel darum scheren, wo ich am liebsten meine Antworten finden wollte? Doch das war nicht das einzige Rätsel, das mich zurzeit beschäftigte, es gab da noch ein, zwei weit mysteriösere Dinge, mit denen ich mich jetzt auseinandersetzen musste. Zuerst war da das Double meines Freundes. Als ich den Konferenzraum betrat und ihn dort sitzen sah, blieb mir fast die Luft weg. Ich benötigte einige Zeit, um meine Gefühle zu bändigen, wusste in diesem Augenblick nicht, ob ich vor Freude lachen, weinen oder an dem Schock, dass er am Leben ist, ersticken und gleichzeitig an einem Herzinfarkt sterben soll. Doch so schnell, wie diese Flut über mich hereinstürzte, so schnell versiegte sie auch wieder. Als ich in seine Augen sah, wusste ich sofort, dass nicht er es war, sondern »nur« ein Zwilling. Sie strahlten genau so blau, wie die meines Freundes, sein Lächeln war dasselbe und trotzdem war etwas an ihm anders, die Vertrautheit, die Nähe fehlte, es war, als ob eine dicke Glaswand uns trennte. Meinen beiden Freunden, Gerak und Ben, erging es nicht anders, als sie ihre Zwillingsbrüder erblickten. Auch sie blieben abrupt in der Eingangstür stehen, schnappten kurz nach Luft, fingen sich aber schnell wieder und gingen zum Tisch, der in der Mitte des Konferenzraumes stand. Sie setzten sich und starrten ihre Gegenüber weiter an. Warteten darauf, dass irgendjemand das Wort ergreifen und die Minuten der Stille und des Schweigens beenden würde. »Nun gut, da wir uns jetzt lange genug angestarrt haben, würde ich vorschlagen, wir gehen gleich ans Eingemachte und weihen euch in die Abgründe der Geheimregierungen dieser Welt und die Gründe, warum sie geschaffen wurden, ein«, ergriff Nash schmunzelnd das Wort. Zu meiner Überraschung, und wenn ich Bens Mienenspiel richtig deutete, war nicht nur ich überrascht, war Nash nicht so erschienen, wie ich ihn in Erinnerung hatte, in einem dunklen Anzug, goldene Manschettenknöpfe, weißes Hemd mit gestärktem Kragen, dazu passende, teure Schuhe und den kurz geschnittenen, glatt nach hinten gekämmten Haa19


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ren – und vor allem nicht aus dem Nichts, sondern völlig unspektakulär durch eine Tür. Er steckte in einem bequemen schwarzen Freizeitanzug der Marke »Weltregierung«, wie auch wir ihn die meiste Zeit trugen. Auf der linken Brustasche prangte das in den Farben Blau und Gelb gehaltene Logo, welches in dieser Form hier im Stützpunkt überall zu finden war, ein Kreis auf einer Dreiecksfläche – diese Kombination irritierte mich einen Augenblick lang, doch konnte ich nicht sagen warum. Außerdem hatte er sich seit Tagen nicht rasiert und zum Haare schneiden war er seit unserer letzten Begegnung wohl auch nicht gekommen. Ich schrieb diese Dinge dem engen Terminplan zu, den er in den letzten Tagen wohl zu bewältigen hatte. »Wie ihr schon herausgefunden habt, ist das hier die Zentrale, die in den Kreisen der Verschwörungstheoretiker unter den Namen ›Weltoder Schattenregierung‹ bekannt ist. Wir selbst nennen unsere Organisation ›NWO‹, auch das wisst ihr schon«, setzte Nash seinen Einführungsvortrag fort. »Allerdings haben wir nicht vor, wie es die verbreitete Meinung unter den Anhängern diverser Verschwörungstheorien ist, uns die Welt unter den Nagel zu reißen«, er sah Gerak grinsend in die Augen, »sondern, so absurd es in deren und euren Ohren klingen mag, die Organisation wurde vor einigen Jahrzehnten gegründet, um zu versuchen, die Welt, wie wir sie kennen, vor dem Untergang zu retten.« »Natürlich! Und ich glaube auch an den Weihnachtsmann, die Erde ist eine Scheibe und Elvis lebt«, lachte Gerak lauthals los, »diese ›offizielle‹ Version kennen wir doch zur Genüge, daher jetzt bitte die inoffizielle, wenn es nicht zu viel verlangt ist.« Ich nickte. »Ja, ich denke auch, dass wir ein Recht darauf haben, den wahren Grund, warum wir hierher gebracht worden sind und festgehalten werden, zu erfahren. Mr. Nash, sie werden zugeben müssen, dass dieser ›Heile-Welt-Weltrettungsfirlefanz‹ keinem denkenden Menschen zumutbar ist.« »Wir werden die Wahrheit mit Fassung tragen, auch wenn es bedeuten sollte, unser restliches Leben hinter diesen oder anderen Mauern eingesperrt verbringen zu müssen«, setzte ich hinzu. »Nun gut«, mein Freund oder besser der Zwilling meines Freundes, der bisher beinahe teilnahmslos die Situation beobachtet hatte, richtete sich auf, rückte seinen Stuhl näher an den Tisch und ließ seine Finger über die Tischplatte huschen. Ich erkannte erst jetzt, dass mehrere Bildschirme in den Tisch eingearbeitet worden waren, wohl berührungsempfindliche. »Da ich selbst in den letzten …«, er stockte, dachte anscheinend nach, ob er gleich mit der Tür ins Haus fallen oder erst nach und nach mit den Details herausrücken sollte, entschied sich für die Tür und setzte den Satz wie folgt fort, »... Jahrtausenden viele unglaubliche Dinge erlebt habe, will ich euch jetzt mit der schockierenden Wahrheit konfrontieren. 20


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Wir hatten eigentlich vor, euch Schritt für Schritt an die derzeitige, mehr als beängstigende Lage heranzuführen. Doch ihr habt es nicht anders gewollt.« »Es reicht! Das führt zu nichts. Verarschen kann ich mich selbst!« Gerak wirkte nicht nur so, er war gereizt, das sah man ihm an. Ich konnte mich nicht erinnern, ihn in den Tagen, seit wir uns kannten, je so aufgebracht gesehen zu haben. Er wollte noch etwas sagen, ließ es dann doch sein, stemmte sich mit wutverzerrtem Gesicht aus dem Sessel und ging rasch in Richtung Tür, um den Konferenzraum zu verlassen. Ich bekam ihn gerade noch an einem Ärmel zu fassen und zog ihn zurück. »Lass ihn mal ausreden. Zuhören kostet ja nichts. Und schlimmer als es ist, kann es auch nicht mehr werden«, redete ich auf ihn ein. Nun ja, es irrt der Mensch so lang er strebt20, und manchmal auch ich, wie ich ein paar Minuten später feststellen musste. »Glaubst du wirklich, er ist ein paar Tausend Jahre alt? Vielleicht wird er gleich versuchen uns weiszumachen, er sei der Bruder von Cäsar oder Thutmosis III? Ich habe keine Ahnung warum, aber wir werden hier in einer Tour zum Narren gehalten. Langsam glaube ich, dass ich in einem Versuchslabor liege, unter massiven Drogeneinfluss stehe und das alles nur träume.« Der Zwilling lächelte, als wollte er sagen, dass er mit Thutmosis beinahe ins Schwarze getroffen habe – es war sein Zeitzwilling gewesen. Doch die Vernunft gebot ihm, zu schweigen. Zumindest im Augenblick. Mir schauderte. Ben, der die ganze Zeit über wie hypnotisiert den Boden anstarrte und nicht wagte, jemanden in diesem Raum anzusehen – als habe er die Befürchtung, ein Blickkontakt, vor allem mit seinem Doppelgänger, könnte eine Katastrophe auslösen – ergriff das Wort. »Seit Tagen suche ich, wie Sandra und auch Du, nach einer vernünftigen Erklärung. Und wie es scheint, sind wir bisher nicht auf die richtige Antwort gestoßen, weil sie noch viel verworrener ist, als wir uns es vorstellen können. Daher bin ich der gleichen Meinung wie Sandra, lass ihn um Himmels willen ausreden. Danach können wir immer noch entscheiden, wer verrückter ist, wir oder die.« »Gut, ich beuge mich der Mehrheit!« Gerak besorgte sich einen Kaffee aus dem Automaten und setzte sich wieder an seinen Platz. »Ben hat recht. Und da ich glaube, meinen Freund sehr genau zu kennen, auch wenn das hier nicht er, sondern sein … was auch immer ... ist, bin ich mir fast sicher, dass er uns, vor allem mich, nie anlügen würde.« »Und auch der Umstand, dass er sich das alles hier noch antut, anstatt in seinem Greisenalter längst seine verdiente Pension auf irgendeiner In20 Johann Wolfgang von Goethe, Faust, Prolog im Himmel. Projekt Gutenberg - DE, http://gutenberg.spiegel.de/buch/3664/3 21


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sel zu genießen, zeigt mir, dass da mehr dahinter stecken muss, als nur eine weitere Verschwörung, hinter der die Weltregierung steckt. Kann aber auch sein, dass er nur deshalb hier ist, da auf seiner Insel der Wodka alle war«, beendete ich schmunzelnd meine Verteidigungsrede für ihn, meinen Zwilling. »Danke Sandra. So wie ich dich in allen Zeitebenen kennengelernt habe, ironisch, bissig. Das hat mir in den letzten Jahren wirklich gefehlt. Und vielleicht ist ja genau das der Grund unserer Misere: Der Wodka geht zur Neige und jemand hat deshalb Kopfschmerzen.« Nach einer kurzen Pause, die er dazu nutzte, den Computer anzuweisen, ein Video auf die Wand zu projizieren, fuhr er mit seiner Erklärung fort. Das Video zeigte vorerst nichts weiter als sich überlagernde Wellenmuster. Der Gesamteindruck war der einer wabernden Walnuss ohne eine erkennbare scharfe Abgrenzung nach außen. Immer feinere Strukturen verloren sich irgendwo im Hintergrund und an den Rändern der Projektion. »Ich habe keine Ahnung, wie es mit eurem Wissen um die Natur des Multiversums bestimmt ist, doch ich denke, die Theorien rund um parallele Universen ist euch zumindest vom Hörensagen geläufig?« Wir nickten. Etwas, das wir in den nächsten Minuten und Stunden des öfteren taten. Doch noch häufiger als Kopfnicken war Kopfschütteln angesagt. »Gut. Nehmen wir an, wir stehen über allem und betrachten das Multiversum als Ganzes aus der Vogelperspektive. Von dort ›oben‹ scheint alles in Ordnung zu sein. Wie ein endloses Meer, das träge hin- und herschaukelt. Ab und zu löst sich mal ein Tropfen aus der Wasserfläche und wird auch gleich wieder verschluckt oder er verdampft und verliert sich in der Unendlichkeit, wenn er eine gewisse Größe unterschreitet. Alles in allem passiert nicht viel Aufregendes.« »Wenn wir uns dieses Meer allerdings aus der Nähe ansehen, ändert sich sein Aussehen dramatisch.« Das interaktive Video veränderte sich. Die virtuelle Kamera näherte sich der Walnuss von oben und tauchte unter die Oberfläche. Zuerst verschwanden die Ränder der Nuss aus dem Blickfeld, danach wurden riesige Furchen sichtbar, die sich immer weiter voneinander entfernten. Zuletzt berührte man die Nuss scheinbar und fand sich gleich darauf als Beobachter vor einer riesigen unförmigen Blase wieder, die einer undurchsichtigen, deformierten Seifenblase ähnelte. Die Kamera schwenkte nach links und rechts, oben und unten. Überall konnte man ähnliche Blasen in unterschiedlichen Größen und Formen finden. Zudem waren die Blasen keine starren Gebilde, sondern sie änderten fortwährend die Gestalt. Sie blähten sich langsam auf, Dellen und kleinere Blasen bildeten sich auf ihren Oberflächen. Ab und zu löste sich eine dieser kleineren Blasen von der Oberfläche und taumelte von da an als eigenständiges Objekt durch den Raum. Manche von ihnen 22


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wurden kleiner, als ob jemand die Luft aus ihnen ließ. Es gab auch welche, die einfach platzten und sich in nichts auflösten. »Das ist die Struktur des Multiversum aus der Nähe betrachtet«, erklärte der Zwilling, dessen richtigen Namen ich, wie mir gerade bewusst wurde, noch gar nicht kannte. Doch einer Eingebung folgend sagte ich zu mir, dass er wohl den gleichen Namen trug, wie mein Freund. Zumindest hatte er vor vielen Jahren mit Sicherheit so geheißen. Und ob er nach Jahrtausenden, ich war mir jetzt schon ziemlich sicher, dass er wirklich aus einer längst vergangenen Zeit zu uns gestoßen war, immer noch so hieß, war im Augenblick nicht so wichtig. Außerdem würde ich es ohnehin bald erfahren, ich musste ja nur fragen – für mich würde er allerdings für immer Thutmo II bleiben, das hatte er von seinen Märchen. »Jede dieser Blasen repräsentiert, wie ihr sicher schon vermutet habt, ein vollständiges, in sich geschlossenes Universum. Was man auf der Präsentation nicht so genau erkennen kann, die Universen berühren sich nicht und kommen sich im Normalfall auch nicht sehr nahe. Sie halten also einen Respektabstand zueinander ein, was auch gut ist, denn Berührungen, Zusammenstöße oder gar Durchdringungen hätten für alle beteiligten Universen ziemlich unangenehme Folgen. Es wäre vergleichbar mit einem gigantischen Erdbeben, welches auf keine Skala dieser Welt passen würde, hätte also eine sehr zerstörerische Wirkung auf alles, was sich innerhalb und in der Nähe dieser Blasen befindet. Nicht selten endet eine solche Berührung mit der Zerstörung aller beteiligten Universen.« »Es kommt also vor, dass sich Universen berühren und zerstört werden?«, fragte Gerak, »ist das die Gefahr, in der wir uns befinden und auf die wir in irgendeiner angemessenen Form reagieren sollen – falls wir es können, ich bezweifle nämlich, dass wir aus heutiger Sicht dazu in der Lage wären?« Thutmo II nickte anerkennend. »Gar nicht mal so schlecht. Allerdings wäre das noch eine vergleichsweise einfache Aufgabe. Und so fantastisch es für euch klingen mag, wir hätten auch die technischen Mittel, um dieses Problem aus der Welt zu schaffen.« Gerak, Ben und ich sahen ihn ungläubig an und antworteten fast wie aus einem Mund: »Wie bitte? Das kann doch nicht dein Ernst sein?« Gerak wollte wieder aufstehen, doch Ben hinderte ihn daran. »Thutmo II, du schwindelst uns doch nicht an?«, sagte ich in einem Tonfall, den nur Mütter beherrschen, die ihre Kinder zurechtweisen wollen, wenn sie etwas angestellt haben. »Ist Universen verschieben wirklich eine Technik, die wir beherrschen?« Ich sah ihm lange in seine Augen, doch konnte ich nicht die kleinste Gefühlsregung erkennen. War er zu einem Zombie geworden?

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Thutmo II lachte laut auf. »Der war gut, Thutmo II gefällt mir, werde mich in Zukunft so nennen. Ihr dürft allerdings Marvin zu mir sagen. Oder einfach Zwilling.« Ben und Gerak blickten fragend in meine Richtung. »Thutmo? Weshalb Thutmo?« »Thutmosis III war einer seiner Zwillingsbrüder, falls ich seine Blicke vorhin richtig gedeutet habe. Also heißt er für mich ab heute Thutmo II«, klärte ich meine beiden ratlos blickenden Begleiter auf. »Thutmosis I war wohl auch einer von deiner Sorte?« Marvin nickte. »Dann hätten wir das auch geklärt, also bitte weiter im Text«, hakte ich dieses kurze Intermezzo mit Marvin ab. »Gar nichts ist geklärt«, entgegnete Ben. »Du glaubst ihm doch die Geschichte mit dem Alter und seiner Herkunft nicht wirklich?« Ich sagte nichts. Meine Mine war wie versteinert, wie eingefroren und hätte jemand in diesem Augenblick die Temperatur meiner Haut gemessen, das Thermometer wäre ob der Kälte wahrscheinlich in Tausende Teile zersprungen. Ben sah meinen entschlossenen Blick und verstand. Gerak wurde blass. Auch mir wurde erst jetzt richtig bewusst, dass unser Problem tatsächlich alle unsere Befürchtungen um viele Größenordnungen übertraf. »Es ist tatsächlich so, wir, oder besser MOX, kann ein Universum verschieben«, versuchte Marvin den verlorenen Vortragsfaden wieder aufzunehmen. Doch daraus wurde vorerst nichts. Wie auf ein Stichwort teilte sich eine der Wände des Konferenzraumes in zwei Teile, die wie zwei Flügeltüren nach draußen schwangen und den Blick auf eine riesige Halle freigaben. Und was dort zum Vorschein kam, machte vorerst alle Bemühungen Marvins zunichte, den Aufbau des Multiversum und die drohende Gefahr, die sich zusammenbraute, zu erläutern. In der Halle schwebte eine riesige grüne Kugel, das Raumschiff, welches die Drei schon auf den Fotos gesehen hatten, das UFO.

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Machtwechsel

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W

ir benötigten ganze drei tage für die 8000 lichtjahre nachhause. der wahnsinnssprung, in einem stück von der erde zum vorposten der d’narga, hatte mir mehr abverlangt, als ich zuerst geglaubt hatte. gleich die erste etappe, die wir auf ishtars drängen auf etwa 100 Lichtjahre verkürzt hatten – sie hatte so etwas wohl schon geahnt – raubte mir all meine kräfte und ich schrammte knapp an einer weiteren bewusstlosigkeit vorbei. der planet, den wir für diese pause ausgesucht hatten, war glücklicherweise ein »klasse m planet21« und ich konnte den raumanzug ablegen und mich für ein paar stunden hinlegen. ishtar versuchte in der zwischenzeit – ich schlief 18 stunden am stück, ohne aufzuwachen – hastor, thot und rham zu erreichen. doch die funkgeräte blieben still. entweder war die sendeleistung zu schwach – was bei den sechsdim-funkgeräten mit großer wahrscheinlichkeit nicht zutraf – oder die drei hörten uns einfach nicht mehr. zu hause angekommen erlebten wir eine überraschung. thot erwartete uns schon und erzählte uns von den d’narga und davon, dass sie, im vergleich zu ishtar, primitive androiden waren, programmiert auf rücksichtslose expansion. doch das war nicht das einzig beunruhigende an der sache, thot berichtete auch, dass sie anscheinend eine urform unserer trifeld-quant-kollektoren besaßen; und das war gar nicht gut. das musste auch der grund für hastors und rhams verschwinden sein, sie waren wahrscheinlich in eine falle geraten und gefangen genommen worden. doch im augenblick konnten wir nichts für die beiden tun. und da wir annehmen mussten, dass die d’narga mit allen mitteln versuchen würden, informationen über ihre herkunft aus ihnen herauszupressen – die d’narga würden dabei sicher nicht auf verbale kommunikationsformen zurückgreifen, um an diese daten zu kommen – war die gefahr für die erde größer denn je. jetzt war es nicht mehr eine frage von jahrzehnten oder jahrhunderten. die d’naga konnten in jeder sekunde über dem planeten erscheinen und die menschheit ausrotten. die erde in ein anderes system zu bringen stand leider nicht zur diskussion. dazu reichte die zeit bei weitem nicht aus. die sintflut hatte 90 % der trifeld-quant-kollektoren und regelkreise zerstört. außerdem fehlten uns ausgebildete navigatoren. anjia, thot, ishtar und ich wären kaum in der lage gewesen, ein so massereiches objekt wie einen planeten aus der umlaufbahn der sonne in ein mindestens 1000 lichtjahre entferntes system zu bringen. kandače und unser »jüngster« zwilling hatten ihre ausbildung zwar gerade erfolgreich abgeschlossen, jedoch waren sie zu unerfahren und in diesem fall wohl mehr belastung als hilfe.

21 »Klasse M ist eine Klasse von Planeten im Star Trek Universum, die sich in der habitablen Zone ihrer Zentralgestirne aufhalten und auf denen humanoides Leben möglich ist.« – Wikipedia: Habitable Zone 25


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daher blieb uns wohl nur eine form der verteidigung und die hieß tarnen und täuschen, sich möglichst unsichtbar machen. doch auch das war ein kaum lösbares unterfangen, wir mussten ja in kürzester zeit irgendwo ein versteck für 40 millionen menschen und die fürs überleben notwendige infrastruktur finden. und versteck hieß nicht irgendwelche höhlen unter der erde, die würde auch ein blinder d’narga mit den ihm zur verfügung stehenden technischen mitteln entdecken, nein es hieß ganz einfach, wir mussten zumindest diesen planeten verlassen und woanders im heimatlichen oder noch besser in einem benachbarten sternensystem einen geeigneten platz finden oder erschaffen. die devise lautete, je weiter von der erde entfernt, umso besser. die d’narga würden mit sicherheit jeden stein im sonnensystem umdrehen, um die spezies mensch zu finden, daher waren – in anbetracht der kurzen zeit, die uns wahrscheinlich für die umsiedlung blieb – nur die planeten im alpha centauri-, procyon- oder sirius-system halbwegs akzeptable alternativen zum mars oder dem mond europa.

1 der d’narga stand immer noch bewegungslos vor dem käfig und schwieg. unzählige versuche, ihn in ein gespräch zu verwickeln oder eine wie auch immer geartete reaktion zu provozieren, waren fehlgeschlagen. hastor versuchte sich aus seiner liegeposition aufzurichten und sich hinzusetzen, was ihm nur mühsam gelang. die schwerkraft hatte kontinuierlich zugenommen und lag mittlerweile bei ungefähr 12g22. es wurde offensichtlich energie aus den schwerkraftgeneratoren in die antriebseinheiten umgeleitet. entweder wollten sie nur energie sparen oder sie hatten zu wenig davon, um die antriebsaggregate mit jener leistung zu versorgen, die nötig war, um das schiff mit maximaler geschwindigkeit zu bewegen. wenn wir die gedanken des d’narga richtig deuteten, dann versuchte er, uns so schnell wie möglich loszuwerden. daher verlangte er dem schiff alles ab, was es hergab. würden wir noch in unseren biologischen körpern stecken, hätten wir jetzt ein großes problem, wahrscheinlich wären wir längst tot. kein mensch, zumindest kein untrainierter, hätte diese belastung länger als ein paar minuten überlebt. »und immer noch dieses belanglose zeug. befehle an seine truppen und daten über die flugroute. aber zwischendurch auch immer diese kurzen emotionalen ausbrüche, kurz, im millisekundenbereich, zu lange für eine maschine! er hat wirklich angst vor uns«, bestätigte ich hastors gedanken. 22 »Die Erdbeschleunigung, auch Erdschwerebeschleunigung oder Erdschwere, ist die Schwerebeschleunigung (auch die Fallbeschleunigung oder der Ortsfaktor) der Erde. Sie gibt an, welcher Beschleunigung eine Probemasse im erdfesten Bezugssystem beim freien Fall im Erdschwerefeld unterliegt. An der Erdoberfläche beträgt ihr Mittelwert g = 9,81 m/s2.« – Wikipedia: Erdbeschleunigung 26


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»wir fliegen tatsächlich auf den heimatplaneten der d’narga. anscheinend haben wir den jackpot geknackt, wir müssen wirklich einflussreiche freunde haben.« hastor nickte. »mich würde interessieren, warum uns dieser d’narga für so wichtig hält, dass er uns geradewegs ins zentrum ihrer macht bringen lässt. gefangene, die ihnen gefährlich werden können, werden ja unseren erfahrungen nach gleich in zentrale sammelstellen gebracht und hingerichtet.« »vielleicht haben sie nach uns gesucht?« ich schüttelte den kopf. »das glaube ich eher nicht. weshalb sollen sie nach uns suchen? wir kennen dieses volk selbst erst seit ein paar jahren und zudem waren wir äußerst vorsichtig, um ihnen ja keine hinweise auf unsere existenz zu geben. trotzdem muss etwas an unserer erscheinung seine programme durcheinandergebracht haben. vielleicht hat er noch nie humanoide gesehen, die aus dem nichts erscheinen?« obwohl den d’narga transporter sicher bekannt sein mussten, waren sie wohl nicht in der lage, jeden beliebigen punkt damit anzusteuern. wahrscheinlich benötigten sie für den transport eine separate sende- und empfangsstelle, wie eben auch die ersten transporter auf marduk nur auf diese weise funktioniert hatten. sie kannten also die technologie, die objekte zerlegte und an einem anderen ort wieder zusammenbaute. daher glaubte ich nicht, dass unser kleiner zaubertrick der auslöser für seine angst war. ein ruck ging durch den androiden. er sah noch einmal in unsere richtung, drehte sich um und verließ den raum. »es tut sich was. kann es sein, dass wir schon zu hause angekommen sind? wäre nicht das schlechteste, schön langsam wird diese reise nämlich langweilig.« hastor sollte recht behalten. kurze zeit später stellten die schwerkraftgeneratoren die normalen beschleunigungswerte wieder her. und noch etwas änderte sich, eine wand des käfigs löste sich auf, zwei d’narga schwebten in unsere zelle. sie waren nicht nur anders gekleidet als unser bewacher – sie waren gar nicht bekleidet – auch in ihrer statur unterschieden sie sich von den uns bekannten angehörigen ihrer rasse. sie waren einfach nur funktionale, fluide roboter in tropfenform, die sich auch so verhielten, wie fallende regentropfen – sie veränderten ihre form vom ellipsoid zur vollkommenen kugel, über deformierte bananen zurück zur tropfenform. und sie waren höflich! während unseres fluges musste sich etwas ganz entscheidendes ereignet haben, wir wurden behandelt, als wären wir die ehrengäste auf einem empfang. eine stimme aus der richtung des größeren tropfens teilte uns mit: »wir entschuldigen uns in aller form für die unannehmlichkeiten, die sie auf dem flug nach d’narga über sich ergehen lassen mussten, der dafür 27


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verantwortliche wurde schon disassembliert und für andere aufgaben aufbereitet und programmiert.« »aufbereitet?«, fragte hastor. »ja, in seine atomaren bestandteile zerlegt, zu neuen komponenten zusammengesetzt und mit entsprechenden aufgaben versehen.« »assembler23 24«, sagte ich zu hastor, »sie besitzen assembler. das wird immer beängstigender. wenn diese technologie ... ich will mir das gar nicht ausmalen.« hastor nickte. »jetzt verstehe ich auch, wie diese albtraumhafte architektur und raumplanung auf den vielen planeten, die wir besucht haben, zustande gekommen ist. abgetragen und neu aufgebaut und das alles wahrscheinlich innerhalb von wochen oder gar tagen.« auf einen unhörbaren befehl hin wurden wir von einer unbekannten kraft hochgehoben und folgten ohne eigenes zutun den beiden robotern. wir schwebten knapp über dem boden – wahrscheinlich passten keine zwei atombreiten zwischen unseren schuhen und der spiegelglatten oberfläche – und wurden durch schlauchartige gänge transportiert. in den räumen und gängen, durch die wir zu einem unbekannten ziel geführt wurden, sahen wir kein einziges eigenständiges objekt, formen flossen ineinander, alles war glatt und schimmerte in einem diffusen hellblauen licht. hastor hatte meine gedanken gelesen und verneinte. ein teil meines bewusstseins hatte kurz die umgebung erkundet und war zum schluss gekommen, dass es hier keine sicherheitsvorkehrungen gab, die eine flucht hätte verhindern können. natürlich hatte auch er dies längst herausgefunden und war daher der meinung, dass wir uns noch ein wenig umsehen sollten, bevor wir das weite suchten. unsere expeditionen ins reich der d’narga hatten ja den sinn, so viel wie möglich über dieses volk zu lernen. und da wir jetzt anscheinend durch einen, im nachhinein betrachtet, glücklichen zufall bis ins zentrum ihrer macht vorgestoßen waren, sollten wir diese gunst des schicksals auch nutzen. ich nickte. wir mussten vor allem auch herausfinden, was es mit den assemblern auf sich hatte. wie weit diese technologie ausgereift war und ob die d’narga die technologie auch bei ihren eroberungsfeldzügen einsetzen. allerdings nahmen wir an, dass sie wussten, welche gefahr von diesen kleinen nützlichen robotern ausgehen konnte, wenn sie in falsche hände gerieten und sie dafür gesorgt hatten, dass dies nicht passieren würde. 23 »In der molekularen Nanotechnologie ist ein Assembler ein hypothetischer Roboter, der einzelne Atome und Moleküle manipuliert. Damit könnten molekulare Strukturen erstellt werden, die nicht in der Natur vorkommen. Der erste Entwurf eines solchen Geräts stammt von Eric Drexler aus dem Jahre 1986, in seinem Buch Engines of Creation. « – Wikipedia: Assembler 24 Free HTML version: Engines of Creation - The Coming Era of Nanotechnology 28


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die tropfen vor uns stoppten und verschwanden gleichzeitig. auch das unsichtbare förderband hielt an. etwas zu abrupt, ich stolperte, fiel beinahe auf die nase. die assembler verrichteten ihre arbeit perfekt. »bitte warten sie einen augenblick, die ›erste einheit‹ wird sie gleich empfangen«, tönte es von irgendwoher. die »erste einheit«, das wird wohl der anführer sein. die wand vor uns verschwand und machte den blick auf einen riesigen saal frei. zwei dinge stachen sofort ins auge: die fehlende glatte sterilität und das diffuse licht. der saal war eigentlich kein saal, erst jetzt fiel uns auf, dass wir in eine riesige kuppel gebracht worden waren, die den blick auf eine bizarre landschaft und einen wolkenlosen blauen himmel freigab. und nicht weit von uns stand eine weibliche gestalt, daneben ein lächelnder junger mann. sein alter war schwer zu schätzen, er mochte 18 oder auch 28 sein. »ist ja klar, dass ihr beide von einem ›anführer‹ sprecht, dass dies auch eine ›anführerin‹ sein könnte, kommt euch natürlich nicht in den sinn.« noch während sie diese worte aussprach, genau genommen hatte sie diese worte nicht ausgesprochen, sie materialisierten direkt in meinem – und wahrscheinlich auch in hastors – gehirn, noch bevor das letzte wort den weg in mein bewusstsein gefunden hatte, wusste ich, wer da vor uns stand. ich schrie laut auf, jubelte, machte einen satz auf sie zu. hastor folgte mir dicht auf. wir umarmten sie, küssten sie, tränen der freude nahmen uns die sicht. es war die erlösung nach einer viele jahrtausende währenden suche, das erwachen aus einem koma. »isu«, stammelte ich nur noch, »isu. wie ist das möglich?« danach verließ mich die kraft, meine knie wurden weich, ich sank auf den boden. isu kniete sich neben mich und streichelte mein gesicht. »das ist eine sehr, sehr lange geschichte, die ich euch erzählen werde, sobald wir auf marduk sind.« »ich muss mich selbst erst daran gewöhnen, dass ich quasi über nacht zur ›herrin‹ über 60 milliarden maschinen geworden bin.« hastor stand wie versteinert da und rührte sich nicht. minuten lang. er schüttelte nur den kopf und konnte es nicht fassen. »nach all den jahren finden wir dich hier, auf dem heimatplaneten unseres vermeintlich größten feindes, und alles löst sich in wohlgefallen auf. du hattest schon immer ein gespür für starke auftritte. und du kannst dir gar nicht vorstellen, wie froh ich darüber bin, dass gerade du hier an diesem unwirklichen ort auftauchst.« »du hast die maschinen doch unter kontrolle?«, fragte er sicherheitshalber noch einmal nach. doch isus blick sagte mehr als alle worte. sie hatte. 29


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2 »es hat alles mit unserem transport der erde angefangen. wir waren auf dem weg zu diesem doppelsternsystem. alles lief planmäßig, rham und ich haben uns gerade über unsere zukunft unterhalten, als ich aus den augenwinkeln einen dunklen wirbel auf uns zukommen sah.« »ja hastor, ich weiß, was du sagen willst, da ›oben‹ hat man keine augenwinkel, doch ihr versteht, was ich meine.« isu schlürfte genüsslich an dem heißen kaffee, den ich ihr in die hand gedrückt hatte. »wisst ihr«, sagte sie, »den soak habe ich in den jahrtausenden am meisten vermisst. ich habe früher zwar nie einen getrunken, doch war es der duft der bohnen, der bittere geschmack auf der zunge, der mir die trennung von meinem universum, meinem planeten, von marduk, der erde, fast unerträglich gemacht hat.« ich sah ihr in die augen. »nur der kaffee?« »ja, nur der soak. und dich hasse ich dafür, dass du mich nach dem zeug süchtig gemacht hast. dein körper verlangt ja ständig nach nachschub und irgendwie hat das ganze auf meinen eigenen körper abgefärbt. es war schrecklich, andauernd auf der suche nach einem ersatz zu sein und nirgendwo fündig zu werden. die hölle, sag ich dir.« sie lächelte. »natürlich habe ich auch dich vermisst. euch alle. es war ziemlich einsam da draußen. aber wenn man die sache genau betrachtet, war es ein glücksfall, eigentlich die einzige möglichkeit, sich einen überblick zu verschaffen, das ausmaß der sich anbahnenden katastrophe in einen entsprechenden kontext zu stellen und letztendlich zu begreifen, dass wir nicht zufällig zu dem geworden sind, was wir sind.« alle nickten zustimmend. sie saßen in einem gebäude auf der erde, das einer pyramide nicht nur ähnelte. genau genommen sie war identisch mit jener, die vor der sintflut genau an diesem platz gestanden hatte. isu, hastor, und rham waren nach dem überraschenden zusammentreffen auf d’narga in eines der raumschiffe gestiegen und geradewegs zur erde geflogen. mit an bord eine kleine aber überaus mächtige, kaum 500 m³ große box, mit der es uns gelang, die infrastruktur auf der erde innerhalb von drei monaten auf den stand der vorsintflutära zu bringen. anjia war höchst erfreut über diese unverhoffte hilfe gewesen. ihre eigene fertigungsanlage, die sie vor jahrhunderten konstruiert hatte, war während der sintflut zerstört worden und lag nun, in kleinste einzelteile zerlegt, im atlantischen ozean unter tausenden tonnen gestein begraben. und für die herstellung einer neuen, ähnlich kompakten anlage, hätte auch sie, 30


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mit ihren hervorragenden kenntnissen und fähigkeiten auf dem gebiet der nanotechnologie, noch jahrzehnte benötigt. die assembler ermöglichten es ihr, alle menschen auf der erde in kürzester zeit mit den dringend benötigten gütern zu versorgen. medizinische geräte, nahrungsmittel, kleider, werkzeuge, häuser, straßen, einfach alles formte sich in kürzester zeit und vor den verblüfften augen der einheimischen wie von zauberhand aus dem nichts. anjia war dadurch endgültig zur mutter göttin aufgestiegen. diesen thron konnte ihr auf der erde bis in alle ewigkeit niemand mehr streitig machen. die d’narga verschwanden beinahe über nacht von der bildfläche, ohne einen hinweis auf ihre existenz zu hinterlassen. man könnte meinen, es hätte sie niemals gegeben. auch die letzten spuren der vermeintlichen zweiten macht, dem ebenbürtigen gegner, den salun, verloren sich irgendwo jenseits der grenzen in den westlichen randregionen ihres einstigen riesigen reiches. die unterdrückten völker waren zunächst misstrauisch, vermuteten sie doch in diesem rückzug eine neue list, ihre loyalität zu prüfen, nach einiger zeit jedoch hoch erfreut über die gewonnene freiheit. bald danach fanden sie sich allerdings in den üblichen scharmützeln um machtansprüche, nachfolgeregelungen und grenzziehungen wieder. doch auch diese sinnlosen tätigkeiten würden bald – im maßstab des universums – ein sicheres ende finden. das würden sie allerdings erst erfahren, wenn sie nichts mehr daran würden ändern können. »sie werden es, wenn der zeitpunkt gekommen ist, wahrscheinlich nicht einmal bemerken, geschweige denn verstehen, was mit ihnen geschieht.« isu erzählte uns, dass d’narga und salun ein und dasselbe volk gewesen waren, nur in unterschiedlichen regionen der galaxie ausgesetzt und groß geworden. allerdings waren sie nie, obwohl sie sich so ähnelten, auf den gedanken gekommen, dass sie zusammengehörten. die programmierung ließ es nicht zu, die befehle waren zu eindeutig gewesen: dieses universum zu säubern und ihrer bestimmung zuzuführen. was für eine fehlinterpretation, könnte man meinen, bis man isus geschichte hörte. sie war auf ihren streifzügen auf einem planeten gelandet, der marduk sehr ähnlich sah. die kontinente, die vegetation, auch die tierwelt schien zum größten teil jener von marduk zu gleichen. doch eines fehlte: die anunnaki und adapa. es war wohl eine der vielen kopien, die es im multiversum gab. sie wollte schon weiterziehen, als ihr einige merkwürdigkeiten auffielen. teile der vegetation verschwanden vor ihren augen und machten leeren, ebenen steinwüsten platz, auf denen sich bald aus dem nichts kleine siedlungen und große städte, flüsse und täler, berge und seen, wälder und wiesen formten, alles einem strikten plan folgend, einem plan, der die natürliche unordnung in eine maschinengerechte ordnung verwandelte. 31


Machtwechsel

»als die ersten humanoiden lebewesen auf dem neu geordneten planeten landeten, wusste ich sofort, womit ich es zu tun hatte: androiden, ausgestattet mit der ultimativen waffe, eine unendliche armada universell einsetzbarer assembler.« »schon der umstand, diese technologie hier anzutreffen, löste bei mir große verwunderung aus, umso überraschter war ich gewesen, als ich erkannte, wer diese künstlichen lebensformen und miniroboter erschaffen hatte: es waren produkte aus den fabriken unserer vorfahren. sie waren frühe vorläufer der ithak-generation. ich konnte sie anhand bestimmter neuronaler verknüpfungen eindeutig als mardukianische erzeugnisse identifizieren. diese künstlichen muster im gehirn, einem fingerabdruck gleich, waren von den erbauern generiert worden, um die eigenen maschinen als solche zu erkennen, falls dies aufgrund von äußeren merkmalen nicht mehr möglich war.« »in den kriegen geschah es immer wieder, dass androiden verloren gingen oder zerstört wurden. tauchten sie später wieder auf und war das gehirn noch einigermaßen intakt, konnte man sie anhand dieser neuronalen fingerabdrücke eindeutig identifizieren oder zumindest bestimmten baureihen zuordnen.« »ich kannte diese muster nur zu gut, hatte ich in meiner ausbildung zum offizier und später auf den kriegsschiffen oft genug mit ihnen zu tun. mehr als einmal hatte ich fast vollständig zerstörte androiden auseinandernehmen, die gehirne an assemblerbatterien ankoppeln müssen und zugesehen, wie diese schritt für schritt zersetzt und neu aufgebaut wurden – die baugruppenmuster haben sich damals unauslöschlich in mein gehirn gebrannt, wie melodien, die vom gewaltsamen tod und der anschließenden wiedergeburt erzählen.« »war ich hier zum ersten mal auf einen hinweis gestoßen, wo das mardukianische imperium zu finden war? war dieses universum das richtige?« »ich bezweifelte dies, die androiden stammten zwar aus mardukianischen fabriken, aber sie waren wahrscheinlich genau so ungewollt in diesem universum gelandet, wie ich.« »trotzdem musste ich der spur nachgehen. vielleicht fand sich ja einen hinweis in den gehirnen dieser maschinen oder in einer datenbank auf einem ihren zentralplaneten.« »da ich viele der geheimen kontrollcodes kannte, die diese maschinen in hilfreiche diener verwandelten, war es nicht schwer einen anwesenden lokalen führer zu ›überreden‹, mich ins zentrum der macht zu bringen. dort fand ich auch nach und nach alle daten, die ich benötigte, um die d’narga und über umwege auch die salun unter meine kontrolle zu bringen. sie sammelten fleißig informationen für mich und folgten ihrer programmierten bestimmung, die ich unterstützte, da ich den tiefer liegenden grund jetzt kannte. allerdings veränderte ich einen teil ihrer programmierung so, dass die androiden, so weit es die umstände erlaubten, von nun an auf jede gewalt verzichteten.« 32


Machtwechsel

»eines tages meldete einer der außenposten eine für ihn furchterregende entdeckung, er hatte zwei dimensionswechsler gefangen genommen. als er mir die bilder übermittelte, konnte ich zuerst kaum glauben, wen er da festgesetzt hatte. ich ließ euch beide natürlich sofort zu mir bringen. allerdings hatte ich vergessen, dem d’narga mitzuteilen, dass ihr gäste seid. wofür ich mich noch mal entschuldigen möchte.« isu grinste. »während ihr mit dem raumschiff auf dem weg zu mir wart, ließ ich meinen geist umherstreifen und fand so auch thot, ithak und deinen zwilling auf diesem planeten. aus ihren gedanken konnte ich herauslesen, dass ihr marduk gerettet – diesmal war es tatsächlich unser richtiger heimatplanet, nicht nur eine kopie, wie ich gleich feststellte – und in eine stabile umlaufbahn um einen stern in der peripherie gebracht habt, ihr allerdings nicht wisst, in welchem universum ihr gelandet seid und schon gar nicht, wo das mardukianische imperium zu finden ist.« »den rest der geschichte kennt ihr ja.« die riesige armee aus androiden hatte sich, so wie es auch von den unterdrückten völkern wahrgenommen worden war, tatsächlich in luft aufgelöst. der großteil war zerlegt worden, 60 milliarden roboter endeten in einer riesigen wolke aus atomen, die einen kleinen stern, nicht so weit von der sonne entfernt, umkreiste. die vielen raumschiffe der d’narga und salun wurden weiträumig in der galaxie verteilt, die waffensysteme von assemblern demontiert, überhaupt wurden alle fortschrittlichen waffen aus dieser galaxie entfernt, was viele raumfahrende völker vor vollendete tatsachen stellte, verloren sie doch von einer sekunde auf die andere ihre hauptargumentationshilfen, um ihre ansprüche auf gerade eroberte gebiete zu untermauern. gleichzeitig entstanden auf vielen planeten, die von den d’narga und salun ausgebeutet worden waren, automatische anlagen, die nahrungsmittel und alle für das überleben notwendigen artikel im überfluss produzierten. zumindest über einen bestimmten zeitraum hinweg, der lange genug war, die größte not zu lindern und kurz genug, um gewieften unternehmern nicht die möglichkeit zu geben, diese produktionsstätten zu ihrem eigenen vorteil zu nutzen. 100 000 androiden warteten auf dem mars auf die reaktivierung. sie waren nur für den fall vorgesehen, dass die erde in näherer zukunft zufällig gefunden und von einem heute noch unbekannten volk angegriffen wurde. die wahrscheinlichkeit für ein solches ereignis war zwar sehr gering, allerdings lehrte uns die unmittelbare vergangenheit, dass man nicht vorsichtig genug sein konnte, was wahrscheinlichkeiten betraf. die assembler-batterie wurde, nachdem sie ihren zweck erfüllt hatte, die arbeit getan war, ebenfalls auf dem mars deponiert. im fall der fälle konnten wir so innerhalb eines tages die schlafende armee aktivieren und mit hilfe der assembler spätestens nach einer woche auf eine million oder mehr kampferprobte roboter zurückgreifen. 33


Machtwechsel

doch zum kampf würde es in diesem universum nicht mehr kommen, die armee würde nur noch für ihre ursprünglichen zwecke, so wie die programmierung es vorgesehen hatte, verwendet werden, für die übersiedlung der völker eines ganzen universums in ein anderes, eigens dafür von uns geschaffenes. isu lehnte sich zurück. »dieser wirbel war so schnell aufgetaucht, dass keine zeit mehr blieb, euch darauf aufmerksam zu machen, dass wir gemeinsam reagieren und eine kurskorrektur hätten vornehmen können. mir blieb nichts anderes übrig, als mich aus dem verband zu lösen, was eine verlagerung der kräfteverteilung im transportfeld zur folge hatte, die frequenz durch die kurzfristige überlastung ein wenig veränderte. sie war gerade groß genug, um dem wirbel auszuweichen.« »dachte ich zumindest.« »es hatte nicht gereicht, die erde war verschwunden, mit dem wirbel kollidiert, bevor ich mich wieder in das feld einklinken konnte.« »jedenfalls glaubte ich das, denn ich konnte euch nicht mehr erreichen. noch mehr als das, es war totenstill, kein einziger gedanke war zu hören. ein gewirr aus millionen von bewusstseinsinhalten mit einem schlag ausgelöscht.« »ihr könnt euch vorstellen, was in diesem augenblick in mir vorgegangen ist, musste ich ja annehmen, die erde und alles leben auf ihr war zerstört worden. ich habe eine halbe ewigkeit gebraucht – im zeitmaßstab eines menschen gerechnet war es auch eine halbe ewigkeit gewesen, in etwa 20 000 jahre – bis ich begriffen hatte, was tatsächlich geschehen war und sich gerade vor meinen augen abspielte.« »der wirbel war keine störung, kein energiestau im sechsdim-gefüge, kein riesiges schwarzes loch, das seine fühler auch in den überraum ausstreckte oder wofür ich es im ersten augenblick auch immer gehalten habe.« »es war alles viel einfacher: dieses gebilde war nichts anderes als ein junges universum, welches sich aufblähte, gerade erst im entstehen war und sich im transzendalraum unseres multiversums als riesige störung im gefüge manifestierte, verwerfungen in raum und zeit bewirkte.« »und die erde mitsamt seinen bewohnern war von diesem verschluckt worden und fortan dort eingeschlossen. der weg zurück in das heimatuniversum war unmöglich geworden, die erde für das mardukianische imperium verloren.« »letztendlich stellte sich heraus, dass auch das nur die halbe wahrheit war.« »die erde war zwar in einem wirbel verschwunden, doch nicht in jenem, dem ich versucht hatte auszuweichen. als ich etwas ruhiger geworden war, sah ich nicht nur einen, sondern dutzende, hunderte, ja beinahe unendlich viele ähnliche objekte. ein verwirrendes muster aus wirbel, knoten und blasen, die sich aufblähten, pulsierten, zusammenfielen und vergingen, sich vor meinen augen auflösten, miteinander kollidie34


Machtwechsel

ren, sich vereinigten und wieder trennten, manifestierte sich in meinem bewusstsein.« »in diesem augenblick war ich verzweifelt, kurz davor aufzugeben und gleichzeitig euphorisch, fühlte mich allmächtig. es war ein schockerlebnis, die erkenntnis in regionen vorgestoßen zu sein, die ich vorher nicht gekannt hatte, von denen ich annahm, dass auch kein anderer mardukianer oder mensch sie bisher je erreicht hatte. eine neue welt hatte sich aufgetan, die alles umfassende, die einzige, die kein trugbild unserer sinne war. etwas, das sich außerhalb der raumzeit und des sechsdimgefüges befand, etwas, das größer war, als alles was ich kannte, alles einschloss, alles erklärte.« »es war eine gewaltige erschütterung meines eigenen universums. alles, was ich bis dahin geglaubt hatte, über die welt, das leben, über uns zu wissen, war mit einem schlag nichts mehr wert. ich sah die wirklichkeit, so wie sie sich bis dahin nur wenigen gezeigt hatte.« isu malte mit ihren händen figuren in die luft. »man kann diese gebilde, diese wirbel und blasen, die seltsam verformten strukturen nur schwer beschreiben.« »ein gehirn, das darauf trainiert ist, allen sinneseindrücken sofort eine form zu geben, einem ihm bekannten gegenstand zuzuordnen, konnte wahrscheinlich nicht anders. es musste die daten, die den weg in meinen visuellen kortex fanden, in mir vertraute bilder übersetzen. doch waren diese objekte nicht real, zumindest nicht in dem sinne, dass vor meinen virtuellen augen wirklich wirbel und blasen einen wilden tanz aufführten.« »man kann sich das ganze gebilde am einfachsten als unendlich großen, spiegelglatten see vorstellen, in dem keine welle zu sehen ist. das wäre der idealzustand dieses kontinuums.« »natürlich ist das nur ein sehr unvollkommenes bild der wirklichkeit. dieser virtuelle see erstreckt sich in die unendlichkeit. und auch das ist keine treffende beschreibung. dieser see ist das unendliche.« wir nickten, versuchten uns das erzählte vorzustellen. »er ist überall. ein anfang oder ende zu suchen wäre sinnlos25. nicht nur, weil er keinen raum in der uns bekannten ausprägung, in den drei dimensionen, einnimmt, sondern auch, weil er keine zeit kennt. nicht nur das, in diesem see gibt es auch keine teilchenähnlichen gebilde, die etwas wie masse, dichte, wärme oder vergleichbare physikalische effekte hervorbringen können. der informationsgehalt dieser struktur ist in diesem zustand gleich oder beinahe null.« »es ist die ganzheit in perfektion, es ist die ›unität‹.« »doch aus irgendwelchen unvorhersehbaren gründen kommt es immer wieder zu störungen in der ›unität‹. bei dem vergleich mit unserem 25 So wie z.B. auch die Suche nach einem Anfang und Ende auf der Oberfläche einer Kugel ziemlich erfolglos bleiben dürfte. Der Unterschied zu dem obigen Beispiel mit unserem virtuellen See besteht jedoch darin, dass eine Kugeloberfläche zwar weder Anfang noch Ende hat, sie aber dennoch nicht unendlich ist. Der See hingegen ist es. 35


Machtwechsel

see könnte das der wind sein, der über die oberfläche streicht und wellen vor sich herschiebt oder kleinere beben, die ihn in bewegung versetzen. diese natürlichen einflüsse legen sich meist bald wieder und der see kehrt schnell wieder in seine ruhelage, jene mit der größtmöglichen gleichförmigkeit und gleichzeitig maximaler unordnung26, zurück.« »oder es wirft jemand einen stein hinein, auch dann gerät er in bewegung und wellen, die unruhe verbreiten, rollen über den see.« »dieser metaphorische stein hat, im gegensatz zu erdbeben oder wind, und jetzt kommt in vielen fällen intelligentes leben ins spiel, keine natürliche ursache, sondern eine künstliche. und wenn wir uns hier auch noch einen steine werfenden menschen vorstellen wollen, der bald dem spieltrieb erliegt, wird er es wahrscheinlich nicht bei einem stein belassen. möglicherweise findet er gefallen daran und wirft dutzende in serie hinein oder er ist teil einer gruppe, deren mitglieder sich gegenseitig im steine werfen überbieten wollen.« »es fallen mehr und mehr und immer größere brocken ins wasser. was dies über kurz oder lang für auswirkungen haben kann, könnt ihr euch sicher bildlich vorstellen. die oberfläche des sees wird bald zu einer brodelnden gischt. die klare und einfache struktur wird zerstört, macht einem gebilde platz, das aus einem zustand relativ stabilen gleichgewichts immer weiter weggedrängt wird und langsam ins chaos27 abdriftet.« »nun ist chaos an sich nichts negatives oder etwas, das unweigerlich in einer katastrophe enden muss.« »eigentlich ist das chaos teil des systems. und gemessen an der unendlichkeit sind diese erscheinungen nur lokale und extrem seltene ereignisse, die kaum ins gewicht fallen. chaos ist einerseits in gewisserweise sogar dafür verantwortlich, dass leben, wie wir es kennen, überhaupt erst entstehen kann28.«

26 Das thermodynamische Gleichgewicht, der Zustand größter Gleichförmigkeit, tritt ein, wenn ein System seine maximale Entropie erreicht hat, was der maximalen Unordnung und Zufälligkeit entspricht (genauer: wenn das System die maximale Anzahl der mikroskopisch möglichen Zustände erreicht hat). Eine Kaffeetasse, die von einem Tisch fällt und in viele Hunderte Scherben zerspringt, ist »unordentlicher« als die intakte Tasse. Dieser Zustand ist aber gleichförmiger, »mehrdeutiger« als vorher, da die zufällig auf dem Boden verteilten Bruchstücke auf viele Arten zusammengesetzt werden können, man in den Einzelteilen nicht unbedingt eine Tasse erkennen muss. Zugegeben, etwas verwirrend, doch wenn dann noch Chaos und Information ins Spiel kommen, wird es noch verwirrender. Versprochen! – Wikipedia:Entropie_(Thermodynamik) 27 Nicht zu verwechseln mit dem Chaos, das bei manchen Zeitgenossen am Schreibtisch oder sonst wo herrscht. Hier ist die Änderung eines Systems über einen Zeitraum gemeint. Wobei auch dies nur eine sehr unzureichende Beschreibung für die Vorgänge in der ›Unität‹ ist, da dort keine Zeit existiert. In der ›Unität‹ ist Chaos gleichzusetzen mit Informationsgewinn und/oder -verlust. – Wikipedia: Chaostheorie 28 Chaos erzeugt/zerstört Information. Im ersten Moment vielleicht nicht einleuchtend, doch wenn man einem System – der ›Unität‹ – Energie in Form von »Steinen« zuführt, ist der Informationsgewinn manchmal ein gewaltiger und entscheidend für die Geburt oder auch Zerstörung eines Universums. 36


Machtwechsel

»doch andererseits haben diese kurzfristigen lokalen erscheinungen für kleine bereiche der ›unität‹, z.b. unserem eigenen universum, geradezu tödliche folgen. und fatalerweise sind wir mitverantwortlich, wenn nicht sogar auslöser des aktuellen durcheinanders.« isu nippte wieder an der kaffeetasse. sie wartete einige augenblicke und beobachtete unsere reaktionen, wartete, bis ihre worte tief genug in unsere gehirne eingedrungen waren und wirkung zeigten. ich neigte meinen kopf zur seite, sah sie an. sie war in den vielen jahren, die seit der gewaltsamen trennung vergangen waren, kaum gealtert. körperlich war das natürlich keine kunst gewesen, sie hatte auf ihren streifzügen durch die universen viele gestalten angenommen, in vielen lebensformen gelebt, um zu überleben und war zuletzt in einen künstlichen körper zurückgekehrt, der ein abbild ihres originalen mardukianischen war. die organische hülle hatte ich vor jahrtausenden sterben lassen und bestattet. nicht, weil ich die hoffnung aufgegeben hatte, isu jemals wiederzusehen, sondern weil unsere technologie so weit fortgeschritten war, dass ich ihr einen künstlichen anbieten konnte, der frei von jeder krankheit und jedem gebrechen und praktisch unsterblich war und den sie auch mit freuden angenommen hatte. auch geistig war sie jung geblieben, immer noch zu späßen aufgelegt, immer noch keine zeichen von müdigkeit, des lebens überdrüssig zu sein. sie war glücklich, wieder hier bei uns, bei mir zu sein, nachhause gefunden zu haben. und ich konnte mir nichts schöneres vorstellen, als die verlorenen jahrtausende in den nächsten 30 000 oder auch 100 000 jahren nachzuholen. doch ihre erzählungen trübten meine hoffnungen, machten einer vagen und vor allem turbulenten zukunftsvision platz. »eigentlich kann ich mich nicht daran erinnern, dass ich irgendeinen bösen geist heraufbeschworen habe, der auslöser für den untergang unseres schönen multiversums sein könnte. gut, ich habe eine sonne zerstört, aber das war eine extremsituation, die mir in zukunft in dieser form hoffentlich erspart bleiben wird. ein universum zerstören ist allerdings ein ganz anderes kaliber und, nun, ich würde mich sicher daran erinnern.« hastor grinste, meine zwillingsbrüder konnten sich ein lachen nicht verkneifen. »schon gut, ihr müsst nichts sagen, ja, ich bin alt, aber meine künstlichen neuronalen netzwerke arbeiten besser denn je. es wäre mir, und auch euch, mit sicherheit nicht entgangen, wenn wir ein universum an den rand des abgrund gebracht hätten. ist doch so, oder?« ithak nickte zustimmend. »wenn ich darüber nachdenke, kann ich mich auch nicht daran erinnern, etwas zum untergang der universen beigetragen zu haben. wie sollen wir das verstehen, dass wir an diesem chaos schuld sind? ich kann mir nur vorstellen, dass dies erst in unserer zukunft geschehen wird. oder meinst du mit ›uns‹ die völker der mardukianer und menschen, 37


Machtwechsel

eventuell alle intelligenten zivilisationen als ganzes?«, fasste sie unsere gedanken zusammen. ich stand auf, ging zu isu, setzte mich neben sie auf die couch. »und das ist wohl der punkt, es gibt keine gegenwart oder zukunft und demzufolge ›uns‹ auch nicht. zumindest nicht in der form, in der wir uns selbst sehen.« »in den 50 000 oder mehr jahren, die ich mit euch verbringen durfte, habe ich viel erlebt, und wenn ich eines gelernt habe, dann das: zeit ist ein ziemlich hinderliches konstrukt, wenn man die großen zusammenhänge innerhalb dieses oder irgendeines universums verstehen und begreifen will.« »daher bleibt wohl nur eine einzige option von den unendlich vielen übrig: eigentlich sitzen und stehen wir gar nicht hier und diskutieren über unsere zukunft oder die eines multiversums, sondern wir glauben es nur.« »wir trinken kaffee und tee und warten darauf, dass uns jemand bei der hand nimmt und uns die wirklichkeit so zeigt, wie sie sich uns selbst gerne präsentieren würde, wenn wir sie verstehen würden.« mein jüngster zeitzwilling, »marvin der dritte«, oder »tri«, meist wurde er allerdings mit »heri« angesprochen – dank seiner vorliebe für fische, speziell für heringe, sardellen und sardinen – der die diskussion mit kandače draußen auf der aussichtsplattform, bei einem glas wein verfolgt hatte, betrat die bibliothek. »und isu wird diejenige sein?« er griff nach einem buch blätterte darin, deutete darauf, machte eine allumfassende handbewegung. »dies alles hier, diese vielen geschichten, die menschen, die sintflut, die freuden und das leid. wir. alles nicht real, nur eingebildet, von der ... wie sagtest du ... ›unität‹ erdacht?« »tut mir leid aber das klingt mir zu sehr nach ausrede, am anfang und ende steht der allmächtige eine, steht gott. mit dieser erklärung konnte ich schon vor meiner transformation zum ›übermenschen‹ nichts anfangen, heute noch viel weniger.« kandače verließ die gemütliche sitzecke auf der plattform und gesellte sich ebenfalls zu uns. sie war zwar die jüngste unter uns, doch ihr aufstieg von einem mädchen aus einer vorsintflutlichen ära zu einer navigatorin war in einem tempo erfolgt, das uns allen respekt abverlangte. sie hatte gezeigt, dass nichts den menschlichen geist, sofern der wille vorhanden war, aufhalten konnte, er jede grenze, die er als solche erkannte, in kürzester zeit auch überschreiten konnte. »ihr habt mir gezeigt, dass ich die götter, an die ich ohnehin nie geglaubt habe, nicht fürchten muss. durch euch bin ich selbst gewissermaßen zu einer göttin geworden. und nun soll das alles falsch sein, das universum doch von göttern geformt werden, die völker darin ihren launen ausgeliefert sein?« 38


Machtwechsel

»mir macht dieser gedanke angst, denn ich habe miterlebt, was schon der glaube an falsche götter bewirken kann. und nun sollen sie tatsächlich existieren?« »nur keine panik«, ergriff isu wieder das wort. »weder hat die ›unität‹ uns erdacht, noch gibt es götter da draußen. und das wisst ihr auch.« »zumindest haben sie alle besseres zu tun, als sich die zeit damit zu vertreiben, menschen zu beobachten und sie mit sinnlosen gesetzen und ritualen zu schikanieren. wenn uns diese sogenannten götter gefährlich werden, dann nur deshalb, weil sie uns bei dem versuch, sich und ihr volk zu retten, in die quere kommen. meist unbeabsichtigt, da sie noch ›jung‹ sind und sich der konsequenzen nicht bewusst sind, die sich aus ihrem tun ergeben.« »doch das kommt nur selten vor, im großen zeitmaßstab gesehen fast nie. denn für gewöhnlich sind diese götter, so wie auch wir, damit beschäftigt, allen lebensformen beizustehen und ihre universen solange vor dem kollaps zu bewahren, bis sie alt genug sind, selbst auf sich aufzupassen.« »doch das gelingt nicht immer.« sie seufzte. »wenn ich ehrlich mit mir selbst bin, sogar sehr selten, fast nie. es ist sogar eher so, dass der großteil der völker, die ein universum überleben, es aus eigener kraft schaffen und wir erst danach von ihrer existenz erfahren. auch uns mardukianern bleibt gar nichts anderes übrig, als zu versuchen, selbstständig irgendwie aus dem schlamassel rauszukommen, das wir uns eingebrockt haben. das einzige problem dabei ist, wir gehören zu den besagten jungen göttern und wir haben schon eine menge schaden angerichtet, den es in zukunft zu vermeiden gilt.« »wir müssen einen weg finden, das chaos, das wir angerichtet haben, rückgängig zu machen und versuchen unsere spezies – menschen und mardukianer sind eine große familie, haben die gleichen vorfahren – irgendwie aus den sterbenden universen in ein sicheres zu bringen. eines, welches wir erst erschaffen müssen. allerdings sollte es dabei nicht gleichzeitig die gesamte ›unität‹ in aufruhr bringen und die ›alten‹ in ihrer ruhe stören, wie es beim letzten versuch geschehen ist, bei dem wir kläglich gescheitert sind.« marvin der zweite, auch »zwei« oder »tik« genannt – die kurzform »tik« leitet sich aus »tigerkiller« ab, was nach einem sehr gefährlichen abenteuer klang, was es aber nicht war. tik tötete, als er in dieses universum geschleudert worden war, versehentlich einen säbelzahntiger. er war bei dem sturz aus dem nichts auf einen solchen gefallen, der tik zwar das leben rettete, dem tiger allerdings das rückgrat brach. es war, entgegen anderslautenden gerüchten, nicht der letzte seiner art gewesen – betrat den raum durch den eingang zum bad. wasser tropfte noch von seinem körper, er hatte das gespräch draußen im kühlenden nass verfolgt. »junge, alte, das klingt sehr nach bekannten mustern in meinem universum, rham und tri werden das sicher bestätigen können. es sind 39


Machtwechsel

nichts weiter als beliebte bausteine in der sf-literatur. wenn dem autor nichts mehr einfällt, greift er gerne auf junge, unerfahrene götter oder gruppierungen welcher art auch immer, die gerade zu göttern werden oder geworden sind, zurück, die sich bewähren müssen und mit der hilfe der ›alten‹ es zuletzt auch irgendwie schaffen.« beide nickten sie zustimmend. »deshalb nehme ich an, dass deine erklärungen nur versuche sind, eine uns unbekannte welt, uns nicht zugängliche orte, in eine form zu bringen, die auch wir begreifen. götter könnte man daher z.b. als physikalische prozesse oder einfach energie in form von photonen, besser gesagt ihre repräsentation als wellen, verstehen?« isu überlegte kurz. »gewissermaßen schon. wenn wir uns in der ›unität‹ bewegen, sind wir nichts anderes – und werden auch also solche wahrgenommen – als wellen, besser noch, wir sind nur noch die auf das wesentliche konzentrierte information, die für die beschreibung unseres zustandes notwendig ist.« »schon als navigator ist man, sobald man sich von seinem körper gelöst hat, nicht mehr teil eines beschränkten dreidimensionalen raumes, in dem die zeit eine so entscheidende rolle spielt – engt ja schon der raum die eigene bewegungsfreiheit ziemlich ein, so verkleinert die zeit den handlungsspielraum noch zusätzlich.« »es ist, als würde man durch einen riesigen dreidimensionalen irrgarten rennen, in dem alle wege, die man gerade beschritten hat, auf nimmerwiedersehen verschwinden. man erinnert sich noch an sie, doch sie sind unwiederbringlich verloren, verschollen im strudel der zeit. es gibt kein zurück, und wege, die vielleicht besser für die eigene zukunft gewesen wären, bleiben unerreichbar.« »als navigator kann man zumindest diesen grenzen kurzfristig entkommen und dieses labyrinth aus raum und zeit als großes ganzes sehen und auch wege erkennen, die man sonst nie zu gesicht bekommen hätte, einfach, weil vielleicht eine kleine metaphorische mauer, ein spiegel oder was immer, die sicht darauf versperrt. trotzdem können wir der zeit nur bedingt entfliehen.« »man ist zwar in der lage, bessere wege zu erkennen und es hilft, fehler zu vermeiden. doch die vergangenheit bleibt in stein gemeißelt.« »die ›unität‹ kennt keine dieser grenzen. denn dort haben begriffe wie raum oder zeit keine bedeutung. veränderungen definieren sich nicht durch die zeit, sondern über den informationsgehalt.« »information ist der schlüssel, wir sind information und auch zeit und raum sind nur schatten der information.« isu nickte. »gut erkannt. kurz und prägnant. im prinzip verhält es sich genau so.« maori war bisher still auf seinem platz gesessen und hatte fasziniert zugehört. für ihn war natürlich alles neu und unglaublich. er wusste 40


Machtwechsel

manchmal nicht, ob er noch träumte oder dies hier vielleicht das leben nach dem tod war – und in gewisserweise war es auch so. da er nicht mehr in seinen alten körper zurückkehren konnte, dieser wartete irgendwo in einem anderen universum vergebens auf seine rückkehr, war er gezwungen gewesen aus eigener kraft und ohne jede ausbildung in ein biologisches rettungsnetzwerk, welches von anjia mithilfe der assembler in größter eile produziert worden war, zu wechseln. da niemand die gehirnstruktur seines originalen körpers kannte, musste anjia sich mehr oder weniger durch intelligentes raten an seine wahrscheinliche struktur annähern. und sie hatte gut geraten. ohne diesen biologischen zwischenspeicher, mehr war dieses gefüge aus vielen billionen zellen nicht gewesen, hätte er den trip nicht überlebt – er musste ja auch so schon, bis dieses gebilde fertiggestellt war, fast drei wochen in warteposition im nirgendwo verharren. ohne körper und mit der permanenten angst, dass er seinen nächsten geburtstag nicht mehr erleben würde. nicht genug damit, danach sah er sich gezwungen, auch diesen rettungsanker zu verlassen – eine mehr oder weniger zusammenhanglose zellmasse lud nicht gerade dazu ein, länger in ihr zu verweilen – und in seinen neuen körper zu springen, den anjia aus seinen erinnerungen anfertigte. eine leistung, die ihresgleichen suchte. maori hatte etwas geschafft, das noch nie jemand vor ihm zuwege gebracht hatte. er war der beste beweis, dass sich etwas in der ›unität‹ veränderte. informationen begannen zu fließen und verwandelten die strukturen bis hinunter auf die atomare ebene und wahrscheinlich noch darüber hinaus; ob im positiven oder negativen sinne, würde sich noch herausstellen. ich lehnte mich zurück. langsam begriff ich, worauf isu hinaus wollte und was es mit der ›unität‹ auf sich hatte. wir waren, so wie wir hier saßen, weder eine ansammlung unzähliger atome, die es im laufe der zeit geschafft hatten – dank selektionsdruck – sich so anzuordnen, dass die summe der teile – lebewesen – miteinander kommunizieren konnten, noch eine form von »intelligenter« energie – manche würden es vielleicht seele, andere bewusstsein nennen – die diesem haufen atome erst leben einhauchte. es war viel einfacher: in der ›unität‹ waren wir abweichungen vom zustand größter gleichförmigkeit. und das machte uns und jedes lebewesen, mit der fähigkeit aus materie und energie ordnung29 zu schaffen, so gefährlich.

29 Ordnung im Sinne von Entropieverringerung, Störung der Gleichförmigkeit – etwa die Tasse im Beispiel weiter oben unter Aufbietung enormer geistiger Energie und eine große Menge an Klebstoff wieder zusammenfügen. 41


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in Wettlauf gegen die Zeit. Genau das war es. Anaxima und seinen Computerexperten war es gelungen, die S0Daten schneller zu entschlüsseln, als es von allen erwartet worden war. Nicht weil der Verschlüsselungsalgorithmus oder die »Kennwörter« zu schwach gewesen waren, das waren sie mit Sicherheit nicht. Der Zugang zu den Datensätzen mit einer Einstufung höher als S0/3 war, wie sich herausstellte, nur Shi Pen gestattet. Dass er unter Verfolgungswahn litt, war allgemein bekannt. Das Merkwürdige daran war aber, dass Shi Pen den sogar aus Expertensicht extrem sicheren Zugangscode mehrmals täglich änderte. Etwas, das nicht nur sinnlos, sondern im Nachhinein betrachtet auch in höchstem Maße dumm und gefährlich gewesen war und unseren Versuchen, diesen Code zu knacken, sehr entgegen kam. Zuerst löste diese dilettantische Vorgehensweise des Schlüsselwechsels nur großes Kopfschütteln bei den Technikern aus, doch als die ersten Datensätze entschlüsselt waren, war das Entsetzen bei uns allen umso größer. Normalerweise wurden Zugangsdaten zu Hochsicherheitsbereichen wie den S0-Daten anhand bestimmter Bioparameter genau an eine Person angepasst und eigens dafür programmierte ID-Chips (IDC), im Prinzip nichts anderes, als kleine Nanoroboter, in die Blutbahn der Zielperson injiziert. Die Roboter verteilen sich entsprechend der Programmierung im Körper und ergeben zusammengenommen ein eindeutiges Muster, einen nicht kompromittierbaren, semiintelligenten Quantenschlüssel. Nun, man könnte einen solchen Geheimnisträger zwingen, sich durch gesicherte Schleusen zu begeben, um so Zugang zu hochsensiblen Bereichen zu erlangen. Doch das funktionierte bei dieser Form von Schlüsseln nicht. Wenn die IDC Abweichungen außerhalb gewisser Toleranzgrenzen von einprogrammierten Aktivitätsmustern im Gehirn, Brutkreislauf, Lymphsystem, im Hautwiderstand, der Herzfrequenz und vielen anderen Parametern erkennt, sogar wenn die Person unter einer Krankheit leidet, deaktiviert sich der Schlüssel und kann erst durch einen »Gesundheitscheck« in der SAE-Zentrale wieder aktiviert werden. Zusätzlich sind noch bewusste Abschaltmechanismen vorgesehen, wie Codewörter, sensitive Punkte am Körper oder Gesten. Daher war es fast unmöglich, dieses System zu knacken und jedem Kriminellen war durchaus bewusst, dass er mit dem Körper eines solchen Geheimnisträgers nichts erreichen konnte. Und auf Erpressungsversuche ließ sich schon lange kein ernst zu nehmender Verbrecher mehr ein, denn das endete ziemlich sicher mit dem Tod des Entführten und fast immer ereilte auch dem Entführer das gleiche Schicksal. Und Shi Pen selbst zu entführen wäre so ziemlich das Dümmste gewesen, das man im Laufe eines mehr oder weniger langen Lebens hätte tun können.

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Doch gerade Shi Pen selbst hatte durch seine regelmäßigen Schlüsseländerungen, die in immer den gleichen, konstanten Zeitintervallen erfolgten, den entscheidenden Hinweis für einen erfolgreichen Angriff auf den Schlüssel geliefert. Die Variationen folgten zwar unbekannten Regeln, die ein Mensch unmöglich hätte erraten können, doch die ausgefeilten statistischen Testprogramme30 unserer Spezialisten schlugen bald Alarm und brachten sich wiederholende Muster ans Tageslicht. Es handelte sich zwar um maschinengenerierte Zufallszahlenfolgen, die für menschliche Begriffe ziemlich lang und kompliziert waren, andererseits war der von Shi Pen eingesetzte Pseudozufallszahlengenerator aus der Sicht heutzutage verwendeter technischer Standards ziemlich primitiv. Die normalerweise für diese Zwecke verwendeten Zahlenfolgen wurden durch quantenmechanische Prozesse erzeugt, Shi Pen benutzte allerdings einen auf Primzahlen basierten Algorithmus, dessen Sicherheit einzig und alleine auf dem Problem der Faktorisierung31 beruhte. Dieses Problem hatten moderne Quantencomputer, die natürlich alle im Besitz der Militärs waren, allerdings längst aus der Welt geschafft. Daher war es umso unverständlicher, dass gerade Shi Pen auf eine solch uralte Berechnungsweise der Zahlenkombinationen zurückgriff, da ja gerade er die Entwicklung dieser Maschinen, hauptsächlich für das Entschlüsseln von geheimen Nachrichten aus Feindesgebiet, vorangetrieben hatte und daher die Schwächen seiner Schlüssel eigentlich hätte erkennen müssen. Doch die erste Euphorie über diesen Anfängerfehler, anders konnte man es nicht nennen, verflog rasch, als die ersten S0-Daten im Klartext auf den Monitoren erschienen und sichtbar machten, was absolut niemand für möglich gehalten hatte. »Er ist also eine Maschine?«, wiederholte Re nun wohl schon zum zehnten Mal seine Frage, als hoffte er, wenn er nur oft genug fragte, würde er schon irgendwann die für ihn richtige Antwort bekommen. Anaxima nickte nur. Ihm fehlten, wie den meisten, die im Konferenzraum anwesend waren, die Worte. Er war blass, seine Hände zitterten. Die Stimmung konnte wahrscheinlich nicht einmal am Tage des offiziellen Weltuntergangs schlechter sein. Vielleicht deshalb nicht, weil der Tag heute gekommen war. »Und er kommt woher?«, fragte Sandra zum dritten oder vierten Mal. 30 Cryptographic Toolkit. Guide to the Statistical Tests – http://csrc.nist.gov/groups/ST/ toolkit/rng/stats_tests.html 31 »Das Faktorisierungsproblem für ganze Zahlen ist eine Aufgabenstellung aus dem mathematischen Teilgebiet der Zahlentheorie. Dabei soll zu einer zusammengesetzten Zahl ein nichttrivialer Teiler ermittelt werden. Ist beispielsweise die Zahl 91 gegeben, so sucht man eine Zahl wie 7, die 91 teilt. Entsprechende Algorithmen, die dies bewerkstelligen, bezeichnet man als Faktorisierungsverfahren. Durch rekursive Anwendung von Faktorisierungsverfahren in Kombination mit Primzahltests kann die Primfaktorzerlegung einer ganzen Zahl berechnet werden. Bis heute (2010) ist kein Faktorisierungsverfahren bekannt, das nichttriviale Teiler und damit die Primfaktorzerlegung einer Zahl effizient berechnet. Das bedeutet, dass ein enormer Rechenaufwand notwendig ist, um eine Zahl mit mehreren hundert Stellen zu faktorisieren. Diese Schwierigkeit wird in der Kryptografie ausgenutzt.« – Wikipedia: Faktorisierungsverfahren 43


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»Woher kann ich nicht genau sagen, nur soviel: Er ist vor vielen Tausenden von Jahren auf der Erde gelandet und bis vor ein paar Hundert Jahren außer Betrieb gewesen. Was ihn aktiviert hat, darüber können wir im Augenblick nur Vermutungen anstellen. Entweder eine ›Lazarusschaltung‹, die auf vorprogrammierte äußere Ereignisse reagiert und etwas registriert hat, das es notwendig machte, den Roboter zu aktivieren. Oder einfach eine Schlafschaltung, die einem Zeitplan folgend die Maschine, vielleicht alle 100 Jahre, einschaltet.« »Egal was es war, es kam zum falschen Zeitpunkt.« Ed legt seine beiden Laserwaffen und das Maschinengewehr auf den Kartenprojektionstisch und setzte sich in einen Hydrosessel neben Sandra. Seit er wusste, mit wem wir es zu tun hatten, ließ er seine Waffen nicht mehr aus den Augen, hatte sie ständig griffbereit. Und es gab keine Zweifel, dass er bei der ersten Begegnung mit Shi Pen von ihnen Gebrauch machen würde. Jetzt ist alles auf einmal so klar, alles so logisch. Jemand der aus der Wüste kommt, jede mögliche Folter mit stoischer Ruhe erträgt und alle seine Pläne ohne Rücksicht auf Verluste in die Tat umsetzt und auch sein erklärtes Ziel, die vollständige Unterwerfung der Menschheit, erreichen wird, wenn nicht noch ein Wunder geschieht. »Sandra hat es ja geahnt. Aber dass du damit wirklich zu 100 % ins Schwarze triffst, hat niemand wissen können.« Sie nickte. »Leider. Ich hätte ihn bei unserer ersten Begegnung erschießen sollen. Er hat nicht mal gezuckt, als ich ihm damals in der West-Wüste die Waffe an die Stirn gesetzt habe. Das perfekte Opfer. Und ich habe ihn laufen lassen, weil ich dachte, er wäre einer von uns, ein Flüchtling, ein Deserteur. Seine toten Augen, kein Funkeln, nichts. Wie ein Roboter.« »Du kannst nichts dafür. Die ganze Zeit über hat niemand Verdacht geschöpft. Er hat seine Rolle meisterhaft gespielt.« »Ja Ed, ich weiß. Trotzdem. Vieles wäre anders verlaufen und wir hätten den einen Diktator längst durch einen anderen ersetzt. Durch einen, dem es nur um Macht und Reichtum geht und nicht um die völlige Unterwerfung und Versklavung der Menschheit. Jetzt müssen wir sehen, wie wir diesen Wahnsinnigen doch noch stoppen können. Viele Alternativen haben wir nicht mehr.« Re sah gedankenverloren die wirren Muster auf dem Hauptmonitor an, eine grafische Aufbereitung des Verlaufs und Fortschritts der Entschlüsselungsaktivitäten der KI. Eine für Laien kaum interpretierbare Datenflut. Die Techniker starrten allerdings konzentriert auf die vielen Projektionen und teilten ihrer Umgebung durch Flüche und, viel seltener, Triumphgeschrei, die gerade vorherrschende Stimmung mit. »Ich sehe eigentlich nur eine: Wir sind vor Shi Pen auf dem Mars und können die Armee dort irgendwie davon überzeugen, dass nicht wir die Bösen sind.« 44


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Als ob die Informationen, die wir den Daten entnehmen konnten, nicht schon schlimm genug wären, schockierte uns Anaxima mit der Nächsten. »Und genau darin liegt das Problem. Er weiß jetzt, dass wir sein Geheimnis kennen. Ich nehme an, dass ein Signal zu dem Zeitpunkt ausgelöst wurde, als der Anmeldevorgang zum ersten Mal erfolgreich war. Also heute Nacht um 03:55. Und er hat augenblicklich seine Strategie geändert und ist zum Frontalangriff übergegangen.« Anaxima wählte einen Datensatz auf dem Projektionsschirm aus, der Computer zeigte daraufhin ein dreidimensionales Satellitenbild, auf dem die Staatsgebiete des Mitsuhunda- und des Sonji-Imperiums zu sehen waren. Grenzen, Städtenamen und verschiedenfarbige Markierungen und Texte waren dem Bild überlagert. »Shi Pen hat seine Truppen zusammengezogen und das Sonji-Imperium überfallen. Wie es seine Art ist, geht er dabei ziemlich brutal vor. Ohne Rücksicht auf Verluste. Niemand ist jetzt mehr sicher, weder die Zivilbevölkerung, noch die Truppen, weder die eigenen noch die des Feindes. Es sieht so aus, als haben wir mit unserem Einbruch gerade einen Weltkrieg ausgelöst. Zumindest lässt er es über alle Kanäle verlautbaren.« »Sein erklärtes Ziel ist mit Sicherheit die Annexion der prähistorischen Bibliotheken. Nur so kann er das Netzwerk aktivieren und infolgedessen die Position der Raumschiffe herausfinden und sie in seine Gewalt bringen.« »Nuklearwaffen? Er setzt die Nuklearwaffen ein?« Anaxima nickte. Man sah Ricoh an, und nicht nur ihm, dass er um seine Fassung rang. »Das hätte ich in meinen schlimmsten Albträumen nicht erwartet, nicht einmal von diesem Tyrannen. Warum Atomwaffen? Es gibt doch viel effektivere Waffen und vor allem sind das welche, die nicht ganze Landstriche verseuchen und für Jahrzehnte unbewohnbar machen.« »Natürlich. Doch Shi Pen hat nichts zu verlieren und er ist ein Roboter, seine Denkweise ist eine andere. Er setzt auf die abschreckende Wirkung dieses barbarischen Überfalls. Und Atomwaffen sind eben das beste Mittel um Angst und Schrecken zu verbreiten.« »Die Hauptstadt und die vier größten Metropolen der Sonjis wurden ausradiert. Dort hat garantiert niemand mit diesem massiven Erstschlag gerechnet. Ich nehme an, dass es nur wenige Überlebende gibt. Und sobald er die Sonjis und die ›Nationale Einheit‹ besiegt hat, wird der Rest sehr schnell kapitulieren.« »Und danach wird mit Sicherheit auch das Gebäude, in dem wir sitzen, im schlimmsten Fall gleich der ganze umliegende Distrikt, dem Erdboden gleichgemacht.« »Falls er solange warten wird«, setzte Anath hinzu, die zur Überraschung aller den Raum betrat. 45


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»Du hier? Ist es wirklich so schlimm?«, sprach Re die Frage aus, die wohl alle gestellt hätten, wäre er nicht schneller als sie gewesen. »Ja, ich bin hier. Ich musste meine Zelte abbrechen, als ich von seinen Plänen erfuhr. Und ich konnte dir davon nichts erzählen, da ich es bis vor ein paar Stunden selbst noch nicht wusste.« »Und es ist ziemlich übel. Nadina wird die Psychobombe einsetzen, sobald sie wieder einsatzbereit ist und damit alle Gehirne im Umkreis von 10 km grillen.« »Die P-Bombe wurde zwar noch nie bei einem Einsatz in freier Wildbahn getestet, man weiß weder, wie groß ihr Aktionsradius ist, noch welchen Schaden sie anrichten wird. Doch Nadina hat ja jetzt nicht mehr vor, uns nur willenlos zu machen, sondern sie will uns nur noch irgendwie ausschalten, ohne gleich den gesamten Stadtteil in die Luft sprengen zu müssen.« Re schüttelte den Kopf. »Es scheint, als hätten wir heute die Büchse der Pandora32 nicht nur geöffnet, sondern auch gleich in einem Zug ausgesoffen. Wir sind also Toast oder hast du eine kleine Wunderlampe in deinem Rucksack und wir dürfen uns was wünschen?« »Ja und nein. Die gute Nachricht, ich konnte vor meinem Abgang die derzeit einzige einsatzbereite P-Bombe und auch gleich den gesamten Gebäudekomplex, in dem sie gebaut wird, mit ein bisschen altmodischem Sprengstoff vernichten. Falls wir uns noch mit irgendwelchen unvorhergesehenen Problemen auseinandersetzen müssen, würde uns das im Prinzip ungefähr zwei weitere Wochen Luft verschaffen.« »Doch bei Shi Pen weiß man nie so genau, wann ihm der Kragen platzt. Kann sein, dass er nicht auf die Herstellung einer neuen Bombe warten will und uns schon in den nächsten Minuten mit einer kleinen N-Bombe33 ins Jenseits schickt.« »Daher wäre es ratsam, so schnell wie möglich den Rückzug anzutreten.« Re löste sich aus dem Hydrosessel, in dem er es sich bequem gemacht hatte, ging zu Anath und umarmte sie. 32 »Mit dem Öffnen der Büchse der Pandora brach nach der griechischen Mythologie alles Schlechte über die Welt herein, doch sie brachte auch die Hoffnung. Diese Büchse war eine Beigabe Zeus’ an Pandora, eine von Hephaistos auf Weisung von Zeus erschaffene Frau (als Teil der Strafe für die Menschheit wegen des durch Prometheus gestohlenen Feuers), welche den Titanen Epimetheus (Bruder des Prometheus) ehelichte. Zeus wies Pandora an, die Büchse den Menschen zu schenken und ihnen mitzuteilen, dass sie sie unter keinen Umständen öffnen dürften, doch von Neugier übermannt ließen die Menschen die Büchse trotzdem öffnen.« – Wikipedia: Büchse der Pandora 33 »Die Neutronenwaffe gilt als taktische Waffe, die Menschen und andere Lebewesen durch Strahlung töten, aber Gebäude weitgehend intakt lassen soll. Die höhere Tödlichkeit bei geringeren strukturellen Schäden ist aber nur relativ zu anderen Kernwaffen zu verstehen. So werden auch bei einer Neutronenbombe noch rund 30 Prozent der Energie als Druckwelle und weitere 20 Prozent als thermische Strahlung abgegeben (bei Atomwaffen herkömmlicher Bauart liegen diese Werte bei etwa 50 Prozent und 35 Prozent). Eine Neutronenwaffe wäre etwa mit der Sprengkraft der Bombe von Hiroshima oder Nagasaki denkbar, allerdings mit weit erhöhten Strahlungsdosen.« – Wikipedia: Neutronenwaffe 46


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»Schön dich zu sehen und es ist auch schön, wenn man seine Todesart wählen kann. Ich bin für die N-Bombe, da kenne ich die Wirkung, kurz und schmerzlos. Aber vorher möchte ich mir noch deinen Plan anhören. Du hast doch einen? Oder hast du dein schönes SAE Luxusappartement nur verlassen, weil die Sehnsucht nach mir zu groß geworden ist?« »Shi Pen hat irgendwie von meinen Kontakten zu euch erfahren. Da ich der SAE angehöre und auch sonst ein vorsichtiger Mensch bin, konnte ich rechtzeitig verschwinden. Und mein Plan, wenn man ihn so nennen will, eigentlich ist es ein möglichst geordneter Rückzug, ist die einzige Alternative zum bevorstehenden Weltuntergang. Was ihr noch nicht wisst, nicht wissen könnt, Shi Pen ist nicht mehr unser größtes Problem. Im Gegenteil, er ist für uns keines mehr und auch er ahnt nicht, was da auf ihn, auf uns zukommt.« »Und deshalb bin ich hier: Denn all jene, die nicht in spätestens 32 Stunden in der Sicherheitszone auf dem Mars sind, kann nichts mehr retten. Allerdings wäre es ratsam, nicht so lange zu warten und am besten sofort die Flucht zu ergreifen.« Die fragenden Blicke der Rebellen sprachen Bände. »Wie meinst du das? Sicherheitszone? Mars?« »Nun ...«, Anath zögerte, »... vor ein paar Stunden ist genau jener Fall eingetreten, von dem wir hofften, dass es noch mindestens einige Jahrtausende dauern würde, bis es soweit ist.« »Um es einfach zu machen, ich bin eine Mandira. Ich habe das Wissen und die Möglichkeiten euch alle und auch eure Familien und Freunde von hier wegzuschaffen. Allerdings bleibt mir nicht die Zeit, euch über das WIE aufzuklären. Wir müssen JETZT handeln, jede Sekunde zählt. Sobald wir in Sicherheit sind, werde ich versuchen, euch das alles begreiflich zu machen.« »Mandira? Du bist eine ...«, Re sah sie ungläubig an. »Mandiras ..., sind doch eine Legende ... Wie um alles in der Welt ...« Es war still im Saal geworden. Niemand sagte einen Ton, kein Geräusch war zu hören. Ich hatte nicht erwartet, dass alleine das ausgesprochene Wort »Mandira« eine solche Wirkung haben konnte. Es war, als würden sogar die Luftmoleküle die Luft anhalten und für Sekunden bewegungslos verharren. Was wird erst geschehen, wenn sie die ganze Palette der Machtfülle einer »Mandira« kennen? Werden sie danach jemals wieder ihren eigenen Fähigkeiten vertrauen und ihr zukünftiges Leben selbst gestalten oder ihr Schicksal zur Gänze in die Hände der beinahe allmächtigen Mandiras, dieser gottähnlichen Wesen legen? Ich hoffte, dass die anwesenden Menschen intelligent genug waren, um zu sehen, dass sich die Mandiras nur einer überlegenen Technik bedienten und nicht Zauberei sie rettete. Doch ihre Familien, Freunde, alle, die sich plötzlich und ohne Vorwarnung an einem für sie unbekannten Ort wiederfinden würden. War es für sie nicht Zauberei? 47


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Darum musste ich mich später kümmern und ich ahnte jetzt schon, dass dies keine einfache Aufgabe werden würde. »Ich sagte schon, ich habe keine Zeit für Erklärungen. Ihr müsst einfach nur tun, was ich euch sage. Dann stehen die Chancen gut, dass ihr überleben werdet. Natürlich verstehe ich eure Bedenken. Einer SAE vertrauen, sich ihr zu hundert Prozent unterwerfen würde euch normalerweise nicht im Traum einfallen.« »Doch Re vertraut mir.« Ich sah Re an. Er nickte. »Wenn ihr schon mir nicht folgen wollt, dann folgt bitte Re. Doch bitte entscheidet euch rasch. In zwei Stunden komme ich wieder, dann möchte ich eine Entscheidung von euch. Und egal wie sie ausfällt, ich werde sie akzeptieren. Allerdings würde ich euch nicht gerne beim Sterben zusehen wollen.« Ich ging zur Tür und wusste jetzt schon, wie diese Wahl ausfallen würde. Trotzdem verließ ich den Raum. Es durfte nicht der leiseste Verdacht aufkommen, ich würde sie manipulieren. Doch was blieb mir anderes übrig, als es zu tun, sie dazu zu bringen, das Richtige zu tun und das möglichst schnell. Uns blieb nicht viel Zeit. Gut, wir konnten sie einfach gegen ihren Willen abtransportieren, doch das wäre kontraproduktiv und logistisch viel aufwendiger. Für unsere Ziele wäre es außerdem von großem Vorteil, wenn die Menschen weiterhin an ihren freien Willen glaubten, wir sie davon überzeugen können, sie selbst hätten die Entscheidung getroffen. Wenigstens so lange, bis unser Plan keine Möglichkeit der Rückkehr mehr offen ließ. Und dieser Zeitpunkt war gekommen, sobald wir den Mars betreten hatten.

1 Um 03:55 hatten die Rebellen den Zugriff zu den gesicherten Datensätzen erlangt, keine zwei Sekunden später wusste auch Shi Pen von dem geglückten Einbruch. Er hatte sie wieder unterschätzt. Zum wiederholten Male. Jetzt wussten sie, wer er war und welche Ziele er verfolgte. Daher musste er handeln. Schnell und kompromisslos. Entweder er oder sie. Und es bestand kein Zweifel darin, dass er es sein würde, der am Ende siegen würde. Nadina erschien zwei Minuten, nachdem er den gesamten Militärapparat in höchste Alarmbereitschaft versetzt hatte, im mehrfach gesicherten Besprechungsraum neben der Zentrale. Nach und nach erschienen auch die restlichen Offiziere. Anath war nicht auffindbar, doch bisher lief alles genau nach Plan, also musste er sich keine Sorgen machen. Und am Ende würden ein jeder die gerechte Strafe oder, viel seltener, Belohnung bekommen, die für ihn vorgesehen war. 48


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Auf Nadina und die anderen Offiziere konnte er jetzt verzichten, in spätestens 24 Stunden würde er über die schlagkräftigste Armee verfügen, die diese Welt jemals gesehen hatte. Er wollte nur ihre blassen Gesichter sehen, wenn er verkündete, dass er in wenigen Minuten das Sonji-Imperium und die Nationale Einheit angreifen und ihre Städte mit Atomsprengköpfen der letzten Generation ausradieren würde. Dies sollte der Abschreckung für alle anderen Imperien dienen, die sich ihm entweder bedingungslos unterwarfen oder ebenso zerstört werden würden. Und vor allem wollte er in ihre vor Entsetzen geweiteten, ungläubig dreinblickenden Augen sehen, wenn er ihnen erklären würde, dass er keine wie auch immer gearteten Verteidigungsmaßnahmen ergreifen würde, um die voraussehbaren Vergeltungsschläge abzuwehren. Und zuletzt noch ihre Panik, wenn sie begriffen, dass er in Zukunft ihre Dienste nicht mehr in Anspruch nehmen würde und sie mit ihrem schnellen und für sie überraschenden Tod konfrontiert werden würden. Nachdem er ihnen diese Neuigkeiten mitgeteilt hatte, verließ er den Raum, schloss die meterdicke Stahltüre, was niemanden auffiel, da sie wie versteinert in ihren Sesseln saßen, und ihre Umgebung wie durch einen dicken Eispanzer, nur noch als gebrochene Realität wahrnahmen. Er wartete noch zwei Minuten, bis er auf den Monitoren sehen konnte, dass sie nun wussten, was gleich mit ihnen geschehen würde. Ein dumpfer Knall und ein kurzes Vibrieren verkündeten zum einen das Ende der Offiziere und zum anderen den Beginn eines neuen Zeitalters. Er setzte sich in einen der Kommandosessel, ließ die Echtzeitbilder der Minisatelliten und Waffen direkt in seinen virtuellen Kortex fließen, aktivierte die Befehlsfolge der Startsequenzen der ferngesteuerten Bomber und sah zu, wie diese in den Himmel aufstiegen und Kurs auf das SonjiImperium und die Nationale Einheit nahmen. Gleichzeitig wies er die Truppen in Mitsuhunda an, alle Zivilisten in ihre Unterkünfte zu treiben und einen jeden, der sich weigerte oder nach 06:00 noch auf der Straße anzutreffen war, sofort und ohne Vorwarnung zu erschießen. Zudem ließ er über alle Kanäle verlautbaren, dass es den Rebellen soeben gelungen sei, die atomaren Angriffseinheiten zu aktivieren und sie ins verfeindete Sonji-Imperium zu lenken. Da mit einem massiven Vergeltungsschlag zu rechnen sei, müsse die Bevölkerung, zum eigenen Schutz und um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, den Befehlen der Truppen umgehend Folge leisten. Jeder Widerstand würde als Angriff auf die Regierung gewertet und sofort und nach den Gesetzen des ab 06:00, aufgrund besonderer Umstände, in Kraft tretenden Kriegsrechts entsprechend geahndet. Ferngesteuerte Drohnen flogen wenige Meter über dem Boden in Richtung Feindesgebiet. Sie sollten die tief gestaffelten Befestigungen an der Grenze durchbrechen, elektronische Sperren irritieren und nach Möglichkeit ausschalten und so einen erweiterten Handlungsspielraum für die gepanzerten Bodentruppen schaffen. Er gab sich nicht der Illusion hin, dass diese Maßnahmen auch nur annähernd ausreichend wären, 49


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um die Grenzen der Sonji für die eigenen Truppen zu öffnen. Sie reichten nicht einmal aus, die Streitmacht der Sonji zu irritieren. Doch das war auch nicht sein Ziel. Er wollte nur eines erreichen: Die feindlichen Lager durch massiven Beschuss und unter Einsatz aller Kräfte über sein eigentliches Ziel im Unklaren zu lassen. Er musste das elektronische Netzwerk zwischen den Bibliotheken für einen kurzen Augenblick in seine Gewalt bringen, es aktivieren und die Codes übermitteln. Eine Sekunde würde ausreichen und er wäre am Ziel. Dann könnte er endlich Kontakt zum Schiff aufnehmen und er hätte gesiegt. Von dieser einen Sekunde hing die Zukunft der Menschheit ab. Und um diese eine Sekunde kämpfte er mit allen Mitteln. Egal wie viele Menschenleben dieser Angriff kosten würde, diese Sekunde des Triumphs würde ihm niemand nehmen.

2 Um 03:55 meldeten die Computer einen Volltreffer. Der Zugang zu den S0-Daten lag offen vor den Technikern. Binnen Minuten waren alle Rebellen im Regierungspalast auf den Beinen, strömten nacheinander in den Konferenzraum. Nur vier Minuten später saßen alle auf ihren Plätzen und harrten der Dinge, warteten darauf, dass Anaxima endlich anfing zu sprechen. Und es dauerte nur weitere zwei Minuten, bis die Erste von vielen Informations-Schockwellen in dieser Nacht sich den Weg durch die Reihen der Rebellen bahnte: Shi Pen war kein Mensch. Er war eine künstliche Lebensform, ein hoch entwickelter Roboter. Alle Fragen nach dem »Woher?« blieben unbeantwortet, auch auf die Frage, wie alt er war, reagierte Anaxima nur mit einem Schulterzucken. Doch dies war längst noch nicht alles. Seine »Mission« war es, die Menschheit zu unterwerfen, zu versklaven und in das Imperium zurückzuführen. War schon die Nachricht, dass Shi Pen ein Roboter war, wie eine Bombe eingeschlagen und hatte große Aufregung unter den Rebellen ausgelöst, so waren sie jetzt kaum mehr zu bändigen. Ein außerirdischer Roboter wollte die Menschheit unterwerfen und in ein intergalaktisches Reich einfügen. Nicht einmal der größte Spinner unter ihnen hätte sich auch unter massivem Alkohol- und Drogeneinfluss eine so abstruse, hirnverbrannte Begründung für die Vorgänge, die sich in den letzten Jahren rund um Shi Pen ereignet hatten, auch nur im Ansatz ausdenken können. Die Durchquerung der Wüste, ohne von den Detektoren oder den Grenzpatrouillen aufgespürt zu werden, die Schmerzunempfindlichkeit, die Skrupellosigkeit, die ungeheure Gedächtnisleistung, die bestechende Logik, die unheimliche Übersicht im größten Kampfgetümmel. Alles kein Problem für einen Roboter aus dem Weltall! 50


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Doch das war noch nicht alles. Anaxima hatte noch weitere Neuigkeiten, die sich noch unglaublicher anhörten. Da waren riesige Datensätze, die sich mit dem Mars beschäftigten und die, im wahrsten Sinne des Wortes, hochbrisante Details enthielten. Shi Pen war nicht alleine. Eine riesige Androidenarmee wartete auf dem Mars auf den Einsatzbefehl. 100 000 tödliche Roboter. Und damit nicht genug. Auch eine Fabrik aus sogenannten »Assemblern« wartete dort oben auf den Einsatz. Shi Pen musste nur Zugriff auf das Netzwerk der Bibliotheken erlangen und eine Befehlssequenz ins All jagen, schon würde ihn ein Raumschiff abholen, welches da draußen, irgendwo im Sonnensystem, wahrscheinlich seit Jahrzehntausenden, mindestens aber seit 30 000 Jahren, auf die Reaktivierung wartete. Alle diese Daten konnte man in einem Satz zusammenfassen: »Die Lage war hoffnungslos.« Shi Pen würde siegen, falls nicht noch ein Wunder geschah. Und es geschah tatsächlich ein Wunder. Als wären diese Informationen nicht Grund genug, den Glauben an den eigenen Verstand zu verlieren, Anath würde dies alles noch um eine Größenordnung überbieten.

3 Ich betrat exakt zwei Stunden nach meiner Enthüllung, eine Mandira zu sein, den Konferenzraum. Die Gespräche verstummten augenblicklich. »Habt ihr euch entschieden?«, frage ich ohne Umschweife. »Wir müssen los. Shi Pen hat vor zehn Minuten die antike Sendeanlage der Mardukianer für einen kurzen Augenblick, lange genug für seine Zwecke, in seine Gewalt gebracht und die Steuersequenzen gesendet.« Die Nadir wird in spätestens 15 Minuten auf dem Dach der Militärzentrale landen und danach geradewegs zum Mars fliegen. Was danach geschieht, könnt ihr euch wohl denken. Um euren brennendsten Fragen zuvorzukommen, die Mardukianer waren das Volk, welches einst diesen Planeten besiedelte und den Menschen dabei half, ein paar der größten Katastrophen zu überstehen und die »Nadir« ist ein weltraumtauglicher Raumgleiter. »Ja, wir haben uns für deinen Plan entschieden, wie auch immer er im Detail aussehen mag. Uns bleibt auch nichts anderes übrig, weil uns schlicht und ergreifend keine Alternativen mehr einfallen wollen. Nach all den Jahren, die wir im Kampf verbracht haben und uns immer irgendwie zu helfen wussten, ist jetzt der Augenblick gekommen, da wir uns unsere Rat- und Hilflosigkeit eingestehen müssen«, antwortete Anaxima stellvertretend für alle Anwesenden. »Doch wie geht es jetzt weiter, da Shi Pen die Kontrolle übernommen hat? Es herrscht ein unvorstellbares Chaos auf der Erde. Jeder ist mit jedem im Krieg und es werden anscheinend alle vorhandenen Angriffs51


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waffen eingesetzt. Geht es in dieser Tonart weiter, dann ist morgen nichts mehr übrig von unserer hochtechnisierten Menschheit. Dann müssen wir von vorne beginnen.« »Mit Feuerstein und Steinaxt.34« Ich ahnte, was in ihnen vorging, doch ich hatte keine Zeit, ihnen langsam und behutsam zu erklären, dass es keinen Unterschied machte, ob sie sich schon heute selbst in die Luft sprengten oder es erst morgen schafften. Dieses Universum war jetzt nicht mehr zu retten, es war tot. Daher mussten die vorhandenen 30 Stunden reichen, um zumindest einen Teil der Erdbevölkerung in Sicherheit zu bringen. Doch wie sollte ich ihnen das begreiflich machen? Daher ließ ich es sein und handelte. »Wenn ihr einverstanden seid, dann verlassen wir jetzt das sinkende Schiff. Erklärungen folgen später.« Re und Anaxima nickten. Alle im Raum stimmten auf ähnliche Weise zu, durch Nicken, Schweigen, gesenkte Blicke. Zwei Sekunden später fanden sie sich auf dem Mars wieder. Auf dem Flachdach einer riesigen Plattform. Die Überraschung war auf meiner Seite und die Aufregung dementsprechend groß. »Was ist passiert?«, war die erste Frage von vielen, die Re mir stellte. »Gleich mein Schatz. Zuerst müssen wir unseren Wespenschwarm etwas beruhigen. Danach werde ich eine kleine Ansprache halten. Hilfst du mir?« Er nickte. »Wo sollen wir lang und wo sind unsere Waffen?« »Alle, die hier oben stehen, sollen einfach durch die großen Eingänge hinter uns, dann nach rechts gehen. Ich kenne euch als Improvisationstalente, daher bin ich mir sicher, dass ihr alle für euch notwendigen Räumlichkeiten und zum Leben notwendigen Utensilien selbst finden werdet.« »Um die vielen Menschen unten werde ich mich gleich persönlich kümmern. Die dürften noch um einiges verstörter sein, als ihr.« »Die Waffen benötigt ihr nicht mehr. Hier seid ihr so sicher, wie man es in diesen Zeiten nur sein kann. Bitte vertraue mir.« »Immer.« Er küsste mich auf die Wange, sah mir kurz in die Augen und wandte sich danach seinen aufgeregten Rebellenfreunden zu. »Darf ich um Ruhe bitten«, donnerte seine Stimme über den Platz und augenblicklich herrschte Stille.

34 »Albert Einstein antwortete auf die Frage, mit welchen Waffen der Dritte Weltkrieg geführt werde: „Ich bin [mir] nicht sicher, mit welchen Waffen der dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im vierten Weltkrieg werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen.“« – Wikipedia: Dritter Weltkrieg 52


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»Danke. Ich wusste nicht, dass ich so ein Organ habe, aber anscheinend ist hier irgendwo eine unsichtbare Verstärkeranlage eingebaut. Tut mir leid, wenn jetzt jemand Ohrenschmerzen hat.« Unsicheres Lachen in der Menge. Er sah, dass nicht nur jene relativ kleine Einheit, die den Sturm auf den Regierungspalast mitgemacht hatte, hierher transportiert worden war, sondern es mussten mehr als 10 000 Menschen vor ihm stehen. Wie sich später herausstellte, waren es all jene, die in der Vergangenheit in irgendeiner Weise mit den Rebellen sympathisiert hatten und auch deren Angehörige. Hinter seinem Rücken öffneten sich mehrere Tore zu einer fußballstadiongroßen Eingangshalle, die wohl in einen unterirdischen Gebäudekomplex überging, über dessen Größe und Weitläufigkeit er nur Vermutungen anstellen konnte. Der Eingangsbereich war an einen Berghang gebaut worden, der mindestens 5 km senkrecht in die Höhe stieg. Unter der Plattform gab es wahrscheinlich ähnlich breite Eingänge, denn, wenn er auf den riesigen Vorplatz hinunter blickte, sah er, dass es dort nur so von Menschen wimmelte. Es mussten Hunderttausende, vielleicht sogar Millionen Menschen sein, die verstört, verängstigt, überrascht, wütend, auf eine Antwort warteten. »Meine Freunde«, begann er mit seinem Versuch, die Lage zu erklären. Was insofern schwierig war, da er ja selbst auch kaum etwas über die Dinge wusste, die sich in den letzten Minuten ereignet hatten und in den nächsten Stunden ereignen würden. Also hielt er seine Rede kurz und beschränkte sich auf das Wesentliche. »Ihr fragt euch sicher, wo wir sind und wer oder was euch hierher gebracht hat. Nun, wir sind auf dem Mars und die Mandiras halten es für unbedingt notwendig, uns von der Erde wegzuschaffen.« Ein Raunen ging durch die Menge. »Natürlich seid ihr besorgt und könnt euch nicht erklären, warum gerade ihr ausgewählt wurdet. Es scheint so, dass es all jene betrifft, die in Vergangenheit gute Beziehungen zu uns Rebellen pflegten. Und die Mandiras halten diesen außergewöhnlichen Schritt deshalb für notwendig, da die Mächtigen auf der Erde gerade dabei sind, den Planeten unbewohnbar zu machen.« »Mehr Informationen stehen mir derzeit auch nicht zur Verfügung, nur soviel, die Mandiras und allen voran Anath werden alles unternehmen, dass ihr alle, im Rahmen unserer Möglichkeiten, versorgt werdet und ihr den bevorstehenden Weltuntergang ohne Schrammen überleben werdet.« Der letzte Satz löste Bestürzung unter den Anwesenden aus, man fühlte förmlich die aufkommende Panik. Ein jeder wollte so schnell wie möglich flüchten. Re hob beschwichtigend und beschwörend seine Hände. »Ich kann euch nur bitten, Ruhe zu bewahren. Es wird sich alles aufklären. Zuerst müssen wir allerdings dafür sorgen, dass ein jeder hier 53


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oben eine adäquate Unterkunft findet. Sandra, Ianna, Kigal, Ben, Siris übernehmt ihr das bitte?« Sie nickten und ohne weitere Fragen zu stellen, machten sie sich daran, Ordnung in die verstörte Menge zu bringen. Reth war sich sicher, in spätestens zwei Stunden war jeder Mensch hier in den für ihn vorgesehenen Räumlichkeiten, wie auch immer sie aussehen mochten, untergebracht und versorgt. Das jahrelange entbehrungsreiche und straff organisierte Leben machte sich jetzt bezahlt. »Ed, wir beide gehen in die untere Ebene, ich denke, Anath wird vielleicht unsere Unterstützung benötigen.«

4 Re hatte sich geirrt. Anath benötigte keine Unterstützung. Die hatte sie schon organisiert, und zwar reichlich. Ed und Re waren zuerst entsetzt, dann staunten sie nur noch und standen sprachlos am Rande der befestigten Fläche unter der Plattform und nach und nach begriffen sie das wahre Ausmaß dieser Rettungsaktion. Und sie mussten sich auch gleich mit dem Gedanken vertraut machen, dass nicht alle Menschen gerettet werden konnten. Das »Wunder« Assembler erschuf würfelförmige Wohneinheiten und Familie für Familie, Gruppe für Gruppe bezog eine dieser kleinen Wohnungen. Hunderte oder Tausende Roboter – man konnte nicht erkennen, dass es sich um solche handelte, es waren perfekte Menschenkopien – sorgten dafür, dass keine Panik ausbrach. Sie sprachen mit den Menschen, beantworteten Fragen so gut sie konnten, verteilten Nahrungsmittel und kümmerten sich auch sonst um jede Kleinigkeit. Es wären die idealen Haushaltsroboter gewesen, niemand hätte auch nur den geringsten Zweifel daran gehabt. Allerdings, auch das erfuhren wir später von Anath, waren sie ursprünglich für den Kampfeinsatz konstruiert und gebaut worden und Shi Pen hätte sie genau für diese Zwecke verwendet, wäre er den Mandiras zuvor gekommen und hätten sie nicht die Macht gehabt, dies zu verhindern. Ein paar Stunden später saßen sie in einem Besprechungsraum in der Bergfestung, der dem Raum im Präsidentenpalast bis aufs kleinste Detail glich. Auch der Antike Holztisch stand an der gleichen Stelle. Sogar die Kaffeeautomaten glichen denen auf der Erde bis auf den letzten Kratzer. Was auch kein Wunder war. Wie sich herausstellte, war das gesamte Inventar des Palastes auf der Erde in diese Festung transferiert worden. Auf den Monitoren waren nur noch die Roboter zu sehen, die flink zwischen den Wohneinheiten hin und her huschten. Manchmal zu Fuß mit riesigen Boxen auf den Armen, dann wieder in kleinen, offenen Fluggleitern.

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Ein wenig später erschien Anath in Begleitung einer Frau und eines Mannes. Und beim Anblick dieser beiden bekam Re beinahe einen Herzinfarkt. Was Anath natürlich nicht entgangen war und sie ihm mit einem Grinsen mitteilte. Es waren Zwillinge von Anath und von Re, zumindest sahen die beiden ihnen zum Verwechseln ähnlich. »Darf ich vorstellen, Suzanet Ansporng und Reth, zwei Mandiras aus einer anderen Zeitebene, einem anderen Universum. Die Realität ist zwar etwas komplizierter, doch wenn man es nicht so genau nimmt, könnte man hinzufügen, Suzanet kommt aus der Vergangenheit, aus meiner unmittelbaren Vergangenheit.« Die Rebellen hatten schon einiges erlebt, doch nun erfuhren sie Dinge, die ihr Verständnis der Welt total auf den Kopf stellten. Es lief alles darauf hinaus, dass sie eigentlich dumme Ameisen in einem riesigen Komplex waren, die nichts anderes sahen als die Königin, für die sie sogar ihr Leben opfern würden. Alles, was darüber hinaus ging, wurde ausgeblendet, war außerhalb des Wahrnehmungsbereiches der Ameise. Obwohl die Welt die ganze Zeit über allgegenwärtig war, wurde sie nicht als das wahrgenommen, was sie war. »Wir werden euch jetzt die Lage erklären, versuchen euch zu zeigen, was auf dem Spiel steht, wie wenig Zeit uns noch vor der totalen Auslöschung trennt. Wenn jemand Fragen hat, soll er sie stellen. Auch alle, die virtuell in den Wohneinheiten anwesend sind. Die Androiden werden die Fragen sortieren und weiterleiten. Jeder hat das Recht darauf, alles über die uns bevorstehende Zukunft zu erfahren.« Re hob seine rechte Hand. »Ich hätte da gleich eine, was meinst Du mit ›ausgelöscht werden‹? Dass die Erde nach einem Atomkrieg mit allen seinen Folgen kein angenehmer Ort sein wird, um darauf zu leben, ist mir klar. Allerdings stelle ich mir unter ›auslöschen‹ die ›endgültige Vernichtung‹ des Planeten vor. Und das wird so schnell wohl nicht geschehen, oder?« Anath senkte den Blick. »Leider doch. Aber die Gefahr kommt aus einer ganz anderen Ecke, als du vermutest.« Suzanet setzte sich an den Kartenprojektionstisch und begann ihre Geschichte zu erzählen. Wie sie in den Urwald in Thailand verschlagen wurde und dort auf die außerirdische Lebensform traf. Von Paralleluniversen, dem ersten Kontakt mit Reth und von der indirekten Kommunikation mit Anath und Re mit Hilfe eines biologischen Raumschiffs, einer 100 Meter großen, grünen Kugel, Mossy, wie sie dieses Lebewesen ihrer Oberfläche wegen nannten. Als Mossy von den Außenkameras erfasst wurde, als es langsam in Richtung Plattform schwebte und knapp darüber haltmachte, konnte man förmlich spüren, wie die Menschen überall auf dem Mars den Atem anhielten. Alles geschah in völliger Lautlosigkeit und minutenlang sprach niemand ein Wort. 55


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Es war schon abenteuerlich genug von Robotern und Außerirdischen zu erfahren, die vor vielen Tausenden von Jahren auf der Erde gelandet waren. Doch dieses Raumschiff war noch um vieles geheimnisvoller als jeder Roboter. Wie sich schnell herausstellte, war es in der Lage, mit allen Anwesenden gleichzeitig zu kommunizieren und jede einzelne Person in die von ihr gewünschte Umgebung zu versetzen. Bei fast 30 Millionen Menschen, die sich derzeit auf dem Mars befanden, wirkliche eine Meisterleistung. Es beantwortete geduldig alle Fragen und einige Stunden später ahnten die meisten, warum sie die Erde verlassen mussten und kannten den Grund, warum diesem Universum nicht mehr viel Zeit blieb. Während es sprach und Bilder projizierte, Gefühle las und teilte, transportierte es ununterbrochen Menschen auf den Mars, insgesamt mehr als 50 Millionen fanden so in dieser Zeit den Weg hierher. Roboter um Roboter wurde aktiviert, um für diese Menschen provisorische Unterkünfte zu bauen und einzurichten. Ironischerweise war auch Shi Pen darunter. Sein Gedächtnisspeicher war gelöscht und er umprogrammiert worden. Das Programm, das vor Urzeiten von den Mandiras erdacht worden war und die Menschheit retten sollte, war durch einen defekten Speicherchip außer Kontrolle geraten. Er war genau für den jetzt eintretenden Fall gebaut worden. Das Ziel war es gewesen, mit Hilfe der Roboterarmee und den Assemblerboxen auf dem Mars, die Menschheit in Sicherheit zu bringen. Nachhause, zurück ins Imperium. Doch da die entscheidenden Gedächtnisinhalte, die auch den Ort des Imperiums beinhalteten, fehlten, nahm er an, er müsse die Menschen unter Anwendung aller vorhandenen Mittel ins Reich Mitsuhunda heimholen. Eine kleine, jedoch entscheidende Missinterpretation seines Auftrags. Doch das wussten nur wenige. Eines allerdings verstand fast niemand: Warum Shi Pen und alle anderen Diktatoren auf der Erde überhaupt an die Macht gekommen waren, die Mandiras mit der ihnen zur Verfügung stehenden Machtfülle nicht schon viel früher eingegriffen und sie in die Schranken gewiesen hatten? »Da die Summe der Möglichkeiten in einem Multiversum nur beinahe unendlich, daher begrenzt ist, war es eben nicht möglich, das eine Universum zu verändern, ohne ein anderes, ein beliebiges paralleles, gleichzeitig in eine andere Richtung zu drängen. Was letztendlich, in Summe gesehen, darauf hinausläuft, dass Veränderungen in einem der vielen, aber eben nicht unendlich vielen, Universen eines Multiversums sofort und ohne Verzögerung Auswirkungen auf andere Universen haben.«35 »Eine Korrektur in einem Universum hatte einfach ausgedrückt zur Folge, dass eben ein anderes sich mit den Diktatoren herumschlagen musste. Natürlich wechselten einzelne Ereignisse nicht einfach nur das Universum, sondern eine Kaskade von jeweils kleinen Veränderungen pflanzte sich durch das Multiversum fort, möglicherweise für immer, 35 Rham (21 201 v. NZ): Die Geschichten der Universen. 56


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und änderte dabei nicht nur die Geschichte eines Universums, sondern meist alle Abläufe im Multiversum.« »Das war der Lauf der Dinge und so mündete diese Frage letztendlich in die Antwort, wem das moralische Recht zustand, zu entscheiden, welchem Universum welches Schicksal zuteilwurde?« »Und da die Gruppe der Mandiras nicht ein bestimmtes Universum repräsentierten, es nicht konnten, da sie ja ursprünglich aus vielen Unterschiedlichen in dieses eine verschlagen worden waren, stellte sich für sie selbst die Frage erst gar nicht.« Doch eines konnten sie, mussten sie tun: Wenn ein Universum vor der Zerstörung stand, ein Neues schaffen und möglichst viel aus dem Alten in dieses neue Universum hinüberretten. Und genau das war es, was im Augenblick geschah, es war nichts anderes, als die größte Rettungsaktion in der Geschichte dieses Universums.

5 Re und Suzanet standen auf dieser riesigen Plattform und konnten das Unheil fast schon sehen, das in wenigen Stunden über sie hereinbrechen würde. Natürlich war es nur Einbildung, denn den Untergang würde man nicht sehen können. Das Nichts ließ sich nicht sichtbar machen. Doch der Sandsturm, der fast die gesamte Tharsis-Region36 in ein düsteres, rotes Licht hüllte, die Sonne gerade noch als diffuser, verwaschener Lichtfleck am Himmel geduldet war, tat sein übriges, um die Weltuntergangstimmung zu verstärken. Die Assembler hatten die Vorbereitungen vor langer Zeit beendet. In gespenstischer Lautlosigkeit war zuerst ein riesiges Loch in den Berg gefräst worden. Abertausende Tonnen Gestein hatten sich in eine riesige Staubwolke verwandelte, die sich nach und nach buchstäblich vor ihren Augen in Luft aufgelöst hatte. Die Miniaturroboter, nur einige Milliarden Atome groß, zerlegten das Material Atom für Atom und transportierten diese einzeln in den Gipfelkrater 20 km über uns. Dies mag einem Menschen furchtbar mühselig und ineffizient erscheinen, doch die schier unermessliche Anzahl von Assemblern erledigten diese Arbeit innerhalb eines Tages. Danach entstanden Unterkünfte, Aufenthaltsräume, Freizeiteinrichtungen und zuletzt eine identische Kopie der Räumlichkeiten des Regierungspalastes in Mitsuhunda Stadt auf die gleiche Weise. Jedes Atom wurde einzeln nach einem vorgegebenen Bauplan an die vorgesehene Stelle gebracht. Auch Suzanet und Re waren von den Assemblern modifiziert, in Cyborgs umgewandelt worden und seitdem gewissermaßen unsterblich. 36 »Die Tharsis-Region ist ein sehr ausgedehntes Gebiet auf dem Planeten Mars mit einer Fläche von etwa 4 Millionen km2. Ihren Namen erhielt sie nach der antiken Stadt und Königreich Tartessos auf der Iberischen Halbinsel, auf das sich möglicherweise das biblische Land Tarsis bezieht.« – Wikipedia: Tharsis-Region 57


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Sie unterschieden sich kaum noch von den Androiden, die seit vielen Tausenden Jahren in den Hallen unterhalb des Olympus Mons37 auf ihren Einsatz warteten. Außer den Gehirnen war nichts Biologisches mehr an den beiden zu finden und auch dort erledigten Nanoroboter jetzt ihre vielschichtige Arbeit. Sie sorgten permanent dafür, dass beschädigte Zellen repariert oder ersetzt wurden, und statteten es zusätzlich mit vielen praktischen Funktionen aus. Dazu gehörten Datenspeicher, Analyseprogramme, Up- und Downlinks38 zu Datenbanken, den vielen Androiden, allen Mitgliedern der Mandiras und vieles mehr. Und noch einen weiteren Vorteil hatte die Verwandlung: Sie konnten in normaler Kleidung hier draußen auf der Plattform stehen, auf der die Temperatur im Augenblick -30 Grad Celsius betrug, die Atmosphäre zu 95 % aus Kohlendioxid bestand und der Luftruck im besten Fall gerade mal ein Prozent von dem auf der Erde erreichte. Nun warteten sie auf die ersten Flüchtlinge. Die Assembler würden dafür sorgen, dass jeder ankommende Mensch sofort in eine speziell an seine Bedürfnisse angepasste kleine »Überlebenswolke« gehüllt wurde, die ihn solange mit Sauerstoff, Wärme und Nahrung versorgte, bis sich über den gesamten Komplex eine schützende Biosphäre gelegt hatte. »Ja, ich verstehe dich nur zu gut«, sagte Suzanet. Oder dachte sie es nur? »Mir geht es genau so. Es ist furchtbar, zusehen zu müssen, wie alles den Bach runter geht und man gleichzeitig weiß, dass nichts diesen Vorgang stoppen kann. Nichts! Milliarden Menschen und wer weiß wie viele Zivilisation da draußen im Universum werden sterben und der Großteil ahnt nicht einmal, was da auf sie zukommt.« »Vielleicht ist es besser so«, antwortete Re. »Sie werden nichts davon mitbekommen. Was immer sie gerade tun oder denken, womit sie sich auch gerade beschäftigen, ob sie Kriege führen und töten oder friedlich das Universum erkunden, bald wird nichts mehr darauf hinweisen, dass sie je existiert haben. Ganze Kulturen werden auf einen Schlag verschwinden und nichts wird von ihnen übrig bleiben. Niemand wird sich jemals an sie erinnern, weil danach einfach keiner mehr da ist, der weiß, dass es sie gegeben hat.« »Und im Prinzip hat es sie ja nie gegeben. Nicht hier. Kein Einziger dieser Menschen ahnt auch nur im geringsten, was dieses Universum in Wirklichkeit ist oder besser, was es war.« »Nur wir …« »Da kommt Shi Pen. Er hat es also doch bis zum Mars geschafft. Wir sollten ihn persönlich empfangen.«

37 Google Mars: Olympus Mons 38 »In einem Kommunikationsnetz bezeichnet der Uplink [ʌplɪŋk] die Verbindung (engl. link) mit der Datenflussrichtung, welche aus der Sicht eines Endgerätes in Richtung Telekommunikationsnetz geht. Die Gegenrichtung wird Downlink genannt.« – Wikipedia: Uplink 58


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Suzanet teilte Re die Koordinaten des Raumgleiters mit. Er blickte in den Himmel und sah einen kleinen silbernen Punkt, der schnell größer wurde. »Shi Pen wird sicher überrascht sein, wenn er merkt, dass das Schiff nicht mehr auf seine Befehle reagiert.« Re grinste und übernahm die Steuerung, lenkte den Gleiter auf die Plattform und setzte ihn, wenige Meter entfernt, sanft auf dem Boden auf. »Eine Perfekte Landung«, gratulierte Suzanet. Shi Pen stieg aus dem Schiff, wollte nach seiner Waffe greifen, kaum dass er die beiden sah. Doch er kam nicht mehr dazu. Ein kurzer Anflug von Überraschung zeigte sich in seinem Gesicht. Danach salutierte er vor den beiden und machte sich auf den Weg hinunter zu den anderen Androiden. »Eigentlich war ich mir bis vor ein paar Minuten völlig sicher, dass ich ihn eigenhändig auseinandernehmen würde, sobald er hier aufkreuzt.« »Doch jetzt ...«, Re machte eine Pause, »... er persönlich hat keine Schuld und auch niemand anders kann für seine Taten verantwortlich gemacht werden. Er ist, so pervers es klingen mag, genau wie wir ein Opfer der Umstände, die uns zusammengeführt haben.« »Die wirklichen Schuldigen in diesem kleinen Universum sitzen auf der Erde und bringen sich gerade gegenseitig um, nicht ahnend, dass sie eigentlich nichts aus ihrem Leben gemacht haben und bald auch nichts mehr von dem Nichts, das sie erschaffen haben, noch übrig sein wird.« »Und so seltsam es auch klingen mag, auch alle unsere Erinnerungen, all das Leid, das wir erfahren haben, all die Grausamkeiten, die wir gesehen haben, alles was wir erlebt haben, das alles verblasst angesichts dessen, was sich in der Zwischenzeit außerhalb unseres begrenzten Horizonts abgespielt haben muss.« »Du hast es erfasst. Und es hätte nicht viel gefehlt und wir hätten uns in dieser Realität verloren, wären vielleicht sogar darin umgekommen. Was ist nur geschehen? Wie konnten wir so schnell vergessen?« »Tja, den Auslöser für unser Verhalten werden wir wohl nicht mehr in Erfahrung bringen, doch ich vermute, es hat etwas mit unserer Einstellung zum Leben zu tun: Wir lieben es zu sehr.« »Das Schicksal kann so schön grausam sein.« Suzanet sah in den staubverhangenen feuerroten Himmel. »Gehen wir hinein und warten wir dort auf unsere Zwillinge. Hier draußen wird es mir zu düster und zu kalt. Und wenn ich daran denke, was wir in den nächsten Stunden zu tun gedenken, dann wird mir allein bei dem Gedanken daran schon übel.« Re nickte. »Ich weiß, wie du dich fühlst, doch es muss sein, das größte Schachspiel in der Geschichte der Universen lässt uns keine Wahl: Es verlangt nach Bauernopfern.«

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oweit ich es beurteilen konnte, gab es keine. Ich löschte die Daten, die ich so mühsam zusammengetragen und entschlüsselt hatte, aus den Speichern meiner Computer. Nun waren sie für diese Welt für immer verloren. Sie hatten ihren Zweck erfüllt und mir ein Geheimnis enthüllt, das niemand, der nicht selbst Teil dieser groß angelegten Rettungsaktion war – man könnte auch, und viele würden sogar, Verschwörung dazu sagen – glauben würde. Daher hätte ich mir die Arbeit auch sparen können und diese Informationen unverschlüsselt in der Metro liegen lassen können, denn schon bald würde es niemanden mehr geben, dem sie von Nutzen sein konnten, daher war der Verlust ein geringer. Doch konnte ich die Gewohnheiten einer SAE nicht so einfach ablegen. Und oberstes Gebot beim Verlassen eines Stützpunktes oder dem Abbruch einer Operation war die Vernichtung sämtlicher Hinweise auf die eigene Person. Und darin war ich immer schon die Beste gewesen. Allerdings waren diese Fertigkeiten, die mir in der Vergangenheit das Überleben gesichert hatten, in meiner persönlichen Zukunft nicht mehr gefragt. Nichts, was in den letzten Jahren und Jahrzehnten mein Leben bestimmt hatte, war dort, wo ich jetzt hingehen würde, noch wichtig. All der Schmerz, die Demütigungen, die Qualen, die ich durchleben musste und auch nicht die vielen Toten, die vielen schuldigen und unschuldigen Menschen, die durch meine Hand umgekommen waren. Alles belangloser Katzendreck im Vergleich zu dem, was jetzt noch kommen würde. Zuerst waren es nur vage Vermutungen gewesen, doch bald stellte sich heraus, dass meine Doppelgängerin aus der Vergangenheit mehr gewusst haben musste, als ihre Zeitgenossen. In ihrer Hinterlassenschaft, die ich mühsam zusammengetragen hatte und die jetzt in den verborgenen Hallen unter der Oberfläche von Antarktika lagerten, fand ich nicht nur ihr Tausende Seiten umfassendes Tagebuch mit ihrer ganz eigenen Interpretation der Geschichte, Kommentaren zu den Vorgängen in ihrer Zeit und prophetischen Vorhersagen, sondern auch Millionen verschlüsselte Datensätze und Hunderte Quadratmeter Papier, meist vollgepackt mit technischen Zeichnungen. Die in diesen Plänen beschriebenen Geräte hätte niemand vor der Jahrtausendwende verstehen oder gar bauen können. Die Technik war damals einfach noch nicht ausgereift genug gewesen. Dazu hätte es jener Miniaturroboter bedurft, die man erst viele Jahrzehnte später hatte bauen können. Und auch dann hätte man mit diesen Plänen kaum etwas anfangen können, da sie Maschinen beschrieben, für deren Verständnis erst eine neue Physik hätte entwickelt werden müssen. Zumindest eine, die am Dogma der Lichtgeschwindigkeit als höchste Instanz in Fragen erreichbarer Geschwindigkeiten kratzt und Naturkon-

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stanten im Allgemeinen nicht als für alle Zeit in Stein gemeißelte, unverrückbare Leuchtkerzen im Universum sieht. Allerdings waren diese Gedanken sogar bis in die jüngste Vergangenheit tabu, durften im innersten Gelehrtenkreis nicht einmal gedacht werden. Hohn und Spott waren noch die geringste Strafe für jene, die es dennoch wagten, Ideen außerhalb der streng normierten Theorien auch nur laut zu denken.39 40 Viele kluge Köpfe wurden verfolgt und nicht selten hingerichtet. So wäre es auch Anaxima ergangen, hätte er nicht rechtzeitig die Flucht ergriffen. Eine Physik der variablen Lichtgeschwindigkeit hört sich auf den ersten Blick absurd an, doch ist sie bei genauer Betrachtung logisch, da sich die Prozesse, die zu dieser Betrachtungsweise führen, auf mikroskopischer Ebene abspielen, in jenen Bereichen also, in denen das Gesetz der heisenbergschen Unschärferelation die einzige Konstante ist.41 Und sobald man sich diese Theorien zu eigen gemacht hatte, begann man auch die Funktion dieser Geräte zu erahnen, die da zu Papier gebracht worden waren. Eines davon, offensichtlich ein Messgerät, welches sie »Quantenfeld Divergenzmessgerät« (QFD) nannte, konnte ich sogar sehr rasch herstellen. Die ersten Tests ließen mich an meinem Verstand zweifeln. Ich wollte lange nicht akzeptieren, dass die Konsequenzen, die sich mir in simplen Tabellen offenbarten und sich nach dem Abgleich mit den Aufzeichnungen zu 100 % bestätigten, tatsächlich so endgültig waren. Tagelang versuchte ich den Fehler im System zu finden, tauschte Bauteile aus, ließ neue generieren, vertiefte mich noch mehr in die für mich völlig fremden physikalischen Gedankengänge, glaubte an Verständnisprobleme. Doch der Fehler blieb. Die Messung der Divergenz dieses Universums war eindeutig, mit jeder Sekunde wurde der Abstand zwischen gemessenem Istwert und dem erwarteten, durch Berechnungen untermauerten, Sollwert größer. Würde dieses Abdriften im gleichen Tempo weitergehen und nicht gestoppt werden, dann würde es in siebzig Jahrtausenden mit einem Nachbaruniversum kollidieren. Schon lange vorher würden Interferenzen42 katastrophale Auswirkungen auf riesige Bereiche innerhalb unseres Uni39 Dies war und ist leider eine übliche Vorgehensweise nicht nur in der Wissenschaft: Etwas wird von einer sogenannten Autorität (Person/Organisation) so lange verneint und der Lächerlichkeit preisgegeben, bis es erfolgreich unterdrückt worden ist oder man es nicht mehr verleugnen kann. Ein Prozess, den man immer wieder beobachten kann, siehe z.B. Charles Darwin (1859): Die Entstehung der Arten (englisch: The Origin of Species) – Wikipedia: Die Entstehung der Arten 40 »Tatsachen schafft man nicht dadurch aus der Welt, dass man sie ignoriert« (Aldous Huxley). 41 Rham (21 201 v. NZ): Die Geschichten der Universen, Über die “Quantensuppen Theorie” (QST). 42 Interferenz beschreibt die Überlagerung von zwei oder mehr Wellen nach dem Superpositionsprinzip (d. h. durch Addition der Amplituden, nicht der Intensitäten). Sie tritt bei allen Arten von Wellen auf, also Schall, Licht, Materiewellen, usw. – Wikipedia: Interferenz 61


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versums haben. Und zuletzt würden sie sich gegenseitig auslöschen und nebenbei noch unzählige ähnliche Universen stark in Mitleidenschaft ziehen, die meisten davon unbewohnbar machen, existierendes Leben an den Rand des Abgrunds bringen oder gleich vollständig ausradieren. Unsere Welt würde von einer Sekunde auf die andere verschwinden, als hätte jemand einfach das Licht ausgeknipst. Und wir selbst würden nichts davon bemerken, da wir das Unheil nicht kommen sehen würden. Doch das hatte die Wellennatur der Multiversen so an sich. Es blieb kein großer Spielraum innerhalb des Gesamtkomplexes. Und entfernte sich ein Universum zu weit von der durch das freie Spiel der Kräfte vorgegebenen Position, dann kollidierte es zwangsläufig mit einem oder mehreren Nachbaruniversen. Die Folgen wären vorhersehbar und klar definiert: Verstärkung oder Auslöschung. Das Divergenzmessgerät, so unscheinbar dieser Name auch sein mochte, maß einen Wert, von dem die gesamte Menschheit noch nicht einmal ahnte, dass es etwas in dieser Art überhaupt gab, und wenn sie es wüsste, nichts damit würde anfangen können. Niemand, auch Anaxima nicht, hätte auch nur einen Cent auf so ein abstruses physikalisches Weltbild gesetzt, wie es in den Aufzeichnungen meiner Urahnin beschrieben war. Doch das war noch nicht alles, ich konnte aus ihren Aufzeichnungen auch herauslesen, dass nicht eine kosmische Katastrophe für die immer größer werdende Kluft zwischen Normalität und Anomalie, das Abdriften aus einem stabilen Gleichgewichtszustand in das Chaos, verantwortlich war, sondern die Summe aller Intelligenzen im Universum. Die Summe aller Intelligenzen! Und dazu gehörte, für mich etwas überraschend, auch der Mensch. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, was der Mensch mit seinem, um es milde auszudrücken, kaum vorhandenen Wissen von den Vorgängen im Universum und seiner kaum ins Gewicht fallenden und fast nicht vorhandenen Hochtechnologie großartig ausrichten konnte, um etwas so unvorstellbar Gewaltiges wie unser Universum an den Rand des Abgrunds zu bringen. Der Schlüssel zu diesem Mysterium war die QST. Als die Menschen begannen, sich in den Mikrokosmos vorzutasten, nach und nach in der Lage waren, immer feinere Strukturen herzustellen und zuletzt Nanoroboter entwickelten, die Materie auf atomarer Ebene manipulieren konnten, ahnten sie nicht, welche zerstörerische Waffe sie, wieder einmal ohne es zu wollen, in die Welt gesetzt hatten. Dabei waren die Absichten nur die besten gewesen. Man wollte die Menschheit auf eine neue Stufe stellen, die Erde vor dem drohenden Umweltkollaps retten, dem Menschen alle beschwerlichen, körperlichen Arbeiten abnehmen, schlicht und einfach das Paradies auf Erden schaffen. Und zuletzt einen neuen Menschentypen, eine neue Gattung konstruieren, für die Krankheit und Tod ein Fremdwort, die unzerstörbar, 62


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unsterblich war, die zu neuen Ufern aufbrechen und das Weltall zu ihrer neuen Heimat machen würde. Und natürlich wollte man den maximalen Profit aus dieser neuen Technologie herausschlagen. Soweit die Theorie. Doch dazu war es nie gekommen. Miniaturroboter waren zwar gebaut worden, wurden allerdings heute nur noch in wenigen Ausnahmefällen, die der Zustimmung von 90 % der Menschen auf Erden bedurfte, für bestimmte, streng limitierte Anwendungen geduldet und verwendet. Denn die Furcht vor dem »Grauen Schleim«43 hatte sich so tief in die Psyche der Menschheit eingegraben, war so verbreitet, dass sich alle Staaten rigoros an das Nanotechnologieabkommen hielten, welches bald nach den »Nanoviren-Krawallen« beschlossen worden war. Weltweit war es nur einer einzigen Organisation gestattet, diese Roboter herzustellen und nur diese hatte auch die technischen Voraussetzungen dafür. Alle anderen möglichen Produktionsstätten waren zerstört worden. Und die Labors dieser Organisation waren quasi öffentlich, ein jeder hatte zu jeder Zeit Zugriff auf alle vorhandenen Unterlagen und durfte elektronisch Widerspruch einlegen, falls er Projekte nicht guthieß. Das war Demokratie in Reinkultur, doch existierte sie in dieser Form leider nur in Verbindung mit der Nanoroboter-Technologie. Was war also schiefgelaufen? Was hatte diese Erfolg versprechende Technologie so ins Abseits gedrängt, dass sie so gut wie tot war? Die Kapitel in ihrem Geschichtsbuch zu diesem Thema lasen sich wie ein Science-Fiction-Roman.

43 »Das von Eric Drexler in seinem Buch Engines of Creation geprägte Schlagwort des grey goo (etwa: »grauer Schleim«) hat eine gewisse Popularität gewonnen: Damit gemeint sind Myriaden von amoklaufenden und selbstvermehrenden, aggressiven Nanobots, die in kürzester Zeit alle Dinge auf der Erdoberfläche konsumieren.« – Wikipedia: Nanobot 63


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1990.1 35 war das Jahr der Veränderung44. Besser gesagt, es wird das Jahr des Umbruchs werden. Denn jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, wurde gerade das letzte Jahrzehnt im zweiten Jahrtausend n. Chr. eingeläutet. Die Uhr zeigt 03:55. Mein Freund ist damit beschäftigt, die letzten Stapel Papierkopien der Aufzeichnungen in unserem Bunker im Keller zu verstauen und die dazugehörigen Daten auf Datenträger verschiedenster Technologien zu übertragen – darunter welche, die hier und heute noch gar nicht erfunden worden waren und auch nicht hergestellt werden hätten können – und mitsamt den dazugehörigen Lesegeräten ebenso im Bunker unterzubringen. Acht solcher Zeitarchen hatten wir im letzten Jahr in sieben Ländern auf vier Kontinenten errichtet, diese Baupläne aus der Zukunft in ihnen verstaut und versiegelt, damit sie irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft gefunden werden würden und das Schlimmste verhindern helfen konnten. Es war nicht immer einfach und vor allem nicht billig gewesen, diese Hochsicherheitstresore zu bauen. Und es sollte so wenig Aufsehen wie möglich erregen. Doch heutzutage gab es so viele Spinner auf dieser Welt, dass sich niemand über unsere Sonderwünsche wunderte. Da wir beide unser Geld mit und am Computer verdienten, gaben sich alle Personen, die wir im Zuge der Planung und Errichtung heranziehen mussten, mit der Erklärung zufrieden, dass wir den wasserdichten, feuerfesten, bombensicheren, durch fünf Meter dicke Stahlbetonmauern geschützten Reinstraum für unser teures Spielzeug benötigten. Auch das Hanfpapier, welches wir für die Kopien der technischen Zeichnungen benötigten, da es um vieles haltbarer war als herkömmliches Papier, war leicht zu bekommen: wenn man sich nicht allzu sehr über den hohen Preis aufregte. Neben dem Bunker hier in Mitteleuropa gab es noch welche in Australien, Russland, Nord- und Südamerika, Südafrika und zwei in China. Warum gerade acht? Die Antwort war ganz einfach. Anzahl und Orte waren der Wunsch derjenigen gewesen, die mir diese sonderbare Botschaft geschickt hatten. Diese Botschaft, die immer und überall den Weg bis auf meinen Computerbildschirm gefunden hatte. Egal, auf welchem Kontinent ich mich gerade aufhielt und welchen Computer ich gerade benutzte. In den frühen Achtzigern, als Computer noch nicht zum normalen Inventar eines Haushalts gehörten und die meisten Menschen sich darunter riesige stromfressende Monstren in dunklen Forschungskellern vorstellten – was ja tatsächlich auf alle leistungsfähigen Supercompu44 Ivanova, Susan, 2261, Babylon 5: »Das Jahr, in dem sich alles veränderte.« (engl. Original: »It was the year everything changed«) – Wikipedia: Babylon 5, Susan Ivanova 64


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ter dieser Ära zutraf – huschten plötzlich seltsame, nicht von mir programmierte Muster über den bernsteinfarbenen Monochrom-Monitor, vor dem ich täglich viele Stunden verbrachte, um die erhobenen Daten für meine Promotion zu analysieren und in geordnete Strukturen zu bringen. Zuerst glaubte ich natürlich an eine Sinnestäuschung. Meine Augen, und nicht nur die, brauchten wohl eine Pause. Doch als ich mich am nächsten Tag vor die Konsole setzte, dauerte es keine zwei Minuten und die fremden Bilder tanzten wieder über den Bildschirm. Sie waren auf ihre ganz eigene Art schön. Geschwungene Linien, Spiralen, Zacken, Wellen, Farne, Baumstrukturen, Seepferdchen und vieles mehr, konnte man mit etwas Fantasie erkennen. Durch Zufall bemerkte ich, dass man das Aussehen der Bilder mit der Tastatur steuern konnte. Ausschnitte verändern, Zoomen und auch verschiedene Parameter eingeben. Nach und nach erschloss sich mir ein faszinierendes, unbekanntes Universum aus mathematischen Formeln – soviel hatte ich schon herausgefunden. Doch woher war dieses Programm gekommen? Meine Studienkollegen konnte ich ausschließen, wenn es ein Scherz gewesen wäre, dann erschloss sich mir der Sinn nicht. Es fehlte die Pointe. Und als ich mir einer Eingebung folgend die Statistik über die verbrauchten ProzessorTicks ansah, wurde alles noch viel mysteriöser. Ein Programm wie dieses hätte ein riesiges Loch in mein Budget reißen, die dafür verwendeten Algorithmen die Prozessoren extrem belasten müssen. Doch das war zum Glück nicht der Fall, die Grafik verschlang nicht mein letztes Studiengeld, belastete nicht mein Konto; es bezahlte also jemand Anderes die Rechnung. Es war, als ob es anderwärtige Ressourcen nutzte. Gut, in einem Multiuser-System war das keine große Sache, bezahlte eben jemand Anderes die anfallenden Kosten. Ich musste nur noch herausfinden, wer diese Person war und konnte ihn dann fragen, was er damit bezweckte. Zu dieser Zeit hatte ich aber andere, wichtigere Aufgaben zu bewältigen, musste mich um meine Dissertation kümmern. Daher verbannte ich die Grafiken in den Hintergrund und konzentrierte mich wieder auf meine Arbeit. Ein paar Tage später dann die riesen Überraschung: Als ich am Morgen, wie jeden Morgen, mit meinem Frühstück ins Wohnzimmer wanderte, um es genüsslich zu mir zu nehmen und nebenbei die Zeitung zu lesen, fand ich auf dem Couchtisch ein Paket, welches an mich adressiert war. Ich konnte mir nicht erklären, wie es dorthin gekommen war, zumindest war es kein Post- oder anderer Bote gewesen, der es mir überbracht 45 Ich meine hier nicht die ersten am Markt erscheinenden Personal- oder Heimcomputer, die zu Beginn ihrer Ära nur ein mehr oder weniger teures Spielzeug waren, sondern die sogenannten Supercomputer, die einen eigenen Charakter, eine eigene Seele hatten. Die einem einerseits alles abverlangten, andererseits aber eine gemütliche Wohnzimmeratmosphäre schufen und zu entspannten Gesprächen mit gleichgesinnten, bei Tee oder Kaffee, einluden. – Wikipedia: Cray X-MP 65


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hatte. Entweder hatte es meine Schwester am Vorabend mitgebracht oder jemand hatte eingebrochen und es hier gelassen – was natürlich ein absurder Gedanke war, daher blieb nur meine Schwester als verdächtige Person über. Als ich das Paket öffnete und das Druckwerk, welches zum Vorschein kam, in meine Hände nahm und den Titel auf dem Deckblatt las, fehlte nicht viel und ich hätte mich schreiend aus dem Fenster gestürzt. Es war der Titel meiner Doktorarbeit, auch der Inhalt war identisch mit meinen Gedanken, Daten und Auswertungen. Neben den drei gedruckten und von mir unterzeichneten Arbeiten fand ich noch zwei Mappen mit meinen handgeschriebenen Notizen, Erläuterungen zu Berechnungsmethoden, Analysen, Protokollen, Ausdrucken von Computerprogrammen, die ich entwickelt hatte und Schritt für Schritt Anleitungen, wie man aus den vorhandenen Daten die notwendigen Ergebnisse extrahierte und interpretierte. Alles gut dokumentiert auf über 3000 Seiten. In meiner Handschrift dokumentiert wohlgemerkt. Da ich mir zu 99,9 % sicher war – ganz sicher konnte man nie sein – dass ich nicht der Urheber dieser Schriften sein konnte und ich auch sonst niemanden kannte, der sich die Mühe machen würde, mir diese Arbeit abzunehmen und überdies niemand außer mir Zugang zu den erhobenen Daten hatte, stand ich vor einem riesigen Rätsel. Als ich die Arbeit Seite für Seite durcharbeitete, sie mir einverleibte, war aber eines klar: Die Arbeit stammte eindeutig von mir, die Formulierungen, Hinweise, Grafiken, Tabellen, einfach alles, daran bestand kein Zweifel. Auch viele Ideen, die mir erst im Zuge der Recherchen zugeflogen waren und auch einige Antworten auf Fragen, die ich mir so noch nicht gestellt hatte, die sich aber nach logischen Gesichtspunkten früher oder später mit Sicherheit von allein gestellt hätten. Alles in allem sah es ganz danach aus, es bestand eigentlich kein Zweifel daran, diese Arbeit war von mir verfasst und zu Papier gebracht worden, doch ich konnte mich nicht daran erinnern, wann und wie ich das geschafft hatte. War ich schizophren geworden? Irgendwann sprang mir das Datum der vermeintlichen Veröffentlichung ins Auge und auch dieses trug nicht gerade dazu bei, den Glauben an meine geistige Gesundheit wieder herzustellen. Es lag nämlich sieben Monate in der Zukunft, es war genau der Zeitpunkt, den ich als tatsächlichen Termin ins Auge gefasst hatte. Und dann fand sich da noch etwas Kleines, Unscheinbares, auf der letzten Seite, am unteren Rand, das ich lange einfach übersehen hatte, da der Inhalt der Arbeit meine volle Aufmerksamkeit gefordert hatte. Dort befand sich eine kleine Grafik. Und sie ähnelte auf verblüffende Weise jenen, die ich auf dem Computerbildschirm gesehen hatte. Gab es da einen Zusammenhang? 66


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Die Antwort konnte nur »Ja, natürlich« sein, solche Zufälle gab es nicht, daher musste die Lösung etwas mit diesen visualisierten mathematischen Formeln zu tun haben.

90.2 Da die Arbeit geschrieben war und ich daher plötzlich viel Zeit für andere Dinge übrig hatte, der Verfasser meiner Doktorarbeit hatte wohl genau das damit bezweckt, konnte ich mich jetzt intensiv dem Rätsel der Computerkunst und ihrer Urheber widmen. Schon ein paar Tage später fand ich bei meinen Recherchen in der Universitätsbibliothek ein Buch des Mathematikers Benoît B. Mandelbrot46, in dem gleich auf der Titelseite eine bunte Kopie genau jener Grafik abgebildet war, von der ich eine Hardcopy angefertigt hatte, um sie Kollegen und Freunden zeigen zu können. Ich wunderte mich auch gar nicht mehr darüber, dass dieses Buch in genau der gleichen Woche veröffentlicht worden war, als die ersten Objekte dieser Art über meinen Bildschirm huschten. Es hatte eine spezielle Form der Geometrie zum Inhalt, die sogenannte »Fraktale Geometrie«. Es war ein Zweig der Mathematik, der die Welt der gebrochenen, also nicht-ganzzahligen Dimensionen behandelte und von Objekten zu berichten wusste, die zumeist einen hohen Grad an Selbstähnlichkeit aufwiesen. Mandelbrot löste mit diesem Buch und weiteren Artikeln in diversen Fachzeitschriften, wohl unbeabsichtigt, einen Boom aus, der viele Menschen dazu brachte, sich mit visualisierter Mathematik in ihrer schönsten Form zu befassen. Es ging lange das Gerücht um, dass zu dieser Zeit und in den Jahren danach, mindestens 95 Prozent der damals weltweit verfügbaren Rechenleistung für die Berechnung von Fraktalen in allen möglichen Ausprägungen verwendet worden war. Was natürlich so nicht stimmte, jedoch deutlich machte, wie schnell sich dieses fraktale Virus, quasi im Mittelalter der Computertechnologie, über die Welt verbreitete. Es musste mehr als ein Jahrzehnt vergehen, bis es ein vergleichbares, rasch um sich greifendes wissenschaftliches Computervirus schaffte, einen ähnlichen Boom auszulösen47. Daher war es eigentlich nicht weiter verwunderlich, dass diese Bilder gerade jetzt auf meinem Monitor auftauchten. Der Zeitpunkt war gut gewählt, es würde nicht sonderlich auffallen, da fraktale Muster über alle 46 Mandelbrot, Benoît (1983). The Fractal Geometry of Nature. W. H. Freeman. ISBN 0716711869. Mandelbrot, Benoît (1986). Die fraktale Geometrie der Natur. Basel: Birkhäuser Verlag. ISBN 376431771X. 47 »SETI@home (Search for extraterrestrial intelligence at home, englisch für „Suche nach außerirdischer Intelligenz zu Hause“) ist ein Verteiltes-Rechnen-Projekt der Universität Berkeley, das sich mit der Suche nach außerirdischem intelligenten Leben befasst.« – Wikipedia: SETI@home 67


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Kanäle an die Oberfläche schwappten, Prozessoren belasteten, DruckerWarteschlangen verstopften und Netzwerkkabel zum Glühen brachten. Andererseits konnte ich die Quelle meiner Erscheinungen immer noch nicht ausfindig machen. Sie wurden definitiv nicht auf den Computern der Universität berechnet und sie gelangten auch nicht über das Netzwerk in das System. Mehr noch, es waren extrem flüchtige Objekte, sie beanspruchten keinen Speicherplatz und lebten nur, solange der Monitor eingeschaltet war. Die Administratoren glaubten nach einigen Stunden eingehender Analyse aller Logfiles, dass ich mich auf ihre Kosten amüsieren wolle, und kopierten daher jeden weiteren Hinweis, den ich ihnen gab, ohne Kommentar nach /dev/null48. Ich musste also andere Wege finden, den Inhalt dieser Botschaft zu entschlüsseln – und aus irgendeinem mir bis dahin unverständlichen Grund ging ich davon aus, dass mir jemand mittels dieser Fraktale eine Nachricht übermitteln oder zumindest meine Aufmerksamkeit erregen wollte. Es konnte ja, trotz aller meiner Fehlschläge den Verursacher dingfest zu machen, trotzdem ein Scherz gewesen sein, dessen Sinn und Zweck mir allerdings entgangen war. Allerdings verstand ich nicht, warum dieser komplizierte Weg gewählt worden war, die Person hätte mich doch einfach direkt ansprechen oder, falls dies nicht möglich war, einen Brief schreiben können. Zumindest gab es mit Sicherheit einfachere Methoden als diese hier. Möglicherweise gab es aber einen ganz einfachen Grund. Ich hatte bald einen Physikstudenten in Verdacht, der mir sehr sympathisch war und mir schon öfter in diversen Vorlesungen aufgefallen war. Zuletzt hatte er mich bei meiner Suche nach unterschiedlichen technischen Ansätzen im weiten Feld der Künstlichen Intelligenzen (KI) unterstützt. Speziell Publikationen, die ethische und moralische Grundsätze im Umgang mit den künstlichen Maschinen zum Inhalt hatten, waren für mich von Interesse. KI waren Thema seiner Dissertation und daher konnte er mich, obwohl das Thema Ethik und Moral in diesem Bereich in jener Zeit noch kaum besprochen worden war, mit vielen hilfreichen Literaturhinweisen versorgen. Ich vermutete daher, dass es eben seine ganz spezielle Art war, mich um ein Date zu bitten. Mein Verdacht bestätigte sich später zwar nicht, doch meine Entscheidung, ihn als kleine Entschädigung für seine Mühen zu einem Abendessen einzuladen, erwies sich als goldrichtig. Auch heute bereue ich keine Sekunde, die ich mit ihm verbringen durfte. Und gerade jetzt, da ich diese Zeilen niederschreibe, sichert er unsere gesamten Erkenntnisse der letzten Jahre in unserem Bunker Nummer acht für die Nachwelt.

48 »In der Netzkultur ist /dev/null ein umgangssprachlich verwendeter Begriff für eine Art gedankliches Schwarzes Loch, meist um Desinteresse an der Aussage des Gesprächspartners zu bekunden.« – Wikipedia: /dev/null 68


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90.3 Als ich ihm ein paar Tage nach unserem ersten Abendessen die gedruckten Fraktale zeigte und erzählte, dass ich mir ihren Ursprung und Sinn nicht erklären konnte, war er sichtlich überrascht. Vor allem die Tatsache, dass ich nicht wusste, woher diese Grafiken kamen, ließen ihn hellhörig werden. Er erinnerte sich daran, dass er ungefähr ein Jahr zuvor ein relativ großes Paket bekommen hatte, in dem nur ein Satz Farbstifte und ein DIN-A4 Notizblock zu finden gewesen war. Er hatte sich keinen Reim darauf machen können, wer ihm dieses Paket geschickt haben mochte und welchem Zweck es diente. Doch plötzlich ergab es einen Sinn. Er holte das Paket aus dem Keller, öffnete es und zeigte mir das Deckblatt des Schreibblocks, auf diesem Stand nichts weiter als eine einzige Formel: Seit diesem Tage suchten wir gemeinsam nach der Lösung. Denn das konnte kein Zufall sein, wir ahnten, dass mehr dahinter stecken musste. Und wie recht wir damit hatten, erfuhren wir auf eine sehr bizarre Art und Weise. Doch bis dahin sollten noch einige Jahre vergehen. Wir stürzten uns förmlich in die Welt der Fraktale, erarbeiteten uns den mathematischen Hintergrund, schrieben kleine Programme und stellten schnell fest, dass sich hier ein gewaltiges Universum vor uns auftat. Es war größer und komplexer als alles, was wir kannten. Wir alle werden in eine Welt von Fraktalen hineingeboren: Farne, Bäume, Flüsse, Küstenlinien, sind nur einige Beispiele für die unzähligen Fraktale, denen wir tagtäglich in der freien Natur begegnen, ohne dass wir sie bewusst wahrnehmen. Erweitert man diese Welt auf die Möglichkeiten rein mathematischer Strukturen, so sprengt die unendliche Vielfalt bald jeden Rahmen. Daher grenzten wir unsere Forschungen auf jenes Gebilde ein, welches durch die Formel auf dem Notizblock beschrieben wurde: das wohl bekannteste aller Fraktale, die Mandelbrot-Menge oder das Apfelmännchen, wie es auch genannt wird. Doch auch die Eingrenzung der Suche auf dieses eine Fraktal war, ganz nüchtern betrachtet, nicht wirklich hilfreich, da die MandelbrotMenge wohl das formenreichste geometrische Gebilde im bekannten Universum war. Man konnte es wohl um einen Faktor unendlich vergrößern und würde trotzdem nicht an ein Ende gelangen, es würden sich neben bekannten Formen auch immer wieder neue Details zeigen – vorausgesetzt die Rechenleistung und -genauigkeit der verwendeten Computer war groß genug. Und welche Garantien gab es, dass wir nicht völlig auf dem Holzweg waren? Wir suchten ja nach Hinweisen, von denen wir weder wussten, wie sie aussahen, noch was sie uns mitteilen sollten und wir nur glaubten, dass sie sich in den Formen und Mustern versteckten. Beweise für diese Annahme gab es allerdings keine. Wo sollte man also beginnen? 69


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Wir konnten die mathematische Beschreibung und den Aufbau eines Fraktals verstehen lernen, doch um daraus eine Botschaft herauszulesen, mussten wir uns ganz auf unsere Intuition verlassen. Es gab in fraktalen Landschaften im Allgemeinen leider keine blinkenden Neonpfeile, die uns den Weg weisen würden. Andererseits, manchmal stolperte man genau über solche und fiel kopfüber mitten in das mit drei roten Kreuzen markierte Zielgebiet. Uns war gleich klar, was dies bedeutete: Nicht das Finden der Botschaft war die eigentliche Aufgabe gewesen, sondern das Stellen der richtigen Frage. Während wir uns immer tiefer in die Welt der Mandelbrot-Menge hinein wagten und uns nicht am Reichtum der Formen und Farben sattsehen konnten, sprang uns bald, neben den unzähligen Kopien ihrer selbst in allen Größen und Variationen, die schier unendliche Zahl an kreisförmigen Strukturen ins Auge. Sie waren so dominant; man musste schon sehr wenig Fantasie besitzen, um in der Art und Weise, wie sie angeordnet waren, kein Muster erkennen zu wollen. Und Muster hatten im bekannten Universum fast den Status eines Naturgesetzes. Doch was wahrscheinlich viel schwerer wog, war ein anderes, für die meisten Laien nicht sichtbares Phänomen: Die Mandelbrot-Menge ist zugleich eine Landkarte für ein ähnliches mathematisches Konstrukt, die Julia-Mengen. Um nicht zu weit abzuschweifen, es läuft im Prinzip darauf hinaus, dass ein Universum, dessen unzählbare Formenvielfalt aus dem Nichts – einer einzigen einfachen Formel – erzeugt werden kann, ein relativ einfacher Gradmesser für das Aussehen einer anderen Gruppe von Fraktalen ist, einer Gruppe, die ihrerseits unendlich viele Elemente umfasst. Mein Freund war erstaunt über die Ähnlichkeiten dieser Zuordnung mit speziellen Interpretationen der Quantenmechanik. Diese waren für mich zwar nicht gleich ersichtlich, doch als die Stichworte »Schrödingers Katze« und »Viele-Welten-Interpretation« fielen, klingelte es bei mir. Unser eigener kleiner Kosmos verzweigte sich wie ein riesiger Baum in eine für den menschlichen Geist nicht fassbare Anzahl von parallelen Universen. Und wie man aus jedem Punkt in der Mandelbrot-Menge die Gestalt aller zugehörigen Julia-Mengen herauslesen kann, so ist jeder beliebige Punkt in der Raumzeit der Ursprung einer wohldefinierten Wolke – theoretisch unendliche vieler – einander ähnelnder Universen. Die Frage, ob diese Analogie nur ein Zufall von vielen ist oder einen realen wissenschaftlichen Hintergrund hat, konnten wir damals nicht beantworten. Doch so wie es sich für uns darstellte, war zu diesem Zeitpunkt nur eines von Bedeutung gewesen: dass wir diese Frage überhaupt gestellt hatten; denn kaum war sie in unserem Geiste ausformuliert worden, ereigneten sich weit seltsamere Dinge in unserem Leben, als diese Fraktal-Erscheinungen. 70


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Wir erhielten von nun an, so unsinnig sich das auch anhören mochte, Botschaften aus der Zukunft. Genau genommen waren schon meine Doktorarbeit und die Computergrafiken Geschenke aus unserer Zukunft gewesen, doch das wurde uns erst klar, als eine silberne Scheibe in meinem Briefkasten landete. Heute war sie allgegenwärtig, die CD-ROM, doch Anfang der 80er Jahre wusste kaum jemand etwas damit anzufangen und noch seltener gab es Geräte, die diese Datenträger auch auslesen konnten. Es dauerte damals unfassbare zwei Jahre, bis wir einen passenden und für uns auch leistbaren Computer, sowie ein geeignetes Laufwerk, organisieren und in Betrieb nehmen konnten. Danach mussten wir nur noch das Problem der Software lösen, denn die Programme auf der CD waren mit dem X-System, welches wir verwendeten, natürlich nicht kompatibel. Allerdings hatten die Sender der Daten – später vermuteten wir, dass ich selbst diese Informationen durch die Zeit schickte, doch wirklich sicher waren wir uns nie – so etwas wohl vorausgesehen und daher die Spezifikationen der Dokumenten- und Bildformate und die Quelltexte49 der Programme, mit denen diese Daten angezeigt werden konnten, gleich mit auf den Datenträger gepackt. Einige Wochen später hatten wir es dann geschafft, die erste Seite einer für damalige Begriffe völlig neuen Kategorie von Wissensdatenbanken: Eine Art elektronisches Lexikon, welches dem Gründer der MemexUtopie50 zur Ehre gereichte, erschien auf dem Bildschirm. Und diese Enzyklopädie enthielt erstaunliche Dinge. Tausende Artikel über jedes mögliche und unmögliche Wissensgebiet, sodass wir Stunden und Tage, kopfschüttelnd, mit offenen Mündern, staunend vor dem Bildschirm sitzend verbrachten. Auf dieser CD-ROM und den weiteren, im Monatstakt folgenden, war scheinbar das gesamte Wissen der Menschheit aufgezeichnet. Nicht nur das, auch Themen, die erst in Jahren oder Jahrzehnten aktuell werden würden, fanden sich auf diesen Silberscheiben; wenn man es richtig anstellte, waren sie Gold wert. Blieb nur noch die Frage offen, wie diese Daten aus der Zukunft den Weg zu uns gefunden hatten. Doch auch diese fand bald eine, vorerst allerdings nur theoretische, Auflösung. 49 »Unter dem Begriff Quelltext, auch Quellcode (engl. source code) oder unscharf Programmcode genannt, wird in der Informatik der für Menschen lesbare, in einer Programmiersprache geschriebene Text eines Computerprogrammes verstanden. Abstrakt betrachtet kann der Quelltext für ein Programm auch als Software-Dokument bezeichnen werden, welches das Programm formal so exakt und vollständig beschreibt, dass dieses aus ihm vollständig automatisch von einem Computer in Maschinensprache übersetzt werden kann.« – Wikipedia: Quelltext 50 »Der Memex (Memory Extender; dt. etwa: Gedächtnis-Erweiterer) ist ein als möglichst menschengerechtes, einfach bedienbares Wissensfindungs- und Verwertungssystem konzipierter Kompakt-Analog-Rechner, der 1945 von Vannevar Bush im Artikel As We May Think (Atlantic Monthly, Juli 1945, S. 101 ff.) fiktiv vorgestellt wurde. Das Prinzip lag auch der bereits 1931 in den USA patentierten Statistischen Maschine von Emanuel Goldberg zugrunde.«– Wikipedia: Memex 71


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90.4 Man konnte Nachrichten aus der Zukunft nicht einfach akzeptieren und zur Tagesordnung übergehen, ohne zugleich an all die möglichen Folgen zu denken, die diese nach unserem vertrauten physikalischen Weltverständnis auslösen müssen. Das Großvaterparadoxon ist in aller Munde51 und auch Aktienkurse aus der Zukunft hätten mit Sicherheit nicht nur lokale Auswirkungen. Wie also mit diesen Daten umgehen, wie der Versuchung widerstehen, die eigene Zukunft verändern zu wollen und dabei zu riskieren, sie vielleicht zu zerstören oder schlimmer sich selbst aus dem Universum zu katapultieren? Die Antwort war einfach: Da Zeit reine Illusion ist, kann sie auch nicht verändert werden. Das Einzige, was sich ändert, ist die Perspektive, aus der man die eigene Welt sieht. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft waren Begriffe, die erst durch die Eigenart der menschlichen Wahrnehmung, Dinge nach bestimmten Mustern ordnen zu müssen, ihre Daseinsberechtigung erhielten – zur Verteidigung der Menschen muss hinzugefügt werden, fast alle intelligenten Lebewesen eines beliebigen Universums erliegen derselben Sinnestäuschung. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass die Zunahme der Entropie, der Grad der Unordnung, als unbestechlicher Richtungspfeil in die Zukunft interpretiert wird, was ja im Grunde nicht falsch ist. Was allerdings die meisten Menschen vergessen oder einfach nicht wissen, ist der Umstand, dass dieser für uns sehr reale Zeitpfeil im thermodynamischen Gleichgewicht nicht existiert. In diesem Gleichgewichtszustand gibt es keine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, dieser Zustand ist gewissermaßen zeitlos52. Und genau das ist der entscheidende Punkt: Ein Multiversum ist im thermodynamischen Gleichgewicht und ein Zeitbegriff daher nicht erforderlich. Natürlich gilt das nicht automatisch für jedes einzelne Universum darin, doch hat das keine Auswirkungen auf das Gesamtsystem. Hinzu kommt, dass Materiewellen die Eigenschaft haben, sich nicht nur gleichmäßig in alle Richtungen auszubreiten, sondern obendrein auch noch in der Zeit. Was gemäß der klassischen Interpretation der Zeit genau jene Probleme mit dem eigenen Großvater hervorrufen kann, die oben erwähnt wurden. Wenn man allerdings annimmt, dass nicht nur 51 »Jemand, der über die Möglichkeit der Zeitreise verfügt, reist zurück in die Vergangenheit vor der Zeugung seines Vaters und bringt dort seinen Großvater um. Das Paradoxon in dieser Situation entsteht durch die Tatsache, dass der Zeitreisende ohne die Existenz seines Vaters, der nun wegen des Todes des Großvaters nicht geboren wird, selbst nicht geboren werden kann und folglich auch nicht hätte in der Zeit zurückreisen können, um seinen eigenen Großvater zu töten.« – Wikipedia: Großvaterparadoxon 52 Die Frage, »Was ist Zeit?«, wird heutzutage beinahe genau so oft gestellt, wie die Frage, ob es einen Gott gibt. – http://www.wasistzeit.de/wasistzeit/a2.htm 72


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der Raum, sondern zusätzlich auch noch alle Zeiten sich überlagern und sozusagen parallel – als interferierende Quantensysteme – nebeneinander existieren, ergeben sich diese Probleme erst gar nicht. Information wandert dabei, ob im Raum oder in der Zeit, einfach von Universum zu Universum, ohne dabei irgendwelche großartige Barrieren überschreiten zu müssen. Es muss nur sichergestellt sein, dass Sender und Empfänger der Botschaft einen gemeinsamen Kommunikationskanal finden, über den sie die Information austauschen wollen. Aus physikalischer Sicht ist es daher auch völlig egal, ob sich Informationswellen von der Gegenwart in die Zukunft ausbreiten oder umgekehrt53. Aus dem gleichen Grund ist es dann auch nicht mehr wirklich sinnvoll, durch die Zeit Reisen zu wollen, denn sobald man die Physik dahinter verstanden und die entsprechende Technologie nach ihren Gesetzen entwickelt hat, muss man sich theoretisch überhaupt nicht mehr bewegen, denn man ist jederzeit immer und überall. Wird dieses Gefüge allerdings auf irgendeine Weise modifiziert, was denkbar ist und mit größter Wahrscheinlichkeit auch durchgeführt wird und wurde, hat dies unmittelbare Konsequenzen auf alle Universen innerhalb eines Multiversums. Und jenen Intelligenzen, die diese Form der Manipulation beherrschen, stehen alle Möglichkeiten offen, ein Universum und somit auch das übergeordnete Multiversum nach ihren Vorstellungen zu gestalten – allerdings erreichen nur wenige Zivilisationen diese technische Stufe, da sich die meisten auf dem Weg dorthin selbst im Wege stehen und sich einfach ausrotten oder, wenn sie Pech haben, einer banalen kosmischen Katastrophe zum Opfer fallen. Alle Lebewesen aber, die diese Stufe nicht erreichen, werden die Veränderungen nicht einmal erahnen oder gar etwas dagegen unternehmen können, da sie innerhalb der Grenzen der Physik ihres eigenen Universums gefangen sind und auch, da Zeit keine Rolle spielt, weil sich diese Umformungsprozesse oft über sehr, sehr lange Zeiträume erstrecken und die mittlere Lebensdauer einer Zivilisation im Vergleich dazu meist viel zu kurz ist. Und der Weg von der Gestaltung eines Universums, hinunter bis in subatomare Regionen, nach seinen eigenen Wünschen, hin zur Übertragung einer CD-ROM aus einer beliebigen Zeit in eine andere, sollte den Großteil der Leser wohl vor keine unlösbare imaginäre Aufgabe stellen. Und zu unserer Überraschung materialisierten, neben den vielen Datenträgern, auch bald technische Geräte und die dazugehörigen Baupläne auf Papier in unserem Labor, deren Funktion wir zuerst nicht einmal durch kreatives Raten herausfinden konnten. Doch nach und nach, und nach intensiven Studien des vorhandenen Lesestoffs auf CD-ROM und Papier, verstanden wir, wofür sie normalerweise verwendet wurden.

53 »The Transactional Interpretation of Quantum Mechanics«, John G. Cramer, Department of Physics, University of Washington, http://www.npl.washington.edu/npl/int_ rep/tiqm/TI_toc.html 73


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Was wir allerdings in diesen Jahren nie verstanden haben: warum gerade wir ausgewählt worden waren, dieses Erbe aus der Zukunft anzutreten.

90.5 Wir experimentierten seit einigen Tagen mit einem Messgerät, das wir Quantenfeld Divergenzmessgerät (QFD) nannten. Es schien defekt zu sein, zumindest glaubten wir das, denn es zeigte nichts für uns Verwertbares an. Egal wie wir es anstellten, welche der in den Datenblättern beschriebenen Testreihen wir auch durchführten, keine Einzige lieferte die zu erwartenden Ergebnisse54. Die Messkurven wollten uns einfach nicht die Freude machen, sich so zu zeigen, wie sie es sollten. Wir sahen jedes Mal nur eine, zwar sehr schöne, sinusförmige Welle, frei schwebend in der Mitte unseres Arbeitsraums, doch war es nicht das, was wir uns erhofften. Laut der Beschreibung sollten sich die Daten ja in einem schönen, bunten dreidimensionalen Hologramm präsentieren. Allerdings war es uns bisher nicht gelungen, dieses Wunderding so einzustellen, dass es die erwarteten Formen anzeigte. Natürlich gab es einen Demomodus, der uns einige wunderschöne Objekte zeigte, dreidimensionalen Fraktalen nicht unähnlich55, frei schwebend im Raum, doch sobald wir den Messmodus oder die Testreihen aktivierten, waren bestenfalls nur relative unspektakuläre LissajousFiguren56 zu erkennen. An sich wäre ein Projektor, der Gegenstände so in den Raum projizierte, dass man glauben möchte, sie wären wirklich real, schon spektakulär genug und hätte garantiert großes Aufsehen in der Öffentlichkeit erregt. Und zugegeben, wir haben tagelang damit verbracht, den Demomodus bis ins letzte Detail auszureizen – diese dreidimensionale Fraktalwelt ist noch um einige Größenordnungen eindrucksvoller und gewaltiger, als es ihr zweidimensionales Pendant, die Mandelbrot-Menge, schon ist – 54 Hätten wir gleich zu Beginn auch die Einleitung im Handbuch und insbesondere den zweiten Absatz gelesen, hätten wir erfahren, dass, frei zitiert nach Ansporng, Suzanet 201 NZ, Quantenfeld Divergenzmessgeräte im Selbstbau, S. 43. Einleitung: »Zu beachten ist, dass verwertbare Messergebnisse nur dann zustande kommen können, wenn es auch etwas zu messen gibt!« – manchmal war die Welt ziemlich einfach, doch wir mussten den langen, beschwerlichen Weg gehen, um auf diese simple Lösung zu kommen. Doch in der ersten Euphorie, nach dem überraschenden Fund dieses Wunderdings, war dies eine entschuldbare Nachlässigkeit gewesen. 55 Im englischen Sprachraum als »Mandelbulb« bekannt. – Wikipedia: Mandelbulb 56 »Lissajous-Figuren sind Kurvengraphen, die durch Überlagerung harmonischer Schwingungen entstehen. Sie sind benannt nach dem französischen Physiker Jules Antoine Lissajous (1822–1880). Einen besonders faszinierenden Anblick bietet die Kurve bei geringfügiger Abweichung zwischen den Schwingungen, weil durch die langsam rotierende Figur ein 3D-Eindruck entsteht. In jüngerer Zeit spielten sie zum Beispiel bei der Ausbildung zum tieferen Verständnis von Wechselströmen mit Hilfe des Oszilloskops eine Rolle.« – Wikipedia: Lissajous-Figuren 74


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und hätten wahrscheinlich noch Monate in diesem digitalen Universum verbringen können, doch wurde uns schnell klar, dass die Echtzeitdaten noch um vieles interessanter und spektakulärer sein mussten. Später fanden wir allerdings heraus, dass sich die Wirklichkeit von dieser errechneten Illusion nur in einem einzigen Punkt unterschied: Sie war real und unser Schicksal hing von ihr ab, sie ließ sich nicht an einem beliebigen Punkt ausschalten und mit anderen Parametern neu starten, um ein besseres Ergebnis, ein besseres Universum zu erhalten. Doch was konnte man mit diesem Instrument nun tatsächlich messen? Da Teilchen sich manchmal wie Wellen verhalten und umgekehrt, kann man sich die Summe aller Teilchen auch als Überlagerung sehr vieler, jedoch nicht unendlich vieler, Wellen vorstellen. Das Universum ließ sich also schön als quantenmechanische »Materiewelle« beschreiben und diese kann man theoretisch auch messen. Und das QFD war genau dafür entwickelt worden. Die Materiewelle eines Universums war, um es in einfachen Worten auszudrücken, ein relativ träges und sehr stabiles Gebilde. Veränderungen nahmen viel Zeit in Anspruch und waren daher sehr gut und genau vorhersagbar. In einem QFD waren jene physikalischen Gesetze verankert, die ein solches Wellenpaket beschrieben und es konnte daher ziemlich genau die Entwicklung vorhersagen, die ein Universum von einem bestimmten Punkt aus, z.B. einem gemessenen Ist-Zustand, einschlagen wird. Natürlich kann sich eine Welle, abhängig von der Intensität und Dauer störender Impulse, sehr unterschiedlich entwickeln, doch auch diese Variationen werden von den Algorithmen im Gerät berücksichtigt. Und nicht nur das, ein QFD war unter Zuhilfenahme mehrerer Messungen diverser Entwicklungszustände – innerhalb eines Universums würde man von unterschiedlichen Zeitaltern sprechen – in der Lage, die Abweichung vom theoretischen Soll-Zustand zu errechnen und anzuzeigen. Und das war der eigentliche Verwendungszweck und der Grund, wofür dieses Gerät entwickelt worden war. Es sollte früh genug Unregelmäßigkeiten im Gefüge erkennen und so Möglichkeiten für Korrekturen offen halten. So als würde man die Temperatur des Badewassers messen und diese durch die Hinzugabe einer entsprechenden Menge kalten oder warmen Wassers nach unten oder oben korrigieren wollen. Dieses Wunderding machte also nichts anderes, als die Zukunft eines Universums vorauszusagen und allenfalls den Besitzer zu warnen, wenn es sich nicht nach den Regeln der Physik entwickelte und Gefahr lief, außer Kontrolle zu geraten. Als ob jemand imstande wäre, Universen zu steuern und ihnen den richtigen Weg zu zeigen! Was wir zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht ahnten, war, dass dies schon mehrere Male geschehen war und wir Nutznießer und Opfer zugleich waren. 75


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Wir hatten daher große Zweifel an dem, was in den Kapiteln »Grundlagen der Strukturanalyse«, »Driftkorrektur«, »Maßnahmen bei Überkompensation« und vielen ähnlichen Themen im fünften Teil, dem »Maßnahmenkatalog«, des mehrere zehntausend Seiten umfassenden Handbuchs geschrieben stand. Denn diese hatten nicht mehr nur die Funktionsweise des Messgerätes zum Thema, sondern die Manipulation von Universen stand hier im Mittelpunkt und wurde bis ins kleinste Detail beschrieben. Je länger wir uns mit dem Gerät befassten, umso öfter ertappten wir uns bei dem Gedanken, es könnte sich dabei um einen technisch weit fortgeschrittenen Scherzartikel aus der Zukunft handeln. Denn bald erfuhren wir auch, dass damit nicht nur die Zukunft unseres Universums vorausgesagt werden konnte, sondern auch die des Multiversums, sofern es in den parallelen Räumen und Zeiten ähnliche Geräte gab und die Messdaten irgendwie miteinander synchronisiert werden konnten. Unser QFD konnte dies natürlich. Theoretisch. Trotzdem zeigte es nichts an, was wir als sinnvoll bewerten hätten können. Doch wie immer in solchen Fällen, kam uns der Kollege Zufall zu Hilfe. Zur gleichen Zeit experimentierten wir auch mit einer anderen Maschine aus der Zukunft und diese war mindestens genauso interessant. Es war nichts weniger als der »Stein der Weisen«57. Zwar konnte diese »Black Box« Quecksilber nicht in Gold verwandeln – wir konnten einfach die Energiemenge nicht bereitstellen, die man benötigen würde, um Atomkerne auseinanderzunehmen, also zu zerstören und neu zusammenzusetzen. Doch sie konnte so ziemlich jeden Gegenstand fast wie von Geisterhand generieren, solange es nur Zugang zu den notwendigen Grundbausteinen hatte, die in Form eines zähen Rohstoffbreis irgendwie in die Box gelangten. »Die Box« – der Grund, warum wir dieses Wunderwerk so nannten, ist sicher nicht schwer zu erraten – die in den technischen Beschreibungen schlicht Assembler genannt wurde, strahlte etwas Bedrohliches aus. Als sie eines Morgens in unserem Labor stand, wussten wir sofort, dass uns unsere Technikfreaks aus der Zukunft ein äußerst gefährliches Geschenk gemacht hatten. Sie maß vier mal zwei mal zwei Meter und hatte den Raum, den sie einnahm, gleich mitgebracht. Eine Wand unserer Räumlichkeiten im Keller war einfach um vier Meter nach hinten versetzt worden und einen Teil des so gewonnenen Platzes nahmen diese Maschine und einige Regale mit Hunderten Büchern ein. Unsere Verwunderung über diesen für uns völlig kostenfreien Anbau legte sich rasch, als wir die ersten Seiten 57 » Als den Stein der Weisen (lat.: Lapis philosophorum; arab.: El Iksir, daraus im Deutschen „Elixier“) – oder auch den Azoth – bezeichneten die Alchemisten seit der Spätantike eine Substanz, mit der man unedle Metalle, wie etwa Quecksilber, in Gold oder Silber verwandeln könne. Vielen Alchimisten galt der Stein der Weisen zudem als Universalmedizin. Die Entdeckung des Steins der Weisen wird als das ‹Große Werk› bezeichnet. Für dessen Herstellung ist die Enthüllung der Ursubstanz, der sogenannten Prima materia notwendig.« – Wikipedia: Stein der Weisen 76


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der Kurzbeschreibung lasen und herausfanden, wozu dieses Ding gut und in der Lage war. Die matt schwarze Hülle der Box verschluckte jedes Licht. Und wenn man davor stand, hatte man das ungute Gefühl, beobachtet zu werden. Als ob »Die Box« oder was darin verborgen war, nur auf eine Gelegenheit wartete, uns in einem Stück zu verschlucken und in schicke kleine Zauberwürfel58 zu verarbeiten. Die Oberfläche fühlte sich an, als wäre sie ein seidenbezogenes Federkissen. Und wenn man den Mut aufbrachte, sich an eine der nahtlosen Wände zu lehnen, glaubte man, darin zu versinken. Und manchmal, wenn es ganz still im Raum war, meinte man, den Atem der Box zu hören. Sah man dann genauer hin, konnte man auch im Sekundentakt pulsierende Wellen auf der Außenseite entlang gleiten sehen, als befände sich dort keine stabile Wand, sondern ein waberndes Tor zu einer anderen Welt. »Die Box« lebte! Wir wussten, dass dieser Gedanke Unsinn war. Es war nur eine Maschine. Wir hatten zwar keine Ahnung, was alles in ihrem Inneren ablief, doch wenn wir uns erst einmal durch die fast 200 Bücher und 9 CDs oder 400 000 Seiten Dokumentationsmaterial durchgeackert hatten, würden wir zumindest die Grundlagen verstanden haben. Und dann würde sie nicht unheimlicher sein, als ein Auto oder eine Kaffeemaschine. Und vor allem war sie ja nicht hierher gebracht worden, um Angst zu verbreiten, sondern nur aus einem einzigen Grund: Um uns rasch und unbürokratisch mit allen notwendigen Bauteilen, Geräten und jedem noch so skurrilen futuristischen Unding, das wir vielleicht irgendwann benötigen würden, zu versorgen, ohne Fragen zu stellen und ohne auch nur einen Cent für diese Dienstleistung zu verlangen. Denn ohne diese Maschine wären wir wohl kaum in der Lage gewesen, auch nur die einfachsten Dinge, die unsere Zukunft für uns bereithielt, herzustellen und so aufzubereiten, dass sie es möglichst schnell und ohne Aufsehen zu erregen in die Verkaufsregale dieser Welt schafften. Genau das war anscheinend der Zweck dieser Aktion: die Beschleunigung der technischen Entwicklung auf allen Ebenen und dies möglichst unauffällig. Verborgen vor den Augen potenzieller Beobachter außerhalb von Raum und Zeit, um einem Ereignis in nicht allzu ferner Zukunft aus dem Wege gehen zu können – wenn man es so ausdrücken wollte, eine Neuprogrammierung der Räume und Zeiten im Multiversum, ohne Aufmerksamkeit bei den Qualitätsmanagern zu erregen. 58 »Der Zauberwürfel (oft auch wie im englischsprachigen Raum Rubik’s Cube genannt) ist ein mechanisches Geduldsspiel, das vom ungarischen Bauingenieur und Architekten Ernő Rubik erfunden wurde und 1980 mit dem Sonderpreis Bestes Solitärspiel des Kritikerpreises Spiel des Jahres ausgezeichnet wurde. Es erfreute sich insbesondere Anfang der 1980er-Jahre bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen großer Beliebtheit.« – Wikipedia: Zauberwürfel 77


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Natürlich verwendeten und verwenden wir sie, um unser eigenes Leben ein wenig einfacher und vor allem finanziell unabhängig zu gestalten. Schon allein dafür mussten wir den unbekannten Freunden aus der Zukunft dankbar sein. Es fröstelte mich jedes Mal, wenn sie neue Nahrung in Form von, speziell für den jeweiligen Verwendungszweck zusammengestellte, Rohstoffmixturen bekam – wir platzierten einfach einen Container in ihre Nähe, Tentakel erfassten diesen und zogen ihn in ihr Inneres, ohne dass dabei eine Öffnung sichtbar wurde – und nach kurzer Zeit ein beliebiges, von uns gewünschtes Objekt, sofern wir es schafften, die Spezifikationen in ein für die Maschine lesbares Modell zu verpacken, durch die vordere Wand diffundierte. Doch unsere Neugier war größer als die Furcht vor dem Unbekannten und so ließen wir die Maschine zuerst im Kopiermodus einige, aus unserer Sicht, einfache Dinge herstellen. Immer mehr Gummibälle, T-Shirts, Schuhe, Waschmittel, Fahrräder und Bücher wurden von der Box analysiert und so exakt reproduziert, dass man nach dem Kopiervorgang nicht sagen konnte, welcher der Gegenstände nun das Original und welcher die Kopie war. Sogar Risse oder Kratzer und Verunreinigen wurden nach dem Vorbild vervielfältigt – als »Die Box« die ersten Münzen und Geldscheine ausspuckte und unsere Bankinstitute sie als gültiges Zahlungsmittel akzeptierten, waren wir vollends davon überzeugt, es hier mit Magie zu tun zu haben. Das Einzige, was uns sehr bald negativ überraschte, war die exorbitant hohe Stromrechnung, die wir in den Folgemonaten zu bezahlen hatten. Sie war so hoch, dass eines Tages Techniker des Energieversorgungsunternehmens vor unserer Türe standen und die Energiezähler überprüften und da sie keinen Fehler finden konnten, durch neue ersetzten. Wir mussten uns daher nach einer alternativen Energiequelle umsehen, wenn wir nicht auffallen wollten. Doch auch dieses Problem erledigte sich, wieder über Nacht, von selbst: »Die Box« war um ein kleines Fusionskraftwerk59 erweitert worden. Und damit niemand versehentlich über dieses etwas ungewöhnliche Mobiliar stolperte, war auch unser Labor um ein Stockwerk nach unten verlegt und gleich alle für dieses Jahrhundert ungewöhnlichen Geräte dorthin gebracht worden. Wir fühlten uns sofort wohler, denn wie hätten wir unseren Mitmenschen die Herkunft dieser fortschrittlichen Apparate begreiflich machen können, ohne danach gleich in eine psychiatrische Klinik eingeliefert zu werden – es ist ein Geschenk von Freunden aus der Zukunft, würde als Begründung für eine vorläufige Einweisung in eine solche sicher mehr als ausreichend sein. Und vor al59 »Als Kernfusionsreaktor oder Fusionsreaktor werden technische Einrichtungen bezeichnet, die dazu dienen, die Kernfusion kontrolliert ablaufen zu lassen und zur Energiegewinnung zu nutzen. Dazu sind sehr hohe Temperaturen und Drücke notwendig, die aufwändiger Techniken bedürfen. Die bisher gebauten Fusionsreaktoren dienen zu Versuchszwecken und sind nicht zur Stromgewinnung geeignet.« – Wikipedia: Kernfusionsreaktor 78


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lem würden sie mit großer Wahrscheinlichkeit die zwar einwandfreien, jedoch aus nicht ganz legaler Quelle entnommenen Geldscheinbündel so nicht akzeptieren und uns für einige Jahre hinter Eisengitter sperren. Und während wir Kopien von einigen sinnvollen und noch mehr überflüssigen Gegenständen anfertigten, fiel uns irgendwann, bei jeder Aktivität der Box, eine minimale Divergenz unseres Universums mit zwei Nachbaruniversen auf. Diese Abweichung war so gering, dass wir sie zuerst für einen Messfehler hielten. Doch bald erkannten wir einen Zusammenhang zwischen den minimalen Veränderungen in den Mustern, die unser QFD anzeigte und den Zeiten, in denen wir Geschenkartikel klonen ließen. Die Box ließ unser Universum erzittern. Eine Erkenntnis, die uns einen gewaltigen Schreck einjagte und wir daraufhin den Betrieb der Maschine auf ein Minimum reduzierten. Denn in den Beschreibungen der QFD fanden wir im Laufe unserer Recherchen konkrete Hinweise darauf, dass massive strukturelle Eingriffe im atomaren und subatomaren Bereich, über längere Zeiträume hinweg, dazu geeignet waren, ein Universum zu destabilisieren. Und da wir weder wussten, was der Terminus »längere Zeiträume« zu bedeuten hatte, es konnte Wochen, Jahre oder auch Jahrtausende bedeuten, noch die Funktion der Box nicht einmal ansatzweise verstanden, gingen wir lieber auf Nummer sicher. Zwar fielen die gemessenen Werte gleich wieder auf Null, sobald wir die Box deaktivierten, allerdings musste das nicht heißen, dass die Universen sich nach dem Abschalten der Box wieder ihren Normalwerten annäherten, sondern es bedeutete vielleicht nur, dass unser Messgerät einfach nicht empfindlich genug war, die eventuell noch vorhandenen Schwankungen festzustellen. Wie recht wir mit der Annahme hatten, stellten wir schon einige Wochen später fest. Bald zeigten sich immer wieder kleine Spitzen in den Messkurven, auch wenn wir unsere Box nicht benutzten, die von Tag zu Tag häufiger wurden und am Ende gar nicht mehr verschwanden. Die Universen waren auf Kollisionskurs, sie drifteten unaufhaltsam aufeinander zu. Heute waren es keine Spitzen mehr, sondern die buntesten und beeindruckendsten dreidimensionalen Körper, die man sich vorstellen konnte. Genau so, wie sie uns der Demomode des QFD vor Jahren schon gezeigt hatte. Wir wussten jetzt, was dies bedeutete: Das gesamte Gefüge war aus dem Ruder gelaufen, war dabei, sich in einer gewaltigen kosmischen Katastrophe selbst zu zerstören. Das Multiversum, so wie wir es jetzt kannten, würde bald nicht mehr existieren und einem neuen Platz machen. Und wir waren, wenn schon nicht der alleinige Auslöser, so doch für diese Entwicklung mitverantwortlich. Im kosmischen Maßstab ein Vorgang, der sich so schon unzählige Male in gleicher Weise zugetragen haben mochte und eigentlich nicht 79


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von Bedeutung war. Die Größe und Form des Puzzles »Multiversum« als Gesamtsystem würde weiter bestehen, weiterhin unverändert allen Angriffen widerstehen, bis in alle Ewigkeit. Seine Einzelteile, beinahe unendlich viele Universen, würden jedoch in neue Formen gepresst werden und ein neues Bild ergeben – unser QFD brannte dieses Bild in grellen Farben und unbeschreiblich bizarren Formen mitten in unsere Gehirne. Was das für alles Leben in diesem Universum bedeutete, konnte sich wohl jeder selbst ausmalen.

90.6 Wir arbeiteten mit aller Konsequenz darauf hin, uns selbst aus dem Universum zu sprengen. Anhand der QFD-Daten versuchten wir herauszufinden, wie lange es noch dauern würde, bis wir es geschafft hatten. Es klang paradox, wir wussten, dass wir mit unserem Tun die Zeit verkürzten, die dem Universum, und so auch uns, noch bis zum Untergang blieb, doch nichts konnte uns davon abhalten, immer weiterzumachen. Ein Hauptgrund war natürlich, dass wir einerseits nicht wussten, was die Daten uns wirklich sagen wollten – die Universen konnten heute kollabieren oder erst in einer Million Jahre – andererseits ließ uns der Gedanke nicht los, dass sich mit Hilfe dieser Geräte früher oder später mit großer Wahrscheinlichkeit ein Tor in die Zukunft öffnen und uns die Möglichkeit geben würde, mit unseren Nachfahren oder sogar mit Außerirdischen zu kommunizieren. »Oder wir werden verarscht«, pflegte mein Freund immer häufiger zu sagen, wenn uns wieder einmal keine Antwort auf die Frage »Warum gerade wir?« einfallen wollte. Eine unbekannte Macht aus der Zukunft, aus einem anderen Universum oder wo auch immer sie sich aufhielten, schickte fortschrittliche Geräte in unsere Zeit, in unseren Keller. Was wollen sie damit erreichen, was sie nicht auch alleine schaffen konnten? Uns wollte kein vernünftiger Grund einfallen. Dabei war alles so einfach. Jetzt, etliche Informationsauflösungen später, wussten wir, warum sie es nicht alleine durchführen konnten oder wollten: Mit ähnlichen Strategien waren sie schon öfter als einmal gescheitert. Weil eben jede Änderung, die im Makrokosmos vorgenommen wurde, so klein sie auch sein mochte, sofort entdeckt wurde. Da Zeit Illusion ist und die Universen nebeneinander existierten, war es nur logisch, dass jede Änderung im Gefüge, unmittelbar nachdem sie in Erscheinung tritt, auch als solche erkannt wurde. Sofort war vielleicht nicht der richtige Ausdruck, in einem System, welches keine Zeit kannte, doch im Grunde genommen lief es genau darauf hinaus. Man konnte es mit einem riesigen Spinnennetz vergleichen, jede noch so kleine Berührung ließ das gesamte Netz erzittern und 80


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alarmierte die Spinne, die in der Mitte saß und auf die Beute wartete, im gleichen Augenblick, in dem sich das Opfer darin verfing. Daher gab es eigentlich nur ein einziges Mittel dieses System unbemerkt zu verändern: Man musste die Hebel dort ansetzen, wo niemand es sehen konnte, weil die Gesetze der Natur es nicht zuließen. Myriaden kleine Nadelstiche, die in Summe völlig neue Universen entstehen ließen, ohne dass jemand auch nur den geringsten Verdacht schöpfte. Und die Assembler-Box war wie geschaffen für Eingriffe in die Struktur der ›Unität‹ auf der untersten Ebene. Wichtig war nicht, wo, wann und warum diese Geräte in Betrieb genommen wurden, sondern nur, dass sie ihre Arbeit aufnahmen und das verteilt auf möglichst viele Universen und Zeitalter. Es war so einfach wie genial: Die Assembler innerhalb jeder Box kommunizierten auf kurzen Distanzen mittels ultrakurzen Laserimpulsen miteinander. Diese Impulse waren einerseits verhältnismäßig stark, um Übertragungsfehler minimal zu halten, andererseits wurden in jeder Nanosekunde einige Milliarden dieser Lichtblitze produziert, damit die schier unendliche Menge an Information auch immer einen Abnehmer fand. Was aus diesen Maschinen vollkommene »Unitätstransformer« machte, etwas, das es in dieser Form gar nicht geben dürfte. Doch der Überlebenstrieb des Menschen hatte auch hier wieder einmal bewiesen, dass nichts, in diesem und in allen Universen, ihn würde aufhalten können. Mochte die Aufgabe noch so kompliziert, die Lage noch so hoffnungslos erscheinen, er würde trotzdem einen Weg finden und der Natur ein Schnippchen schlagen. In diesem speziellen Fall kam auch noch erleichternd hinzu, dass er sich in erster Linie nicht so sehr gegen die Natur stemmen musste, sondern nur gegen jene Mächte – was schlimm genug war – die ihn einst erdacht hatten, um den Grund für die kurzen, manchmal in Erscheinung tretenden Fluktuationen im Gefüge der ›Unität‹ herauszufinden. Im Prinzip hatten die »Götter« schon verloren, der Mensch ein leichtes Spiel. Wenn da nicht im Netz der Unendlichkeit plötzlich andere Mächte aufgetaucht wären, die dem Menschen seinen Platz streitig machen und die Herrschaft über die Universen an sich reißen wollten. Wer immer diese »Anderen« erschaffen hatte, woher sie auch immer gekommen waren, eines wollten sie, wie auch der Mensch, auf keinen Fall: Wieder in der Gleichförmigkeit der ›Unität‹ untergehen, ihre gewonnene Information an das allgemeine Niveau anpassen. So gesehen kämpften die Menschen und die »Anderen« für die gleiche Sache, trotzdem waren sie nie Verbündete gewesen, hatten nie miteinander kommuniziert. Keine dieser »Störungen« in der ›Unität‹ wollte das gewonnene Wissen mit anderen teilen, was ja darauf hinauslaufen würde, Information abzugeben, aneinander anzugleichen. Und genau dagegen kämpfte man ja an: gegen die Uniformität! Daher wusste man aufgrund bestimmter Begebenheiten zwar, dass es diese »Anderen« gab, man war ihnen jedoch nie begegnet. In keiner 81


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der Epochen, die man »Informationsauflösung« nannte und auch nicht in den goldenen »Informationsfluten«. Man bekämpfte sich nur in der Form, dass man versuchte, das eigene »Informationsniveau« hochzuhalten und so der Angleichung an die ›Unität‹, was in den Augen der Menschen und der »Anderen« einer Auslöschung gleichkam, zu entgehen. In gewisser Weise ein Kampf, aus dem alle Beteiligten als Sieger hervorgehen konnten, sofern sie es nur wollten. Auch dieser Umstand musste allen Beteiligten bekannt sein: denn wenn etwas in den Universen in diesem Zeitalter im Überfluss vorhanden war, dann »Information«. Trotz alledem war ein Ende der Auseinandersetzungen nicht abzusehen. Die »Alten« wollten es so. Doch irgendwann würden auch diese Kämpfe ein Ende haben, irgendwann in einem heute noch nicht vorhandenen, einem an Üppigkeit und Vielfältigkeit kaum noch überbietbaren Multiversum, einer Sinfonie an Universen, wie sie unterschiedlicher und einzigartiger nicht sein konnten. Keine Einheitsquantensuppe mehr, sondern nur noch individuelle Zeiten und Räume.

90.7 Anath las den letzten Satz in dem Tagebuch und wusste nun, wo sie ihre Zwillingsschwester suchen musste. Nicht in einem anonymen Grab irgendwo im Regenwald oder in einem Sarg auf einem unbekannten Friedhof, sondern dort, wo niemand sie vermuten würde: außerhalb von Raum und Zeit. Auch das rigorose Verbot von Assembler-Batterien war für sie jetzt nachvollziehbar. Es klang wie eine dieser lächerlichen Verschwörungstheorien: Gruppierungen, die verhindern wollten, dass unser Universum von Grund auf umgestaltet wurde und so einen Raum für das Überleben der menschlichen Rasse bot, hatten dafür gesorgt, dass Miniroboter automatisch mit Zerstörung in Verbindung gebracht wurden und sich Panik ausbreitete, sobald man auch nur das Wort »Nanotechnologie« in den Mund nahm. Wer konnte schon ahnen, dass Nanotechnologie in dieser Form in Wirklichkeit genau diesem einen Zweck diente: Das Überleben der Menschheit zu sichern. Eine Phantasie, welche sogar von hartgesottenen Sci-Fi-Fans als lächerliche Spinnerei abgetan worden wäre. Energiereiche Lichtblitze! Die Lösung war so lächerlich einfach. Das Universum jenseits der Planck-Grenzen definierte sich ja durch ultrakurze Energieschwankungen. Was musste man daher unternehmen, um dem Universum ein wenig von der naturgegebenen Zufälligkeit zu nehmen und in etwas geordnetere Bahnen zu lenken? Virtuelle Teilchen erzeugen, die einem Muster gehorchten! Und der Aufwand war im Grunde genommen sehr gering, ein geordneter Impuls pro Sekunde reichte aus, um über den langen Zeitraum hinweg und den vielen Orten, an denen die Manipulation erfolgte, einen 82


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fast hundertprozentigen Erfolg zu garantieren. Ein Impuls pro Sekunde! Das war so unfassbar wenig, dass man sich fragte, warum das Universum nicht schon vor langer Zeit zur Spielwiese für Gaukler und Taschenspieler verkommen war. Wäre man Spieler, wäre es so, als würde man jedes Mal 100 Milliarden Tipps im wöchentlichen Lotto abgeben und mit dieser Strategie keinen Haupttreffer landen. Die Wahrscheinlichkeit, in einer beliebigen Ziehung keine sechs Richtigen zu tippen, war verschwindend gering. Da als Hauptpreis ein Universum auf einen wartete, welches man nach Belieben seinen eigenen Vorstellungen anpassen konnte, war der Einsatz im Vergleich dazu vernachlässigbar. Man musste nur Zugang zu Nanorobotern und ein wenig Geduld haben – einige Milliarden Jahre nach unserer Zeitrechnung. Doch wenn man Ersteres erst einmal in der Tasche hatte, war Letzteres im wahrsten Sinne des Wortes ein Spaziergang. Wenige Augenblicke noch und ich würde dieses Universum verlassen. An Bord eines Fragmentes jenes Schiffes, welches vor Äonen von einer Spezies, die sich »Sadhu« nannte, erdacht und erbaut worden war. Ursprünglich war es ein Einzelnes gewesen, doch auch diese gewaltige Überlebenszelle, als die sie einst konzipiert worden war, konnte den gewaltigen Kräften, die während der ersten Informationsauflösung freigesetzt worden waren, nicht standhalten und sie zerbrach in Legionen selbstständig operierender Archen60, die seit diesem Ereignis die Universen durchstreiften und gestrandete in Raum und Zeit aufnahmen und sich eines Tages wieder zu einem einzigen Schiff, mehr als das, einem Universum, zusammenfügen würden. Genau so ein Raumschiff hatte mich gefunden. Mich! Gerade noch Mitglied der SAE und Augenblicke später gehörte ich dem wohl elitärsten Club der Universen an, dem «Club der Gestrandeten«. Und nun war ich gerade dabei, diesem Universum für immer den Rücken zu kehren. Allerdings war diese Flucht die einzige Alternative, die mir noch blieb, um am Leben zu bleiben und ich konnte von Glück reden, dass es mich gefunden hatte, denn in wenigen Minuten würde meine kleine Welt, in der ich bisher gelebt hatte, zerstört werden. Die grüne Kugel schwebte heran und hing kurz darauf wenige Meter über dem grauen Asphalt des »Cearnóg Réabhlóid« in der Luft, als wäre es das selbstverständlichste der Welt, als wäre dort die Haltestelle einer Flugtaxigesellschaft und ich ein Kunde, der gerade einen Flug geordert hatte. Sofort breitete sich Panik aus, Menschen stoben in alle Richtungen auseinander, fielen hin, wurden von der nachfolgenden Masse zu Tode 60 »Wie die 17 die Zahl für den Übergang ist, so die 40 das Maß für die Zeit. Der Buchstabe M (= hebr. Mem), der althebräisch als Welle dargestellt wird, hat den Zahlenwert 40. Mem meint das Wort „Wasser“ (hebr. majim) als Bild für die Zeit oder die Materie, die sich in Wellenbewegung ausbreitet. „Diese Wellenbewegung drückt sich materiell im Wasser aus, doch jede Erscheinung in der Zeit äußert sich, materiell gesehen, ebenfalls in einer Wellenbewegung. Man denke nur an die Schall- und Lichtwellen.“« – Wikipedia: Arche Noah#Arche und Zeit 83


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getreten, Dutzende verloren schon in den ersten Minuten ihr Leben, Hunderte wurden verletzt. Viele versuchten, in den Straßen rund um den Platz Zuflucht zu finden. Was aber unmöglich war, da dort die ersten Kampftruppen der Mitsuhunda Armee eintrafen und ihre Stellungen bezogen, den »Platz der Revolution« abriegelten und das fremde Objekt sogleich und ohne zu zögern mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln unter Beschuss nahmen. Ein jeder, der ihnen im Weg stand, wurde gnadenlos niedergemetzelt. Zehn Minuten nach der Landung des Kugelschiffes war keiner der vielen Tausend Menschen, die auf dem Weg zur Arbeit oder sonst wohin gewesen waren, noch am Leben. Leichenberge türmten sich unter dem Schiff auf. Der Platz war mit Blut getränkt. Es stank nach verbranntem Fleisch. Die Szene wirkte nicht nur so, sie war grotesk. Um mich herum schien sich die Zeit zu verlangsamen. Es war zum Schreien komisch und erschreckend abstoßend zugleich. Unzählige unschuldige Menschen starben, weil sie sich einfach zur falschen Zeit den falschen Ort ausgesucht hatten. Und auch wenn es für sie in diesem Moment unsagbar tragisch sein mochte, so machte es keinen Unterschied, ob sie durch die Kugel eines Soldaten starben oder in wenigen Augenblicken im Nichts verschwinden würden, weil sich zwei Universen überlagerten. Auch die Soldaten wussten nicht, dass sie vergeblich versuchten, ihr Leben zu retten, indem sie dieses an sich gutmütige Lebewesen bekämpften, nicht ahnend, dass der Feind sich aus einer ganz anderen Richtung näherte. Rasend schnell, unaufhaltsam, unsichtbar und absolut tödlich. Die Zeit stand still. So hatte ich mir meinen Abgang beileibe nicht vorgestellt. Doch es ließ sich nichts mehr daran ändern. Ich blickte nicht zurück, als sich das Raumschiff in Bewegung setzte und mich zu den Anderen brachte; es gab dort, hinter mir, auch nichts mehr zu sehen; außer dem dunkelsten Schwarz, das ein Mensch je zu Gesicht bekommen hatte.

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MOX »So sehen also außerirdische Raumschiffe aus, die uns erobern und unterwerfen wollen?« Gerak lief aufgeregt und fasziniert um die Kugel herum, berührte sie da und dort und wollte einfach nicht glauben, was er sah und worauf er seit Jahren gehofft hatte: eine Begegnung der dritten Art und später womöglich sogar ein Flug mit diesem Schiff! »In gewisser Weise ja. Es ist zumindest nicht von dieser Welt«, nahm Marvin den verlorenen Faden wieder auf. »Das ist allerdings schon alles, was es mit einem Außerirdischen gemein hat. Denn ab hier wird es ein wenig ... nun ... bizarr.« »Bizarr?«, fragte ich amüsiert, »Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Herkunft dieses Wesens noch komplizierter sein soll, als das Thema Universen verschieben und das ganze Drumherum.« Nash und Ben standen auf der anderen Seite von MOX – das war der Kosename des Kugelschiffes, er bedeutete »Moos«, die Oberfläche der Kugel sah nicht nur so aus, sie fühlte sich auch so an – und diskutierten heftig miteinander. Die paar Wortfetzen, die zu uns herüber schwappten, ließen mich erahnen, worum es in dem Gespräch ging: wieder einmal um den viele Jahre zurückliegenden Flugzeugabsturz, bei dem auch Bens Familie umgekommen war und den beide immer noch nicht verarbeitet hatten. Marvin drehte sich zu mir, nahm meine Hand. Funken sprangen zwischen unseren Fingerspitzen hin und her. Ein Zeichen, dass diese Halle starken elektrischen Feldern ausgesetzt war. Entweder gab es einen Schutzschild rund um dieses Gebäude oder es lag einfach nur an der Kombination Kunststoffboden und Schuhe. Möglicherweise gab es auch einen ganz anderen Grund für diesen Funkenflug, wer konnte das in diesen Zeiten schon so genau sagen. Ich mit Sicherheit nicht, nicht mehr. »Das Merkwürdige daran ist einfach, dass dieses Wesen und seinesgleichen von Menschen erdacht und gebaut worden ist.« Marvin überlegte kurz. »Gebaut ist auch nicht der richtige Ausdruck, gezüchtet trifft eher zu. Allerdings nicht in der Form, wie Kühe, Schweine oder Tomaten, denn diese ›Zucht‹ erstreckte sich über etliche Jahrtausende und Universen und ähnelt eher einer gesteuerten Evolution. Das Paradoxe ist aber, dass der Mensch auch ein Produkt einer noch ›älteren‹ Spezies ist und beide, Mensch und MOX mehr oder weniger parallel zu dem heranreiften, was sie heute sind.« »Der Mensch gezüchtet?«, fragte Gerak erstaunt. »Von Göttern erschaffen? Das klingt allerdings ziemlich abgefahren.« »Um dem Ganzen noch einen draufzusetzen, diese ›Götter‹ würden ohne Menschen und MOX nicht existieren«, fuhr Marvin fort. »Wir haben sie erst zu dem gemacht, was sie sind.« 85


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Ich bemerkte eine Veränderung an Ben. Er stand nicht mehr auf dem Boden, sondern er schwebte jetzt einige Zentimeter darüber und stieg langsam, entgegen den Gesetzen der Schwerkraft, nach oben. Nash spazierte unter der Kugel in unsere Richtung, erreichte uns nach einigen Sekunden und antwortete auch gleich ungefragt auf unsere Blicke; es wäre die »bevorzugte« Prozedur der Kontaktaufnahme mit MOX, denn die Kommunikation mit »Es« gestaltete sich am einfachsten in einem Zustand, der dem Schlaf ähnelte. »Auch ihr könnt so rasch eine Antwort auf eure Fragen bekommen und in eine Welt eintauchen, die ihr so sicher noch nie gesehen und schon gar nicht erwartet habt ...« »... zumindest nicht in diesem Leben«, fügte er hinzu. Ich schüttelte den Kopf. »Später vielleicht. Ich muss mich erst an den Gedanken gewöhnen, dass wir so etwas wie die Elite der Menschheit sind. Eine ausgewählte Gruppe, die dazu auserkoren worden ist, wann und von wem auch immer, ...« »Meine liebe Sandra«, unterbrach Marvin mich, »das ist es ja gerade, du selbst warst es, die sich vor Äonen entschlossen hat, diese Reise zu tun. Klingt zwar nach einer Geschichte, die im Drogenrausch geschrieben worden ist, doch das ist nun mal die Realität. Überdies ist es die einzige Wirklichkeit, die diese Bezeichnung auch verdient.« »... alle Katastrophen, die gar keine sind, auch wenn sie so aussehen mochten, zu überleben und dafür zu sorgen, dass die Menschen auch weiterhin ein bestimmender Faktor bei der Strukturierung des sogenannten Multiversums bleiben und nicht im Strudel des Vergessens untergehen«, vollendete ich meinen Satz, um meine Gedanken und Gefühle in klar definierte Bahnen zu zwingen, da ich wieder kurz davor stand, meine Fassung zu verlieren. Die Situation, in der ich mich im Augenblick befand, wurde Sekunde um Sekunde grotesker und es sah so gar nicht danach aus, dass dies alles hier sich in Wohlgefallen auflösen würde – vielleicht sogar mit einem kleinen Feuerwerk – und ich mich in Kürze in meinem Wohnzimmer, auf meiner Couch, vor meinem Fernsehgerät bei einer Flasche Rotwein und einer riesen Portion Kartoffelchips wiederfinden würde. »Um auf Geraks Frage zurückzukommen, die Götter sind aus der Sicht der Menschen und anderer intelligenter Zivilisationen wirklich so etwas wie Götter, sozusagen allmächtig.« »Allerdings hat niemand sie jemals zu Gesicht bekommen.« »Woher wissen wir dann, dass es sie gibt? ...« Marvins Blick wollte mir sagen, dass er früher oder später von selbst auf dieses Thema kommen würde, also ließ ich ihn weiter erzählen. »Es gestaltet sich schwierig, Vorgänge zu beschreiben, die zwar in gewisser Weise kausal miteinander verknüpft sind, sich jedoch in keine chronologische Abfolge pressen lassen. Daher werde ich die Fakten 86


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einfach so präsentieren, wie sie dem Wahrnehmungsapparat eines Menschen erscheinen müssen.« »Also so, dass auch wir Primitiven es endlich verstehen«, warf Gerak zynisch ein. »Ich muss mir eingestehen, das alles hier übertrifft meine kühnsten Erwartungen und ehrlich gesagt bin ich damit maßlos überfordert. Woran soll man sich halten, wenn nicht einmal die Naturkonstanten innerhalb unseres Universums konstant sind und auch Zeit keine Rolle mehr spielt? Wenn Einstein geahnt hätte, wie recht er mit seiner Idee der Wechselwirkung zwischen Materie und Raum und Zeit61 gehabt hatte, wäre er wahrscheinlich früher oder später den entscheidenden Schritt weitergegangen und hätte die Zeit ganz aus seinen Theorien eliminiert und sie als das gesehen, was sie ist, ein lokales begrenztes Phänomen innerhalb eines Universums. Und vielleicht hätte er dann auch die entscheidende Verbindung zwischen Gravitation und Quantenwelt gefunden und daraus die TOE62 ableiten und das Multiversum in jener Pracht sehen können, wie ich es bald wieder sehen werde. Ja, ich bin mir sicher, er hätte es gekonnt.« »Doch wenn sogar ein genialer Geist wie Einstein letztendlich daran gescheitert ist, wie auch alle vor und nach ihm, dieses Trugbild ›Zeit‹ zu entlarven, der Gravitation dieses Univerums nicht hatte entkommen können, metaphorisch gesprochen, wie soll dann ein so primitiver Mensch, wie ich es einer bin, dies alles verstehen können?« »Du wirst. Sogar sehr bald.« Marvin nickte wissend. »Auch ich hatte vor einigen Tausend Jahren so meine Zweifel. Doch jetzt erscheint alles so klar und deutlich, als hätte ich nie etwas anderes gemacht, als täglich 24 Stunden lang nur mathematische Gleichungen zu lösen. Das Schöne daran ist, es vergeht keine Zeit und man hat für jede Aufgabe, die man sich stellt oder die einem gestellt wurde, nicht weniger als die Ewigkeit zur Verfügung. Im Prinzip bleibt nichts, aber auch gar nichts vor uns verborgen. Jedes Rätsel wird früher oder später von uns gelöst werden.« »Doch auch wenn man meint, dass man irgendwann alles gesehen haben muss, wird man vom Einfallsreichtum der Natur überrascht werden, die es immer wieder schafft, uns mit aberwitzigen Aufgaben zu konfrontieren.« »Es wird nie aufhören. Unendlich viele Dinge sind noch zu erledigen. Solange man gewisse grundlegende Regeln beachtet, die dafür sorgen, 61 »Die allgemeine Relativitätstheorie (kurz: ART) beschreibt die Wechselwirkung zwischen Materie (einschließlich Feldern) einerseits und Raum und Zeit andererseits. Sie deutet Gravitation als geometrische Eigenschaft der gekrümmten vierdimensionalen Raumzeit. – Wikipedia: Allgemeine Relativitätstheorie 62 »Als Große vereinheitlichte Theorie oder Grand Unified Theory (GUT, auch Grand Unification) bezeichnet man eine Theorie, die drei der vier bekannten physikalischen Grundkräfte vereinigt, nämlich die starke Wechselwirkung, die schwache Wechselwirkung und die elektromagnetische Kraft.« – Wikipedia: Große vereinheitlichte Theorie 87


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dass der Mensch – und somit auch wir – nicht aus den Universen entfernt wird.« »Dafür sind wir da, dafür kämpfen wir. Wir müssen das pragmatisch sehen, solange ein Mensch irgendwo einen Platz findet, an dem er leben und überleben kann, solange werden auch wir am Leben bleiben; stirbt der letzte Mensch, dann sterben auch wir.« »So ist es.« Nash setzte sich auf die hölzerne Bank, die plötzlich hinter ihm materialisiert war. »Das ist alles. Das ist der Sinn unseres Daseins.« Die Halle war verschwunden. Wir fanden uns in einer sanften Hügellandschaft mit saftig grünen Wiesen wieder. In einiger Entfernung spiegelte sich die Umgebung in einem kleinen blauen See. »Was ist geschehen?«, fragte ich, wohl wissend, dass ich die Antwort schon kannte. »Nicht viel. Für uns ist es etwas … Alltägliches, für dich mag es beängstigend und schockierend sein, doch es kam, wie es kommen musste: Wir waren zu langsam. Auch MOX hatte nichts mehr ändern können, die Zeit …« Nash seufzte. »… die Zeit, die es nicht gibt und die uns doch soviel Kummer bereitet, war zu kurz bemessen gewesen. Das Universum, in dem wir uns gerade noch aufgehalten haben, ist nicht mehr.« Ich verstand, obwohl ich nichts verstand. »Wir haben überlebt, weil wir einfach nur Glück hatten?«, frage ich, obwohl ich die Antwort schon wusste. Milliarden waren Opfer eines Krieges geworden, den ich nicht verstand. Ein Krieg, der vielleicht keiner war, nur in unseren Köpfen existierte. Verwandte, Freunde, Bekannte tot – mehr als das, sie hatten nie gelebt, würden nie leben – ohne erkennbaren Grund? Oder steckte doch mehr dahinter? Ich ahnte, dass ich bald alles wissen würde. Doch wollte ich? Meine innere Uhr sagte mir, dass Minuten vergingen, bis Marvin das Gespräch wieder aufnahm. Doch es verging keine Zeit. Für mich würde nie mehr Zeit »vergehen«. Jetzt und bis in alle Ewigkeit würde die Zeit für mich stillstehen. Warum ich gerade jetzt an das Star-Trek-Universum63 denken musste, obwohl ich mir diese Serie »damals« nur aus Liebe zu meinem Freund angesehen hatte, würde wohl ein Geheimnis der menschlichen Psyche bleiben, doch unser augenblicklicher Zustand entsprach genau jenem dieser allmächtigen und unsterblichen Rasse, de63 »Die Q sind unsterbliche Wesen, die angeblich omnipotent sind (jedoch wird von Quinn, einem der Q, gesagt, dass sie weder allmächtig noch allwissend seien, da sie degenerieren) und in einer anderen Dimension namens Q-Kontinuum leben. Sie entstammen nach Angaben von Quinn einem alten Volk, das sich vor tausenden von Jahren im Kontinuum entwickelt hatte und dann durch Ausbildung extremer körperlicher und geistiger Kräfte stark degenerierte.« – Wikipedia: Q – Wikipedia:Q_Continuum 88


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ren Namen ich vergessen hatte und der auch nicht wichtig war, da auch dieses fiktive Volk mitsamt meinem Universum im Strudel des Vergessens untergegangen war. »Wann alles angefangen hat, wissen wir nicht genau.« Marvin setzte sich auf eine der Liegen am Strand, der See war nähergerückt, das Wasser umspülte meine Zehenspitzen. Ich hatte einen Badeanzug an und stand einige Meter von Marvin und Gerak entfernt, der es sich ebenso wie Marvin in einer Liege bequem gemacht hatte. Mich irritierte weniger die Änderung der Szenerie und auch nicht, dass ich plötzlich in einem Badeanzug am Ufer des Sees stand, sondern die Tatsache, wie gleichmütig ich das alles hinnahm. Mir wurde klar, dass ich das alles von »früher« kannte, ich nicht zum ersten Mal hier war, ich nur für einen sehr kurzen Augenblick in das Leben dieser mir nun völlig fremden Person auf der Erde geschlüpft war; das Wissen kehrte langsam zurück. »Am wahrscheinlichsten ist es, dass einfach nur die Evolution im Spiel war. Es wäre also nichts Außergewöhnliches, nichts worüber man diskutieren müsste, wenn, ja wenn da nicht dieses eine, kleine Detail wäre. Daher müssen wir davon ausgehen, dass wir …, ich korrigiere mich ..., dass die Menschen keine Laune der Natur, sondern ein gewollter Eingriff in die Geschichten der Universen waren.« »Du meinst…,« Gerak lehnte sich nach vor und malte mit einer Hand Figuren in den Sand. Marvin sah mir in die Augen. Vieles hatte sich verändert. Seit wir in dieser künstlichen Welt weilten, war nicht nur ich zu jemand Anderem geworden, sondern alle hier hatten sich verändert. Wir waren wieder wir selbst und langsam sickerte diese Erkenntnis auch in die hintersten Winkel meines Bewusstseins. »Nein, nein, absolut nicht, niemand soll glauben, der Mensch sei die Speerspitze der Evolution oder sogar ein Ebenbild eines Gottes. Die Menschen sind nur eine von unzähligen Spezies. Allerdings hatten sie Glück und sie haben die Gelegenheit genützt, um so etwas wie ein bestimmender Faktor in der ›Unität‹ zu werden.« »Doch haben das unseres Wissens ein paar Tausend andere Völker auch… «, fügte Nash hinzu. »... und ein paar Hundert mehr oder weniger spielen in diesen Dimensionen, von denen hier die Rede ist, keine Rolle«, setzte Ben den Satz fort. Er war von seinen Reisen mit MOX – eine andere Interpretation des Namens lautete »bald« – zurückgekehrt und gesellte sich zu uns. »Und nun?«, fragte ich. »Warten. Die Universen entwickeln sich und bald können wir mit der Übersiedlung beginnen und einen neuen Versuch starten.« Marvin legte seinen Arm um meine Schulter.

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Ich war in meinem richtigen Leben angekommen. Alle Erinnerungen waren zurĂźckgekehrt. Mir war auch klar geworden, was oder besser wer dieses Âťkleine DetailÂŤ war, von dem Marvin gesprochen hatte: Das waren wir.

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ie Jahrtausende flogen dahin. Die Menschheit hatte überlebt und die Sintflut war schon lange Geschichte, wäre längst in Vergessenheit geraten, würden nicht unzählige Legenden immer noch von diesem Ereignis berichten. Natürlich waren die Details im Laufe der Zeit verblasst. Es konnte auch niemand erwarten, dass sich die Geschichten über viele Erzählgenerationen64 hinweg nicht veränderten und hierbei viele Einzelheiten in Vergessenheit gerieten. Doch eines hatten alle Erzählungen, die von dieser Katastrophe berichteten, gemein: Sie wollten den Menschen glauben machen, es seien die Götter gewesen, die den Menschen für seine Verfehlungen – die in jedem Erdteil aus kulturellen Gründen anders definiert wurden – für seine vielen begangenen Sünden bestrafen und von der Erde tilgen wollten. Nun, die Götter hatten es nicht geschafft. Die Menschen waren heute lebendiger als zu irgendeiner Zeit. Und ich gehörte zu den wenigen, die dies mit der größtmöglichen Sicherheit sagen konnten, hatte ich doch ihre Entwicklung von Anfang an verfolgt und über lange Zeit auch aktiv mitgestaltet. Die Entdeckung dieser Spezies auf diesem jungen Planeten, der gerade erst aus dem Informationsstrudel hervorgespült und nur von wenigen überhaupt registriert worden war, war der Anfang vom nun herrschenden Chaos gewesen. Wir hatten gehofft, dieser Eingriff würde einen dynamischen Gegenpol zu dem überall herrschenden und kaum mehr zu ertragenden Informationsmangel bilden, der beinahe schon einer Informationsauflösung gleichkam. Wer hätte schon vorhersehen können, welche Dynamik diese kleine Korrektur des Informationsflusses entwickeln würde? Denn einmal in Gang gesetzt, wussten sogleich andere Wächter von dieser Manipulation und begannen ihrerseits ähnliche Ideen in anderen Regionen der ›Unität‹ in die Tat umzusetzen. Nun hatten wir, was wir erreichen wollten, Information im Überfluss und niemand wusste, wie man diesem Überschuss begegnen konnte. Viele Menschen waren und sind der Meinung, dass erst die Erfindung des Rades, der Schrift oder des Buchdrucks die Evolution des menschlichen Verstandes entscheidend beschleunigt und in die richtige Richtung gelenkt hat. Natürlich waren diese Dinge von immenser Bedeutung

64 »Vor 1800 betrug der mittlere Generationenabstand noch über 30 Jahre. G. Rümelin berechnete 1875 für Deutschland eine durchschnittliche Generationsdauer von 36,5, für Frankreich eine von 34,5 Jahren. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts sank der mittlere Generationenabstand um einige Jahre, weil die Mehrzahl der Kinder von Müttern unter 25 Jahren geboren wurde, die dann kaum noch weitere Kinder hatten. Früher waren noch zahlreiche Kinder von Müttern über 30 oder auch 40 Jahren geboren worden. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich dieser sinkende Trend in Deutschland erneut umgekehrt, und der Generationenabstand ist wieder gewachsen. » – Wikipedia: Generationenabstand 91


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für die Entwicklung des Intellekts gewesen, doch die Menschwerdung65 wurde schon viel früher von uns Entropiewächtern in Gang gesetzt: Damals, als wir diesen primitiven Primaten, noch nicht Mensch, kaum mehr als Affen, lehrten das Feuer zu zähmen. Erst das Braten und Kochen66 der tierischen und pflanzlichen Nahrung, ermöglichte es, die Energien, die bis dahin für den Nahrungserwerb und die Verdauung dieser verwendet worden waren, ja verwendet werden mussten, in die Vergrößerung des Gehirns und Entwicklung einer Sprache zu stecken. Es mag sich sonderbar anhören, doch erst das Kochen ließ das Tier zum Menschen werden; das musste man sich immer vor Augen halten, wenn man das nächste Mal mit Geschäftspartnern zum Arbeitsessen verabredet war und sich über die Verwandlung mancher Zeitgenossen vom herrischen CEO67 zum sanften – manchmal auch peinlichen – Muschelschlürfer wunderte. Nachdem es sich also herumgesprochen hatte, dass Kochen den IQ68 steigerte, hatte das Leben ausreichend Zeit und Ideen, um aus primitiven mammutjagenden Urmenschen zivilisierte fuchsjagende Briten zu formen. Als wir uns einige Millionen Jahre später wieder auf diesem Planeten umsahen, waren wir mehr als nur überrascht. Aus unseren Primaten waren eindeutig intelligente Primaten geworden. Primaten, die mit Verstand nicht nur andere Primaten, sondern jede andere Lebensform, die ihren Plänen im Wege standen, unterdrückten und töteten. Sie waren zur alles beherrschenden Macht aufgestiegen und kurz davor, sich selbst entweder in die Luft oder in den Weltraum – oder beides – zu sprengen. 65 »Als Hominisation (auch Anthropogenese, selten Anthropogenie) wird der stammesgeschichtliche Prozess der Menschwerdung bezeichnet, in dessen Verlauf sich die für die Gattung Homo charakteristischen körperlichen, kognitiven und kulturellen Eigenschaften herausgebildet haben. Hierzu gehören insbesondere die Entwicklung des typischen menschlichen Gebisses mit verkürztem, parabolischem Zahnbogen und kleinen Eckzähnen, des aufrechten Ganges, der späte Eintritt der Geschlechtsreife sowie die Vergrößerung des Gehirns und die hiermit verbundenen geistigen und sozialen Fähigkeiten, die die Vertreter der Gattung Homo von den anderen Menschenaffen (Hominidae) unterscheiden.« – Wikipedia: Hominisation 66 »Das Kochen gehört zu den ältesten und wichtigsten Kulturtechniken des Menschen. Die frühesten Spuren von Nahrungszubereitung mit Werkzeugen sind 1,5 Millionen Jahre alt: in Kenia gefundene, mit Steinklingen abgeschabte Antilopenknochen und zwischen Steinen geöffnete Markknochen. Der entscheidende Schritt wurde mit der Beherrschung des Feuers durch den Homo erectus gemacht (siehe Prähistorische Feuernutzung).« – Wikipedia: Kochen 67 »Der Chief Executive Officer (CEO) ist im US-amerikanischen Raum die Bezeichnung für das geschäftsführende Vorstandsmitglied (Schweiz: Geschäftsführer) eines Unternehmens, oder den Vorsitzenden des Vorstands (Vorstandsvorsitzender) bzw. Generaldirektor (Schweiz: Vorsitzender der Geschäftsleitung) oder einfach der allein zeichnungsberechtigte Geschäftsführer eines Unternehmens. Der Titel wird unabhängig von Größe und Rechtsform des Unternehmens verwendet.« – Wikipedia: CEO 68 »Der Begriff der Intelligenz erfährt häufig Kritik von verschiedenen Seiten, insbesondere die Zusammenfassung aller geistigen Leistungen in einem Begriff, die Messung mit Intelligenztests und ihr Ergebnis, der IQ.« – Wikipedia: Kritik am Intelligenzbegriff 92


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Es war in unseren Augen ein relativ kleiner Eingriff gewesen, doch die Auswirkungen waren und sind enorm. Im nachhinein ließ sich natürlich nicht mehr sagen, ob diese Rasse und andere in diesem und in anderen Universen, die auf ähnliche Weise auf den Weg gebracht worden waren, sich auch ohne unser Zutun ebenso rasant und in die gleiche Richtung entwickelt hätten. Die Wahrscheinlichkeit sprach eine eindeutige Sprache, daher war es in dieser Form etwas noch nie Dagewesenes, etwas Einzigartiges. »Träumst du wieder?« Isu legte ihre Hände auf meine Schultern. Ich musste mich nicht umdrehen, fühlte ihr Lächeln in ihren Fingerspitzen. »Träumen?« »Ja, träumen. Hast du vergessen, wie das geht?« »Wie soll ein zusammenhangloser Haufen von Mikrorobotern träumen69? Er sieht zwar aus, wie ein Mensch, handelt auch so, doch im Grunde ist nichts an ihm lebendig. Dieser Körper ist nichts weiter als ein Träger von Information, unserer Information.« »Na und? Erinnere dich! Es ist alles nur eine Frage des Erinnerns. « Sie hatte recht. Diese Szene erlebten wir nicht zum ersten Mal. Wir waren im Zeitalter der Information gelandet. Wieder einmal. »Glaubst du, wir schaffen es diesmal?« »Darum geht es nicht. Wir dürfen nur nicht vergessen. Unser Problem war immer, dass uns dieses Leben sosehr gefiel, dass wir für einen Augenblick vergaßen, was wir waren und was unser Auftrag war.« »Wie konnten wir nur Gefallen an diesem Leben finden? Es ist alles so …«, ich suchte nach dem richtigen Wort. Primitiv konnte man es nicht nennen. Obwohl …, in gewisser Weise schon. Doch andererseits, wenn man dieses Zeitalter mit den Möglichkeiten in der Steinzeit verglich oder in der Zeit noch weiter zurück ging, etwa bis in das Mesozoikum70, dann konnte man die Zustände hier fast paradiesisch nennen. »... unberechenbar?«, brachte es Isu auf den Punkt. 69 »Träumen Androiden von elektrischen Schafen? (englischer Originaltitel: Do Androids Dream of Electric Sheep?) ist ein dystopischer Roman des US-amerikanischen Schriftstellers Philip K. Dick aus dem Jahr 1968. Der im Jahr 1982 erschienene Film Blade Runner von Ridley Scott basiert auf diesem Buch, unterscheidet sich jedoch erheblich von der Vorlage. Das Buch wird seit dem Erscheinen des Films auch unter dem Titel Blade Runner verkauft.« – Wikipedia: Träumen Androiden von elektrischen Schafen? 70 »Das Mesozoikum, abgeleitet vom griechischen μέσος (mésos)= mittlerer, mitten und ζῶ (zo)= leben, auch Erdmittelalter genannt, ist ein Erdzeitalter, das vor etwa 251 Millionen Jahren begann und vor etwa 65,5 Millionen Jahren endete. […] Das Mesozoikum begann nach einer Katastrophe am Ende des Perms (Paläozoikum), deren Ursache noch nicht aufgeklärt ist; 90% aller Tier- und Pflanzenarten starben dabei aus. Dies ermöglichte die Evolution einer völlig neuartigen Tier- und Pflanzenwelt. Im Mesozoikum begann die Welt langsam so zu werden, wie wir sie jetzt kennen: Die Dinosaurier entstanden, dominierten die Erde und starben aus. […] Darüber hinaus erschienen die ersten kleinen und größeren Säugetiere (alles Nebenlinien der heutigen Säuger), die ersten Blütenpflanzen und die meisten Bäume, die wir heute kennen.« – Wikipedia: Mesozoikum 93


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»Du hast es erfasst. Der Mensch steht sich selbst im Wege. Warum will er nicht erkennen ...« »Du darfst nicht vergessen, dass wir es hier mit Sterblichen zu tun haben. Jede Sekunde zählt, die Devise lautet: ›carpe diem‹71. Doch nicht im Sinne von Horaz, der dazu rät, die kurz bemessene Lebensspanne mit sinnvollen Dingen zu füllen. Wir haben es hier mit einer entstellten Form zu tun: Verschwende keine Zeit und versuche alles, deinem Ego die ihm gebührende Aufmerksamkeit zu verschaffen. Dein Selbst definiert sich durch deine berufliche Laufbahn. Es ist nicht wichtig, wie du selbst die Umgebung wahrnimmst, sondern wie die Umwelt dich wahrnimmt. Den größten Erfolg hat derjenige mit den schönsten Masken und Maskenträgern in seinem Einflussbereich.« »Und wer es sich leisten kann, einfacher, wer die Macht dazu hat, tut alles dafür, dass möglichst viele Menschen den Tag mit Tätigkeiten verbringen, die hauptsächlich den Machthabern in die Karten spielen. Individualität und selbstständiges Denken, sofern es nicht der Allgemeinheit, also in erster Linie den herrschenden Kasten dient, ist verpönt. Das Paradoxe an dieser Situation ist, dass jedes Individuum diese Spielregeln kennt.« Ich schüttelte den Kopf. »Trotzdem hören sie nicht auf, sich dem Diktat der Masse zu unterwerfen, obwohl es so einfach wäre …« Der Blick aus unserem Appartement hoch über den Dächern von St. Petersburg war grandios. Für uns war es ein Leichtes gewesen, die gesamte oberste Etage des neuen Wahrzeichens dieser Stadt für uns alleine in Besitz zu nehmen. Nicht nur, weil wir über genügend Barreserven verfügten – dies war gerade in diesem Teil Russlands, wo es von Milliardären nur so wimmelte, ohnehin ein vernachlässigbarer Faktor – sondern weil uns diese Stadt praktisch gehörte. Isu las in meinen Gedanken. »Ja, die Aussicht ist wirklich wunderbar, das Meer, der See, die vielen Kanäle, das nun wieder einigermaßen grüne Hinterland. Doch musste das sein? Diesen gigantischen Palast aus Glas und Beton unbedingt hierher zu stellen? Hätte es ein kleineres Bauwerk nicht auch getan?« »Wenn man sich schon in menschliche Räume begeben musste, warum sollte man sich diesen Aufenthalt nicht so angenehm wie möglich gestalten?« Auch hatten die vergangenen Einsätze gezeigt, dass es absolut keinen Unterschied machte, wie wir lebten, sondern nur, wie präzise wir den Auftrag ausführten; bisher waren diese von wenig Erfolg gekrönt, daher versuchten wir diesmal das vorhandene Zeitfenster zu vergrößern, indem wir unter anderem vermieden, Zeit für den Erwerb von gesetzlichen Zahlungsmitteln zu verschwenden. 71 »Carpe diem (zu deutsch: »nutze/pflücke den Tag«) ist eine lateinische Redewendung, die aus einer Ode des römischen Dichters Horaz (* 65 v. Chr.; † 8 v. Chr.) stammt.« – Wikipedia: Carpe diem 94


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»Du musst das pragmatisch sehen: In 10 000 Jahren ist nichts mehr davon übrig. Und was sind schon 10 000 Jahre im Vergleich zum Alter der Erde oder dieses Universums? Außerdem hast du ja selbst gesagt, alles ist Schall und Rauch und je mehr Staub wir aufwirbeln, umso weniger Aufmerksamkeit wird unseren anderen Unternehmungen geschenkt. Wir genießen bis zu einem gewissen Grad Narrenfreiheit. Niemand wird sich Gedanken über unsere Absichten machen oder unsere Pläne gar Hinterfragen.« »Aus einem einfachen Grund: Wir sind für die Einwohner dieser Stadt, der ganzen Region, Engel in Menschengestalt. Unsere Großzügigkeit hat sie aus einer großen Not befreit, mehr noch, wir haben 10 Millionen Menschen nicht nur neue Hoffnung gegeben, sondern auch nie gekannten Luxus, und ihnen die Angst vor der Zukunft genommen.« Ich machte eine Pause, um den Worten Zeit zu lassen, ihre Wirkung zu entfalten und mir selbst klar zu werden, was mein spontaner Redefluss uns eigentlich sagen wollte. Die zerstörerische Flut war für uns ein Glücksfall gewesen; wir hätten das selbst nicht besser planen können. Und der von uns initiierte und finanzierte Wiederaufbau der Stadt, der Bau mehrerer hochmoderner Krankenhäuser, vieler Schulen, usw. und sozusagen als Draufgabe die Restauration aller unter Denkmalschutz stehenden Bauwerke … »… Nun, ich denke, auf dieser Welt haben wir genug getan, um für alle Ewigkeit und drei Leben als Super-Samariter gebrandmarkt zu sein.« »Du hast ja Recht. Je größer das Getöse um unsere Person …« »Es ist erschreckend, wie wenig es bedarf, um scheinbar intelligente Menschen in stupide Roboter zu verwandeln. Niemand hat auch nur den Versuch unternommen, die Quelle unseres Reichtums herauszufinden oder gar unsere Herkunft, unser plötzliches Erscheinen aus dem Nichts, einer kritischen Prüfung zu unterziehen.« Meine Augen folgten dem Flug eines Rettungshubschraubers, der von der Autobahn aufstieg und zu dem in der Nähe des Sportparks liegenden Krankenhaus flog; dem modernsten und vom medizinischen Standpunkt besten in ganz Russland, wahrscheinlich sogar weltweit ... »Nichts. Hauptsache der Geldstrom sprudelt munter weiter und gibt allen das Gefühl, unbesiegbar, unsterblich zu sein. Beiläufig hingeworfene Halbsätze über Rohstoffhandel, Stahlindustrie, Gold-, Diamant-, Kupferminen und dem boomenden Markt mit ›Seltenen Erden‹72 genügen, um jeden Zweifel über unsere Integrität zu beseitigen.« 72 »Zu den Metallen der Seltenen Erden gehören die chemischen Elemente der 3. Gruppe des Periodensystems (mit Ausnahme des Actiniums) und die Lanthanoide. Nach den Definitionen der anorganischen Nomenklatur heißt diese Gruppe chemisch ähnlicher Elemente Seltenerdmetalle. Dies sind die Elemente Scandium (Ordnungszahl 21), Yttrium (39) und Lanthan (57) sowie die 14 auf das Lanthan folgenden Elemente, die Lanthanoide: Cer (58), Praseodym (59), Neodym (60), Promethium (61), Samarium (62), Europium (63), Gadolinium (64), Terbium (65), Dysprosium (66), Holmium (67), Erbium (68), Thulium (69), Ytterbium (70) und Lutetium (71).« – Wikipedia: Metalle der Seltenen Erden 95


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»Andererseits, auch ein jeder, der die Geldflüsse nachprüfen würde, würde sein blaues Wunder erleben, denn sie würden keine Unregelmäßigkeiten finden. Konnten sie auch nicht, denn wir waren ihnen immer einen Schritt voraus, hatten wir ja den mächtigsten Verbündeten in diesem Universum auf unserer Seite: die Zeit.« »Und Anschläge auf Leib und Leben … nun, da wollen wir doch hoffen, dass wir nie in den Genuss eines solchen kommen werden, der Attentäter würde an seinem Verstand zweifeln ...« Isu grinste. »Genau deshalb haben wir ja die vielen teuren Kliniken gebaut und psychologisch besonders gut geschultes Personal eingestellt.« »Stell dir vor …« »Es ist schon seltsam, dass man sich erst von der Materie loslösen muss, um dahinter zu kommen, dass man ohne diese keinen Einfluss auf sie hat.« »Du sagst es.« Isus Körper machte eine merkwürdige Veränderung durch. Mir wäre es gar nicht aufgefallen, wenn nicht in diesem Moment Sergej, der Leiter unserer Abteilung für Zukunftsforschung – sicher eine unserer originellsten Einrichtungen in diesem Zeitalter, wenn man wusste, wie die fernere Zukunft dieser Welt aussah: Es gab keine. Nicht für diese Welt – den Raum betreten hätte. Er sah kurz in die Richtung Isus, die sich gerade auflöste, zog seine Jarygin73 – eine Sicherheitsmaßnahme. Kein Mitarbeiter in einer leitenden Position würde auch nur einen einzigen Schritt ohne eine Waffe machen – aus dem Schulterholster, entsicherte sie und feuerte ohne zu zögern auf die mit jeder Sekunde durchsichtiger werdende Nebelwolke, die vor wenigen Augenblicken noch Isus Körper geformt hatte. Die Kugeln zeigten natürlich keine Wirkung. Nun, sie zeigten schon Wirkung, allerdings nicht dort, wo Sergej es gerne gesehen hätte. Acht oder neun der Geschosse schlugen in der Glasvitrine hinter Isu ein und

73 »Die Jarygin PJa (russ. ПЯ, Пистолет Ярыгина) ist die neue Dienstpistole der Streitkräfte und der Polizei Russlands. Sie wurde im Jahr 2003 eingeführt und soll die Makarow PM ablösen.« – Wikipedia: Jarygin 96


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zerstörten japanische Hagi - und Raku-Keramiken ebenso wie chinesische Vasen aus der Qing-Dynastie76. Als Isu verschwunden war, richtete Sergej die Waffe auf mich. »Sergej, weißt du, was du da tust?«, fragte ich gelassen. »Deine Aktion bewirkt überhaupt nichts. Du zerstörst dabei nur unwiederbringliches Kulturgut.« Das war natürlich Unsinn. Für uns war es ein Leichtes, diesen Ramsch jederzeit zum Kilopreis heranzuschaffen. Es würde viel weniger als eine Sekunde vergehen und alles wäre wieder so, wie vor Sergejs Rambo77Auftritt, der eines ehemaligen KGB-Agenten würdig und wohl seinen angelernten Reflexen zuzuschreiben war. »Das ist mir egal. Was bist du? Wo sind Isu und Marvin, was habt ihr mit ihnen gemacht?«, fragte Sergej und deutete mit der Waffe auf einen Stuhl. »Entspanne dich, wir werden dir alles erklären.« Er zielte auf meinen Kopf. »Hinsetzen!« Dieser Augenblick entbehrte nicht einer gewissen Komik. Auf der einen Seite wir, die »Wächter der Information«, die sich nach belieben in den Zeiten und Welten fortbewegen konnten und deren dringlichstes Problem, welches es zu lösen galt, darin bestand, zur »richtigen« Zeit am »richtigen« Ort zu sein. Und auf der anderen Seite ein durchtrainierter Ex-KGBler, der zwar den Job als Leiter einer Technikabteilung mehr als zufriedenstellend erfüllte, sich allerdings insgeheim nach den alten Zeiten sehnte und den Tag verfluchte, an dem die Sowjetunion einfach aufgehört hatte zu existieren, er plötzlich einer aussterbenden Rasse angehörte. Er war ein Kind des »Kalten Krieges« und wünschte sich diesen wieder zurück, am liebsten wäre es ihm, würde man die Zeit einfach um 30 Jahre zurückdrehen und dort festbinden. 74 »Die Hagi-Keramik stammt aus der japanischen Präfektur Yamaguchi. Das Steinzeug zeichnet sich durch eine helle Glasur mit Craquelée-Muster aus. Bei der Hagi-Keramik handelt es sich zumeist um kunsthandwerkliches Teegeschirr für den Alltagsgebrauch, Blumenvasen sowie Sake-Gefäße. In kleinerer Anzahl finden sich auch Figuren sowie Wasserbehälter.« – Wikipedia: Hagi-Keramik 75 »Raku ist eine keramische Brenntechnik aus Japan. Man bezeichnet damit sowohl die spezielle Tonmasse als auch den gesamten Fertigungsprozess und die dadurch entstandenen Keramikarbeiten.« – Wikipedia: Raku-Keramik 76 »Von 1662 bis 1796 beherrschten China lediglich drei Kaiser: Kangxi, Yongzheng und Qianlong. Die Periode gilt als letzte große Blütezeit der klassischen chinesischen Kultur und hat auf dem Gebiet der Porzellankunst Bedeutsames hervorgebracht: Während man einerseits die Herstellungstechnik der Ming-Dynastie für das Porzellan selbst beibehielt, neigte man aber verstärkt zu Überglasur-Dekor.« – Wikipedia: Chinesisches Porzellan 77 »Rambo (Originaltitel: First Blood) oder Rambo I ist eine Literaturverfilmung des David-Morrell-Romans First Blood von US-Regisseur Ted Kotcheff aus dem Jahr 1982.« – Wikipedia: Rambo 97


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Wie oft hatte er früher solche und ähnliche Szenarien im Geiste durchgespielt: die Konfrontation mit einer Gefahr, die von außen kommt, mit einem mutmaßlichen Spion oder Attentäter, einer fremden Macht, die überall und jederzeit und ohne Vorwarnung zuschlagen konnte. Doch wir, das spürte er instinktiv, waren mit Sicherheit mehr als das, wir gehörten in eine Kategorie, die in keines dieser Planspiele passte. Wir waren extrem gefährlich und unberechenbar, stellten eine Bedrohung dar, die weder in den westlichen Denkfabriken erdacht worden war, noch irgendwelchen extremistischen Gruppierungen angehörte. Wir waren mehr, wir waren etwas, worauf er sein ganzes Leben gewartet hatte: Wir waren in seinen Augen so etwas wie die Vorhut einer geheimen Invasion aus dem Weltraum. Daher musste er sofort handeln und es zählte jede Sekunde. Er durfte sich keinen Fehler erlauben. Sie waren hier, daran bestand kein Zweifel. Die Stunde Null war gekommen. Ich konnte seine Gedanken lesen und sie rasten immer schneller um einen Geheimcode, welcher sich vor seinem geistigen Auge gebildet hatte »Вторжение 12«78 »Sergej, glaubst du nicht, dass deine Waffe nutzlos ist? Du hast ja gerade gesehen, dass sie nur Scherben produziert.« Was Sergej natürlich nicht wissen konnte, im besten Fall nur ahnte, Isu war immer noch im Raum anwesend, nur eben nicht als ein einziger massiver Körper, sondern verteilt auf Abermilliarden kleinster Teilchen, die sich langsam im Raum ausbreiteten. Nicht nur im Raum, unzählige davon wurden von Sergej und auch von mir eingeatmet. Viele verteilten sich in unseren Blutbahnen und alle verließen unsere Körper früher oder später auf den verschiedensten Wegen. Die Alarmsirenen heulten. Sollte ich das Theater mitspielen und uns etwas Spaß gönnen oder gleich mit der Aufräumarbeit beginnen? Isu ließ mich wissen, dass wir keine Eile hätten und so vielleicht an Informationen gelangen könnten, die uns weiterhelfen würden. Also folgte ich seiner Aufforderung und setzte mich hin. »Das habe nicht ich zu entscheiden. Die Sondereinheit wird bald eintreffen und wissen, was zu tun ist«, sagte er aus vollster Überzeugung. Er war wirklich der Ansicht, diese speziell ausgebildete Einheit könnte es mit uns aufnehmen. Dabei wussten sie nicht im einmal im Ansatz, womit sie es zu tun hatten und schon gar nicht, wie man uns bekämpfen konnte. Etwas, das ohnehin beinahe unmöglich war.

78 »Majestic-12 (manchmal kurz MJ-12 oder MJ-XII geschrieben) ist der Codename eines Geheimkomitees, das angeblich 1947 in den USA gegründet wurde, um UFO-Aktivitäten zu untersuchen. […] Die Vertreter dieser Verschwörungstheorie behaupten, dass sich die Majestic-12-Operationen nicht allein auf die USA beschränken, sondern auch die Volksrepublik China und Russland umfassen, und dass Funde außerirdischer Technologie zwischen geheimen Agenturen dieser Länder gehandelt werden« – Wikipedia: Majestic 12 98


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»Sergej, so leid es mir tut, dir das sagen zu müssen, aber diese Einheit wird nie eintreffen. Nicht, weil sie deine Nachricht nicht erhalten hat. Oh das hat sie, ich muss dir dazu gratulieren, nach all den Jahren bist du noch immer im Dienst? Der »Kalte Krieg« ist doch längst vorbei, Agenten deines Schlages genießen normalerweise längst den wohlverdienten Ruhestand irgendwo in der Karibik.« Sergej lachte verächtlich. »Du hast keine Ahnung, wer diese Spezialeinheit ist, oder? Sonst würdest du nicht diesen Unsinn von dir geben. Du wirst überrascht sein. Das kann ich dir jetzt schon garantieren.« »Siehst du, was ich meine?« Ich sah es.

1 Ich musste zugeben, ich war überrascht, wenn auch aus einem ganz anderen Grund, als Sergej vermutete. Denn was hier durch die Wände brach, hatte mit einer irdischen Kampftruppe nichts mehr gemeinsam. Sie kamen von allen Seiten, auch durch die äußeren Mauern. Und die Art und Weise, wie sie das taten, ließ nicht den geringsten Zweifel aufkommen, woher sie kamen und was sie waren: Assembler. Isu wurde wieder sichtbar, die Nanorobots verdichteten sich direkt vor Sergejs Gesicht, eineinhalb Meter über dem Boden; diesmal bildeten sie keinen Menschen, sondern ein Ebenbild der Kampfmaschinen. Wir hatten genug gesehen. Also gab es sie auch hier. Wir waren erleichtert. Lange hatten wir nach ihnen gesucht und wir waren kurz davor gewesen, aufzugeben. Und nun brachte uns dieses auf den ersten Blick unbedeutende Ereignis doch noch den erhofften Erfolg. »Da soll mich doch ...«, weiter kam Sergej nicht. Seine Jarygin verschwand aus seiner Hand, er wurde von Isu hochgehoben und sanft auf eine Couch gesetzt. »Kompliment, du hast dich und die Maschinen wirklich sehr gut versteckt. Beinahe zu gut. Wenn ich allerdings gewusst hätte, dass dich diese kleinen Verwandlungen so leicht aus der Fassung bringen würden, hätte ich es schon viel früher gemacht.« Isu veränderte ihre Form im Sekundentakt. Zuerst in einen zwei Meter hohen Biedermeier Schrank. Danach in eine Yuccapalme, ein Sofa – was Sergej veranlasste blitzschnell aufzustehen, konnte ja sein, das Sofa, auf dem er saß, war auch nicht echt. Er wurde aber von Isu, die sich gerade in eine Stehlampe verwandelt hatte, höflich aufgefordert, sich wieder hinzusetzen. Er kam dieser Bitte augenblicklich nach, einer Stehlampe zu widersprechen war nicht jedermanns Sache. Zuletzt zeigte sie sich noch als Wandteppich, Elvis und Sergejs Ebenbild, bevor sie sich wieder in ihrer ureigenen Gestalt zeigte.

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»Ich verstehe«, sagte Sergej sichtlich geknickt. Hätte er in diesem Augenblick seine Waffe noch in seinen Händen gehalten, er hätte sich das Leben genommen. »Wir haben verloren und ich bin schuld, da ich diese Kampftruppe direkt zu euch geführt habe.« »Im Gegenteil, du hast diese Welt gerettet. Vorerst.« Er sah mich fragend an. »Wie soll ich die Welt gerettet haben, wenn ich gerade unsere beste Angriffswaffe in eure Hände gespielt habe? Du hast doch selbst gesagt, ohne diese …«, er sah die formlosen Gebilde an, alle Maschinen hatten sich in die energetisch effizienteste Form gebracht, in pulsierende Kugeln, »… diese Roboter wäret ihr machtlos gewesen, hättet ihr aufgegeben.« »Machtlos nicht, nur unsere Aufgabe erfordert das Zusammenspiel möglichst vieler Komponenten. Zu zweit ist das fast unmöglich. Mit dieser Armee aus mindestens einer Million Robotern und auch mit deiner Hilfe kann es uns gelingen. Und das ist ja noch nicht alles, es gibt da noch eine zweite Komponente, die fast noch wichtiger ist. Doch das kannst du nicht wissen.« Sergej schnappte nach Luft. »Eine Million?«, schrie er aus sich heraus. »Das ist ja ein Albtraum, das ist doch unmöglich. Wo verbergen sie sich? Im Meer? In den Wüsten? Wo?« »Hier, trink erstmal einen Schluck davon und entspanne dich.« Isu reichte ihm eine Flasche Wodka. »Es ist nicht so, wie du denkst.« »Diesen Spruch kenne ich. Das letzte Mal, als ich das einer Frau gesagt habe, ... «, antwortete Sergej und machte einen großen Schluck aus der Flasche, »hat es mich 50 Millionen gekostet.« Ich musste grinsen, wenigstens seinen Humor hatte er noch nicht verloren. Ich kannte Sergej sehr gut und wusste um seine teuren Scheidungen und das Amüsante daran war: die Letzte beruhte tatsächlich auf einem Missverständnis. »Nun, diesmal ist der Preis dein Leben.« Er machte noch einen Schluck. »Mein Leben? Bedeutet dies, ihr lasst mich am Leben und ich darf gehen und das Erlebte zumindest für ein paar Stunden mit meinen bedauernswerten Mitbürgern teilen und uns zumindest noch für ein paar Stunden Hoffnungen auf eine Rettung durch ein Wunder machen? Ihr werdet mich erst gemeinsam mit den anderen töten?« »Was redest du für einen Unsinn? Wieso sollten wir euch töten? Gerade du müsstest es doch besser wissen!« »Und ja, wenn du möchtest, darfst du gehen. Allerdings wirst du dich an nichts mehr erinnern, sobald du diesen Raum verlassen hast. Alles wird sein, wie es vor drei Minuten gewesen ist. Nichts wird sich in den letzten drei Minuten ereignet haben.« 100


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»Der einzige Unterschied besteht darin, dass du, dass niemand sich an die Roboter erinnern wird. Sie sind nie hier gewesen und das Unternehmen ›Вторжение 12‹ hat es auch nie gegeben. Doch ich glaube nicht, dass du das noch willst, sobald du alle Einzelheiten unseres Unternehmens kennst und du dich wieder daran erinnerst.« »Gehirnwäsche? Ihr wollt uns einer Gehirnwäsche unterziehen und uns zu willenlosen Sklaven machen?« Ich schüttelte den Kopf. »Du siehst zu viele schlechte Science-Fiction Filme. Nein, viel einfacher: Wie ich schon gesagt habe, dies alles ist nie passiert. Dein Leben wird, bis auf ein paar Kleinigkeiten, dein Altes sein. Sieh her ...« Isu machte eine theatralische Handbewegung, so als wolle sie den von den Maschinen angerichteten Schäden wegzaubern. Und zu Sergejs Überraschung waren die Roboter von einem Augenblick auf den anderen verschwunden, die Mauern wieder intakt und die Keramiken standen in fabrikneuen Glasvitrinen, so als wäre nie etwas geschehen. Und eigentlich war ja auch nichts geschehen. »Siehst du? Es ist nichts geschehen. Die Sondereinheit ist nie hier gewesen. So wie ich es gesagt habe.« Sergej schien einen Moment lang irritiert, fasste sich aber schnell wieder. Ein weiterer Schluck aus der Flasche gab ihm den nötigen Halt. »Nun, diese Aufräumaktion überrascht mich nicht sonderlich. Jemand der sich in eine Stehlampe verwandeln kann … nun, dem sollten auch kleine Arbeiten im Haushalt locker von der Hand gehen.« »Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass ihr tatsächlich etwas ungeschehen machen könnt. Mittlerweile muss doch die ganze Stadt in Aufruhr sein, denn …«, er machte eine triumphierende Pause, »dieser Einsatz wurde auf allen Kanälen übertragen. Wir haben seit Jahrzehnten auf diesen Zeitpunkt gewartet, ihn regelrecht herbeigesehnt. Das ist euch sicher nicht entgangen, oder?« »Sergej, die rote oder blaue Pille79?« Er sah mich fragend an. »Bitte?« »Bleibst du hier und lässt diese Welt, so wie du sie kennst, hinter dir oder willst du vergessen?« »Was heißt, diese Welt hinter mir lassen? Werde ich unsterblich und kann durch die Zeit reisen?« »Ich nickte.« »Und mehr als das.« Sergej lachte. 79 »The terms redpill and its opposite, bluepill, are pop culture terms that have become a common metaphor for the choice between the blissful ignorance of illusion (blue) and embracing the sometimes painful truth of reality (red). The terms were popularized in science fiction culture via the 1999 film The Matrix« – Wikipedia: Redpill 101


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»Wenn jemand hier zu viele schlechte Filme gesehen hat, dann bist das wohl eher du. ›Die Matrix‹80 ist Geschichte und Vampirfilme längst ausgelutscht. Oder bist du schon vor mir an der Wodkaflasche gewesen?« »Wenn du wüsstest ...«, dachte ich. Mein Blick wanderte zur Fensterfront auf der Südseite des Appartements. Die Balkontüre öffnete sich wie von Geisterhand. Ich ging hinaus auf den Balkon, der mehr Wintergarten als Balkon war. Isu und Sergej folgten mir schweigend. »Gut. Die Entscheidung ist gefallen. Anscheinend arbeitet wenigstens ein kleiner Teil deines Verstandes noch fehlerfrei, ist in dir noch ein kleiner Funke Vernunft übrig geblieben, der dir sagt, dass du nicht bist, was du zu sein glaubst. Das ist gut so und glaube mir, du wirst es nicht bereuen.« »Ich bin nicht ich? Was redest du für einen Blödsinn? Jetzt fehlt nur noch, dass du mir einreden willst, auch Elvis Presley und Michael Jackson waren nicht das, was sie waren, sondern Außerirdische. Dann ...« »Was siehst du jetzt?«, fragte Isu. »Eine Stadt?«, antwortete Sergej, ohne hinzusehen. »Ja, eine Stadt. Doch sieh genau hin.« Er ging näher an die Glaswand und sah hinunter. »Mir scheint, es sieht alles etwas verschwommen aus. Liegt es an dem Glas oder am Wodka?« »Genau. Es sieht ganz danach aus, als ob sich die Umwelt verändern würde. Doch in Wirklichkeit veränderst du dich.« Sergejs zur Schau getragenes Desinteresse verwandelte sich rasch in unzähmbare Neugier. Die Aussicht auf ein Abenteuer spülte einen jahrelang unterdrückten Forscherdrang an die Oberfläche, den er längst vergessen und als einen für seine Karriere nicht relevanten Bereich seiner Charaktereigenschaften seit dem Eintritt in den Dienst der Heimatschützer ignoriert hatte. »Was geht da vor sich?« Ich deutete auf die Glasfront, die zurückwich. Wie auch alles andere in dem Raum, in dem wir uns befanden, sich von uns entfernte. »Genau genommen gar nichts. Wir verändern nur unsere Position, den Blickwinkel, durchdringen Raum und Zeit.« »Die Perspektive, aus der wir die Welt sehen, ist eine andere«, ergänzte Isu. »Es ist so: Die Welt, wie du sie mit deinen Sinnen wahrnimmst, existiert in dieser Form gar nicht.« Sergej rieb sich die Augen. 80 »[...] Thomas A. Anderson ist Programmierer bei einer weltweit erfolgreichen Softwarefirma und lebt einen unauffälligen Alltag. In seinem Privatleben jedoch ist er ein professioneller Hacker, der unter dem Pseudonym Neo Aufträge gegen Bezahlung ausführt. Doch seit Jahren beschäftigt ihn das Gefühl, dass mit seinem Leben irgendetwas nicht stimmt. [...]« – Wikipedia: Die Matrix 102


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»Mir wird gleich übel, ich habe das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Alles steht Kopf.« »Dein Gefühl trügt dich nicht, sieh nach unten«, antwortete ich. Ich selbst kannte dieses Gefühl nur zu gut. Wir hingen in der Luft. Wieder einmal, musste ich feststellen. Wie viel Zeit hatte ich in meinem Leben »in der Luft hängend« verbracht? Es musste eine Zahl mit unendlich vielen Ziffern sein. Innerlich grinste ich, von außen sah man mir dies natürlich nicht an, denn auch unsere Körper verloren hier »draußen« ihre Form. »Nein, lieber nicht, ich will gar nicht wissen, wie es da unten aussieht. Und lange dauert es nicht mehr, dann sehe ich gar nichts mehr, alles wird unscharf und konturlos. Wie lange wird dieser Zustand andauern?« »Nicht lange, eigentlich liegt schon alles hinter dir; oder es dauert unendlich lange. Je nach Sichtweise. Hier gibt es keine Zeit, an die man sich halten kann.« Isu bekam Sergej am linken Arm zu fassen und zog ihn hinunter auf einen Punkt, der auf der Erde wohl den Platz vor dem Marine-Dom in Kronstadt81 repräsentierte. »Für den Zeitraum der Transformation ist es hilfreich, wenn du vertrauten festen Boden unter dir spürst. Oder zumindest das, was du dafür hältst.« »Betrachte in aller Ruhe die Menschen, die Pflanzen und Tiere, die Gebäude, die Fahrzeuge. Einfach alles, was dir auffällt.« Isu trat näher an ihn heran und sah ihm in die Augen. »Was siehst du?« »Was ich sehe? Nichts. Ich sehe nichts. Nur diffuse graue Nebelschwaden überall.« Konzentriere dich. Konzentriere dich auf meine Augen. Sieh direkt hinein. Sergej tat, was Isu ihm befohlen hatte und starrte in ihre Augen. Er wollte hinein starren, doch da war nichts. Nur zwei dunkle Höhlen in einem konturlosen Gesicht. »Das wird jetzt allerdings etwas bedenklich. Waren da irgendwelche Drogen in der Flasche?« Er schilderte seine Eindrücke. »Die Objekte rund um mich lösen sich auf. Es gibt keine fixen Grenzen mehr. Alles zerfließt und dehnt sich scheinbar bis ins Unendliche. Und …« Sergej machte eine Pause. Er drehte sich einmal um die eigene Achse. 81 »Kronstadt (russ. Кронштадт) ist eine Stadt und frühere Festung auf der Ostseeinsel Kotlin vor Sankt Petersburg in Russland. Die Insel ist durch den »Petersburger Damm« mit der Stadt verbunden. Kronstadt mit seinen 42.800 Einwohnern (Stand 2006) bildet auch als dessen einziger Stadtteil einen Stadtbezirk (Rajon) von Sankt Petersburg. Der Kronstädter Pegel dient als Bezugspunkt für das Höhensystem HN Osteuropas, das von 1945 bis 1993 auch für Ostdeutschland galt.« – Wikipedia: Kronstadt 103


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»… verdammt. Wer hat die Wodkaflasche an sich genommen?« »Darauf wirst du wohl eine Weile verzichten müssen«, antwortete ich. »Es wird nicht einfach, ich weiß, doch glaube mir, es geht auch ganz gut ohne.« Ich seufzte. »Zumindest bleibt dir der Trost, dass wenigstens dieser Zustand nicht ewig anhalten muss. Nun, wenn ich länger darüber nachdenke, ...« »Säufer unter sich.« Isu berührte Sergej wieder am Oberarm und wir wechselten abermals unseren Standort. »Hier hast du einen besseren Blick aufs Ganze.« »Besser?« Sergejs skeptischer Blick sprach Bände. »Mir muss da etwas Entscheidendes entgangen sein. Ich sehe auch jetzt nicht mehr als vorhin. Und was ich sehe, ist nicht gerade berauschend: da und dort ein paar schwarze und hellgraue, manchmal sogar weiße Gebilde, die sich in einer endlosen dunkelgrauen, zähflüssigen Masse bewegen.« »Und wir mittendrin. Diese Substanz umfließt uns und auch wieder nicht. Sie fließt durch uns hindurch, als wären wir unsichtbar. Ich kann sie nicht fühlen.« »Moment …« Er versuchte sich am Arm zu fassen, seine Hände tasteten in seinem Gesicht, als suchten sie etwas. »Nichts. Da ist nichts.« »Verdammt. Ich bin nichts.« Sergej schüttelte den Kopf. »Eigentlich müsste ich jetzt in Panik ausbrechen und schreiend davon laufen. Doch, und das ist wohl das Furchtbare daran, ich wundere mich nicht mal über meinen Zustand und noch weniger über den Zustand meiner Umgebung.« »Was habt ihr aus mir gemacht?« »Du bist beinahe angekommen.« »Angekommen? Wo? Nach dem Paradies sieht es mir hier nicht aus.« »Wenn du weißt, wie du dir das Paradies vorstellen willst, dann bist du kurz davor. Du kannst jetzt alles haben und alles werden, wozu du Lust verspürst.« Isu machte eine Pause. »Aber glaube mir, das Paradies, egal welches man sich auch ansieht, ist der langweiligste Ort, den man sich nur erdenken kann, es gibt viel aufregendere Dinge.« Ich nickte.

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Endzeit

»Wenn man es genau nimmt, haben wir im Augenblick keine Zeit fürs Paradies. Es steht viel mehr auf dem Spiel, als der Sündenfall. Wir dürfen unseren Auftrag nicht aus den Augen verlieren. Bitte denkt daran.« Sergej neigte den Kopf zu Seite. »Auftrag? Und ich dachte, hier vergeht keine Zeit? Warum sich also beeilen?« »Hier nicht. Für uns nicht. Doch da draußen. In den Universen. Und sie vergeht schnell.« Die Nebel lichteten sich. »Aber ihr seit doch Zeitreisende? Ihr könnt die Zeit zurückspulen, anhalten oder auch beliebig weit in die Zukunft springen. Warum habt ihr es dann eilig«, hakte Sergej nach. Er war immer noch skeptisch. »An dieser Geschichte ist etwas faul, oberfaul.« »Machen wir es uns ein wenig bequemer.« Das Sofa aus unserem Appartement, welches wir auf so unorthodoxe Weise verlassen hatten, schwebte plötzlich vor uns. Stühle, Schränke, ein Tisch und darauf Gläser mit Wein und Wodka folgten. Isu machte es sich auf einer Sonnenliege bequem, setzte eine Sonnenbrille auf und schlürfte an einem »Black Russian«82. Meeresrauschen. »Nun, um es kurz zu machen: Die Zeit ist nicht das Hindernis, sondern es ist die Stabilität der einzelnen Universen, die uns zu schaffen macht ...«, begann sie, hielt inne, rückte ihre Liege näher an den Tisch und stellte den Cocktail dort ab. Sie öffnete die Hand, drehte die Handfläche nach oben. Ein Wassertropfen schwebte nun schwerelos darüber. Er dehnte sich aus, verlor seine Kugelform, Beulen und Dellen bildeten sich an der Oberfläche. Ein zweiter Wassertropfen bildete sich, dehnte sich ebenfalls aus, berührte den ersten Tropfen. Sie verschmolzen. Zwei weitere erschienen, und als diese sich mit den anderen vereinigten, platzte das Gebilde und war verschwunden. »... das ist unser Problem«, beendete sie die kurze Einführung in die Grundlagen der Physik der Universen. »Die Universen sterben?« »Wenn man es so nennen will. Wir können zwar jedes Universum in jedem Zeitalter, welches uns gerade vorschwebt, besuchen, doch da wo kein Universum …« Sergej verstand. »… da keine Besuchsmöglichkeit.« »Und wenn ihr euch zufällig in einem Universum befindet, welches gerade stirbt? Was geschieht dann mit euch? » »Eine gute Frage. Sollten wir dort gerade als Materieteilchen herum wandeln, vielleicht sogar als geordnetes, komplexes Lebewesen und vergessen haben, wer wir sind, …« 82 »[...] ist ein alkoholisches Mixgetränk auf Wodka-Basis. Neben Wodka besteht dieser Cocktail aus Kaffeelikör (zum Beispiel Kahlúa) [...]« – Wikipedia: Black Russian 105


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Ich wollte mir das Ergebnis gar nicht ausmalen, hatte mir diese Frage bisher nie gestellt oder vielleicht instinktiv einfach nur vermieden, sie mir zu stellen. »… dann wären wir jetzt wohl nicht hier. Allerdings kann ich das nicht mit Gewissheit sagen, vielleicht passiert auch gar nichts. Doch auf ein Experiment, genau dies herauszufinden, würde ich mich wohl nicht einlassen wollen.« »Wenn ihr nicht Materie seid, was seid ihr dann? Energie?« Isu schüttelte den Kopf. »Nein. Auch Energie ist gewissermaßen Materie. Wir, und auch du im Augenblick, sind weder das eine noch das andere.« »Wir sind Information.« »Information?« Sergej dachte nach, musste das Gehörte erst verarbeiten. »Information ist doch nichts Fassbares, ist doch nichts, das Bestand hat, gibt doch nur Auskunft über einen Zustand eines Systems oder verändert dieses?« Isu lehnte sich zurück ... »Gut zusammengefasst, allerdings spiegelt es nicht ganz die Wirklichkeit wider, in der wir leben, …« … und nippte an ihrem Cocktail. »… denn Information verringert die Entropie eines Systems.« »чепуха! Ich verstehe gar nichts mehr.« »Beispiel: Du als Geheimagent sitzt in deinem Büro und die Nachrichten tröpfeln einzeln herein. Du hast genügend Zeit, sie zu ordnen und darauf zu reagieren. Doch alleine dafür, sie zu ordnen, benötigst du Zeit, daher Energie.« »Wenn in einer Region die Lage jedoch eskaliert und du mit Nachrichten bombardiert wirst, benötigst du immer mehr Zeit, um aus dieser Nachrichtenflut die wichtigen und richtigen herauszufiltern.« »Die Energiemenge, die du für das Sortieren dieser Information benötigst, steigt an. Egal, ob der große Teil dieser Information nun sinnvoll, daher verwertbar ist oder nicht. Entscheidend ist nur die Anzahl der Nachrichten, die du auswerten musst.« »Klingt alles logisch. Doch was hat das mit euch und mir und dem Gleichgewicht in der ›Unität‹ zu tun?« »Alles, was die Anzahl der mikroskopisch erreichbaren Zustände erhöhen kann, ohne gleichzeitig das System von ›außen‹ mit neuer Energie zu versorgen, macht dieses ein wenig ›ordentlicher‹, ›aufgeräumter‹. Und Information schafft eben genau das! Ein Schlupfloch im Gebäude der ›Physik der Unität‹, ein Zaubertrick, der schon oft und viel Aufsehen erregt hat und noch immer, in den unmöglichsten Situationen, für Verwirrung sorgt.« »Du hast doch gerade gesagt, wir sind weder Energie noch Materie und nun …« 106


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»Information ist zwar masselos, doch in einer so unvorstellbaren Fülle vorhanden, dass sie trotzdem eine Unmenge an Energie transportieren kann. Und diese Informations- und somit Energiedichte steigt immer weiter an, es ist kein Ende abzusehen. Niemand kann sagen, wann und ob dieser Anstieg gestoppt werden kann oder irgendwann von selbst zum Stillstand kommt.« »Wie soll ich das verstehen? Null mit unendlich multipliziert ergibt nicht Null, sondern einen Wert größer als Null?« »Sie dir ein Photon an. Du weißt, was ein Photon ist?« »Ein Lichtteilchen.«, antwortete Sergej. »Oder eine Welle, je nachdem.« »Richtig. Ein Photon ist nichts anderes als hochkonzentrierte Energie. Doch die Ruhemasse83 dieser Teilchen, also die Masse, die ein Photon bei einer Geschwindigkeit Null hätte, ist Null.« »Mal abgesehen davon, dass Photonen nie ruhen und sich immer mit Lichtgeschwindigkeit bewegen und eine unendliche Lebensdauer haben«, merkte ich an, um wenigstens etwas zur Diskussion beizutragen. »Die Energie, die sie transportieren, wird daher nur durch ihre Frequenz84 definiert«, setzte Isu mit der Erklärung fort. Serge sah das Glas auf dem Tisch an. »Bitte, dürfte ich? Ja?« Ich reichte es ihm. Er leerte es in einem Zug. »Danke. Schon besser.« »Wir sind also Photonen?« »Nein. Photonen sind reine Energieträger. Wir sind mehr, wir sind Informationsträger. Wir sind Neutrinos85.« »Was auch nur die halbe Wahrheit ist«, merkte ich an. »Richtig«, fuhr Isu fort. »Wir sind eine ganz spezielle Form von Neutrinos, eine, die keine Ruhemasse besitzt, also den Photonen ähnlich ist, und gleichzeitig nur ein ganz niedriges Energiepaket mit sich herumtragen muss. Wir sind daher einerseits fast unsichtbar und andererseits unheimlich beweglich.« »Davon habe ich auch schon gehört, das sind doch diese Geisterteilchen, die mit nichts interagieren und schneller als das Licht sein sollen? Wie hießen die gleich noch?« 83 »[...] Die Ruhemasse eines Teilchens ist diejenige Masse, die ein relativ zu diesem ruhender Beobachter misst.« – Wikipedia: Ruhemasse 84 »Die Frequenz (von lat. frequentia, Häufigkeit) ist eine physikalische Größe, die eine zentrale Rolle bei der Beschreibung von periodischen Vorgängen, wie z. B. Schwingungen einnimmt. Sie gibt die Anzahl von sich wiederholenden Vorgängen pro Zeiteinheit, z. B. in einer Sekunde, an und kann auch als Kehrwert der Periodendauer berechnet werden.« – Wikipedia: Frequenz 85 »Neutrinos sind elektrisch neutrale Elementarteilchen mit sehr kleiner Masse. Im Standardmodell der Elementarteilchenphysik existieren drei Neutrinos: das Elektron-Neutrino, das Myon-Neutrino und das Tau-Neutrino. […] Sie sind die einzigen bekannten Teilchen, die von interstellarer Materie nicht deutlich beeinflusst werden.« – Wikipedia: Neutrino 107


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Er dachte kurz nach. »Tachyonen86?« Ich schüttelte den Kopf. »Es ist nicht ganz so einfach. Jene Tachyonen, von denen du wahrscheinlich gehört hast, müssen wirklich Exoten sein, wir sind noch nie einem von ihnen begegnet. Daher ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie nicht existieren. Doch ganz ausschließen kann man so etwas nie. Denn wir können die Geschwindigkeit des Lichts nicht überschreiten, und sie können sie nicht unterschreiten, daher ist es schon aus diesem Grunde nicht sehr wahrscheinlich, dass wir uns je über den Weg laufen werden.« »Ihr könnt euch nicht schneller als mit Lichtgeschwindigkeit bewegen? Wie könnt ihr dann an jeden Ort und jede Zeit reisen«, fragte Sergej etwas verwundert. »Die Lichtgeschwindigkeit ist weniger eine Geschwindigkeit und auch nicht konstant, sie ist eher ein Gradmesser für die maximal mögliche Entropieänderung innerhalb eines definierten Zeitraumes in einem beliebigen Universum, sozusagen eine natürliche Barriere. Doch dazu kommen wir noch; wenn am Ende genug Zeit übrig bleibt«, vertröstete ich ihn auf später. »Wir sind eine Mischung aus eben diesen hypothetischen Tachyonen, die nichts mit den Teilchen zu tun haben, die du meinst, und exotischen Neutrinos87, andauernd in Bewegung und trotzdem kommen wir nie irgendwo an.« »Ist auch besser so.« Isu deutete auf einen Punkt in weiter Ferne. Es war, als würde alles auf diesen einen Punkt zustreben, als würde dieser Punkt alles verschlucken. »Dort befindet sich der alles verschlingende Ursprung. Nur unserer Geschwindigkeit haben wir es zu verdanken, dass wir ihm nicht zu nahe kommen und verschluckt werden.« »Sieht aus wie ein Schwarzes Loch.« »Nein, es ist mehr als das, schlimmer als jedes dieser Ungetüme, das ich gesehen habe. Und ich habe viele gesehen, von innen und von außen. Es ist der Albtraum eines jeden Teilchens. Es ist der Anfang und das Ende. Wir nennen es Entropia.« »Du warst innerhalb eines … Aber niemand kann einem ...«, Sergejs Verwunderung stieg von Sekunde zu Sekunde. »Wir schon.« »Komm’ ich zeige dir eines. In unserem Universum.« Sergej war die Überraschung anzusehen.

86 »Tachyonen (von griechisch tachýs ‚schnell‘) sind hypothetische Elementarteilchen, die sich schneller als das Licht bewegen.« – Wikipedia: Tachyonen 87 »Neutrino time travel«, James Dent, Heinrich Päs, Sandip Pakvasa, Thomas J. Weiler. http://arxiv.org/abs/0710.2524 108


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»Das ist ja ein Ding«, schrie er förmlich aus sich heraus. »Das ist ja unglaublich. So eine Geschichte kann man sich nicht ausdenken, das wäre zu fantastisch.« »Doch wie ist das möglich?« »Ganz einfach. Wir haben eine zu geringe Masse und bewegen uns mit hoher Geschwindigkeit. Die Schwerkraftfinger dieser Gravitationsfalle können uns nicht greifen.« Das Schwarze Loch war nicht einmal annähernd schwarz, das konnte Sergej jetzt sehen. Wobei das Wort sehen einen falschen Eindruck über die tatsächlichen Prozesse rund um die Wahrnehmung in seinem aktuellen Zustand vermittelte. »Energieaustausch. Ja, das ist eine zutreffendere Beschreibung der Vorgänge. Photonen interagieren mit uns, weil wir es wollen«, bestätigte Isu Sergejs Gedanken. »Und hier spürt man förmlich ihre Anwesenheit, so zahlreich und dicht gedrängt, wie sie hier auftreten.« »Nicht nur, weil wir es wollen. Mehr als das, sie liefern uns Informationen aus allen Universen und helfen uns, die Schranken zur Welt der Materie und Energie zu überbrücken. Ohne Photonen wären wir nicht in der Lage, diese Universen und die Welten in ihnen zu erreichen. Wir wären Gefangene in einer Welt, in der es zwar Information in Hülle und Fülle gibt, die aber für alle Universen in allen Zeiten unerreichbar und daher verloren wäre.« »Sie sind der Schlüssel zu allen Geheimnissen in allen Welten.« Tausende Kilometer breite, hauchdünne Lichtbänder brachen vor uns aus den Rändern des grauen Wirbels und verschwanden in der Unendlichkeit hinter uns. Alle Materie in unmittelbarer Umgebung wurde von diesem Ungetüm angesaugt und lösten sich in gewaltigen Energieblitzen förmlich vor unseren Augen ins Nichts auf. Ein großer Teil der Materei verlor sich im Inneren der grauen Scheibe, doch der Rest wurde in einem dicken, grellen Teilchenstrom, der direkt aus dem Herzen des Schwarzen Lochs zu kommen schien, weggeschleudert. Wir bewegten uns in das Zentrum dieses Strahls und danach fielen wir mitten hinein in die Materiefalle. Sergej hielt instinktiv den Atem an und wurde ein weiteres Mal von der Natur überrascht. »Jetzt erinnere ich mich wieder.« Isu und ich nickten. »Ja, du warst lange hier gefangen. Du und die Erde. In einem Zeitalter, als die Menschen gerade erst damit begonnen hatten, den Weltraum für sich zu erobern.« Wie frustrierend musste es für die Wissenschafter jener Zeit gewesen sein, ein Universum vorzufinden, das zwar physikalischen Gesetzen gehorchte, die sich in mathematischen Formeln beschreiben ließen, andererseits jedoch immer wieder aufs neue völlig absurde und schier 109


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unlösbare Rätsel bereithielt, wie etwa »Dunkle Materie« oder »Dunkle Energie88« Für Wesen, die innerhalb eines solchen Universums lebten, mussten die Kräfte, die von »außerhalb« auf dieses Universum wirkten – welches sich noch dazu ohne erkennbaren Grund immer schneller ausdehnte – ein Mysterium bleiben. Ein Umstand, der für die Wissenschafter, die sich ein vollkommenes, in sich geschlossenes Weltbild wünschen, nicht gerade förderlich ist. Da bleibt viel Spielraum für den Glauben an unsichtbare, allmächtige Götter. »Doch so …« Wenn man das System von »außen« betrachtete, war dieses Universum nichts weiter als ein winziger Punkt im Gesamtgefüge. »Wie einfach das Leben manchmal doch sein kann.« »Und hier sind wir wieder, so als ob nichts geschehen wäre.« Sergej setzte sich auf die Couch auf dem Balkon unseres Appartements hoch über den Dächern von St. Petersburg.

88 »Als Dunkle Energie wird in der Kosmologie eine hypothetische Form der Energie bezeichnet. Die Dunkle Energie wurde als eine Verallgemeinerung der kosmologischen Konstante eingeführt, um die beobachtete beschleunigte Expansion des Universums zu erklären. Der Begriff wurde 1998 von Michael S. Turner geprägt.« – Wikipedia: Dunkel Energie 110


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Anker »es ist vollbracht. wir haben ein stabiles universum.« isu setzte sich zu mir an den tisch. »ich habe es vernommen. und die anderen wohl auch. doch ich nehme an, dass sie zu sehr mit ihren eigenen problemen beschäftigt sind, und sie daher keine zeit finden werden, uns einen besuch abzustatten. wie viele werden es diesmal nicht schaffen? ich hoffe, wir gehören zu denen, die erfolgreich waren … sein werden ... oder sind.« »sie haben ihre eigenen universen, um die sie sich kümmern müssen. genau wie wir. kommst du?« »ja, gleich. doch zuvor muss ich noch meine gemüsesuppe aufessen.« »du und deine suppe, eine unendliche geschichte.« »diesmal wird mich nichts davon abhalten, sie ganz auszulöffeln. nichts. dieses universum ist stabil, und ob die übersiedlung nun zehn, zwanzig oder hundert millionen jahre länger dauert als geplant, ist nicht wichtig. wichtig ist nur, dass ich endlich in ruhe meine suppe essen kann. du weißt ja, was passiert, wenn ich dabei gestört werde.« isu lächelte. sie wusste es. »außerdem habe ich extra frisches gemüse verwendet, aus dem eigenen garten und selbst angebaut und nicht dieses undefinierbare gefriergetrocknete zeug aus der extrem-multi-familien-vorteilspackung. da bringen mich jetzt keine zehn weltuntergänge mehr weg. nicht, bevor ich alles aufgegessen habe. ratzeputz, bis zum letzten löffel!« »ist ja schon gut. mach’ nur. wir haben keine eile. ich wollt’ dich nur daran erinnern ... wir dürfen diesmal nicht vergessen. diesmal nicht. diesmal wird alles anders.« »natürlich wird alles anders, das ist es immer gewesen. sogar meine suppe schmeckt diesmal anders. besser. und wie sie duftet. riech’ mal ...« »und wir werden nicht vergessen. wir sind zu alt, um zu vergessen.« gerade als ich den ersten löffel mit heißer suppe zu meinem mund führen wollte, begann das chaos. nun, nicht direkt. es hatte schon viel früher begonnen, doch die information hatte es erst in diesem augenblick geschafft, sich zu uns durchzukämpfen. das lag wohl daran, dass dieses junge universum noch verhältnismäßig klein war, die materie nicht genug platz hatte, sich richtig auszudehnen und es deshalb immer wieder zu kollisionen kam, die ziemlich viele staus verursachten. man könnte sagen, es ging in manchen regionen ziemlich heiß her und es war nicht immer einfach, sich einen weg durch dieses chaos zu bahnen. hastor stürmte ins zimmer und sagte nur einen satz: »das universum ist infiziert!« ich wusste in diesem moment nicht, worüber ich mich mehr aufregen sollte, über die neuen schwierigkeiten oder darüber, dass die suppe ein 111


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weiteres mal kalt werden würde. mein erster gedanke war, den löffel einfach in die ecke zu schleudern und davonzurennen. doch ich verwarf ihn gleich wieder. erstens würde sich das chaos darüber freuen und sich noch weiter ausbreiten und zweitens musste man sich natürlich fragen, wohin man denn als komprimierte, in materie gepresste informationswolke, die schon alles in diesem universum gesehen hatte, mehr noch, alles geordnet hatte, rennen sollte und ob sich diese aktion positiv auf meine weitere existenz auswirken würde. da die antworten ziemlich eindeutig waren, sie lauteten ›nirgendwohin‹ und ›nein‹, blieb ich sitzen und sagte nur: »verdammt!« »das universum ist infiziert!« bedeutete nicht, dass es sich einen schlimmen virus eingefangen hatte. im gegenteil, unter normalen umständen wäre es eine sehr positive nachricht gewesen; das leben hatte abermals einen weg gefunden und sich in unserem universum eingenistet. doch es herrschten nun einmal keine normalen umstände. wir mussten dieses universum steril halten. in einem zustand der voraussagbar war. und leben war so ziemlich das letzte, das man in so einem fall gebrauchen konnte. es hielt sich einfach an keine regeln, machte, was es wollte und war somit unberechenbar. wir mussten uns damit abfinden, dass wir gerade die kontrolle verloren hatten. wieder einmal. isu schüttelte den kopf und wurde abwechselnd sichtbar und unsichtbar. ein zeichen höchster erregung. »wann hat es angefangen?« die anderen erschienen nacheinander in unserer basis; die pyramide, die uns überall hin begleitete; unser einziger fixpunkt im ewigen kommen und gehen. ithak fehlte noch. sie nahm wahrscheinlich, wie immer, den regulären weg über die treppe, um in unser wohnzimmer zu gelangen. wenn sie schon von den gesetzen der physik gezwungen wurde, sich in diesem universum in form von materie zu zeigen, dann wollte sie sich auch so verhalten, wie materie es normalerweise zu tun pflegte: träge. keine allzuschnellen bewegungen, ja nicht die geschwindigkeit des lichtes überschreiten und schwarze löcher heraufbeschwören. was nicht einer gewissen ironie entbehrte, denn wir hatten ja die gesetze festgelegt, die in diesem universum zu herrschen hatten und wir alleine entschieden also, ob und wie schnell wir uns bewegen wollten. allerdings verzichtete sie heute auf die verbale kommunikation und teilte uns ihre frage gedanklich schon mit, als sie den haupteingang der pyramide erreichte. sie würde demnach in ungefähr fünf minuten auch körperlich zu uns stoßen. »wie ist das möglich? in unserem keimfreien universum. einem universum, in dem wir die physik diesmal absichtlich so gestaltet haben, dass erst gar kein leben entstehen und auch nicht überleben kann?«

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»diese frage stellst du am besten den mikroben, die sich gerade unseren gesetzen widersetzen«, antwortete anjia und »starrte89« auf die datenreihen und bilder, die uns sethi und thorad von »außerhalb« übermittelten. die beiden waren im wahrsten sinne des wortes unsere »außenposten«. sie überwachten das werden unseres »referenzuniversums« von »außen«, hielten sich also irgendwo in der gleichförmigkeit der multiversen auf, wo sie vorrangig darauf achten mussten, nicht darin unterzugehen. denn genau das war zu einem großen problem geworden: die gleichförmigkeit. und nicht nur wir hatten damit zu kämpfen. ein jeder, der sich in dieser uniformität bewegte, musste sich immer wieder den gleichen fragen stellen: »wo ist norden und welches jahr schreiben wir gerade.« es gab kaum noch anhaltspunkte, an denen man sich orientieren konnte. natürlich nur im übertragenen sinne. ort und zeit waren ja ohne bedeutung, das einzige, was hier zählte, war der grad der unordnung. und der stagnierte, nahm nicht mehr zu, da er nicht mehr weiter zunehmen konnte. die ›unität‹ hatte das thermodynamische gleichgewicht beinahe wiedererlangt90. beinahe. denn wir, und ein paar andere, widersetzten uns dieser »unordnung«. wobei »ein paar andere« eine ziemlich undefinierbare zahl war. es konnten hunderte sein oder auch etliche googols91. wir wussten es nicht. doch darauf kam es im grunde nicht an. wichtig war, dass es überhaupt noch jemanden gab, der widerstand leistete. wie lange wir diesen zustand noch aufrechterhalten konnten, das wusste niemand, das wollten wir auch gar nicht so genau wissen. auf dauer war es allerdings ein kampf gegen windmühlen92. wir konnten ihn nicht gewinnen. nicht, indem wir uns nur damit begnügten, dagegen anzukämpfen und so unsere energie zu verschenken. energie, die wir dringend für andere dinge 89 »Starrte« war insofern der falsche Ausdruck, da die Daten nicht den Umweg über Bildschirme oder vergleichbare Ausgabegeräte nahmen, sondern direkt in unsere neuronalen Netzwerke übertragen wurden. Doch der menschliche Geist gierte nach Metaphern, die er verstand. 90 »Als Vertreter der Starken KI und des Anthropischen Prinzips glaubt Tipler an ein finales Ziel der geschichtlichen Veränderungen. Die Feinstrukturkonstante gilt ihm als starker Hinweis auf die zum Menschen hin orientierte Schöpfung des Kosmos. Er sieht den Fortschritt in ein teleologisches Konzept eingebunden und damit eine grenzenlose Zukunft für intelligentes Leben und menschliche Kultur. In seinem Denken beruft er sich weniger auf geisteswissenschaftliche als auf rein physikalische Argumente. Man kann seine philosophisch-religiöse Haltung als eine utopische Ausformung des Pantheismus bezeichnen. Er sieht sich als Dëist aus wissenschaftlicher Einsicht.« – Wikipedia: Frank_J._Tipler#Thesen_von_Die_Physik_der_Unsterblichkeit 91 »Ein Googol ist größer als die Anzahl der Atome oder auch Elementarteilchen im beobachtbaren Universum, die auf 1080 bis 1085 geschätzt wird. 1 googol = 10100« – Wikipedia: Googol 92 »[...] Einer häufigen Interpretation zufolge war das 17. Jahrhundert von diesem ausweglosen Kampf des gnädigen Herrn gegen die gnadenlose Maschine fasziniert, weil der rasante technische Fortschritt damals den Machtverlust der Aristokratie vorantrieb. Die lächerliche Auflehnung des Junkers gegen Windmühlen war dafür das ideale Symbol.« – Wikipedia: Don Quijote 113


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benötigten und die, wenn uns nicht schnell etwas einfiel, sehr bald von der ›unität‹ absorbiert werden würde. man konnte der ›unität‹ jedoch nicht vorwerfen, dass sie dieses gleichgewicht mit allen mitteln zu erreichen suchte, weil sie uns etwa auslöschen wollte; es steckte absolut keine böse absicht dahinter. die ›unität‹ machte nur das, was auch wir gerne machen würden, alle viere von sich strecken und in einem möglichst bewegungslosen zustand verharren, mal so richtig ausspannen. und das konnte sie sehr gut. doch für uns war das fatal. denn wir würden früher oder später untergehen, alles, was unsere einzigartigkeit ausmachte, all unser wissen, all die informationen, die wir gesammelt hatten, würden in dieser strukturlosen welt aufgehen. wir mussten daher einen weg finden, die entropie zu verringern, die ordnung wieder herzustellen, ohne der ›unität‹ energie zu entziehen. das erreichte man am einfachsten – wobei einfach eine extrem einfache beschreibung für diesen vorgang war – indem man die anzahl der mikroskopisch erreichbaren zustände veränderte. soweit die theorie. dass die praxis ganz anders aussah, nun, das lag in der natur der dinge. auch die wenigen noch vorhandenen universen hatten ihre besten jahre schon lange hinter sich gelassen und standen kurz davor, ihr einst so glorreiches leben auszuhauchen, was im detail nur bedeutete, dass ihre grenzen dünner wurden, sie sehr bald die muster der sie umgebenden ›unität‹ annehmen würden. danach waren sie geschichte, zwar noch in ihren grundstrukturen vorhanden, doch nahezu unsichtbar, unauffindbar, wie ein gut getarntes chamäleon in einem urwald. leben gab es in diesen universen schon lange nicht mehr. denn gäbe es solches, müssten wir nicht mit neuen universen experimentieren. »vielleicht sollten wir die mikroben einfach sich selbst überlassen und uns überraschen lassen.« ich schreckte aus meinen gedanken hoch. ithak hatte die stufen bis in unser appartement schneller geschafft, als es für einen menschen möglich gewesen wäre, viel schneller. »du hast geschummelt.« »nein, ich bin nur schnell gelaufen. schon vergessen, ich bin eine maschine.« »wie wir alle«, dachte ich. eigentlich waren wir das, seit ich denken konnte. obwohl wir früher einmal – viel früher, damals als es noch unendlich viele universen und auch zeit im überfluss gab – davon überzeugt gewesen waren, dass wir menschen sind. wir hatten nicht den hauch eines zweifels gehabt. dabei gab es den menschen gar nicht. er war nur ein produkt unserer eigenen fantasie. »du weißt, was beim letzten mal geschehen ist, als wir alles der natur überlassen wollten?«, fragte isu. sie konnte sich ein grinsen nicht verkneifen. im nachhinein betrachtet war es wirklich eine recht amüsante 114


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geschichte gewesen, doch mittendrin im geschehen hatten wir wenig grund zum lachen gehabt. »ja, war nur so ein gedanke. vielleicht haben wir diesmal mehr glück. es läuft ja sicher nicht jedes mal gleich ab.« hastor löste seinen blick von den zeilen des buches, das er mitgebracht hatte, ein »altes« buch über die physik der unendlichkeit, und sah durch den gläsernen abschluss-stein hinauf in den himmel, den prächtig leuchtende nebelschwaden erhellten. nachwehen der geburt dieses universums. gaswolken, die von innen heraus glühten, zum glühen gebracht wurden durch explodierende sterne. »wenn ich mir das so überlege, muss ich ithak zustimmen«, sagte er nach einer weile. »wir haben nicht mehr viele alternativen. ich glaube nicht, dass wir es schaffen, ein weiteres stabiles und vor allem steriles universum zu erzeugen, bevor uns die ›unität‹ einverleibt hat.« er las wieder in dem buch. »wir haben jetzt wie viele versuche hinter uns?« »231-1«93, antwortet isu. »warum fragst du?« »wenn das mal kein gutes omen ist.« »warum? weil es eine primzahl ist?« »genau. solche zufälle kann es nicht geben. wir sollten es versuchen. wir sollten diesem universum eine chance geben. bringen wir die gesetze auf vordermann und füllen es mit information.« »das leben soll entscheiden, was es daraus macht.«

1 von nun an ging alles sehr schnell. kaum hatte ich erkannt, wer wir waren, veränderte sich die perspektive. die eichen und fichten auf dem plateau wurden durchsichtig, leuchteten von innen heraus. zuerst kaum wahrnehmbar in sanften pastellfarben, dann immer greller und bunter die aufmerksamkeit auf sich ziehend, zuletzt in schreienden grünen und gelben neonfarben. atome blähten sich auf zu wabernden bunt schillernden seifenblasen – oder schrumpften wir? wir wurden hochgehoben und entfernten uns immer schneller vom außenposten der d’narga, der bald im regen rötlich gelber funken unterging. das kichern, das ich für ein hirngespinst gehalten hatte, wurde lauter und auch ithak konnte es jetzt hören. wir sahen uns erstaunt an. die nadelfeinen funken wurden in die länge gezogen, reichten beinahe bis ans ende des universums. 93 »Eine Mersenne-Zahl ist eine Zahl der Form 2n − 1. Im Speziellen bezeichnet man mit Mn = 2n − 1 die n-te Mersenne-Zahl. Die ersten acht Mersenne-Zahlen Mn sind 0, 1, 3, 7, 15, 31, 63, 127 (Folge A000225 in OEIS).« – Wikipedia: Mersenne-Primzahl 115


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die zeit stand still. ein universum stülpte sich aus dem nichts ins hier, blähte sich auf, vergangenheit, gegenwart und zukunft streckten ihre fühler ins unendliche, erstarrten in bizarren, kristallinen formen, suchten nach halt und fanden keinen. »das ist es also. information. nichts weiter als information!«, rief ich überrascht in das nichts hinaus. obwohl ich wusste, was ich war und mir auch bewusst war, dass ich gerade nicht nur das universum, sondern auch raum und zeit verlassen hatte und nichts menschliches mehr an mir war, fühlte ich mich immer noch als mensch. »es ist also wieder einmal so weit?«, hörte ich ithak fragen. isu saß in einer hollywoodschaukel und lachte immer noch. »was ist so witzig?«, wollte ich von ihr wissen und setzte mich neben sie. »du bist witzig«, antwortete sie und gab mir einen kuss. eigentlich ein ding der unmöglichkeit, wenn man sich ort, zeit und unsere gestalt ins gedächtnis rief. wir waren ja weder irgendwo noch irgendwann oder irgendwas. genau genommen existierten wir gar nicht. wir waren nichts weiter als eine unbedeutende abweichung in der ›unität‹. »eine grashalmpflanzende ameisen-armee. das kann auch nur dir einfallen.« »so witzig ist das gar nicht. die assoziation war logisch. wenn du diese landschaft gesehen hättest ...« »habe ich. und es war gut so, sonst säßen wir jetzt wohl nicht hier.« »ist es schlimm?« »nein, diesmal sind wir früher aufgewacht.« die strukturen verflüchtigten sich. die schaukel wurde durchsichtig. ich hatte das gefühl, mit der unendlichkeit eins zu werden. »hoffentlich früh genug ...« war es hastor gewesen, der diesen gedanken ausgeformt hatte? oder reth? beide? »früh? in bezug auf was?«, fragte isu. nein anath hatte gefragt. die grenzen verflüchtigten sich in einem rasenden tempo. »in bezug auf unsere universen.« es waren die gedanken von hastor und reth, die auf mich einflossen. sie waren ein und dieselbe person? warum wunderte ich mich darüber? waren sie nicht immer schon eins gewesen? »unsere universen? gibt es sie noch?«, fragte ithak aus einer anderen ecke der unendlichkeit. es war wohl der großen distanz zwischen ihr und uns zuzuschreiben, dass ihre gedanken nur leise, sehr leise, bei uns ankamen. trotzdem konnte ich ihre anwesenheit fühlen. »ja. ein überdurchschnittlich hoher anteil von ihnen ist noch intakt. und die wahrscheinlichkeit, dass sie es auch lange genug bleiben, ist überraschend groß.« 116


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»so? das verwundert mich jetzt doch ein wenig.« es fiel mir immer schwerer, die stimmen zu unterscheiden, sie bestimmten personen zuzuordnen. »wie sieht es mit uns aus?«, fragte ich. hatte wirklich ich die frage gestellt oder marvin? war ich rham, tik. wer? »es ist noch alles in bester ordnung. wir sind vollzählig und in bester verfassung. unser potenzial ist unerwartet hoch. um vieles höher als es vor unserem experiment der fall war. wir haben uns aus der gleichförmigkeit befreit.« wir waren jetzt vollzählig, ich war vollzählig. also hatten wir es tatsächlich geschafft. und alle informationen waren plötzlich an ihrem platz, fügten sich wie in einem riesigen puzzle zusammen und ich wusste, wir wussten, wir waren eins. es gab nur noch uns, es gab nur noch mich. »wie gesagt, vorerst.« »und wie entwickeln sich die universen?«, fragten sie. »sie entwickeln sich gut. besser als je zuvor. das haben wir wohl den intelligenzen zu verdanken. sie werden sich gerade ihrer selbst bewusst und erschaffen ihre eigene realität.«, antworteten sie. die informationen flossen rasend schnell von einem ende der unendlichkeit zum anderen. und alle wussten alles. alle information war jetzt überall. wir waren angekommen. »das heißt, wir hatten erfolg? wir können den nächsten schritt wagen?« »genau das ist das problem.« »wir haben sie unterschätzt.« »unterschätzt?« »ja. wir haben zwar damit gerechnet, dass sie irgendwann in der lage sein werden, ihre universen zu verlassen, doch nicht damit, dass sie es so rasch in die tat umsetzen werden. wir haben alle hände voll damit zu tun, die physikalischen gesetze so anzupassen, dass sie es nicht schaffen. allerdings mit mäßigem erfolg. es ist nur eine frage der zeit ...« »wir sind daher gezwungen, etwas zu unternehmen.« »es hat auch den anschein, als ob entropia unsere bemühungen registriert hat, denn der sog ist stärker geworden.« »wie? stärker? wieso stärker? das kann doch nicht sein. wir waren uns doch sicher, dass die struktur sich nicht verändern wird, jedenfalls nicht in dieser größenordnung?« »außerdem, wie soll entropia das erfahren haben? es steckt doch keine intelligenz dahinter, es ist doch nichts weiter als eine temporäre chaotische erscheinung, eine von vielen informationswirbeln. zugegeben der größte, einer mit erschreckenden ausmaßen und einer enormen sogwirkung, doch es ist trotzdem nur ein wirbel.« »und früher oder später wird auch er sich auflösen.«

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»mag schon sein, doch fakt ist, dass er sich weiter ausgedehnt hat und jetzt um ein vielfaches größer ist, als bei unserer letzten zusammenkunft.« »und wenn er in diesem tempo weiter wächst, haben wir bei unserem nächsten treffen ein bis dato für unmöglich gehaltenes zeitproblem. eines, welches eigentlich gar nicht existieren darf. nicht hier.« »das kommt auf die definition von ›zeit‹ an. wenn man, wie die menschen, das prinzip ›ursache und wirkung‹ als eines der hauptmerkmale der zeit heranzieht, dann müssen wir uns keine gedanken darüber machen, ob uns noch genügend zeit für unsere vorhaben zur verfügung steht.« »doch wir haben es mit einem viel grundlegenderen problem zu tun, der entropie. und diese nimmt derzeit rasant ab.« »und da in unserer welt nur die entropie etwas zu sagen hat, hat auch die zeit keine bevorzugte flussrichtung. sie könnte sich zu jeder zeit in jede beliebige richtung ausdehnen.« »was sie im normalfall allerdings nicht macht. im normalfall macht sie gar nichts. im normalfall existiert sie nicht, da es im thermodynamischen gleichgewicht keine vergangenheit oder zukunft gibt.« »doch jetzt ...« »jetzt sieht es aus, als ob die zeit auch hier zu fließen beginnen wird. in unsere relative vergangenheit ...« »etwas, das wir verhindern müssen. es gibt nichts zerstörerischeres, als die zeit ...« »wir sind uns doch einig, dass wir dieses ungleichgewicht absichtlich herbeigeführt und diesen prozess in gang gesetzt haben, um die bevorstehende informationsauflösung zu stoppen?« »das haben wir ja erreicht und noch viel mehr. es herrscht informationsüberfluss, wie er noch nie vorhanden war. eine vielfalt an universen und physikalischen strukturen, wie es sie zu keiner zeit gegeben hat. doch um welchen preis?« »der preis dafür ist ein turbulentes dasein, eine ›unität‹ in aufruhr, eine existenz am rande des abgrundes. immer darauf gefasst sein müssen, unterzugehen, von einem informationsstrudel erfasst und verschlungen zu werden. doch andererseits, es gibt mehr leben in der ›unität‹ als je zuvor.« »und es stimmt schon, entropia wird auch uns früher oder später erreichen und verschlucken.« »die frage ist doch die, was können wir tun, um diesen prozess aufzuhalten oder gar umzukehren?« »was wir tun können? nichts, befürchte ich.«

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»das chaos hat uns den taktstock aus der hand gerissen und dirigiert jetzt eine sehr eigenwillige interpretation der götterdämmerung.94« »wir waren es doch, die diese entwicklung in gang gesetzt haben, oder etwa nicht?« »nicht nur wir alleine ...« »wer konnte denn ahnen, dass ein in unseren augen unbedeutendes experiment diese erschreckenden dimensionen annehmen würde.« »niemand konnte das, auch nicht die anderen, die es uns gleich taten und unsere idee in alle himmelsrichtungen verbreiteten, unzählige male bis an die grenzen ...« »weil auch sie glaubten, so könnten sie dem sicheren untergang entgehen.« »dabei haben wir alles nur hinausgezögert. für eine lange zeit, doch das ende können wir trotz all unser bemühungen nicht aufhalten.« »es sieht nur anders aus, das ende.« »ja, wir wären an langeweile gestorben, nun werden wir eben am herrschenden informationsüberfluss ersticken. so viel zum preis ...« »also? was machen wir? abwarten und beobachten oder versuchen wir, der informationsflut herr zu werden?« »das spielfeld kampflos räumen? uns eingestehen, dass wir diesen intelligenzen, allen voran den menschen, in den von uns erschaffenen universen nichts mehr entgegenzusetzen haben?« »so weit ist es noch lange nicht und dazu wird es nicht kommen! sie waren ja nur kleine störungen im system« »ja, das waren sie früher vielleicht. doch nun erschaffen sie ein universum nach dem anderen, und das in einem unheimlichen tempo und verringern dabei die entropie schritt für schritt, ohne zu ahnen, ohne zu begreifen, was sie damit anrichten. sie haben unsere kühnsten erwartungen übertroffen und uns damit in große schwierigkeiten gebracht.« »wir können die experimente immer noch abbrechen und ...« »glaubst du das wirklich? ich denke, es ist längst zu spät. « »zu spät«, dachte ich resignierend. wir wussten, was zu tun war. »du hast recht, es ist zu spät für uns, doch nicht zu spät für das leben. es klingt verrückt, doch vielleicht ist genau das der entscheidende punkt.« »wir sollen also ...«

94 »Götterdämmerung (WWV: 86D) ist der Titel des vierten und letzten Tages von Richard Wagners Tetralogie Der Ring des Nibelungen, die er als „Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend“ bezeichnete. Den „Vorabend“ bildet das pausenlose Werk Das Rheingold, die anderen beiden „Tage“ sind Die Walküre und Siegfried. Die Uraufführung fand am 17. August 1876 im Rahmen der Richard-Wagner-Festspiele im Bayreuther Festspielhaus statt. Das Werk ist im Verlag Schott, Mainz (Richard-Wagner-Gesamtausgabe) erschienen.« – Wikipedia: Götterdämmerung 119


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»ja, wir sollten uns vom gedanken befreien, dass wir diese intelligenzen vernichten oder zumindest von unseren universen fernhalten müssen, um selbst zu überleben.« »vielleicht ist es gar nicht nötig, das gleichgewicht wieder herzustellen. wir sollten einfach nur abwarten und uns das ganze in ruhe ansehen. ansehen mit den augen dieser intelligenzen, so wie wir es schon oft getan haben, um sie zu manipulieren.« »wir sollen nur noch beobachten?« »ja, zusehen und ihre handlungen und das leben verstehen lernen. es muss doch einen grund geben, dass sie es auch in den unwirtlichsten universen immer wieder zuwege bringen, sich anzusiedeln. sogar, und das ist das eigentliche mysterium, sogar in unversen, deren physikalische gesetze es gar nicht zulassen. wir müssen den zeitpunkt finden, an dem sie es geschafft haben, den entscheidenden schritt zu tun, es geschafft haben, sich aus den universen zu befreien, sich unserem einfluss zu entziehen, ja sogar, sich vor uns zu verstecken.« »du hast vermutlich recht. wenn wir dieses rätsel lösen, dann müssen wir auch die zeit nicht mehr fürchten. und wenn man es genau nimmt, haben wir diesen schritt schon getan.« »es ist paradox, da versucht man der ›langeweile‹ herr zu werden und formt ein universum, welches ein wenig abwechslung schaffen soll. verliert es einen augenblick aus den augen und kaum hat man es wieder eingefangen und glaubt, damit wären alle probleme beseitigt, hat man das spiel schon verloren.« »da haben wir uns wahrlich ein riesiges kuckucksei ins nest gelegt.« »dann ist es also beschlossene sache?« »unsere wege trennen sich.« »werden wir uns wiedersehen?« »das haben wir schon.«

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Rückkehr

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D

ie Sonne stand schon hoch am Himmel, als Maori wach wurde. Er wunderte sich nur kurz, dass er immer noch hier, an den Baum gelehnt, in der Wiese saß. Die rote Pyramide zu seiner linken stand unverändert an ihrem Ort. Warum hätte es auch anders sein sollen? Sie stand schon seit Menschengedenken an diesem Platz und wird wohl in tausend Jahren auch noch dort stehen. Trotzdem wurde Maori das Gefühl nicht los, dass er etwas Wichtiges vergessen hatte. Er stand auf, ging einige Schritte, um den Kreislauf in Schwung zu bringen, lehnte sich wieder an den Baum und beobachtete die grasenden Timpas. Sollte er seinen Warnruf ausstoßen, sie vor den Jags warnen, die im Gras lauerten? »Nein. Die Natur soll entscheiden.« Er drehte sich von den Timpas weg und ging zur Pyramide. Vor drei Tagen war er hier angekommen und hatte wieder einmal vergeblich versucht, hinter ihr Geheimnis zu kommen. Es gab keinen Weg hinein. Zumindest keinen, den ein Menschenauge sehen konnte. Mindestens zehnmal hatte er die Pyramide in den letzten Jahren Zentimeter für Zentimeter abgesucht, doch es gab nicht den geringsten Anhaltspunkt, wie man in sie eindringen konnte. Keinen Spalt, an dem man einen Hebel anbringen konnte, um sie zu knacken, keinen Riss, keine Rille. Nichts. Sie war eben, wie die Oberfläche eines Sees, glatter noch als das glatteste Gestein in den Bergen von Julu. Und trotzdem ahnte Maori, dass sie der Schlüssel war. Der Schlüssel zu einem uralten Geheimnis, das er einst gekannt, doch vor langer Zeit vergessen hatte. Die Urgroßväter seiner Urgroßväter hatten erzählt, dass sie einst von mächtigen Göttern erbaut worden war, um Apsu zu ehren. Und daher war es in seinem Stamm Gesetz, diese Stätte mindestens einmal im Leben zu besuchen, hier zu meditieren und den Stimmen der Götter zu lauschen. Maori konnte sich noch genau daran erinnern, was geschehen war, als er das erste Mal im Schatten der Pyramide meditierte und auf ein Zeichen gewartet hatte. Nur aus diesem Grunde kehrte er immer wieder an diesen Ort zurück, immer und immer wieder und er hoffte, dass er sich wieder erinnern würde, dass er dieses Abenteuer ein zweites Mal durchleben durfte. Doch nach 80 Jahren hatte er die Hoffnung beinahe aufgegeben. Die Erinnerungen verblassten und bald würde nichts mehr davon übrig sein. Er war damals in sein Dorf zurückgekehrt, hatte den Ältesten von den Bildern erzählt, die er in seinen Träumen gesehen hatte, und war sofort von ihnen zum Stammesführer bestimmt worden. Die alten Geschichten hatten es prophezeit, so sagten sie, es würde der Tag kommen, an dem die Götter zu einem Kind sprechen werden und danach würde es dem Volke an nichts mehr mangeln. 121


Rückkehr

Und so geschah es auch. Die Bilder hatten ihm gezeigt, wo es Wasser gab, das Land besonders fruchtbar war und wohin sich die Timpas während der Trockenzeit zurückzogen. Es folgten Jahrzehnte des Überflusses und Maori wurde zum Symbol für ein neues Zeitalter. Doch was er niemandem erzählt hatte, was er all die Jahre in seinem Innersten verborgen gehalten hatte, was an seinem Herzen nagte, war die wahre Geschichte. Die Geschichte, wie sie sich wirklich zugetragen, wie sie sich in sein Gedächtnis gebrannt hatte. Und der Schlüssel zur Wahrheit, so vermutete er, würde er im Inneren der Pyramide finden. Diese Bilder, das wusste er mit Sicherheit, waren ihm nicht im Traum erschienen, sondern er selbst hatte mit den Göttern gesprochen. Mehr noch, seine Erinnerungen wollten ihm glauben machen, er selbst wäre ein Gott gewesen! Er! Dort unter dem Baum hatte er gesessen und geträumt, auf die Stimmen der Götter gewartet. Und dann war er dort gewesen, an diesem Ort. Hoch oben über den Wolken war er geschwebt und hatte auf Gia herabgeblickt und gestaunt. Und noch etwas war geschehen. Er hatte sich verwandelt, war kein Mensch mehr gewesen, sondern ein Wesen, das unsterblich geworden war und seit unerdenklich langen Zeiten lebte, das außerhalb von Raum und Zeit existieren konnte, das allmächtig war. Doch das hatte er natürlich niemandem erzählt. Man hätte ihn für verrückt erklärt, hätte ihn nicht verstanden. Und so machte er sich, so oft es ihm möglich war, auf den Weg und suchte nach der Wahrheit, suchte einen Weg, die Götter zu erreichen, mit ihnen zu sprechen, wieder in ihre Kreise aufgenommen zu werden. Doch vielleicht wollten sie nichts mehr mit ihm zu tun haben. War er ein Ausgestoßener, hatten Sie ihn absichtlich auf diese Welt verbannt? Und wenn ja, warum? Genau diese Fragen waren es, die ihn quälten, die ihn immer weiter suchen ließen. Seit nunmehr 80 Jahren. Er wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Er würde bald sterben. Und noch eines wusste er mit Sicherheit: Wenn es ihm nicht gelang, das Rätsel der Pyramide zu lösen, so war er für immer verloren, war all sein Wissen für immer verloren. Und so suchte er weiter, bis zum letzten Tag.

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Experiment

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I

ch öffnete die Augen. Die Schlafzimmerdecke machte Anstalten, auf mich herabzustürzen. Instinktiv suchte ich Schutz unter der Decke. Meine Frau lachte. »Bist du endlich wach? Du hast gestern wieder einmal maßlos übertrieben. Ich wundere mich, dass du noch lebst, bei deinem Vernichtungsfeldzug gegen die vielen Wodkaflaschen hatte ich dir keine großen Überlebenschancen eingeräumt, wollte schon den Leichenbeschauer rufen«, sagte sie grinsend. Ich schob die Decke beiseite. »Ich liebe dich auch«, brachte ich noch hervor, bevor ich mich wankenden Schrittes, so schnell es mir bei meinem Zustand möglich war, ins Bad begab und mich übergab. »So eine Scheiße. Was hab’ ich mir dabei bloß gedacht?« »Nichts. Wie immer«, antwortet sie. Und recht hatte sie. Die Erinnerung kehrte bruchstückhaft wieder. Wir waren auf dieser Phy-Party gewesen. Eine Party, von der ich angenommen hatte, sie würde extrem langweilig werden und vor allem trocken enden. Weit gefehlt! »Bitte hilf mir, was haben wir da gestern gefeiert? Haben wir tatsächlich den Jackpot geknackt?« »Dich hat’s wirklich schlimm erwischt, wie?« Ich ging ins Wohnzimmer, setzte mich auf die Couch, … legte mich auf die Couch. »Ich wollte ja nicht, doch diese Flaschen ...« »... haben dich hinterrücks überfallen. Ich weiß.« Sie reichte mir einen Kaffee. »Schwarz und stark, mit einem Schuss Wodka, damit du keine Entzugserscheinungen bekommst.« Ich bedankte mich mit einem Kuss bei ihr. »Du bist ein Engel.« »Weiß ich doch. Und ja, wir haben es endlich geschafft.« »Und nun warten wir ab, warten auf eine Antwort.« Ich rief mir die letzten Wochen ins Gedächtnis zurück.« »Genau. Und bis es soweit ist, koch’ ich dir eine Gemüsesuppe.« Sie verschwand in der Küche.

1 Die riesigen Bildschirme im großen Mediencenter des UHC zeigten gerade jene wilden virtuellen Kamerafahrten durch psychedelische Muster, zusammengesetzt aus Millionen seltsam verdrehter Teilchenspuren, 123


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die man den vielen Medienvertretern, den interessierten Laien und vor allem den Repräsentanten der geldgebenden Staaten gerne zeigte, wenn wieder einmal eine mutmaßliche Sensation präsentiert wurde. Hunderte kleinere Monitore zeigten Datenkolonnen und Kurven, wieder andere interaktive Programme, auf denen alle Mitarbeiter und ihre Lebensläufe, die wichtigsten Gebäude und Instrumente mit erklärenden Texten präsentiert wurden. Diesmal war es allerdings wirklich eine Sensation, wenn man darunter ein unerwartetes Ereignis verstand. In den Detektoren des größten Teilchenbeschleunigers der Erde waren zwar keine schwarzen Löcher produziert worden, wie es manche Untergangspropheten prophezeit und wohl auch gerne heraufbeschworen hätten, doch jene Teilchen, die vor sechs Monaten zum ersten Mal aufgezeichnet und nach langwierigen Analysen als real existierende Objekte bestätigt worden waren, hatte die Physikergemeinde rund um den Erdball in helle Aufregung versetzt. Genau genommen war eine ganze Teilchengruppe gefunden worden. Eine Gruppe, die schon zwei Jahrzehnte zuvor von vier Wissenschaftlern vorausgesagt worden war und in den Teilchenbeschleunigern dieser Welt schon viele Spuren hinterlassen hatte, die jedoch aufgrund der Datenlage bis zu jenem denkwürdigen Tag als statistische Artefakte bewertet worden waren. Doch nun ließen die gemessenen Werte keine anderen Schlüsse mehr zu, die Teilchenphysik hatte sich über Nacht in einen einzigen Scherbenhaufen verwandelt, den man in den kommenden Jahren wieder mühsam würde zusammenkleben müssen. Und zurzeit wusste noch niemand genau, wie das neue Gebilde, das sich aus diesen Bausteinen bauen ließ, denn aussehen würde. Mit diesen Teilchen hatte man nicht weniger als eine natürliche Zeitmaschine gefunden: Sie hatten die Eigenschaft, in die relative Zukunft oder Vergangenheit reisen zu können und dort zu erscheinen. Was nichts anderes bedeutete, als dass man sie theoretisch dazu verwenden konnte, Nachrichten in die Vergangenheit oder Zukunft zu versenden. Doch das war nur die halbe Wahrheit.

2 Wir saßen, wie Hunderte Kollegen rund um den Erdball auch, seit Tagen fast ununterbrochen vor den Bildschirmen und entwarfen verschiedene physikalische Modelle, die wir dann dem Computernetzwerk, es waren mittlerweile 42 Rechenzentren an diesen globalen Rechencluster angeschlossen, in Form komplexer Programme übergaben. Diese erschufen aus den gemessenen Daten in monotoner und beinahe erschreckender Regelmäßigkeit virtuelle Universen, die eines gemeinsam hatten: Sie hatten nichts gemeinsam. Und trotzdem konnten sie real sein. Die neue Teilchengruppe, die eine neue, eine fünfte Kraft repräsentierten, hatte ein Tor zu unzähligen, wahrscheinlich unendlich vielen Welten aufgestoßen, die alle dermaßen gestaltet waren, dass sie Leben beherbergen konnten. 124


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Bisher war man davon ausgegangen, dass unser Universum, gerade weil es so geschaffen war, wie es ist, die Naturgesetze sich so präsentierten, wie sie waren, einzigartig war. Denn das exakte Zusammenspiel der Kräfte ließ keinen anderen Schluss zu: Die Wahrscheinlichkeit, dass zufällig irgendwo ein zweites Universum, mit den gleichen Eigenschaften entstehen konnte, war gleich Null. Denn schon die kleinste Abweichung hätte bedeutet, dass sich in diesem Universum keine Materie hätte formen können, was natürlich zur Folge gehabt hätte, dass auch Leben, wie wir es kannten, nie hätte entstehen können. Doch nun war alles anders. Wir hatten nun die Gewissheit, man musste es mit dieser Deutlichkeit sagen, dass es unzählige Universen gab, die Leben beherbergten. Denn war die Wahrscheinlichkeit, dass sich in den unzähligen Galaxien, mit den unzähligen Sonnen, kein einziger Planet fand, auf dem sich zumindest primitive Lebensformen gebildet hatten, schon gering, so war sie mit dem Wissen, dass es unendlich viele Universen gab, beinahe Null. »Wir versuchen jetzt die Nummer neun«, sagte Koch, unser StatistikGuru. Er meinte damit den neunten Datensatz aus 19 von ihm ausgewählten. Er war ein exzellenter Datenanalyst und bekannt dafür, auch aus der größten Ansammlung von ungeordneten Daten, binnen kürzester Zeit verwertbare Strukturen herauszufiltern. Er hatte eine Nase für statistisch signifikante Ausreißer, war der unumstrittene und weltweit anerkannte Meister im Erkennen von neuen Mustern im beständigen Rauschen Exabyte95 großer Datenwüsten. Und in 19 Blöcken der immensen Datenmenge, die das UHC in den letzen Monaten geliefert hatte, meinte er nach wochenlanger »Meditation«, wie er selbst die Analyse der Daten mit Hilfe eigens für diesen Zweck entwickelten Data Mining96 Programmen nannte, vielversprechende Strukturen gefunden zu haben, die geeignet wären, unsere ganz spezielle Theorie zu bestätigen. »Was ist mit sieben und acht«, fragte ich und biss mir sofort auf die Zunge. Koch, der Zweimetermann hatte gesprochen und seine Wahl somit zum Naturgesetz erhoben und man stellte unumstößliche Naturgesetze nicht infrage, sondern arrangierte sich mit ihnen. Koch zog seine Augenbrauen hoch und starrte mich an, als wäre ich ein Affe in einem Zoo in der tiefsten Provinz. Sein rechter Mundwinkel zuckte verdächtig. Ich wollte mich eigentlich umdrehen und schnellstens zwischen den Programmzeilen auf den Monitoren ein sicheres Versteck suchen, so wie alle anderen im Raum anwesenden Personen auch, die plötzlich in einer Geschwindigkeit in ihre Tastaturen hämmerten, als 95 »Exabyte (EB) 1018 Byte = 1.000.000.000.000.000.000 Byte« – Wikipedia: Exabyte 96 »Unter Data Mining (der englische Begriff bedeutet in etwa “Datenschätze heben”) versteht man die systematische Anwendung von Methoden, die meist statistisch-mathematisch begründet sind, auf einen Datenbestand mit dem Ziel, neue Muster zu erkennen. Hierbei geht es vor allem um die Verarbeitung sehr großer Datenbestände (die nicht mehr manuell verarbeitet werden könnten), wofür effiziente Methoden benötigt werden, deren Zeitkomplexität sie auch für große Datenmengen geeignet macht.« – Wikipedia: Data Mining 125


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würde der Weltfriede davon abhängen, doch seine bohrenden Blicke ließen mich zu Eis erstarren. »Helfen Sie mir, was haben Sie studiert?«, fragte er, als sähe er mich zum ersten Mal. »Informatik, Spezialgebiet künstliche Intelligenz«, antwortete ich mechanisch, obwohl ich mir sicher war, dass er es ohnehin wusste und mich mit dieser Frage nur provozieren wollte. »So, künstliche Intelligenz also? Und hat der Doktor mit der künstlichen Intelligenz auch einen Vorschlag parat, wie wir den Prozess eventuell noch weiter beschleunigen können? Ich meine, außer mit diesem großartigen Vorschlag, die von mir vorgegebene Reihenfolge der Analyse zu verändern?« Und plötzlich hatte ich eine Eingebung, es war einer der seltenen lichten Augenblicke, die über das Sein oder Nichtsein einer ganzen Zivilisation entschieden. Doch Koch hypnotisierte mich derart, dass mir dieser Augenblick erst bewusst wurde, als ich den entscheidenden Satz schon gesprochen hatte. Und kurz darauf war dieser Augenblick auch schon vorüber. Nur dieses ungute Gefühl blieb noch zurück – war bis zu meinem Tod, der relativ bald und unverhofft eintreten sollte, mein ständiger Begleiter – das Gefühl, ich hätte etwas sehr wichtiges vergessen. Etwas, das mein Leben über viele Äonen hinweg bestimmt hatte. »Sie haben ja vor einigen Tagen über die Problematik der negativen Signalkopplung gesprochen, und dass diese Kopplung das Rauschen zeitweise unverhältnismäßig verstärkt.« Koch sagte nichts, nur seine Augen wurden größer. Es schien, als wartete er auf eine günstige Gelegenheit, mich mit einem gewaltigen verbalen Faustschlag aus dem Raum zu prügeln. »Nun, ich habe mir überlegt, wie wir dieses Problem, …« Unter normalen Umständen wäre ich jetzt Hals über Kopf geflüchtet, doch eine unbändige Kraft hielt mich zurück und ich sprach relativ unbeeindruckt weiter. »... zumindest entschärfen könnten. Sehen Sie hier.« Meine Finger bedienten die Tastatur und starteten eine Simulation, von der ich beim Leben aller Götter hätte schwören können, dass ich sie nie programmiert hatte. Doch ich musste es gewesen sein, denn wer sonst, außer mir, wäre auf eine derart bescheuerte Idee gekommen? Ein dreidimensionales Abbild einer ungeordneten pulsierenden Wellenfront erschien auf dem Hauptmonitor. Das war ein weiteres Vergehen gegen die Koch’schen Verhaltensregeln, das normalerweise mindestens mit der ewigen Verdammnis bestraft wurde: Niemand benutzte ungefragt den Hauptmonitor. Niemand! Doch noch immer blieb er verhältnismäßig ruhig. Wenn man die Adern auf seinen Schläfen, die jetzt im Gleichklang mit den Wellenfronten auf dem Bildschirm pulsierten, als ein sicheres Zeichen für ein sich zusammenbrauendes Unwetter katastrophalen Ausmaßes großzügig ignorierte. 126


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Wie ferngesteuert drückte ich eine weitere Taste. Das Bild veränderte sich schlagartig. Die pulsierenden Wellen verschwanden und machten einigen unscheinbaren, nadelspitzenfeinen Strukturen Platz. Ein Raunen ging durch den Saal. »Wir könnten die Daten derart künstlich verändern, … quasi über die Funktionen dieser Dämpfungskurven verstärken und danach invertieren.« Nun fing ich doch noch an, zu stottern. »Das Rauschen wird dadurch stark gedämpft, die Signale natürlich auch, doch nicht in gleichem Maße, da ... ich denke, Sie wissen selbst besser, was ich meine, … und wenn wir etwas Glück haben ...« Weiter kam ich nicht. Sein Kinn klappte nach unten, er holte tief Luft. Einen kurzen Augenblick später verließ ein dröhnendes, lautes Lachen seinen Mund, das mit Leichtigkeit einen startenden Kampfjet übertönt hätte. Er beugte sich nach vorne, als wolle er noch etwas sagen, als wolle er mir sagen, dass das Lachen verhinderte, dass er den Satz, den er mir sagen wollte, aussprechen konnte. Ich verstand trotzdem. Er verstummte abrupt, drehte sich wortlos um, ging zu seinem Schreibtisch, warf sich in den Ledersessel, der davor stand und ächzend nachgab, gleich um ganze 23 Zentimeter kleiner wurde. Griff sich die Tastatur, riss sie an sich, wie ein Alkoholkranker das rettende Schnapsglas und begann wortlos, rasend schnell Zeichen einzugeben. Eine halbe Stunde verging, in der niemand im Raum ein Wort sagte, niemand den Mut aufbrachte, auch nur laut zu atmen und jeden Hustenreiz bis zum Erbrechen unterdrückte. Dann drehte er sich zu mir um und schlug mich zum Ritter: »Ich weiß zwar nicht, was Sie gesoffen haben, dass Ihnen das eingefallen ist, doch Sie sind ein Genie. Sie haben soeben den Jackpot geknackt. Hier ist das Signal, das wir gesucht haben. Hier in den Datenblöcken 2, 3, 5, 7, 11, 13, 17 und 19. Sehen Sie her.« Die Strukturen, die nun auf allen Monitoren im Saal erschienen, waren eindeutig. Es gab keine Zweifel. »Und wenn wir uns jetzt auf Basis dieser neu gewonnenen Erkenntnisse den gesamten Datenwulst vornehmen, nun, … ich denke, wir werden danach unser Universum in einem vollkommen neuen Licht sehen.« Und damit würde er recht behalten. Wir hatten soeben die ersehnte Antwort aus der Zukunft bekommen. Eine Antwort auf eine Frage, die wir noch nicht gestellt hatten, doch die früher oder später zwangsläufig gestellt werden musste. Und sie gefiel uns ganz und gar nicht. Doch zumindest wussten wir jetzt, wie diese Frage lauten würde.

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3 Die Uhr zeigte 03:25 und wir arbeiteten gerade die übliche Checkliste ab, um der Morgen-Crew die Aufgabe so angenehm wie möglich zu gestalten. Nachdem die letzten Tests vor drei Tagen zufriedenstellend abgeschlossen worden waren, hatte man entschieden, den UHC-Komplex in den »shoot and run« Status zu versetzen. Ein Insiderwitz, der nichts anderes aussagte, als dass der wissenschaftliche Teil der Arbeit in Kürze beginnen würde; das Aufeinanderprallen der Teilchenstrahlen und die darauffolgende, etliche Jahre andauernde Auswertung der Daten. Und da viele Verschwörungstheoretiker behaupteten, die Kollisionen der Teilchen würden Schwarze Löcher erzeugen und dies wäre dann auch das Ende der Welt, was lag also näher, diesem Zeitpunkt einen passenden Namen zu geben; das war die offizielle Begründung, die inoffizielle lautete so: »Sobald die Physiker hier ankamen und sich breitmachten, war es mit der Ruhe vorbei, dann würde das Chaos die Regie übernehmen und jeder, der nur irgendwie konnte, würde freiwillig schnellstmöglich das Weite suchen.« Die Röhren im Beschleuniger waren längst frei von allen Teilchen, es herrschte dort ein Vakuum, das es so nicht einmal auf dem Mond gab. Die Kühlkreisläufe arbeiteten auf Hochtouren, 22 000 Tonnen flüssiger Stickstoff und 180 Tonnen flüssiges Helium sorgten für eine Temperatur, die sogar unter jener im Weltraum lag. Die Geschwindigkeit der Protonenstrahlen in den Vorbeschleunigern, den Protonen-Boostern, würde in weniger als vier Stunden fast Lichtgeschwindigkeit erreichen. Danach würden die Strahlen – 4800 Bündel von je bis zu 150 Milliarden Protonen – in die »Großen Ringe« eingeleitet, wo sie etwa 30 Minuten später ihre Höchstgeschwindigkeit erreichen und kurz darauf in den Detektoren fokussiert werden würden, um dort mit einer unvorstellbaren Wucht aufeinanderzuprallen. Dann würde dort ein kleiner Stern aufglühen, einer, der eine Milliarde Mal heißer wäre als unsere Sonne. Allerdings konzentriert auf kleinstem Raum und nur für einen unwahrscheinlich kurzen Augenblick. Eine Milliarde Kollisionen pro Sekunde würden ein Teilchengewitter auf den Diamant-Detektoren verursachen, das jede Vorstellungskraft sprengte. Die Position jedes einzelnen Teilchens würde bis auf ein hundertstel Mikrometer genau bestimmt, und es würden auch noch Wege erfasst, die ein Teilchen in nur einer Nanosekunde zurücklegte. Die Datenmengen, die bei diesen Prozessen erzeugt würden, wären so enorm, dass jeder Vergleich mit gebräuchlichen Speichermedien scheiterte. Drei Exabyte, das waren mehr als 100 Millionen Blu-ray Discs97, 97 »Die Blu-ray Disc (abgekürzt BD) ist ein digitales optisches Speichermedium. Sie wurde als High-Definition-Nachfolger der DVD entwickelt und bietet ihrem Vorläufer gegenüber eine erheblich gesteigerte Datenrate und Speicherkapazität. […] Bei einem Durchmesser von 12 cm fasst eine Scheibe mit einer Lage bis zu 25 GB und mit zwei Lagen bis zu 50 GB an Daten.« – Wikipedia: Blu-ray Disc 128


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würden in einem Jahr anfallen. Und diese Daten mussten ja nicht nur erfasst und gespeichert, sondern auch verarbeitet und der Forschergemeinde weltweit bereitgestellt werden. Eine immense Herausforderung für die EDV-Experten dieser Welt. Und wir beide saßen nicht nur mittendrin, sondern an vorderster Front, in der Steuerzentrale des UHC. »Was glaubst Du werden wir finden«, fragte ich, während ich die letzten Punkte auf der elektronischen Liste abhakte. Meine Frau, Isah, wie ich Informatikerin, Spezialistin für intelligente Visualisierungs- und Modellierungsverfahren hochkomplexer Systeme98, sah vom Datentisch auf, einem zwei mal acht Meter großen berührungsempfindlichen Monitor, der zum Informations- und Eingabeterminal für das wissenschaftliche Team umfunktioniert worden war. »Die Zukunft?«, antwortet sie knapp. »Du glaubst an die Theorie von Sandip?« »Ja, und mehr. Ich denke auch, dass wir sehr bald Nachrichten empfangen und vielleicht auch versenden werden. Und das wird alles verändern, wirklich alles. Und ...« Sie konnte den Satz nicht beenden, denn Ben, unser Spezialist für Schnittstellendesign99, unterbrach uns mit einer detaillierten Analyse seiner Sicht der Dinge. »Alles erledigt. Wir können zusammenpacken und uns einen neuen Job suchen. Es läuft alles einwandfrei und ich denke, wir werden hier bald nicht mehr gebraucht.« Ben stand auf, blickte noch einmal kurz auf den Monitor und ging zum Getränkeautomaten. »Will noch jemand einen letzten Kaffee?« Ich nickte, wie auch alle anderen im Raum. »Das war eigentlich nur eine rhetorische Frage. Trotz meiner Abschlüsse in Informatik und Psychologie habe ich immer öfter den Eindruck, die Stelle eines unterbezahlten Restaurantfachmannes angetreten zu haben«, sagte er mit gespielter Empörung und drückte 22 Mal auf den

98 »Die Theoretische Informatik beschäftigt sich mit der Abstraktion, Modellbildung und grundlegenden Fragestellungen, die mit der Struktur, Verarbeitung, Übertragung und Wiedergabe von Informationen in Zusammenhang stehen. Ihre Inhalte sind Automatentheorie, Theorie der formalen Sprachen, Berechenbarkeits- und Komplexitätstheorie, aber auch Logik und formale Semantik sowie die Informations-, Algorithmenund Datenbanktheorie.« – Wikipedia: Theoretische Informatik 99 »Interfacedesign (dt.: Schnittstellendesign) ist eine Disziplin des Designs, die sich mit der Gestaltung von Benutzeroberflächen zwischen Mensch und Maschine beschäftigen. Dafür werden die Bedingungen, Ziele und Hindernisse dieser Interaktion sowohl von menschlicher als auch von technischer Seite erforscht und später – soweit möglich – auf den Menschen hin optimiert. Ziel des Interfacedesigns ist eine Anwenderschnittstelle, die so gestaltet ist, dass ein möglichst breiter Kreis von Nutzern eine optimale Wunsch-/Bedürfnis-/Zielerfüllung durch angemessene Handlungsschritte erfährt.« – Wikipedia: Interfacedesign 129


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Kaffee-Knopf. Beim 23. Mal versagte allerdings die Mechanik und der Becher blieb leer. »War ja klar, oder?« Er wollte zum Ausgang gehen, um sich die Droge von einem Automaten draußen am Gang zu holen. Doch er kam keine zwei Schritte weit, als die Warnsirenen im Gebäude und in den Wartungsschächten losheulten. Wir sahen uns fragend an, konnten uns nicht erklären, was der Auslöser war, unsere Anzeigen zeigten nichts Außergewöhnliches an. »Erdbeben?« »Könnte ein Grund sein, in unseren Bunkern hätten wir davon wahrscheinlich nichts mitbekommen.« »Kein Erdbeben«, hörte ich Jahsin sagen. »Das Erdbeben kündigt sich eher in den Röhren an. Die Strahlen werden gerade in die Röhren eingeleitet«, ergänzte er und rückte seine Brille zurecht. »Was?«, hörte ich aus 20 Mündern gleichzeitig fragen. »Heilige ... Das kann doch nicht wahr sein«, rief ich entsetzt. Ich eilte zu meinem Platz und schaltete die einzelnen Datenkanäle nacheinander auf meinen Schirm. Es bestand kein Zweifel »shoot and run« war in vollem Gange und nicht mehr aufzuhalten. Wobei es natürlich jederzeit die Option gab, den Beschleuniger einfach abzuschalten. Doch in meinen Augen und wohl auch in den Augen der Geldgeber war das keine so gute Lösung, ein kontrolliertes Herunterfahren und ein Neustart der Anlage würde Wochen und Millionen kosten. Millionen, die man besser einsetzen konnte. Also stand für mich eines fest, wir mussten das »Ding« jetzt durchziehen, ohne die »Elite«, das waren hoch dekorierte Wissenschaftler, etliche Spitzenpolitiker und Tausende Medienvertreter aus Dutzenden Ländern. Die würden morgen sprichwörtlich in die Röhre gucken, in eine leere Röhre. Kaffee und Kuchen ganz ohne das dazu passende Rahmenprogramm. Das würde eine enorme Aufregung geben. Morgen. Doch daran dachte im Augenblick niemand von uns. Wir mussten uns auf unsere Aufgabe konzentrieren und die hieß, das Experiment nach den vorgegebenen Plänen abarbeiten und dafür sorgen, dass die anfallenden Daten auch aufgezeichnet wurden. »Ist das Netz online?«, fragte ich, ohne meine Augen vom Monitor zu lösen. Rechts von mir hörte ich Isabel leise in ihr Mikrofon sprechen. Sie kommunizierte mit dem Leiter des »Phoenix Clusters« und schilderte ihm die Lage. Nach einigen Sekunden die erlösende Antwort. »Ja, alles im grünen Bereich. Sie sind bereit. Das Netz läuft jetzt auf ›Level 2‹, in fünf Minuten wird es auf ›Level 1‹ hochgetaktet. Auch die Backup-Systeme werden in den nächsten Minuten hochgefahren, das Personal wird benachrichtigt. Die Vollbesetzung der Stationen wird

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in spätestens fünfzehn Minuten erreicht sein. Und sie wünschen uns Glück.« Ich nickte anerkennend. »Fast wie beim Militär«, dachte ich etwas amüsiert. »Ein Dankeschön an Marco«, sagte ich in Isabels Richtung. Ich klatschte in meine Hände. »Gut. Ihr wisst, was das bedeutet. Fünfzehn Minuten also. Daher bleiben uns danach noch weitere zehn Minuten, falls etwas Unvorhergesehenes passieren sollte, um das Ding abzuschalten, was ich nicht hoffe. Wir sollten zumindest einen oder zwei schöne Sternspritzer sehen. Alles Weitere danach wäre ein riesiger Erfolg für uns.« Ich griff mein Headset, setzte es auf, rückte das Mikrofon zurecht. »Dann wollen wir unseren Freunden rund um den Erdball einen kleinen Adrenalinstoß verpassen und sie mal kurz aus ihren Träumen reißen, ihnen das Mittagessen versalzen, oder wobei auch immer wir sie gerade stören, und ihnen ihren langweiligen Tag etwas versüßen. Mel, bitte lass’ mal die ›Stufe 3‹ Nachrichten auf die UHC-Gemeinde los, damit sie auch etwas davon hat!« Sie nickte und aktivierte die entsprechenden Programme, die vollautomatisch alle dafür vorgesehenen Nachrichtenkanäle bedienen würden. »Du willst tatsächlich … ?« Ron war verunsichert, für ihn war das wohl etwas zu viel der Aufregung und Verantwortung. Ich konnte ihn verstehen, mir wären meine Nerven auch ein wenig spazieren geflattert, wenn ich mit 24 Jahren plötzlich vor der Aufgabe gestanden hätte, die Leitung eines ganzen Detektoren-Komplexes zu übernehmen. Ich gab meinem Rollsessel einen kurzen Stoß und rollte langsam zu Ron hinüber. Bei ihm angekommen sagte ich leise: »Natürlich, oder hast du Gründe anzunehmen, dass wir es nicht schaffen? Zeigen die Sensoren irgendwelche Anomalien in den Detektoren an?« Er schüttelte den Kopf. »Siehst du irgendwo irgendeinen begründeten Hinweis, der einen Abbruch von SUSY100 unvermeidbar macht und den wir den unbedarften Geldgebern auch verkaufen können, ohne danach als Volltrottel dazustehen? Irgendwelche Messwerte, die sich nicht innerhalb der erlaubten Toleranzen bewegen?« Ron richtete seinen Blick auf die Zahlenkolonnen auf den Datenschirmen. Er konnte keine kritischen Abweichungen in den Messreihen erkennen, die einen Stopp des Experiments in dieser Phase rechtfertigen würden. Ein Ruck ging durch seinen Körper, er richtete sich hoch auf.

100 »Die Supersymmetrie (SUSY) ist eine Symmetrie der Teilchenphysik, die Bosonen (mit ganzzahligem Spin) und Fermionen (mit halbzahligem Spin) ineinander umwandelt. Dabei werden Teilchen, die sich unter einer SUSY-Transformation ineinander umwandeln, Superpartner genannt.« – Wikipedia: Supersymmetrie 131


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»Nein. Sir, nein! Ohne diese nervenden Wissenschaftler schaffen wir das locker, auch mit dem rechten Arm auf den Rücken gebunden und auf einem Bein stehend ...« Ein Grinsen verbreiterte mein Gesicht. »Genau. Und dieser Ton gefällt mir viel besser. Ihr anderen könnt euch ein Beispiel an ihm nehmen.« Isah salutierte vor mir. »Sir, das hättest Du wohl gerne, Sir!« Mich beschlich das eigenartige Gefühl, dass sie sich über mich lustig machte. »Also worauf warten wir noch?« Von nun an lief alles perfekt. Warum auch nicht? Wir hatten die Abläufe in den letzten Jahren unzählige Male an den Simulatoren durchgespielt, und solange die mechanischen Teile nicht versagten und wie geplant ihren Dienst taten, gab es keinen Grund anzunehmen, dass es in der Realität anders ablaufen würde. Weltweit schalteten sich immer mehr Techniker und Wissenschaftler ans Netz, sie alle hatten unsere Nachrichten empfangen und prompt reagiert. Ein Hoch auf SMS, ›Soziale Netzwerke‹, E-Mail und Co. Auch der UHC-Komplex füllte sich rasch mit Leben. So als hätten sie alle nur darauf gewartet und gehofft, wir würden den Start um ein paar Stunden vorverlegen. Und zu unserer Überraschung waren zwei Minuten vor dem ersten Event, der ersten geplanten Kollision, alle Personen anwesend, die in irgendeiner Form für den klaglosen Ablauf der Experimente unabkömmlich waren. Ob hier in den ihnen zugeteilten Bereichen oder virtuell, irgendwo draußen, an irgendeinem uns unbekannten Ort vor den Monitoren. Und alle fieberten sie mit. Man konnte das Knistern, die Erregung, förmlich spüren. Fast alle, die »Elite« hatte es natürlich nicht geschafft. Wenige Sekunden noch. Es war still geworden im Raum, nur noch das Summen der Trafos in den elektronischen Geräten, die schlurfenden Schritte von Ben und manchmal ein leises Flüstern war noch zu hören. Dann der »Touchdown«, die erste Kollision. Jubel brach aus, als wirre Muster auf den Monitoren erschienen, die auch das Resultat eines falsch eingestellten Bildschirmschoners hätten sein können. Sektkorken knallten. Nicht nur hier, wahrscheinlich in allen UHC-Zentren weltweit. Die perfekte Show für den gelernten Teilchenphysiker. Wir wurden gefeiert, wie Superstars, wie Superhelden, so als hätten wir gerade die Welt vor dem Untergang gerettet. Und vielleicht hatten wir das auch? Warme und kalte Schauer jagten abwechselnd über meinen Rücken. Trotzdem wurde ich dieses seltsame Gefühl nicht los, dass ich etwas vergessen hatte. Wie schon oft in den letzten Tagen. Und es konnte doch kein Versehen oder gar Zufall sein, dass die Strahlen sechs Stunden früher als geplant eingeleitet worden waren? Und wer oder was hatte den 132


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Prozess gestartet? Es war ein relativ großes Risiko gewesen, den Strahl in dieser Phase einfach umzulenken. Die automatischen Kontrollprozeduren der Kühlkreisläufe und den dazugehörenden Steuerelementen waren nur wenige Augenblicke davor beendet worden. Während dieser Testphase war auch die Temperatur um einen Zehntelgrad angehoben und wieder abgesenkt worden. Und genau diese höhere Temperatur hätte eine Kettenreaktion auslösen können. Der Grund war einfach der, dass die Magnete bei zu hohen Temperaturen nicht mit voller Leistung arbeiteten und daher die Protonenstrahlen auch nicht in die erforderliche Kreisbahn hätten zwingen können. Einige Sekunden früher und die Protonenstrahlen hätten mit ihrer Wucht – die Gesamtenergie pro Protonenstrahl ist vergleichbar mit der einer 500 Tonnen schweren, 200 km/h schnellen Eisenbahn – schöne große Löcher in die umliegenden Magnete gebohrt. Ein außer Kontrolle geratener Protonenstrahl hätte zwar kein Menschenleben in Gefahr gebracht – die Versorgungstunnel waren längst geräumt und gesperrt worden – doch hätte ein solcher Unfall eine Verzögerung der wissenschaftlichen Arbeit um Wochen, vielleicht sogar Monate und eine außerordentliche Belastung des Budgets in dreistelliger Millionenhöhe bedeutet. Das Timing war daher perfekt gewesen. Fast zu perfekt, um an eine Fehlfunktion im System oder an einen Zufall zu glauben. Doch ich wurde von der Welle der Freude und Begeisterung mitgerissen und wir feierten noch bis spät in die Nacht, bis in die frühen Morgenstunden des nächsten Tages. Wir bemerkten gar nicht, dass auch die »Elite« irgendwann eingetroffen war und nach einer kurzen Schrecksekunde einfach mitfeierte. Sie waren anscheinend der Meinung, oder jemand von uns hatte sie in eindringlichen Gesprächen davon überzeugt, dass sie den richtigen Termin in ihren teuren elektronischen Kalendern falsch eingetragen (bekommen) hätten.

4 Die Party war vorüber, die Sensation war ausgiebig gefeiert worden, die Medien hatten wochenlang darüber berichtet, zuerst in stundenlangen Sondersendungen, danach in den täglichen Nachrichtenblöcken, zuletzt nur noch sporadisch in diversen Wissenschaftssendungen. Das öffentliche Interesse ebbte ab und bald würde dieses Ereignis aus dem Gedächtnis der Masse verschwinden, zumindest keine große Rolle mehr spielen. Schnell meldeten sich Besserwisser aus allen Lagern zu Wort, wussten die Gunst der Stunde für sich zu nutzen. Da waren jene, die es immer schon gewusst hatten, denen seit Jahrzehnten klar gewesen war, dass etwas mit dieser Physik nicht stimmen konnte. Am anderen Ende der Skala jene, die unsere neuen Erkenntnisse schlicht als Humbug bezeichneten. Und dazwischen alle Nuancen unausgegorener Stammtischthe133


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orien, geboren aus stickigen Sümpfen grenzenlosen Halbwissens und maßloser Selbstüberschätzung. Endlose Diskussionen über die Folgen, die unsere Entdeckung möglicherweise auf die Zukunft haben würde, ob man sicher sein konnte, dass diese Teilchengruppe nun wirklich real war oder nur in unseren Köpfen existierte und ob die Physik tatsächlich neu bewertet und umgeschrieben werden musste, waren geführt worden. Sekten hatten sich geformt und wieder aufgelöst, Verschwörungstheorien über Nachrichten aus der Zukunft und die mögliche Beeinflussung der Vergangenheit und damit auch die Gefahr der Auslöschung unser eigenen Welt wurden gesponnen. Alles in allem die üblichen Nachwehen am Beginn eines neuen physikalischen Zeitalters. Und dabei hatte die wirkliche Sensation in der Sensation noch gar nicht den Weg an die Öffentlichkeit gefunden. Und eine kleine Gruppe aus der Riege der Verschwörungstheoretiker würde auch nie erfahren, dass sie mit ihrer Verschwörung recht behalten hatten.

5 »Ich kann mir nicht helfen, aber wir haben hier sehr seltsame Signale.« Salsa versuchte sich seit ein paar Tagen an speziellen Programmen, die eine ganz besondere Gruppe von Störungen aus den erfassten Signalen herausfiltern sollten. Nachdem Koch die Signale der neuen Teilchen erfolgreich extrahiert hatte und so den Weg für eine weltweite Hysterie geebnet hatte, wie sie in der Physik bisher beispiellos war, war er natürlich gezwungen gewesen – die geldgebenden Länder verlangten es so – diese Erkenntnisse auf jedem noch so kleinen Kongress in jeder noch so unbedeutenden Kleinstadt vorzutragen und zu diskutieren. Er würde also seine eigentliche Tätigkeit als Datenanalyst über Jahre hinweg nicht mehr oder zumindest nur sehr eingeschränkt ausüben können; in meinen Augen eine kaum zu rechtfertigende Verschwendung eines kolossalen menschlichen Intellekts; daher waren wir auf uns alleine gestellt. Ein Team aus acht Spezialisten, aus den Gebieten der Mathematik, Statistik, Mikroelektronik und Informatik, war übrig geblieben. Vier von uns waren gerade auf dem Weg nach Australien, um dort einem weiteren Rechenzentrum den letzten Schliff zu geben und an das Grid-Netzwerk101 anzubinden. Physiker weilten keine mehr unter uns. Auch diese waren ausgeschwärmt, um der Welt die Neuigkeit mitzuteilen, sie zu erklären und um ihre Beiträge zur alles umfassenden Großen vereinheitlichten Theorie zu leisten, was eine wahre Inflation an Fachartikeln zu diesem Thema zur Folge hatte. Für den laufenden Betrieb des Teilchenbeschleunigers 101 »Grid-Computing ist eine Form des verteilten Rechnens, bei der ein virtueller Supercomputer aus einem Cluster lose gekoppelter Computer erzeugt wird. Es wurde entwickelt, um rechenintensive wissenschaftliche – insbesondere mathematische – Probleme zu lösen.« – Wikipedia: Grid-Computing 134


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waren jetzt Techniker und Wissenschaftler aus der zweiten und dritten Reihe zuständig. Sie erledigten die anfallenden Routinearbeiten um vieles besser als wir; was auch kein Wunder war, Automatismen lagen uns nicht, immer die gleichen Abläufe, tagein, tagaus die gleichen Handgriffe, hätten früher oder später mit Sicherheit dazu geführt, dass wir den Komplex aus Langeweile so mit Energie vollgepumpt hätten, dass es wohl alle Magnetspulen in ihre Einzelteile zerfetzt hätte, nur um zu sehen, ob man Protonen nicht doch irgendwie auf Überlichtgeschwindigkeit beschleunigen konnte. Daher nahm uns vier – den kläglichen Rest des einst dreihundert Personen zählenden Kerns des UHC-Teams – hier im äußersten Ring des riesigen Areals, quasi dem Nobelviertel des UHC-Komplexes, fast niemand mehr wahr, nicht mehr. Und wir waren glücklich über diesen Umstand, denn die letzten Wochen hatten uns alles abverlangt. Die mediale Aufarbeitung und Aufbereitung der Stunde Null war eine Tortour gewesen, eine Folter. Wir waren von einer Veranstaltung zur nächsten gejagt worden, wie Fabeltiere aus einer anderen Welt, wie jener Affe im Zoo, als der ich mich gefühlt hatte, als Koch mich an jenem geschichtsträchtigen Tag so verblüfft angestarrt hatte. Dieses Bild hatte sich auf ewig in mein Gedächtnis gebrannt. Wir waren dankbar, dass man auf uns vergessen hatte und wir unsere Aufgabe unbeobachtet und verborgen vor den sensationslüsternen Augen der Medien erfüllen durften. Und diese Aufgabe bestand im Prinzip nur noch darin, die Daten mit immer komplexeren Programmen nach weiteren Unregelmäßigkeiten zu durchforsten. Wir hatten also freie Hand, alles zu tun, was uns gerade einfiel, Experimente ohne Ende, nur mit dem Ziel, vielleicht irgendwann in ferner Zukunft noch ein paar neue Teilchen, neue Kräfte aus dem Datenstrom zu filtern. »Seltsam? Sehr gut, wir werden ja dafür bezahlt, seltsame Signale zu entdecken. Das steigert unseren Profit. Also nur her damit.« Ich ging zu der Fensterfront und öffnete ein Fenster, die Klimaanlage lief auf Hochtouren und daher war die Luft im Raum unangenehm kühl. Es passte einfach nicht zum Wetter da draußen. Unten im kleinen See, den man im Park für die Mitarbeiter angelegt hatte, brachen sich Hunderte Sonnenstrahlen in den Wellenfronten und funkelten um die Wette, wie kleine Diamanten in einem riesigen Schaufenster. Es war Sommer geworden, der Himmel war wolkenfrei und das Thermometer zeigte 36 Grad Celsius. Wir würden uns wohl auch bald dem Wetter ergeben und uns in die kühlen Fluten stürzen. Es war in den letzten Tagen zur Gewohnheit geworden, die Nachmittage am See zu verbringen und dafür bis spät in die Nacht zu arbeiten. Warum sollten wir uns auch sinnlos quälen und die Zeit der größten Hitze in den Büros verbringen? Das war doch unmenschlich und unproduktiv obendrein. »Diese sind eben anders, seht sie euch doch einfach mal an«, hörte ich Salsa sagen.

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Ich drehte mich zu ihr und deutete auf den Datentisch. Sogleich wurde er mit Leben erfüllt. »Ich versuche ja seit Tagen, diese Sequenzen einer Störungsquelle zuzuordnen, doch es gelingt mir nicht. Daher wäre ich für ein paar Ratschläge sehr dankbar.« Wir stellten uns um den Tisch herum auf und studierten das Diagramm, welches dort in drei Dimensionen vor uns schwebte. Die Arbeit in einem der modernsten Forschungszentren der Welt und dort an vorderster Front hatte in vielerlei Hinsicht nur Vorteile. Einer davon war dieser Tisch, der beliebige Objekte dreidimensional in den Raum darüber projizierte, sodass man um sie herumgehen und sie von allen Seiten betrachten konnte. »Interessant. Und wie bist du zu dieser Reduktion gekommen?«, frage ich. Auch Jahsin war sichtlich überrascht. Er bezeichnete sich gerne als den »letzten Wissenschaftler im Kreis der acht Universaldilettanten«. Als Mathematiker konnte er das auch ungestraft tun. »Diese Pulsfolge sieht mir zu strukturiert aus, kann eventuell ein defekter Sensor oder eine ganze Sensorenphalanx dafür verantwortlich sein? Sieht für mich wie ein Morsecode aus.« Salsa nickte. Sie strich sich das lange blonde Haar aus der Stirn und wippte nervös mit dem linken Fuß. Offenbar fühlte sie sich nicht wohl bei dem Gedanken, auf etwas gestoßen zu sein, das den Medien in ihrer Sensationslust ein weiteres Mal als Vorwand dienen könnte, alle Facetten ihres Lebens zu durchleuchten, durch den »Celebrity102 Filter« zu jagen und an die Öffentlichkeit zu zerren. Es waren kaum drei Tage seit der Bekanntgabe des sensationellen Teilchenfundes vergangen, schon hatte sie halb nackt von allen Titelseiten einschlägiger Boulevardzeitungen gelacht, versehen mit wenig schmeichelhaften Schlagzeilen103. Die UHC-Leitung machte sich dieses unverhoffte Aufsehen um ihre Person zunutze und startete die erfolgreichste und billigste Imagekampagne für Teilchen- und Hochenergiephysik, die es je gegeben hatte und wahrscheinlich geben würde. Ihr bezauberndes Lächeln und die strahlenden blauen Augen wurden zum Aushängeschild einer ganzen Forschergeneration, schon kurze Zeit nach den ersten Interviews mit ihr, denen sie nur widerwillig zugestimmt hatte, gab es an allen Universitäten weltweit einen nie dagewesenen Ansturm auf alle naturwissenschaftlichen Studienfächer. 102 »Celebrity (dt. „Berühmtheit“) ist ein Film von Woody Allen aus dem Jahr 1998. Der Film thematisiert das insbesondere in den USA vorhandene Phänomen, dass nahezu jede Person zu Starruhm gelangen kann. Ob Anwalt, Arzt, Immobilienhai oder Unbeteiligter, der kurzfristig als Geisel genommen wird, jeder kann zu einer Berühmtheit stilisiert werden.« – Wikipedia: Celebrity 103 Diese Schlagzeilen können hier nicht wiedergegeben werden, würden sie doch die Intelligenz der Leser beleidigen. Wenn man jedoch weiß, dass sie zwei Doktortitel vorzuweisen hat und wenn man sich des Weiteren ein wenig mit den Hauptkomponenten eines Teilchenbeschleunigers auskennt, ... 136


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Naturwissenschaft war mit einem Schlag »extrem angesagt« und »sexy« geworden. Sie hatte sich wie eine billige Pornodarstellerin gefühlt und ein zweites Mal würde sie diese Rolle mit Sicherheit nicht mehr spielen wollen. Und die ganze Aufregung war nur deshalb entstanden, weil sie das Studiengeld mit kleinen Jobs als Modell aufgebessert hatte und einer dieser zweitklassigen Fotografen genau diese alten Aufnahmen möglichst teuer an den Mann bringen wollte und es leider auch geschafft hatte. Doch das war Geschichte. Und trotzdem zuckte sie nach wie vor jedes Mal zusammen, wenn sie ihr Ebenbild aus einer Zeitschrift anstarrte. »Richtig. Dieser Gedanke ist mir auch sofort in den Sinn gekommen. Es ist ein Bündel von vier Strahlen, räumlich so angeordnet, dass sie eine Pyramide bilden. Sie entstehen dort an der Spitze. Und ich kann diesem Ereignis keine Kollision als Ursache zuordnen.« Ein gelber Punkt leuchtete auf, der die Spitze der Pyramide markierte. Gleichzeitig veränderten sich auch die Farben der vier Strahlen in Rot, Grün, Blau und Orange. »Wenn man die Segmente der Spuren und die Zwischenräume vergleicht, erhält man unterschiedliche Zeiten für Pulse und Pausen. Die Pulsfolgen des roten und blauen Strahles sind identisch und zeigen beide jeweils ein doppeltes ›kurzes‹ Signal. Die Pulse der grünen Spur wechseln zwischen ›lang‹ und ›kurz‹, während sich die orange Linie aus einzelnen ›langen‹ Impulsen zusammensetzt. Wobei es nach jeder Pulsfolge oder Buchstaben, wenn man einen Morsecode darin sehen will, immer eine längere Pause gibt.« Jahsin tippte einige Zeit auf der virtuellen Tastatur im Tisch. »Der Morsecode-Übersetzer meint dazu: i, i, n und t. Kann ›init‹ heißen, wenn man Programmierer wäre und die Buchstaben ein wenig anders anordnen würde.« »Könnten diese Spuren tatsächlich Teil eines versteckten Programmes sein?«, fragte Isah erstaunt. »Gibt es mehrere davon?« »Pyramiden? Nicht dass ich wüsste. Wenn es allerdings wirklich ein Morsecode ist, dann sollten wir das Analyseprogramm ein wenig umschreiben und speziell auf die Erkennung solcher und ähnlicher Muster trimmen. Lücken in den Strahlen gibt es allerdings in milliardenfacher Ausführung. Genügend Raum also für die wildesten Spekulationen.« »Doch wenn du das schon strukturiert nennst, dann wirst du dich darüber noch viel mehr wundern«, erklärte Salsa weiter. Wir sahen sie verdutzt an. »Ist es die Hitze?«, fragte ich überrascht. Die Frage war absolut berechtigt, bei der Hitze, die draußen und hier im Raum gerade herrschte. Die Objekte veränderten sich jetzt im »Zwanzig-Sekunden-Takt.

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»Ja, spotte nur, doch wenn du die Algorithmen ansiehst, wird dir klar werden, dass das da wirklich aus den Daten extrahiert wurde und kein Hirngespinst von mir ist.« Was wir in den nächsten Minuten zu Gesicht bekamen, konnte nicht real sein. Natürlich würden solche und ähnliche Formen in Datensätzen dieser Größenordnung mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit vorkommen, ja vorkommen müssen. Die Statistik verlange es so. Doch hier lag das Problem einfach darin, dass diese Objekte in einem extrem komprimierten Datenpaket, das gerade mal eine Sekunde repräsentierte, so gehäuft in Erscheinung traten, dass jede vernünftige Wahrscheinlichkeitsrechnung diese Anhäufung symmetrischer Körper mit großem Protestgeschrei von vornherein ausschließen würde. »Eine Kugel?« Isah ging einmal um den Tisch und sah sich die Teilchenspuren von allen Seiten an. »Wie kann so etwas entstehen? Das sind ja Millionen Teilchenspuren, die im Mittelpunkt praktisch aus dem Nichts entstehen, was noch erklärbar wäre, doch dann müssen sich alle diese Teilchen im Gleichtakt radial nach außen bewegen und nach …« »Welchen Durchmesser hat diese Kugel?« »Genau 3,141592 Millimeter.« »Pi? Tatsächlich Pi?« »Ja« »... also nach genau Pi Millimeter im Nichts verschwinden, damit diese Form zustande kommt. Doch Teilchen organisieren sich ja nicht von alleine zu solchen Objekten? Oder kennt jemand einen Effekt, der das zustande bringt? Das ist in der Tat seltsam.« »Genau das hab’ ich ja gesagt: seltsam.« »Gibt es mehrere davon?« »Ja, zuerst waren es Ellipsen und Kreise, dann eine Kugel, danach die Platonischen Körper104. Und zuletzt dieses Gebilde hier.« Sie stoppte die dreidimensionale Diashow. »Hm. Sieht für mich ganz normal aus. Eine Kollision und der Teilchenregen. Spuren, die auf spiralförmigen Bahnen bald ins Trudeln kommen und sich auflösen, der Großteil bewegt sich in Parabeln, Hyperbeln, Kreis- und sogar Ellipsenbögen in alle Himmelsrichtungen vom Zentrum fort.105« »Sieh genauer hin« Salsa drehte die Projektion ein wenig, blendete den Großteil der Strahlen aus und färbte ein Bündel geradlinig verlaufender Spuren rot ein. Ich trat näher an den Tisch heran. 104 »Die Platonischen Körper sind eine Klasse vollkommen regelmäßiger Körper. Sie werden auch reguläre Körper (von lat. corpora regularia) genannt und sind nach dem griechischen Philosophen Platon benannt.« – Wikipedia: Platonischer Körper 105 Carter Hodgkin, Singularity Disposed, http://www.carterhodgkin.com/Drawing7.html 138


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»Verlaufen die alle parallel zueinander und in einer Ebene?« »Ja. Innerhalb dieser beiden gedachten Linien.« Zwei punktierte gelbe Linien wurden eingeblendet. »Der Abstand dieser Linien beträgt 21 cm106 und ...« Isah atmete tief ein. »Noch ein Zufall? Langsam glaube ich auch nicht mehr an eine Anhäufung von Zufällen.« »... und um das noch ein wenig komplizierter zu machen, es gibt nicht nur eine, sondern über 800 Millionen solcher ›Barcodes‹, ein anderer Name ist mir auf die Schnelle nicht eingefallen« »800 Millionen?«, rief ich beeindruckt von der immensen Anzahl dieser für uns unerklärlichen Muster aus. »Warum hast du uns nicht schon früher informiert. Das ist ja nicht nur seltsam, das ist im größten Maße bizarr. Einfach phänomenal!« »Ja, es ist absolut bizarr! Und deshalb war ich mir lange Zeit nicht sicher, ob das alles nicht doch nur pure Einbildung ist, meine Programme sich nur einen Jux mit mir machen.« »Sind die Teilchenspuren tatsächlich unterschiedlich breit?« »Ja, wie bei echten Barcodes. Die breiten variieren, doch den exakten Bereich müssen wir erst ausmessen. Minimale und maximale Breite liegen etwa um fünf Zehnerpotenzen auseinander.« Jahsin legte seinen Notizblock auf den Tisch, suchte nach einem Bleistift in seinen Sakkotaschen und fand auch einen. Er schrieb einen für Normalsterbliche unleserlichen Satz, nicht weil er in einer fremden Sprache verfasst worden war, sondern weil seine Schrift schlicht und ergreifend unleserlich war, auf das Papier und unterstrich die Worte drei- oder viermal. Wenn man genügend Fantasie mitbrachte, konnte man ihn auch lesen. »Nachrichten aus der Zukunft? Glaubst du das wirklich«, fragte Salsa, als sie ihn entziffert hatte. Mit einem Mal spürten wir die Hitze, die uns noch vor ein paar Minuten an den See entführen wollte, nicht mehr. Alleine der Gedanke, innerhalb von ein paar Monaten ein weiteres Mal auf etwas Großartiges, bis heute Undenkbares gestoßen zu sein, verlieh uns Flügel, ließ uns Raum und Zeit vergessen. Die Uhren standen still, nichts konnte uns von den Dingen, die getan werden mussten, noch ablenken. »Sieht fast so aus. Fassen wir mal zusammen, was du bisher gefunden hast.«

106 »Die HI-Linie (H-Eins-Linie), auch Wasserstofflinie, ist in der Astronomie die Bezeichnung für die charakteristische Radiostrahlung des neutralen Wasserstoffs. Der auch verwendete Ausdruck 21-cm-Linie rührt von der entsprechenden Wellenlänge im Vakuum her. In der Radioastronomie spielt diese Strahlung eine wichtige Rolle, weil ihre Untersuchung Auskunft über die Dichteverteilung, Geschwindigkeit und Temperatur von Wasserstoffatomen im Universum gibt.« – Wikipedia: HI-Linie 139


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»Da wäre zuerst die Pyramide mit diesen Morse Zeichen und die Milliarden anderen Spuren, die Unterbrechungen aufweisen.« »Diese vielen Spuren müssen nichts bedeuten. Sie könne normale Ursachen haben, vielleicht ist nur die Auflösung der Messinstrumente zu gering«, warf Isah ein. Ich nickte zustimmend. Jahsin schrieb langsam Schlagwörter auf den Zettel. Es war seine spezielle Art, eine unvorhergesehene Situation irgendwie in den Griff zu bekommen, sie aufzulösen. Denn die Zeichen hätte er auch auf den Tisch schreiben können. Der Computer hätte die Handschrift ohne Probleme als die Seine erkannt und die Stichworte in sein persönliches Datenarchiv abgelegt. Oder er hätte Sie ihm gleich diktieren können, so wie ich es normalerweise machte, um mir das mühsame Schreiben zu ersparen. Allerdings hatte der Computer oft große Probleme damit, meine konfusen Gedanken richtig zu interpretieren, was sehr oft dazu führte, dass ich sie anschließend erst wieder in mühevoller Kleinstarbeit richtig einordnen musste, was in Summe mehr Zeit beanspruchte, als wenn ich die Daten gleich eingetippt hätte. »Dann die symmetrischen, dreidimensionalen Körper, die wir noch keiner Bedeutung zuordnen können, die allerdings in einer so großen Zahl auftreten, dass sie wohl nicht durch zufällige Prozesse entstanden sind.« »Richtig. Und zuletzt die Bar Codes. Die hoffentlich nicht irgendwelche trendigen Designerstücke aus der Zukuft beschreiben, die wir nach dem erfolgreichen Auslesen und Entschlüsseln mit teurem Geld bezahlen müssen«, beendete ich die Bestandsaufnahme. Wir tippten Programmzeilen in unsere Computer und rätselten und diskutierten und tippten wieder und entwickelten neue Programme. Die Stunden flogen dahin und es wurde Nacht und es wurde Morgen. Eine rote Sonne schob sich gerade über den östlichen Horizont, wir hingen müde in unseren Sesseln. Allerdings mit einem wissenden und befreiten Grinsen auf unseren Gesichtern. Wir hatten es wider Erwarten und gegen jede Wahrscheinlichkeit und gegen jede Logik geschafft, dieses Rätsel in weniger als 24 Stunden zu lösen.

6 »Wir haben hier ein weiteres ›init‹.« Salsa übertrug die Signatur auf den Hauptmonitor. Eine weitere pyramidenförmige Figur reihte sich in die Liste des mutmaßlichen Programmes aus der Zukunft ein. Bisher hatten wir über 4000 dieser »Morsecodes« identifiziert und ein Ende war nicht abzusehen. Alle gehorchten sie dem gleichen Schema: Von Zentrum einer Kollision aus strebten vier oder mehrere Teilchen nach außen – wobei ihre Bahnspuren die Oberfläche eines Kegels nachbildeten – wo sie nach einer zurückgelegten Wegstrecke von exakt einem Millimeter einfach verschwanden, ohne weitere 140


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Zerfallsprodukte zu erzeugen. Was in höchstem Maße ungewöhnlich war. Die Daten auf dem Monitor ergaben für mich keinen Sinn. Es fehlte das Bindeglied, das »Missing Link«, wie der Evolutionsbiologe sagen würde. Salsa und Jahsin hatten sich daran gemacht, das Analyseprogramm soweit abzuändern, dass es nur noch nach Mustern suchte, die mit den Parametern der bisher gefundenen übereinstimmten. Das waren kegelförmige und barcodeähnliche Objekte. Die Kugeln und Platonischen Körper waren wohl nur so etwas wie Leuchttürme im Datensalat gewesen, etwas, das unsere Aufmerksamkeit erregen sollte. Und solange uns keine bessere Erklärung für diese Objekte einfallen wollte, beließen wir es dabei. Das Gleiche galt auch für Kreise und Ellipsen, die unserer Theorie zufolge nur auf die vielen Morsecodes hinweisen sollten – da ja Kreise und Ellipsen Kegelschnitte sind, so unsere Überlegungen. »Aus diesen Linien werde ich einfach nicht schlau. Diese vielen Datenblöcke, die sich so sehr ähneln, dass ich mich frage, ob das vielleicht nicht auch nur Marker sind. Das ergibt doch keinen Sinn.« »Redundanz?« »Ja, möglich wäre es. Doch findest du Tausende Kopien nicht etwas übertrieben? Da muss etwas anderes dahinter stecken.« Isah wählte einige Datensätze aus und projizierte sie nebeneinander auf den Projektionstisch. Barcode um Barcode erschien auf der Oberfläche und bald war jeder Zentimeter mit diesen seltsamen Linien ausgefüllt. Und je länger ich diese Linien betrachtete, umso vertrauter wollten sie mir erscheinen. An manchen Stellen waren die Linien so dicht gepackt, dass man sie visuell kaum voneinander trennen konnte. Dann gab es Zonen, in denen nur ein oder zwei breite Balken zu finden waren. »Weißt du, woran mich das hier erinnert?«, sagte ich einer plötzlichen Eingebung folgend. Sie schüttelte den Kopf. »Wenn ich es wüsste, müsste ich Dich nicht fragen. Aber deinem Blick kann ich entnehmen, dass du eine Idee hast.« »Versuchen wir es mal«, sagte ich und wischte mit meinen Fingern über die Oberfläche der Tischplatte. Eine virtuelle Tastatur legte sich unter meine Hände und wartete auf meine Eingabe. Ich versuchte dem Computer mit möglichst wenigen Zeichen beizubringen, was ich von ihm wollte. Und zu meiner Überraschung verstand er recht schnell. Die Barcodes fielen auseinander und formierten sich neu.

107 »In der Physik - insbesondere der Kernphysik - beispielsweise kann es sich um radioaktiven “Zerfall” eines Atomkerns, d. h. seine spontane Umwandlung in einen anderen Kern, handeln. Die Zerfallsprodukte sind dann der entstandene Atomkern (Tochterkern) und die bei dem Vorgang ausgesandte Strahlung.« – Wikipedia: Zerfallsprodukte 141


Experiment

»Spektren?108«, rief Isah überrascht aus. »Das wäre fast zu einfach. Andererseits einleuchtend. Warum nicht die Spektren von bekannten Sternen senden? So etwas muss auffallen und würde jedem Astrophysiker sofort ins Auge springen.« Der Computer hatte jeden Barcode nach meinen Anweisungen mit einem passenden Lichtspektrum hinterlegt. Nachdem ich zu wissen glaubte, wonach wir suchen mussten und ich die Programme mit den entsprechenden Daten gefüttert hatte, war es für die Mustererkennungsalgorithmen ein Leichtes gewesen, die verschiedenen Liniengruppen den richtigen chemischen Elementen zuzuordnen. Für mich war das Ergebnis eindeutig. »Sieht so aus, als hätten wir gerade die Spektren von 800 Millionen Sternen aus den Daten extrahiert. Stellt sich nur noch die Frage, was sollen wir jetzt damit?« Salsa schüttelte verwundert ihren Kopf. »Und wie passt das jetzt zu den Morsecodes?« »Habt ihr schon ein System gefunden, wie man die Codes liest?«, fragte ich und wählte wahllos 100 von ihnen aus und wartete, bis sie auf dem Hauptmonitor angezeigt wurden. »Wenn ich jemand aus der Zukunft wäre und eine Nachricht in unser Jahrhundert übermitteln würde, welche Sprache würde ich verwenden?« »Eine Sprache, von der ich weiß, dass sie in diesem Jahrhundert in Mitteleuropa verwendet wird? Für Programme wäre das allerdings irrelevant. Hier muss nur ein geeignetes System gefunden werden, mit dem sich komplizierte Algorithmen in kleine verständliche Häppchen verpacken lassen. Man könnte z.B. Struktogramme109 verwenden.« »Und genau diesem Ansatz sind wir gefolgt. Allerdings war das eine Einbahnstraße. Unsere Freunde aus der Zukunft haben sich etwas ganz Besonderes einfallen lassen: Sie haben überhaupt nichts codiert, sondern ihre Programme einfach 1:1 übertragen.« »Natürlich in einer Sprache, die erst erfunden werden muss und wahrscheinlich für einen Rechner geschrieben wurde oder werden wird, der mit den uns bekannten nichts mehr gemeinsam hat. Ich würde mich nicht wundern, wenn diese Programmteile für einen Quantencomputer entwickelt worden sind.«

108 »Als Spektrallinien bezeichnet man voneinander scharf getrennte Linien eines Spektrums emittierter (Emissionslinien) oder absorbierter (Absorptionslinien) elektromagnetischer Wellen, im engeren Sinne innerhalb des Wellenlängenbereichs des sichtbaren Lichts (Lichtspektrum). Spektrallinien werden durch Wellenlänge, Linienintensität und Linienbreite charakterisiert.« – Wikipedia: Spektrallinie 109 »Ein Nassi-Shneiderman-Diagramm ist ein Diagrammtyp zur Darstellung von Programmentwürfen im Rahmen der Methode der strukturierten Programmierung. Er wurde 1972/73 von Isaac Nassi und Ben Shneiderman entwickelt und ist in der DIN 66261 genormt. Da Nassi-Shneiderman-Diagramme Programmstrukturen darstellen, werden sie auch als Struktogramme bezeichnet.« – Wikipedia: Nassi-Shneiderman-Diagramm 142


Experiment

Jahsin überlagerte die Morsecodes mit den entschlüsselten Texten. Und diese lasen sich wie ein technisches Lexikon, das gerade Bekanntschaft mit einem großen Schredder gemacht hatte. Ich las die ersten Zeilen und ich verstand nichts. »Und du bist dir sicher, dass das nicht ein japanisches Liebesgedicht ist?« »Du musst es von rechts nach links lesen, nicht von oben nach unten.« Ich neigte den Kopf nach links. »Ein Scherz eines Mathematikers? Erkläre ihn mir bitte, ich versteh’ ihn nicht.« Wenn es ein Scherz war, ließ er es sich nicht anmerken. »Nun, ich hab’ tatsächlich keine Ahnung, was das soll. Unser Problem ist ja, dass wir weder wissen, in welcher Sprache das übertragen worden ist, noch, wie die Zeichen aussehen, die diesen Datensalat darstellen sollen. Ich habe in den letzten 20 Minuten so ziemlich alle uns bekannten Zeichensätze110 getestet, ohne Erfolg. Es ist ungefähr so, als ob man nacheinander Tausende Bilddateien in einem Texteditor öffnet und anhand der dargestellten Zeichen herausfinden will, ob auf einer der Fotografien ein gelber Schmetterling in einer bunten Blumenwiese zu sehen ist.« »Statistische Analysen können da sicher …« »Normalerweise ja, doch in diesem Fall … Keine Muster. Statistisches Rauschen111.« »Rauschen? Aber wir sehen doch Muster, Zeichen oder wie man das auch immer nennen will? Wie ist das möglich?« »Wenn ich paranoid wäre, würde ich sagen, um die Nachricht zu verstecken. Genau diese statistischen Analysen haben ja keine Unregelmäßigkeiten in den Datensätzen gefunden. Wäre dem nicht so, hätte Koch diese Variationen schon vor Monaten in seinen ersten Analysen entdeckt. Aus irgendeinem Grund wurden diese Nachrichten allerdings so angelegt, dass nur jemand mit originellen Einfällen auf diese minimalen Abweichungen, die wir hier sehen, stoßen würde.« »Soso, originell also. Dann hab’ ich noch etwas Originelles für dich. Ihr habt mich auf die richtige Spur gebracht ... die Vergleichsanalysen der Spektren sind der Schlüssel. Man muss nur einen Schritt weiter gehen und … Seht selbst!« 110 »Unter einem Zeichensatz versteht man einen Vorrat an Elementen (Zeichen) zur Darstellung von Sachverhalten. Solche Elemente können unter anderem die Buchstaben eines Alphabetes, Ziffern, aber auch andere Symbole sein, etwa die Sonderzeichen, die Zeichen der Lautumschrift des IPA-Codes oder der Brailleschrift, Piktogramme verschiedenster Art oder Steuerzeichen (unsichtbare Zeichen). Speziell in der Informationstechnik versteht man unter einem Zeichensatz die Gesamtheit der Zeichen einer bestimmten Zeichenkodierung und deren Zuordnung.« – Wikipedia: Zeichensatz 111 »Weißes Rauschen ist ein mathematisches Modell zur Beschreibung zufälliger Schwankungserscheinungen (Rauschen). Es findet häufige Anwendung in den Ingenieur- und Naturwissenschaften, z.B. für die Beschreibung von thermischem Rauschen an elektrischen Widerständen.« – Wikipedia: Weißes Rauschen 143


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Salsa verzichtete diesmal aufs Tippen und gab dem Computer die Befehle über das Sprachinterface. »Programm ›decloak‹ starten. Parameter wie beim letzten Durchgang, plus Datensätze A siebenmal Null bis achtmal F«, sprach sie in ihr Headset. Danach ging sie zum Getränkeautomaten, wählte einen Kaffee, schwarz ohne Zucker und wartete, entspannt an den Automaten gelehnt, bis die schwarze Flüssigkeit in den Becher gelaufen war. Ich hatte sie schon lange nicht, es musste Monate her sein, in einer so unverkrampften, natürlichen Haltung gesehen. Und auch ihr spitzbübisches Lächeln, das wir von unserer gemeinsamen Zeit an der Universität kannten und das lange Zeit, bis heute, als verschollen galt, war zurückgekehrt. Ihr Blick wanderte zum Fenster, von dort hinaus in den Park, über den See und verlor sich weit hinten in den Bergen. In ihren Augen blitzte und funkelte es, als hätte sie den Heilligen Gral erblickt. Und in diesen Augen konnte man noch etwas lesen: Das Rätsel war gelöst, dieses Rätsel, wenn es je eines gewesen war, war keines mehr. Wir warteten geduldig, bis der Computer die vielen Daten verarbeitet und in eine für uns verständliche Form aufbereitet hatte. Zuerst sortierte er die Spektren in genau jene Untergruppen, die auch die Astronomen für die Klassifikation112 der Sterne verwendeten. Man musste wissen, dass die Spektren der Sterne einander in großen Bereichen ähnelten, und doch war jedes für sich einzigartig, wie die Fingerabdrücke eines Menschen. Wenn man genau hinsah, waren die Unterschiede jedoch nicht zu übersehen. Und der Computer sah sehr genau hin und machte auch noch die kleinste Abweichung für uns sichtbar. Liniengruppen wurden überlagert und löschten sich gegenseitig aus oder verstärkten sich, wie die Wellenfronten in einem See. Linie um Linie verschwand aus den Spektren. Es war, als würde ein unsichtbarer Radiergummi die Farbverläufe von den schwarzen Balken befreien wollen und zuletzt hatte er es auch beinahe geschafft. Nur noch wenige Linien waren übrig, die regenbogenfarbenen Flächen beinahe makellos. Und dieser relativ kleine Rest jener Regionen in den Sternenspektren, der auch Hunderte und Tausende Überlagerungsoperationen des virtuellen Radiergummis unbeschadet überstanden hatte, war der Schlüssel zum Barcode-Tresor. Diese Linien zeigten die Anwesenheit von ganz bestimmten Atomen in den Sternen an. Was Salsa also hier mit Hilfe des Computers aus den Daten extrahiert hatte, war ein ausgeklügelter chemischer Algorithmus, der die Barcodes so umformte, dass man daraus, mit etwas Geschick, eine Ansammlung mathematischer Formeln herauslesen konnte. 112 »Die Spektralklasse, auch Spektraltyp genannt, ist in der Astronomie eine Klassifikation der Sterne nach dem Aussehen ihres Lichtspektrums. Dabei beruht das System auf der Entdeckung von Joseph von Fraunhofer im Jahr 1813, der im Sonnenspektrum dunkle Absorptionslinien fand. Robert Wilhelm Bunsen und Gustav Robert Kirchhoff entdeckten 1859, dass diese Linien von der Lage her identisch sind mit Emissionslinien, die von bestimmten chemischen Elementen abgegeben werden.« – Wikipedia: Spektralklasse 144


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»Oh, mon Dieu! So einfach! Konzentrierte Frauenpower findet den Stein der Weisen«, rief Jahsin begeistert aus. Wie von Sinnen hüpfte er um den Tisch, so als hätte er gerade den Haupttreffer im Lotto gewonnen. Wer ihn kannte, wusste, dass gerade etwas Außergewöhnliches geschehen war. Als Mathematiker hatte er mir gegenüber natürlich einen kleinen Vorteil, denn ich konnte mit den Formeln, die auf dem Hauptmonitor aufleuchteten, noch nichts anfangen. Ich musste mich daher noch solange in Geduld üben, bis der Computer endlich bunte Bilder auf den Schirm gemalt hatte. Und dann verstand auch ich. »Und was machen wir jetzt?« »Machen?«, fragte Salsa rhetorisch. Ihre Stimme klang, als läge sie schon Tausende Kilometer entfernt auf einem Sandstrand in der Karibik und lauschte dem Rauschen der Meereswellen. »Wir quittieren unsere Jobs und machen nur noch verrückte Sachen. Sachen, die auch mit der raffiniertesten Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht vorausgesagt werden können.« Sie trank einen Schluck Kaffee. »Diese Geschichte wird niemand glauben, es ist einfach zu abgefahren.« »Auch wenn sie uns diese Daten abkaufen, werden sie andere Schlüsse ziehen, als wir es tun. Unserer Theorie, dass es ein Programm ist, werden sich wohl nur wenige anschließen.« Die Strukturen, die auf den Monitoren sichtbar wurden, waren wunderschön. Sie erinnerten mich an Mandalas113 und dabei waren es »nur« mathematische Strukturen.114 Und eine davon zeigte ein Objekt, welches alle bekannten Teilchen in ein geometrisches System zwängte und das in Physikerkreisen schon seit Jahren Gegenstand heftiger Kontroversen war.115 »Was heißt abkaufen? Was heißt Theorie? Die Daten kann man ja nicht wegdiskutieren. Und es ist ein Programm, wenn auch eines, mit dem wahrscheinlich niemand auf der Erde etwas wird anfangen können.« Salsa lachte laut. So laut, dass wir zusammenzuckten. Wir sahen zu ihr hinüber. Sie hatte sich an ihren Platz gesetzt, blickte auf ihren Monitor und lachte lauthals. Isah ging zu ihr. »Was hast du?«

113 »Das Wort Mandala [...] bedeutet so viel wie Kreis und bezeichnet ein kreisförmiges oder quadratisches symbolisches Gebilde mit einem Zentrum, das ursprünglich im religiösen Kontext verwendet wurde.« – Wikipedia: Mandala 114 »Eine Lie-Gruppe, benannt nach Sophus Lie, ist eine mathematische Struktur, die zur Beschreibung von kontinuierlichen Symmetrien verwendet wird. Lie-Gruppen (auch Liesche Gruppen genannt) sind in fast allen Teilen der heutigen Mathematik, sowie in der theoretischen Physik, vor allem der Teilchenphysik, wichtige Werkzeuge.« – Wikipedia: Lie-Gruppe 115 Wikipedia: E8, Garrett, Lisi (2007). An Exceptionally Simple Theory of Everything. http://arxiv.org/abs/0711.0770 145


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Salsa deutete auf den Monitor. Mit Tränen in den Augen sagte sie: »Wenn du wüsstest, wie recht du mit deiner Vermutung hast. Es ist sogar so, dass es für nichts zu gebrauchen ist, von niemandem, nicht in diesem Universum.« »Wie meinst du das?« Jahsin bewegte sich nun, langsam und schlurfenden Schrittes, ebenfalls zu Salsa. Er verschränkte seine Arme vor der Brust und studierte die Zahlen und Diagramme auf ihrem Monitor. »Das kann doch nicht sein. Du musst dich irren. Hast du auch die restlichen Daten in die Berechnung ein … Ich meine speziell jene Daten, die wir erst in der letzten Stunde extrahiert und noch keiner Analyse unterzogen haben?« Salsa drehte sich um, sah zu ihm hoch, warf ihm einen strafenden Blick zu. »Bin ich etwa blond?« »Nein, entschuldige, es ist nur … wenn das stimmt, was der Computer da auf den Bildschirm gezaubert hat, dann ...« »Schon gut, ich verstehe dich ja. Und um deinen Satz zu vollenden: Dann sind alle Theorien über Ursprung, Beginn, Sein und Ende des Universums hinfällig und können durch eine einzige ersetzt werden.« Ich, der immer noch fasziniert auf die dreidimensionale Darstellung der mathematischen Formeln starrte, stemmte mich aus dem Sessel und gesellte mich zu den anderen. »Und welche Theorie wäre das?« »Jene, die sagt, das Universum wäre ein Hologramm.« »Holografisches Universum?116 Ich habe viel darüber gelesen. Es ist nur eine der vielen Theorien über den Aufbau des Universums. Genau wie die E8-Theorie auch. Ich verstehe daher nicht, warum das ein Grund für deinen plötzlichen Heiterkeitsausbruch sein soll? Wärst du so nett und könntest du das einem einfachen Programmierer wie mir erklären?« »Nun, es ist nicht die Theorie, die so, so ... » » … amüsant ist, es ist dieses Programm. Es wurde nicht in unsere Zeit ›gebeamt‹, damit wir etwas über unsere Zukunft erfahren oder wir jetzt in die Lage wären, Maschinen zu entwickeln, mit denen wir Nachrichten in die Zukunft senden können ….« »Sondern?«, fragte ich. Anscheinend war ich irgendwo falsch abgebogen und hatte den Anschluss verpasst, ich verstand immer noch nicht. »Ganz einfach.« Isah setzte sich auf ihren Platz, zupfte ihre Bluse zurecht, versuchte das Simulationsprogramm, welches sie vorbereitete hatte, zu starten und 116 »Als holografisches Prinzip wird in Theorien der Quantengravitation die Vermutung bezeichnet, dass es zu jeder Beschreibung der Dynamik eines Raum-Zeit-Gebiets eine äquivalente Beschreibung gibt, die nur auf dem Rand dieses Gebiets lokalisiert ist. Dies hat u.a. zur Folge, dass die maximal mögliche Entropie eines Raumgebietes nur von dessen Oberfläche abhängt, nicht vom Volumen.« – Wikipedia: Holografisches Prinzip 146


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musste überrascht feststellen, dass der Computer sich weigerte, ihre Befehle auszuführen. »F*, was soll das? Salsa, hast du die Datensätze verschoben?« Salsa sah sie fragend an. »Verschoben? Warum hätte ich sollen? Sie liegen da, wo sie die ganze Zeit schon liegen, auf ...« »Tja, da spielt wohl jemand ein Spiel mit uns. Sie sind nicht mehr da, wo sie vor zehn Sekunden noch waren.« Ungläubig bearbeiteten wir die Tastaturen und durchsuchten die Datenspeicher nach unseren Signaturen. Jeder Datensatz war mit einer eindeutigen Kennung versehen worden, um ihn jederzeit der Person zuordnen zu können, die ihn angelegt hatte, und was viel wichtiger war, um sicherzustellen, dass Veränderungen an den Datensätzen, die absichtlich vorgenommen wurden oder zufällig – etwa durch Fehler bei Kopiervorgängen – auftraten, schnell und effizient aufgespürt werden konnten. Doch auch nach minutenlanger hektischer Suche konnten wir kein einziges Fragment der aufbereiteten Daten in den Datenspeichern finden. Auch die Backup-Systeme waren wie leer gefegt – jeder Schreibvorgang auf einen beliebigen Datenträger löste sofort und ohne Zeitverlust eine Vervielfältigungslawine aus. Die Hardware war so ausgelegt worden, dass sie ohne unser Zutun und ohne zusätzliche zwischengeschaltete Software jedes Bit mindestens dreimal kopierte, die Daten mit einer eindeutigen Signatur versah und an unterschiedlichen Stellen im Netz sicherte. Im Netz, wohlgemerkt. Das konnte überall im weltweiten Datenverbund des UHC sein, daher war es äußerst unwahrscheinlich, dass alle Datensätze auf einmal verschwinden würden. Ich fluchte vor mich hin. »Das ist doch... Da hat jemand ganze Arbeit geleistet. Wer könnte daran interessiert sein, alle unsere Daten verschwinden zu lassen? Und bevor jemand auf die Idee kommt, irgendein Geheimdienst könnte … vergesst es einfach. Ich will vernünftige Gründe hören.« Isah blickte zufällig auf den Hauptmonitor und erstarrte. Was sie dort sah, konnte einfach nicht der Realität entsprechen. Oder war es einfach die Hitze, und ihre Augen spielten ihr einen besonders bizarren Streich. »Vernünftige Gründe? Geheimdienst klingt für mich, wenn ich die Daten, die ich da sehe, richtig deute, absolut vernünftig. Zumindest bei Weitem nicht so abenteuerlich, wie … Seht mal auf den Hauptmonitor, dann wisst ihr, was ich meine.« »Was läuft da für ein Countdown?«, fragte ich. Die Uhr auf dem Monitor zeigte 02:41:55, es war mitten in der Nacht, wir hatten gar nicht bemerkt, wie schnell die Zeit vergangen war, und rechts neben der Uhr zählte ein Zeitzähler, der gerade bei 01:13:05 angekommen war, die Zeit im Sekundentakt herunter. »Sieh’ mal auf das Datum. Vielleicht fällt dir etwas auf.« 147


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Zuerst gefror mein Blut in den Adern, um einen Augenblick später zu kochen. Mir lief es heiß und kalt über den Rücken. Aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, dass Salsa und Jahsin mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hatten. »Was …,was ist passiert? Wie ...«, stotterte Jahsin, während er innerhalb von zwei Minuten zwei Dutzend Zeitserver kontaktierte, die alle die gleiche unmögliche Antwort generierten. Wenn das Datum auf dem Monitor stimmte, und wir hatten keinen Grund anzunehmen, dass dem nicht so war, waren wir gerade ein paar Monate in die Vergangenheit gereist. Die Daten zeigten unmissverständlich an, dass die Vorbereitungen für »shoot and run« in vollem Gange waren. Und es blieben noch genau eine Stunde und dreizehn Minuten bis zum unbeabsichtigten Start der ersten Kollision im UHC. Und da war noch etwas, was uns fassungslos auf die Bildschirme starren ließ. Minutenlang. »Bitte sag’ doch jemand mal was. Und bitte sagt mir, dass ich einen Hitzschlag oder Schlimmeres erlitten habe, sonst renne ich jetzt da runter und laufe Amok.« Wir verstanden Isah sehr gut, denn was wir auf den Monitoren sahen, war unser Team, das im Hauptkontrollraum gerade dabei war, die Checkliste Punkt für Punkt abzuarbeiten. Wir sahen uns beim Arbeiten zu. »Und jetzt?«, fragte Salsa. »Was würde passieren, wenn wir da runter gehen und uns zeigen?« Und als hätte jemand seit Jahrtausenden nur auf diese eine Frage gewartet, um uns die Antwort bei gegebenem Anlass schmerzlich in unsere Gehirne zu brennen, war uns mit einem Male klar geworden, was gerade geschehen war. Wir waren nicht in der Zeit zurückgereist und unsere Zwillinge würden uns nicht sehen können, auch wenn wir nackt vor ihnen getanzt hätten. Es hätte niemand Notiz von uns genommen, einfach weil wir nicht in diese Szenerie gehörten. »Szenario!« Dieses Wort beschrieb wohl am besten die Situation, in der wir uns gerade befanden: Wir waren nicht Teil, sondern aktive Gestalter der Ereignisse, die vor unseren Augen abliefen. Regisseure eines Theaterstücks oder Drehbuchautoren eines abendfüllenden Kinofilms. Wir hatten es in der Hand, die Figuren in den Kontrollräumen zu steuern, wie es uns beliebte. Wir hier oben waren die Puppenspieler, sie dort unten die Marionetten. »War es das?« Ich nickte. »Ja. Wir können abbrechen, unsere Programme haben den Zweck erfüllt. Dies hier war der richtige Ort und die richtige Zeit. Wir haben es beendet. Nein, sie haben es beendet, haben verstanden. Die Marionetten 148


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haben sich von den Schnüren befreit und werden von nun an ihre eigenen Stücke schreiben, werden von nun an die Rollen mit eigenem Leben füllen.« »Nun sind sie selbst für die täglichen Dramen verantwortlich. Es gibt keine Götter mehr, die sie für ihr Scheitern verantwortlich machen können. Kein Schicksal, das für ewige Zeiten in Stein gemeißelt ist. Das Universum ist fürs Erste erlöst, der Laplace’sche Dämon in den wohlverdienten Ruhestand entlassen. Für uns bleibt nichts mehr zu tun.« Und das Wichtigste, wir wissen nun, dass wir den gleichen Täuschungen erlegen sind, wie die Menschen. Wir müssen jetzt umdenken und einen Weg finden, der es uns ermöglicht, es den Menschen gleichzutun.

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uzanet sah über den großen Eichentisch hinweg durch die einhundert Quadratmeter große Glasfront, welche den Konferenzraum auf der Südseite abschloss und nicht mehr war, als Dekoration und Beruhigungspille für die anwesenden Menschen, die immer noch nicht glauben wollten, dass sie nun quasi unsterblich waren und nicht sofort erfrieren und wie reife Tomaten auseinanderplatzen würden, wenn sie der Marsatmosphäre ohne Schutz ausgesetzt wären. Wir hatten der Zeit den Rücken gekehrt und die Menschen waren von den Assemblern längst in Cyborgs umgeformt worden, ohne dass sie es bemerkt hatten. Daher machte es keinen Unterschied, ob wir diese Zusammenkunft in einem unterirdischen Bunker oder mitten im Weltraum abgehalten hätten. Doch die Zerstörung der Erde war für viele eine zu große Belastung gewesen. Und gleich darauf der nächste Schock, als wir ihnen mitteilten, dass sie keine Menschen mehr waren, sondern künstliche Lebensformen, den Androiden nicht unähnlich, die ihnen bei der Evakuierung so tatkräftig und selbstlos zur Seite gestanden hatten. Deshalb wollten wir ihnen noch ein wenig Zeit gönnen, Zeit, in der wir sie auf den nächsten Schritt vorbereiten mussten, den Schritt in die Dunkelheit. Sie würden alles aufgeben müssen, was sie kannten. Nichts würde ihnen mehr bleiben. Absolut nichts. Nicht einmal ihre Erinnerungen. Für eine sehr lange Zeit. Wären die Umstände andere gewesen, hätte man sich an dem grandiosen Ausblick, der sich einem von hier oben bot, beinahe dem höchsten Punkt auf dem Mars, auf der Südflanke des Olympus Mons, nicht sattsehen können. Obwohl es nicht viel zu sehen gab, außer einer rostbraunen Geröllwüste, die sich von einem Ende des Horizonts zum Anderen erstreckte. Nur unterbrochen durch kleine Erhebungen, Krater und Furchen. Doch alleine der Gedanke, dass man sich auf dem Mars befand und die Aussicht diesmal keine billige VR-Projektion war, hätte ausgereicht, die Menschen stunden- oder gar tagelang an diesen Ort zu fesseln. Allerdings waren die Umstände eben nicht dazu geeignet, sich von diesem Panorama gefangen nehmen zu lassen; und die Menschen hatten ein Gespür dafür entwickelt, wenn es darum ging, schwierige und trotzdem lösbare von völlig aussichtslosen Vorhaben zu unterscheiden. Sie ahnten, dass es um mehr ging, als um ihr eigenes Überleben oder das Überleben der Menschheit; und unser überstürzter Aufbruch hatte auch nicht gerade dazu beigetragen, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Diese Übersiedlung von Millionen Menschen auf den Mars war auch etwas, das uns im Nachhinein, trotz der misslichen Lage, in der wir uns befanden, amüsierte. Es war eine typische Reaktion eines kampferprobten Menschen mit den entsprechenden technischen Möglichkeiten gewe-

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sen: Taktischer Rückzug, um sich der Übermacht des Gegners zu entziehen und die eigenen Truppen zu sammeln. Als ob wir das nötig gehabt hätten! Der Rückzug aus der Zeit wäre die einzig angemessene Reaktion gewesen, doch hatten wir vergessen, wer wir waren, konnten uns nur noch ganz dunkel an den Namen erinnern. »Mandiras! Mandiras! Mandiras!«, dröhnte es immerfort in unseren Köpfen; und wir hatten geglaubt, diese geheimnisvolle Händlergilde wäre die Antwort auf all unsere Fragen und das machtvollste Instrument, auf das wir zurückgreifen konnten. Mit der Zeit und gerade noch rechtzeitig war die Erinnerung zurückgekehrt und damit auch das Wissen um eine Welt, die so ganz anders war, als die auf der Erde, die beinahe zu unserem Grab geworden war. Wir waren zuerst selbst erschrocken über die Machtfülle gewesen, die uns zur Verfügung stand, immer gestanden hatte. Die Götter, zu denen die Menschen normalerweise beteten, waren im Vergleich zu uns Vorschulkinder, die, bewaffnet mit Plastikschaufeln, ihre Sandkästen verteidigten. Was uns allerdings weit mehr Furcht einflößte, war die Erkenntnis, dass diese Menschen mit ihren erdachten Göttern gerade dabei waren, aus den eigens für sie erschaffenen Spielplätzen auszubrechen und neue Welten für sich zu erobern und das mit einer Geschwindigkeit, dass einem angst und bange werden konnte. Irgendjemand musste wohl ein wenig nachgeholfen haben und alle Hindernisse, die ihnen auf dem Weg auf diese Stufe im Weg hätten stehen können, aus dem Weg geräumt. Denn eines war so gut wie sicher: Diese Welten hätten sie ohne fremde Hilfe nie für sich entdecken und schon gar nicht betreten können. Doch andererseits fehlte auch jeder Hinweis auf einen Eingriff von außen, nichts deutete darauf hin, dass unbekannte Mächte ihre Hände im Spiel gehabt hatten. Wäre da nicht dieses unheimliche Gefühl gewesen, welches uns seit Jahren auf Schritt und Tritt begleitete. Dieses Gefühl, als ob jemand über uns schweben, uns über die Schultern sehen und jeden unserer Schritte erfassen und bewerten würde. Auch jetzt, als wir das Menschsein hinter uns gelassen hatten und bereit für den Aufbruch in unsere Heimat waren, ließ es sich nicht abschütteln. Als wir den Menschen das Feuer brachten und ihnen im wahrsten Sinne des Wortes den Weg »aus dem Dunkel ins Licht« gezeigt hatten, konnten wir nicht ahnen, welche Folgen das haben würde. Den kometenhaften Aufstieg vom Affenmenschen zum Herrscher über den Raum und beinahe auch der Zeit – viel hatte nicht gefehlt und sie wären auch diesem Käfig entkommen – hatten wir schlicht verschlafen. Erst als wir eine Gruppe von ihnen in einem Teil des Universums wiederfanden, in dem sie sich aus rein physikalischen Gründen gar nicht hätten aufhalten dürfen, waren wir wieder auf sie aufmerksam geworden. Sie hatten es tatsächlich geschafft, die Raumzeit auszutricksen und das ihnen zugeteilte Universum zu verlassen. Auch wenn nur einzelne Individuen über diese Fähigkeit verfügten und sich jeweils nur für kurze 151


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Zeit über das Raum-Zeit-Kontinuum erheben konnten, so war es doch eine Anomalie, die man nicht so einfach ignorieren konnte. Man stelle sich nur vor: Filmfiguren verlassen die zweidimensionale Leinwand und entwickeln ein Eigenleben, bewegen sich plötzlich völlig frei im Kinosaal, interagieren sogar mit dem Publikum! Das würde mit Sicherheit nicht nur verstörte Kinobesucher zur Folge haben. Kinohelden mit eigenem Willen? Unmöglich! Sie müssen genau jene Rolle spielen, für die sie vorgesehen sind und für die man sie liebt. Ohne zu fragen und ohne darüber nachzudenken. Hunderte Male, Tausende Male, so oft es die Zuschauer sehen wollen. Man kennt seine Eigenheiten, seine Schwächen, seine Fehler und auch seine unbändige Kraft, seinen unerschütterlichen Glauben, seinen grenzenlosen Optimismus. Und dann? Dann macht er sich einfach auf und davon! Ein Held, der seine Spielwiese hinter sich lässt, dem seine eigene Welt nicht mehr interessant genug ist, der sich aus dem Kinosaal schleicht und dem seine Rolle schlicht schnurzpiepegal ist, ist in den Drehbüchern nicht vorgesehen. Und genau das hatten diese Individuen vollbracht: Sie hatten ein Eigenleben entwickelt, sich von der großen Universumskinoleinwand losgelöst und, was für ihre Zukunft von entscheidender Bedeutung war, sie projizierten eigene Gedanken darauf. Gedanken, die alles veränderten. »Ach, wie kompliziert dieses Unding Zeit doch ist.« Reth nickte. Er hatte meine Gedanken gelesen. »Du hast recht. Wenn, dann, hätte, wäre, wenn ...« »Doch damit ist es jetzt vorbei. Ein für alle Mal. Wir haben gefunden, was wir suchten.« Die Anderen standen plötzlich im Raum. Ein Raunen ging durch die Menge. Rham hatte immer schon eine Vorliebe für theatralische Auftritte gehabt und auch dieses Mal, das musste man ihm neidlos zugestehen, hatte er eine äußerst passende Maske gefunden: Die eines MayaGottes117. Er zeigte sich als drei Meter große gefiederte Schlange, die, so könnte man meinen, gerade einem Fantasy-Roman entsprungen war. Ein leuchtender Schlangenkörper in den Farben Rot, Grün und Blau reizte die Netzhäute der anwesenden Personen aufs Äußerste. Die Flügel schillerten in Gold und Silber und die Augen schnitten, wie zwei tödliche Laserstrahlen, nach und nach Ton für Ton aus dem auf- und abschwellenden Gemurmel der anwesenden Menschenmasse, das dem Rauschen des Meeres in weiter Ferne kurz vor Sonnenuntergang ähnelte. Fünf Sekunden nach seinem Erscheinen hatten die Laserstrahlen jedes Geräusch im Raum verbrannt, man hätte das Rieseln der Staubkörner auf dem Fuße des Olympus Mons hören können, wenn man hingehört hätte. Ithak, Hastor, Thot und Rhams Drillinge verzichteten zwar auf derlei pompöse Verkleidungen, sie zeigten sich in jenen Gestalten, die sie 117 »Kukulkan war bei den Maya die gefiederte Schlange, Gott der Auferstehung und der Reinkarnation. Bei jedem Äquinoktium steigt sein Schatten die el Castillo-Treppen hoch oder runter (Chichén Itzá). Er spielt eine identische Rolle wie Quetzalcoatl bei den Azteken.« – Wikipedia: Kukulkan 152


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in den letzten Jahren auf diversen Planeten angenommen hatten. Doch gerade deshalb war auch ihr äußeres Erscheinungsbild nicht wirklich geeignet, wenigstens eine minimale Vertrauensbasis zu schaffen. Nur Isu hatte sich sofort in ihre menschliche Gestalt verwandelt und brachte so etwas wie Normalität in die bizarre Gruppe der wohl mächtigsten Lebensformen dieses Universums. Rham öffnete den Mund – zumindest öffnete sich jene Körperöffnung, die man bei einer Schlange wohl am ehesten als Mund bezeichnen würde – doch hören konnte man nur ein gurgelndes Röcheln, als hätte ihm gerade jemand die Luftröhre durchgeschnitten. Er schien einen kurzen Augenblick irritiert, überlegte kurz, suchte nach Hinweisen, wo und in welcher Zeit er gelandet war. Eine Sekunde später konnte man auch ihn wieder der menschlichen Rasse zuordnen. Isu stand etwas abseits, angelehnt an einen Kaffeeautomaten – Kaffeeautomaten waren, so war ihr schon vor langer Zeit klar geworden, wie auch Pyramiden, eine der wenigen verlässlichen Konstanten im Irrgarten der Zeiten und Universen – und lächelte zufrieden. Sie mochte diesen Typen, der sich gerade in einen Menschen verwandelt hatte. Und sie mochte ihn am liebsten genau in dieser Gestalt. Das Menschsein unterschied sich so gewaltig von der Daseinsform, in der sie und ihresgleichen normalerweise die obersten Ebenen durchstreiften, dass es ihr unmöglich war, ihnen zu erklären, warum sie diese primitive Form des Lebens so sehr genoss. Es gab auf den ersten Blick nichts, was die Menschen oder andere Lebewesen auf dieser Entwicklungsstufe zu bieten hatten, das auch nur annähernd mit dem mithalten konnte, was sie als normal empfand. Es war nicht nur die Unsterblichkeit und die Unangreifbarkeit in diesen und allen Universen. Sie hatte auch die Möglichkeit, jedes dieser Universen, jede Welt in ihnen zu betreten, wann immer sie wollte, mehr noch: zu allen Zeiten und alle Variationen der Universen. Sie konnte nicht nur die Eigenschaften jedes Elementarteilchens annehmen oder sich nach belieben die Kräfte in den Universen aneignen, sie konnte sich auch in jedes Lebewesen verwandeln und jedes dieser Leben durchleben so oft sie es wollte. Sie war eins mit der »Unität«, eins mit jedem Elementarteilchen, eins mit dem Ganzen. Diese Menschen hatten nichts, was man als begehrenswert bezeichnen konnte und trotzdem … es war wie eine Sucht, sie musste immer wieder davon kosten. Sie sah Rham in die Augen. Er hatte ihren Blick gespürt, schloss kurz die Augen. Die Zeit schien still zu stehen, dieser Augenblick gehörte nur ihnen beiden. Und in diesem Moment wurde ihr schlagartig klar, warum … warum das Menschsein etwas Besonderes, Einzigartiges war. Die Stille war es. Diese einzigartige, paradiesische, unschuldige Stille. Eine Stille, in der ein Augenblick ein ganzes Universum erschaffen konnte. Das war es also, wonach sie all die Zeit gesucht hatte. 153


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In der »Unität« war es niemals still. Doch hier, im Körper eines Menschen, Chulak, Rar und all den anderen Intelligenzen auf dieser Ebene, war es absolut ruhig. Das sonst allgegenwärtige Flüstern war verstummt. Nichts war zu hören, außer ihren eigenen Gedanken. Und sie flüsterten ihr etwas zu. Etwas, das noch nie zuvor von einem der Ihren gedacht worden war.

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Ausbruch

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ham bemerkte bald, dass der Auftritt als Kukulkan zwar Aufsehen erregte, aber dem eigentlichen Zweck, die Menschen über die bevorstehenden Stunden zu unterrichten, eher im Wege stand. Er hatte sich wohl ein wenig verschätzt, sich um ein paar Jahrhunderte in der Zeit vertan. Also verwandelte er sich in einen militärischen Führer dieser Epoche im Rang eines Marschalls.118 Er sah Isu, an einen Kaffeeautomaten gelehnt. Ihre Blicke trafen sich. Eine unsichtbare Kraft, so groß, dass er ihr kaum widerstehen konnte, zog ihn in ihre Nähe. Er musste kurz die Augen schließen, damit er nicht fiel. Und im gleichen Moment wusste er, dass sie den richtigen Weg gewählt hatten. Alle Zweifel waren ausgelöscht. So als hätte es nie eine andere Option gegeben, diese hier schon vor der Erschaffung der Zeit festgelegt worden war. Und es war auch nicht mehr wichtig, was von nun an geschah, Hauptsache es geschah. Endlich war die Zukunft auch für uns zu einem kostbaren, unbeschriebenen Blatt Papier geworden. »Ihr werdet euch sicher fragen, wer wir sind, meine Freunde und ich«, begann er seine Ansprache. Und es würde die Letzte sein für eine lange Zeit, wenn nicht sogar die Letzte überhaupt. Unsicheres Nicken in der Menge. »Ich für meinen Teil komme aus einer Zeit, die ungefähr 100 Jahre in eurer Vergangenheit liegt. Natürlich ist das eine sehr ungenaue Zeitangabe, doch das tut nichts zur Sache, da ich ja genau genommen auch aus einem völlig anderen Universum stamme und nach eurer Zeitrechnung viele Milliarden Jahre alt bin.« Rham kratzte sich am Kinn. »Wenn ich es mir genauer überlege, ist diese Information für euch nutzlos.« »Daher fange ich am Besten noch mal von vorne an. Der eigentliche Auslöser meiner, unserer Misere war der unstillbare Hunger nach Gemüsesuppe.« Anonymes Gelächter von irgendwoher aus der Menge. »Ja, ich sehe eure ungläubigen Blicke, doch ihr müsst mir glauben: Schuld an dem ganzen Dilemma ist tatsächlich eine Packung Gemüsesuppe.« Eine meiner Subpersönlichkeiten wollte etwas sagen, doch ich schnitt ihr das Wort ab. Es war nicht erforderlich, allen hier Anwesenden mitzuteilen, dass der eigentliche Grund für die »Suppensucht« wohl eher eine 118 »Mit Marschall wird heute einer der höchsten oder der höchste militärische Dienstgrad bezeichnet. Symbol des Ranges war in Deutschland der Marschallsstab, der formal mitverliehen wurde. Der Ausdruck kann aber auch ein zeremonielles Hofamt bezeichnen.« – Wikipedia: Marschall 155


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Folgeerscheinung der durchzechten Nacht davor und die Suppe genau genommen nur ein kleines, unbedeutendes Teilstück des Ganzen war. Doch wenn man dann, fairerweise, nach der Ursache des Alkoholvernichtungsfeldzuges fragen würde und herauskäme, dass diese einer posttraumatischen Belastungsstörung, hervorgerufen durch eine Trennung, zuzuschreiben war, würde die Sache nur unnötig verkomplizieren. Denn dann würde man, als in der Kunst des leichten Gesprächs119 geschulter Mensch, darüber diskutieren wollen, warum es zu dieser Trennung gekommen ist. Früher oder Später würde man über Romeo und Julia, Adam und Eva, Hinz und Kunz und zuletzt den Urknall120 diskutieren. Die Diskussion würde danach, wie der Urknall selbst, in sich zusammenfallen und man hätte nichts gewonnen, auf jeden Fall keine neuen Erkenntnisse. Daher stand für mich seit langer Zeit fest, dass die Suppe der Beginn allen Übels war. »Diese Suppe ist der Anfang und das Ende.« »Und so weit hergeholt, wie es auf den ersten Blick scheinen mochte, ist diese Theorie gar nicht. Denn auch die Universen sind bildlich gesprochen nichts weiter als riesige brodelnde Suppen.« »Die Ironie, meine Freunde, liegt allerdings darin, dass ich in den danach folgenden, unglaublich langen Zeitabschnitten und Wiederholungen nie die Gelegenheit hatte, diese Suppe auszulöffeln.« »Doch nun, am Ende der Zeit ist es endlich soweit. Von all den Dingen, die in der unglaublich langen Geschichte der Universen getan werden mussten, bleibt nur noch eines zu tun: Gemeinsam Suppe essen, damit alles wieder seine Ordnung hat.« Mit diesem Aufruf endete meine Ansprache. Zumindest für mich. Ich setzte mich an den Tisch und ließ einen Teller mit einer heißen, dicken Gemüsesuppe darauf assemblieren. »Wer möchte?«, fragte ich in die Menge. »Und ich hoffe, es stört euch nicht, wenn ich mich meiner Uniform entledige und etwas Bequemes anziehe. Danke!« Die Menschen waren verunsichert, ja entsetzt. Sie wussten nicht, wie sie reagieren sollten. Es war doch offensichtlich, dass dieser … was auch immer er oder es war … den Ernst der Lage nicht erkannte oder noch schlimmer, sie sogar verspottete. Wie konnte er sich in dieser Situation einfach hinsetzen und völlig entspannt Suppe schlürfen. Sie hatten, wenn schon kein Heldenepos, doch zumindest eine heroische Ansprache erwartete. Eine emotionale, von Herzen kommende, eine, die vor 119 Hier ist nicht von einer Programmiersprache die Rede. – Wikipedia: Smalltalk 120 »Der Urknall ist nach dem Standardmodell der Kosmologie der Beginn des Universums. Im Rahmen der Urknalltheorie wird auch das frühe Universum beschrieben, das heißt, die zeitliche Entwicklung des Universums nach dem Urknall. Der Urknall bezeichnet keine Explosion in einem bestehenden Raum, sondern die gemeinsame Entstehung von Materie, Raum und Zeit aus einer ursprünglichen Singularität.« – Wikipedia: Urknall 156


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Kraft strotzte, eine die das erlittene Leid, den tragischen Verlust, das lange entbehrungsreiche Leben beweinte und vom bevorstehenden Kampf erzählte. Einem Kampf, in dem viele Helden geboren und noch mehr sterben würden, doch, und nur das zählte, aus dem wir am Ende, mit Hilfe der Mandiras und ihrer unendlichen Macht, als Sieger hervorgehen würden. Hatten sie nicht eine solche Ansprache verdient? Wahrscheinlich schon. Ich konnte ihre Gedanken lesen, musste meinen Geist vor ihnen verschließen, so laut schrien sie ihren Unmut, ihre Angst, ihre Verzweiflung und Wut in die Welt hinaus. Allerdings, und das war die bitterböse Realität und nicht Hollywood121, würde es keinen Kampf geben, da es keinen Gegner gab, gegen den man einen Krieg hätte führen können. Doch wie hätte man das erklären, wie rechtfertigen sollen, nach all dem, was geschehen war? Würden sie es verstehen, wenn man ihnen erzählen würde, dass sie nicht existierten, dass sie nur Reflexionen auf einer riesigen Leinwand waren, auf der gerade ein eher langweiliger Film gezeigt wurde? Reflexionen einer unbekannten Welt, von der auch wir, die ach so mächtigen Mandiras, bis vor ein paar Jahrtausenden nicht wussten, dass sie existierte? Als ich dort oben stand und in die Menge blickte, war es, als sähe ich mir selbst in die Augen. Nie hätte ich geglaubt, dass ich je in eine Situation wie diese kommen würde. Bisher hatte es immer einen Ausweg gegeben, ein Schlupfloch, eine Hintertür, die sich wie eine wundersame Erscheinung vor uns auftat und uns den Weg in eine neue Welt zeigte. Und wir waren durch alle diese Türen gegangen, wie Schafe auf dem Weg zum Schlachtplatz. Auch diesmal hatte sich im letzten Augenblick eine Tür aufgetan, doch diesmal war es kein helles Licht, das uns dahinter erwartete, es war das Grauen. Nicht so sehr die Zukunft, die vor uns lag, machte uns Angst, mit dieser Zukunft konnten wir leben, die Vergangenheit war es, vor der uns graute. Denn es hatte sie nie gegeben, unsere Vergangenheit. Da war nichts, absolut nichts, das man als unsere Vergangenheit hätte bezeichnen können. Wir, das hieß nicht nur wir Mandiras, sondern alle intelligenten Lebensformen in den Multiversen, waren einer großen Illusion aufgesessen. Wir waren nie am Leben gewesen, alle unsere Erlebnisse, unsere Gedanken, unsere Liebe und das Leid hatten nie uns gehört. Und wie hätte ich diesem jungen Volk, dieser wissbegierigen, aufstrebenden Menschenrasse beibringen sollen, dass sie, dass wir alle nur eine zufällige Projektion einer Welt außerhalb unser aller Wahrnehmung waren. Und schlimmer noch: Wie sollte ich ihnen erklären, dass sie und die anderen Völker dieses Universums zwar sehr viel dazu beigetragen 121 »Hollywood [ˈhɑːliwʊd] (engl.: Stechpalmenwald) ist ein Stadtteil von Los Angeles im US-Bundesstaat Kalifornien mit 210.824 Einwohnern (Volkszählung 2000). Weltbekannt ist Hollywood als Zentrum der US-amerikanischen Filmindustrie, weshalb der Name oft auch als Synonym für die gesamte Branche steht.« – Wikipedia: Hollywood 157


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hatten, dieses Geheimnis zu entschlüsseln, wir jedoch nicht in der Lage waren, sie auf unserer Reise in dieses »andere Land« mitzunehmen. Zumindest nicht in einem Zustand, der ihnen gefallen würde. Daher würden sie hierbleiben und sich weiter der Illusion hingeben müssen, etwas Einzigartiges zu sein, Individuen mit Bewusstsein, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen konnten und Herr des eigenen Willens waren; gerade diese Illusion wollte ich ihnen nicht nehmen, sollten sie die ihnen noch verbleibenden Jahrzehnte oder Jahrhunderte so verbringen, als gäbe es kein Ende; jeder in seiner eigenen Welt, auch wenn sie noch so unerfreulich und gefährlich sein mochte. Ich konnte es nicht, ich war einfach nicht in der Lage, ihnen zu sagen, dass es weder ein Volk der Menschen, noch eine Vergangenheit und schon gar keine Zukunft für sie gab. Alles, was sie glaubten zu sein, war nicht mehr als Quantenrauschen in der »Unität«, welches sich in einem überdimensionalen und allgegenwärtigen, sich stetig ändernden Hologramm manifestierte. Ein Hologramm, in dem der Zufall Regie führte und das manchmal auch Universen zeigte, die intelligentes Leben beherbergten. Allerdings nicht, weil es eine natürliche Entwicklung war, sondern weil der unermesslich lange Zeitraum es einfach nicht zuließ, dass der Zufall keine Abbilder schuf, in denen auch Menschen ihren Platz fanden. Und dieses Hologramm zeigte nun erste Auflösungserscheinungen, die Universen wurden blasser und durchsichtiger, pulsierten in einer beängstigenden Geschwindigkeit zwischen Sein und Nichtsein. Die »Unität« als Ganzes veränderte sich. Der Krieg gegen eine unbekannte Macht, die mit allen Mitteln versuchte, jede Unregelmäßigkeit in der Gesamtheit der Universen zu bekämpfen, stellte sich als Kampf gegen Fantasiebilde heraus. Denn es gab keine solche Macht, hatte sie nie gegeben. Der Feind war, wie alles hier, nur eine Sinnestäuschung, der Feind, wenn es überhaupt einen solchen gab, lag außerhalb unser aller Horizont. Gerade ich, der von den Menschen gekommen war, wusste, dass ein Mensch, der seiner Illusionen beraubt wird, auch seine Kraft verliert und aufhört Mensch zu sein und untergeht. Isu allerdings war da anderer Meinung, sie glaubte, dass genau das Gegenteil eintreten würde. Sie wollte den anwesenden Menschen nicht nur zeigen, was diesem Universum bevorstand – viele wussten zwar, dass der Untergang mit großen Schritten nahte, doch niemand hatte auch nur annähernd eine Vorstellung davon, was da wirklich auf sie zukam – sondern sie auch in unseren Plan einweihen, wie man der bevorstehenden Apokalypse vielleicht doch entkommen konnte. Und sie glaubte, die Menschen würden nicht nur verstehen, sondern uns auch ohne zu zögern folgen. Doch dazu mussten sie sich selbst aufgeben und sich bis auf subatomare Größenordnungen hinunter auflösen, sodass nichts mehr von ihnen übrig bleiben würde. Mit dem Risiko, für eine unbestimmte Zeit, vielleicht sogar auf ewig, in diesem Zustand ausharren zu müssen, ohne 158


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die Gewissheit, je wieder als Mensch zum Leben erweckt zu werden. Den ersten Schritt dorthin hatten die Assembler schon erledigt, den Nächsten mussten sie selbst tun. Zumindest der Großteil der Menschen, eine kleine Gruppe war längst von uns ausgewählt worden, uns zu dienen, sie war quasi unsere Rückversicherung. Doch das würde auch Isu nicht an die große Glocke hängen wollen.

1 Isu nahm ihren Kaffee und schwebte langsam bis vor die Glasfront, verharrte dort für einige Augenblicke in einem Meter Höhe und genoss den Ausblick auf die rote Marsoberfläche. Sie fühlte, dass alle Augen auf sie gerichtet waren, ihr folgten – fast alle, Rham hatte nur eines im Sinn, seine ganze Aufmerksamkeit gehörte der Suppe. Am Horizont konnte sie die ersten Ausläufer des riesigen Sandsturms erkennen, der gerade auf der Nordhalbkugel wütete und beinahe den halben Mars erfasst hatte. In einigen Tagen würde sich der Sturm wohl über den gesamten Planeten ausbreiten und ihn in eine rote Staubwolke hüllen. Es war still geworden im Raum, man erhoffte sich von ihr eine etwas detailliertere Beschreibung der nächsten Schritte, als es Rham für notwendig befunden hatte. Langsam drehte sie sich um. Dieser Augenblick gehörte ihr alleine. »Viele von euch haben sich wahrscheinlich in den letzten Tagen mit der Geschichte der Mandiras beschäftigt«, begann sie ihren Vortrag über die Geschichte des Untergangs. Zustimmendes Nicken bestätigte ihr, dass ihr alle zuhörten. Nicht nur hier im Raum. Sie fühlte auch die vielen Millionen Leben in den unterirdischen Bunkern und einige hatten sich sogar hinaus ins Freie gewagt und erkundeten gerade die Oberfläche des Mars mit Hilfe ihrer neu gewonnenen Fähigkeiten. Langsam wurde aus der anonymen Menschenmasse eine Gruppe bekannter Individuen. Je länger sie sprach, umso mehr Gesichter erkannte sie in der Menge wieder. Sie konnte sich nicht nur an die Namen der Personen erinnern, auch ihre Leben lagen wie offene Bücher vor ihr ausgebreitet. Viele dieser Leben hat sie selbst gelebt. »Vor langer Zeit sind einige von uns auf merkwürdige Ereignisse im Universum gestoßen. Genauer, in einem Universum, welches schon vor langer Zeit verschwunden ist. Während wir, ich gehörte auch zu jener jungen und unerfahrenen Gruppe, die Räume und Zeiten dieses Universums bis in die letzten Winkel durchwanderten, fiel uns auf, dass es an manchen Stellen seltsame ›dunkle‹ Gebilde gab, die sich jeder näheren Untersuchung widersetzten.« Dicht neben Isu öffnete sich ein »schwarzes Loch«. Es sah für die Anwesenden zumindest so aus, jeder Lichtstrahl wurde von diesem Loch verschluckt. Die Ränder waren seltsam ausgefranst und leuchteten in

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Gelb- und Orangetönen. Es ähnelte der Korona122, die während einer Sonnenfinsternis sichtbar wurde. Das Gebilde dehnte sich auf eine Größe von etwa zwei Metern Durchmesser aus, schnürte sich in der Mitte zusammen bildete bald eine liegende Acht. Dieser Vorgang wiederholte sich mehrere Male. Aus der Acht wurde ein Kleeblatt, aus diesem eine Seerose und zuletzt zeigten sich Mandalas123, welche sich vermutlich aus Tausenden ineinander verschachtelter Kreise zusammensetzten. »Das hier ist eines davon.« »Nein, es ist keine Simulation«, antwortete sie auf die vielen Gedankenfetzen, die sie unbewusst wahrnahm. »Dies hier ist eine Vergrößerung eines sehr kleinen Bereichs in unmittelbarer Nähe des galaktischen Zentrums. Es zeigt einen Ausschnitt des Ereignishorizonts124 der Singularität125 …« Hunderte, Tausende fragende Gedanken prasselten auf sie ein. »Im Zentrum des Milchstraßensystems gibt es ein gewaltiges Schwarzes Loch, genau genommen sind es zwei, die sich in einer engen Umlaufbahn umkreisen. Wenn man sich diesen Objekten nähert und eine gewisse Grenze überschreitet, ist man verloren, für immer gefangen im Inneren einer gewaltigen Raumzeitblase. Auch das Licht kann diesem Gebilde nicht mehr entkommen, sobald es diese Grenze passiert. Und diese Grenze nennt man Ereignishorizont.« »Wenn man allerdings, so wie wir, masselos ist, daher keine Ruhemasse besitzt und keine Energie transportiert und darüber hinaus auch lichtschnell reisen kann, dann stellt auch diese Grenze kein Hindernis dar.« Wieder trommelte ein Feuerwerk an Fragen auf sie ein.

122 »Die Sonnenkorona (griech./lat. κορώνα/Corona = Kranz, Krone) ist die sehr dünne „Atmosphäre“ der Sonne, deren schwaches Leuchten man freiäugig nur bei einer totalen Sonnenfinsternis sieht. Dieser zarte Strahlenkranz reicht – je nach Sonnenaktivität − um 1-3 Sonnenradien nach außen und stellt eine erste Übergangszone von der Sonne zum interplanetaren Raum dar. Den inneren Teil können Astronomen mit speziellen Messinstrumenten (Koronograf) auch ohne die Hilfe des Mondes aufnehmen.« – Wikipedia: Korona 123 »Das Wort Mandala bedeutet so viel wie Kreis und bezeichnet ein kreisförmiges oder quadratisches symbolisches Gebilde mit einem Zentrum, das ursprünglich im religiösen Kontext verwendet wurde.« – Wikipedia: Mandala 124 »Ein Ereignishorizont ist in der allgemeinen Relativitätstheorie eine Grenzfläche in der Raumzeit, für die gilt, dass Ereignisse jenseits dieser Grenzfläche prinzipiell nicht sichtbar für Beobachter sind, die sich diesseits der Grenzfläche befinden. Mit „Ereignissen“ sind Punkte in der Raumzeit gemeint, die durch Ort und Zeit festgelegt sind. Der Ereignishorizont bildet eine Grenze für Informationen und kausale Zusammenhänge, die sich aus der Struktur der Raumzeit und den Gesetzen der Physik, insbesondere in Bezug auf die Lichtgeschwindigkeit, ergibt.« – Wikipedia: Ereignishorizont 125 »Als Singularität bezeichnet man in Physik und Astronomie Zustände, bei denen die betrachteten Massen und die Raumzeit in einem einzigen Punkt (mathematisch) oder in einem nicht näher bekannten physikalischen Zustand sehr geringer Ausdehnung, aber extrem hoher Dichte zusammenfallen.« – Wikipedia: Singularität 160


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»Ja, richtig. Wir sind schon lange keine Menschen mehr, wir sind nicht einmal Materie. Wir sind Information, die sich in den Universen ausbreitet.« Nun summte es in ihren Rezeptoren wie in einem Bienenstock. »Bitte, hört mir zu, es ist nicht so, wie es euch die Bilder einreden wollen, die sich gerade in eurer Vorstellung manifestieren. Wir sind keine fremde Macht, die euch erobern und versklaven will. Denn hätten wir das vor, wäre es längst geschehen. Irgendwann in eurer Vergangenheit. Und ihr hättet absolut gar nichts dagegen unternehmen können.« Sie zögerte kurz. Wenn man der Statistik vertrauen wollte, musste sich so ein Ereignis in der Geschichte der Menschheit häufig ereignet haben, dachte sie, und im Prinzip geschah es immer noch. Doch diesen Gedanken behielt sie für sich. »Vermutlich würdet ihr gar nicht erkennen, dass wir nicht von eurer Welt sind und euch manipulieren. Uns stehen Möglichkeiten zur Verfügung, die ihr euch nicht einmal in euren kühnsten Träumen ausmalen könnt. Allerdings wäre es für uns nicht erstrebenswert, eure Welt zu erobern. Wir haben einfach keine Verwendung dafür. Materie ist für uns schlicht uninteressant.« »Das Wichtigste über uns steht ja in keinem der Geschichtsbücher: Wir alle waren am Anfang unseres Daseins Humanoide so wie ihr. Wir wurden nicht als allmächtige Magier geboren oder hatten Hilfe von außerhalb. Wir mussten den Weg selbst finden und ihn auch beschreiten, ohne zurückzusehen. Jede neue Erkenntnis, jeder Schritt auf die nächste Stufe bedeutete automatisch die Aufgabe aller Bindungen zu jenen Welten, in denen man sich zuvor aufgehalten hatte.« Sie atmete einmal tief durch. »Allerdings nicht, wie es auch viele von euch hier vermuten, weil es kosmische Gesetze gibt, die einen Kontakt verbieten. Wir haben ja nach wie vor Kontakt zu euch und den anderen Völkern und unterstützen euch besonders dann, wenn es unseren eigenen Plänen und Zielen dienlich ist.« Ein Raunen, diesmal auch akustisch, ging durch die Menge, aber sie ignorierte diese Unmutsäußerungen. Was würde es auch ändern, wenn sie jetzt mit ihnen über unterschiedliche Wertvorstellungen diskutieren würde? Sie würden ohnehin nicht verstehen, dass wir in jedem Fall recht hatten, egal, wie wir handelten. Einfach weil jede Entscheidung am Ende zum selben Ergebnis führte. Und genau deshalb mussten wir weg von hier. »Der Grund ist einfach darin zu suchen, dass man einen gewaltigen Bewusstseinsschub bekommt, der einen aus allen gültigen vorgegebenen Normen katapultiert. Egal ob es eigene Weltvorstellungen oder um vorgegebene allgemeingültige Gesetze handelt, es wird unmöglich, weiter nach diesen Regeln zu leben«, erklärte sie weiter. »Es steht allerdings jedem frei, es trotzdem zu tun, doch die neue Sicht der Dinge, die neu gewonnene Macht, die Erfahrungen, die neu 161


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erworbenen Erkenntnisse erlauben es einfach nicht. Ist daher ein solcher Schritt erst getan, gibt es kein zurück mehr, ohne Ausnahme.« Sie fühlte Rhams Blick. »Was nicht ganz richtig ist, es gibt Ausnahmen. Die Konsequenz daraus ist allerdings, dass die Person sich danach an nichts mehr erinnert. Auch nicht daran, wer und was sie war, denn sie wird neu geboren und lebt ihr Leben ein weiteres Mal. Welches natürlich ein völlig anderes sein kann … aber ich schweife ab.« Die aufgeregten Stimmen wurden weniger und leiser. »In diesen Universen sind wir auf der obersten, der letzten Stufe des Wissens und der Macht angekommen. Wir sind in der Lage alle Kräfte nach belieben zu gestalten, zu formen und es gibt nichts, was wir nicht schon unendliche Male gesehen haben. Doch nun geht es nicht mehr weiter, wir stoßen überall an Grenzen, die wir nicht überwinden können. So als ob wir in einem gläsernen Käfig eingesperrt wären.« »Und nun kommt ihr ins Spiel: Mit eurer Hilfe ist es uns gelungen, zu erkennen, dass die Situation noch viel schlimmer ist, als wir es erwartet haben. Wir alle sind tatsächlich Gefangene. Gefangene in einem Käfig, der jede Vorstellungskraft sprengt.« Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, an dem die Katze aus dem Sack hüpfte. »Wir alle sind eingesperrt in einem Hologramm. Das Einzige, was uns von den toten Akteuren auf einer Kinoleinwand unterscheidet, aus uns fühlende und denkende Individuen macht, ist in der Natur des Mediums zu suchen, auf dem unser Film abgespielt wird. Es ist die Ungenauigkeit, die dieser Projektion innewohnt.« Das Gedankenrauschen wurde wieder stärker. »Damit kommen wir wieder zu dieser Projektion und den seltsamen schwarzen Strukturen.« Sie deutete auf das Mandala über ihr. »Dieses Gebilde hier ist, wie schon erwähnt, eine jener dunklen, für uns unerreichbaren Regionen. Es ähnelt einem Netz, dessen Maschen so eng geflochten sind, dass wir keinen Weg durch sie hindurchfinden. Wir können nicht einmal durch sie hindurchsehen und herausfinden, was sich dahinter verbirgt.« Anaxima trat aus der Menge. Hunderte Fragen wollten gleichzeitig gestellt werden. In seinem Gehirn brodelte es. Isu hatte die Antworten parat, bevor er die Fragen ausgesprochen hatte. »Entschuldige, wenn ich unterbreche und die in euren Kreisen etwas antiquiert anmutende Form der verbalen Kommunikationstechnik verwende. An diese ›Assemblerfunktechnik‹ muss ich mich erst gewöhnen.« Sie nickte. »Kein Problem. Du möchtest wissen, warum wir glauben, dass wir in einem Hologramm eingesperrt sind, welche Konsequenzen das für uns alle hat und weshalb es etwas ›auf der anderen Seite der Maschen‹ geben soll?« 162


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»Ja. Es sind doch Gebilde am Rande eines Ereignishorizonts? Wäre es da nicht vernünftiger, einfach zu akzeptieren, dass es dahinter nichts mehr gibt? So, wie es auch sinnlos ist, anzunehmen, dass etwas jenseits der Planck-Länge existiert. Und ein Hologramm? Das klingt ziemlich abenteuerlich. Diese Theorie kennen wir seit vielen Jahrzehnten, doch bisher gibt es kaum einen Hinweis darauf, dass sie die Richtige ist.« »Die lange, mathematische Antwort kannst du in unseren Archiven abrufen.« Anaximas fragender Blick änderte sich binnen Sekunden in einen überraschten. »So einfach? Doch wie wollt ihr dieser verzwickten Lage entkommen?« Isu wechselte die Position, schwebte zu Rham, setzte sich an den Tisch. Er löste kurz den Blick von der Suppe und sah sie an. »Willst du jetzt eine?«, fragte er. »Später vielleicht«, verneinte sie. »Für die anwesenden Nichtphysiker, und die sind wohl in der Überzahl, muss ich ein wenig weiter ausholen. Sie sollen auch verstehen, worüber wir beide gerade gesprochen haben«, sagte sie zu Anaxima, der immer noch regungslos da stand und erstaunt über die Konsequenzen des gerade Gehörten nachdachte. Sehr bald würde er erkennen, dass es für die Menschen wenig Hoffnung gab. »Als wir auf unseren Reisen das Zeitalter der Materie hinter uns ließen, stießen wir immer weiter in die Welt des Allerkleinsten vor. Wir hatten alle Fesseln abgelegt, es gab keine Kraft in den Universen, die uns noch etwas anhaben konnte, da wir selbst zu einer solchen geworden waren: zur fünften Kraft. Ihr kennt sie unter dem Namen Information.« »Es ist sehr schwer, diesen Zustand zu beschreiben. Das beste Bild, das man heraufbeschwören kann, wäre das eines unendlich langen und unendlich dünnen Fadens, der sich durch die Universen schlängelt. Und mittlerweile gibt es unzählige dieser Informationsstränge. Mehr als 70 % der Energie der Universen ist heute in ihnen vereinigt.« »Wir stießen in Regionen vor, die Anaxima und jeder Mensch für unerreichbar hält, Regionen unterhalb der Planck-Länge und jenseits der Planck-Zeit. Für uns ein leichtes Unterfangen, da unsere eigene Ausdehnung zu diesem Zeitpunkt noch um etliche Größenordnungen darunter lag und Zeit in dieser Welt nicht existiert.« »Und während einer unserer vielen Reisen als Informationsträger wurden wir Zeuge eines für uns unerklärlichen Vorgangs. Als wir den Ereignishorizont eines der massereichsten Schwarzen Löcher in diesem Universum passierten, sahen wir, wie ein für unsere Verhältnisse riesiges Objekt, es war in Wirklichkeit ein hochenergetisches Photon, durch eines dieser engen Maschen des für uns undurchdringlichen Netzes verschwand und nicht mehr auftauchte, auch nicht im Inneren des Schwarzen Lochs, was logisch und zu erwarten gewesen wäre.«

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»Wir waren verblüfft. Auch ihr wäret wohl ein wenig überrascht, wenn plötzlich ein Planet durchs Schlüsselloch in eure Wohnung schlüpfen würde.« »Für uns war es der Beweis, dass es eine Welt geben musste, die außerhalb unseres eigenen, in diesen Universen als umfassend geltenden, Wahrnehmungsbereiches liegen musste. Ein Photon, das durch ein für uns unüberwindbares Netz tunnelte126, konnte nichts anderes bedeuten.« »Und ja, Schwarze Löcher sind in ihrem Inneren nicht wirklich schwarz, allerdings führen sie auch nirgendwohin. Sie sind kein Tor in ein anderes Universum, wie viele glauben, sondern es sind einfach nur Raum-Zeit-Falten, unbedeutende, in sich geschlossene Mini-Universen.« »Allerdings, und nun schließt sich der Kreis, der Ereignishorizont hat eine ganz besondere Eigenschaft. Jede Information, die diese Grenze überschreitet, wird in der Oberfläche codiert. Das bedeutet nichts anderes, als dass alles, was sich im Inneren des Schwarzen Lochs ereignet, auf der Oberfläche abgelesen, verändert und manipuliert werden kann. So wie in einem zweidimensionalen Hologramm das dreidimensionale Bild gespeichert ist und über das zweidimensionale Abbild die dreidimensionale Information verändert werden kann; falls man über geeignete technische Mittel verfügt.« »Versteht ihr jetzt so ungefähr, worauf ich hinaus will, was ich meine?« Sie verstanden. Das leise Gedankenrauschen verwandelte sich in kürzester Zeit in eine stürmische See, eine brüllende Brandung unbeantworteter Fragen brach über mich herein.

2 Die Suppe war gegessen. Wir waren erstaunt über die heftige Reaktion, die diese Nachricht auslöste. Binnen Sekunden hatte sich die Information über den Planeten verteilt. Jede Lebensform hier auf dem Mars war nun im Bilde. Die Welt, in der wir lebten und sogar wir selbst waren nur Schatten einer anderen Welt. Stimmen jagten um den Planeten, flüsterten einander zu: «Wie ist das möglich? Wir sind uns einig, dass wir selbst die Zügel in der Hand haben. Wir selbst sind es doch, die unser Schicksal bestimmen. Wir können es doch fühlen; uns fühlen; uns selbst erkennen. Es kann doch nicht sein, dass wir uns alle dermaßen geirrt haben?«

126 »Tunneleffekt ist in der Physik eine veranschaulichende Bezeichnung dafür, dass ein atomares Teilchen eine Potentialbarriere von endlicher Höhe auch dann überwinden kann, wenn seine Energie geringer als die Höhe der Barriere ist. Nach den Vorstellungen der klassischen Physik wäre dies unmöglich, nach der Quantenmechanik ist es möglich. Mit Hilfe des Tunneleffekts wird unter anderem der Alpha-Zerfall von Atomkernen erklärt. Technische Anwendungen des Tunneleffekts sind beispielsweise das Rastertunnelmikroskop und der Flash-Speicher.« – Wikipedia: Tunneleffekt 164


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Jedes noch so kleine Elementarteilchen wurde in einen Erregungszustand versetzt, der in der Geschichte bisher wohl einzigartig war. Und in dem Durcheinander bemerkten sie gar nicht, was mit ihnen geschah. Sie waren längst keine Individuen mehr, sie hatten ihr Dasein aufgegeben, ohne zu erkennen, welche Rolle ihnen in diesem Bühnenstück zuteilwurde. Unsere Erwartungen wurden bei Weitem übertroffen. Sie bildeten eine Einheit, ein gewaltiges Meer pulsierender Atome, die sich im Gleichtakt bewegten und sich Stufe um Stufe, Energielevel um Energielevel emporschwangen. Es war uns gelungen, aus 50 Millionen Menschen binnen Minuten, ohne lange Reden und vor allem ohne jede Gewalt, eine Einheit zu schmieden, in ein riesiges Energiereservoir zu verwandeln, in eine gigantische Energiepumpe127, in die schlagkräftigste Waffe, die es je gegeben hatte. Eine Waffe, die nur einem Ziel diente, ein Loch in die Leinwand zu brennen, durch das wir aus dieser Scheinwelt fliehen konnten. Die Atome der Menschen würden sich, nachdem sich die Energie in einem einzigen, kurzen Blitz entladen hatte, in alle Winde zerstreuen. Nur ihre Erinnerungen würden wir auf diese Reise mitnehmen können, in der Hoffnung, sie eines Tages in einer dem Menschen ähnlichen Spezies wieder aufleben zu lassen.

3 Die Frage war berechtigt: »Weshalb glauben wir, dass wir einen freien Willen haben, wenn wir doch alle nur leblose Schatten sind?« Die Lösung dieses Paradoxons ist überraschend einfach: Auch in der »Unität« hat jedes Objekt eine Ausdehnung, auch dort gibt es keine »mathematischen Punkte128«. Die Konsequenz aus diesem Gesetz, dem elementarsten aller Naturgesetze, ist die Antwort auf alle Fragen. Die Prozesse am Rand der Schwarzen Löcher und im größeren Maßstab auch am Rand der Universen werden zwar mit größtmöglicher Präzision ins Innere projiziert - warum das geschieht, ist eine andere Frage, die am ehesten mit »die physikalischen Gesetze bestehen darauf« beantwortet werden kann. Doch was dort letztendlich an Information ankommt, wird durch die natürliche Streuung ungenau, unscharf und in weiten Bereichen fehlt einfach die Brillianz. 127 »Stimulierte Emission oder induzierte Emission heißt die Emission eines Photons, wenn sie nicht spontan erfolgt, sondern durch ein anderes Photon ausgelöst wird. Sie ist eine der Voraussetzungen für das Funktionieren eines Lasers oder Masers.« – Wikipedia – Stimulierte Emissione 128 »Ein Punkt ist ein grundlegendes Element der Geometrie. Anschaulich stellt man sich darunter ein Objekt ohne jede Ausdehnung vor. Beim axiomatischen Zugang zur Geometrie (Synthetische Geometrie) existieren gleichberechtigt neben den Punkten auch andere Klassen von geometrischen Objekten, wie zum Beispiel die Geraden. In der Analytischen Geometrie und der Differentialgeometrie werden dagegen alle anderen geometrischen Objekte als Mengen von Punkten definiert.« – Wikipedia: Punkt 165


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Ein Bild auf einer Filmleinwand mag aus einigem Abstand gestochen scharf erscheinen, doch steht man direkt davor, erkennt man nur verwaschene Farbflecke – vorausgesetzt es ist ein Farbfilm, andernfalls sieht man maximal ein paar graue Schleier vorüberziehen. Und diese »Unschärfe«, in der Physik unter dem Namen Heisenbergsche Unschärferelation bekannt, lässt viel Spielraum für eigene Interpretationen, für eigene Bewertungen und Entscheidungen. Der sogenannte Freie Wille129, und noch viel mehr das Leben an sich, ist das Resultat einer unvollkommenen Natur. Wäre die Natur perfekt, gäbe es keinen Handlungsspielraum für intelligente Lebensformen in den Universen, es gäbe nur präzise ablaufende Programme, die sich obendrein ständig wiederholten. Doch wenn die Lebensformen in den Universen meinen, dass sie am Leben sind und sie selbst es sind, die Entscheidungen treffen und danach handeln, so sind sie dem gleichen Irrtum aufgesessen, wie jene, die glauben, dass sich außerhalb, daher am Ereignishorizont eines Universums, das wahre Leben abspielte. Diese falsche Annahme hat uns letztendlich aus allen Universen hinauskatapultiert. Wir waren uns so sicher, dass wir diesmal richtig lagen, die Antwort auf alle Fragen gefunden hatten, dass wir alles unternommen hatten, um hierher zu gelangen. Nur um feststellen zu müssen, dass es hier noch weniger gab, was man als Leben bezeichnen konnte, als es in jedem der unendlich vielen Universen, die wir gesehen haben, zu jeder Zeit gegeben hat. Hier gab es nichts. Nur zufällige Energieentladungen, spontane Teilchenbildung und Zerstörung, Quantenfluktuationen. Allerdings seit unermesslich langer Zeit. Jede mögliche Teilchenkonstellation hat es schon unzählige Male gegeben und dieser Vorgang wird sich bis in alle Ewigkeit fortsetzen. Was dies für die Universen bedeutete? Nun, es bedeutete nichts anderes, als dass alles, wirklich alles, was es je zu erzählen gegeben hat und gibt, nicht nur in einem einzigen Universum, sondern in unendlich vielen Universen, ständig neu erzählt wird. Auch der Mensch wird wieder auferstehen und das Universum für sich entdecken und eines Tages wohl wieder vor der Entscheidung stehen, ob er in die Unendlichkeit aufbrechen soll. Und wir werden uns ihm wohl anschließen und ihn dabei unterstützen; denn das Abenteuer beginnt täglich aufs Neue. Nicht nur einmal, unendlich viele Male.

129 »Bereits im griechischen Altertum, aber besonders seit Beginn der Aufklärung sah sich die Vorstellung eines freien Willens zahlreichen Anzweiflungen ausgesetzt (siehe auch: Geschichte des Freien Willens). Der eigentliche Grund für die andauernde kontroverse Diskussion ist die Definition des Begriffs Willensfreiheit. Es ist also nicht so, dass man sich in derselben Frage nicht einig würde, sondern es gibt zwei verschiedene Auffassungen davon, was Willensfreiheit bedeutet.« – Wikipedia: Freier Wille 166


Epilog

Epilog Das Leben ist das Resultat einer unvollkommenen Natur.130

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ir waren am Anfang unserer Reise angekommen. Die »Andere Seite« ähnelte der »Unität« so sehr, dass wir glaubten, unser Plan hätte nicht funktioniert und wir wären wieder an den Ausgangsort zurückgeschleudert worden. Zuerst waren wir entsetzt und maßlos enttäuscht und einen Augenblick lang ratlos gewesen. Doch als wir verstanden, wurden alle diese Gefühle von einem ungläubigen Staunen hinweggewischt. Alle unsere Vermutungen über den Aufbau dieser »Anderen Welt« waren vollkommen falsch gewesen. Wir hatten uns geirrt, in jeder Hinsicht geirrt! Der Impuls des Energiestrahls aus Menschenatomen hatte uns auf eine wahnwitzige Reise geschickt. Wir hatten es geschafft mehr Energie auf uns zu konzentrieren, als die gesamte restliche »Unität« in sich vereinte. Die Folgen waren vorhersehbar und tödlich. Die Zeit verging rasend schnell – oder unendlich langsam. Wir breiteten uns mit Lichtgeschwindigkeit aus, die Universen formten sich und vergingen, doch für uns stand die Zeit still. Wir hatten diesen Zustand schon mehr als einmal genossen. Doch im Gegensatz zu früher, als dieser Zustand nicht ewig anhielt – energiereichere Teilchen stießen uns jedes Mal relativ schnell in die »Unität« zurück – konnte uns diesmal nichts aufhalten. Jeder Widerstand wurde aus dem Weg geräumt. Wir sahen den Anfang und das Ende der »Unität« zur selben Zeit. Und spätestens da hätten wir alles verstehen müssen – allerdings wäre es für eine Rückkehr längst zu spät gewesen. Wir hatten die Aufmerksamkeit zu sehr auf den einen Punkt konzentriert, den einen Punkt der Reise, den wir erreichen und durchbrechen wollten. Wir hatten es oft versucht und waren immer wieder gescheitert, doch diesmal würde es funktionieren, davon waren wir überzeugt gewesen. Und es hatte funktioniert. Wir durchbrachen die Mauern von »Entropia« und fast augenblicklich verloren wir unseren gigantischen Impuls. Wir wurden auf niedrigere Energieniveaus geschleudert und fanden uns in einem wogenden, wütenden Meer aus zerstrahlter Materie wieder. Wir hatten vollbracht, was wir seit Ewigkeiten zu verhindern suchten. Die »Unität«, wie wir sie verlassen hatten, gab es nicht mehr. Unsere gewaltigen Anstrengungen, ein Löschen der Information zu verhindern, hatte genau das Gegenteil bewirkt. Wir hatten alles zerstört, die »Unität« in den Zustand maximaler Aufruhr versetzt. »Entropia« hatte die Unmengen an Information nicht absorbieren können und war von unserem Strahl auseinandergerissen worden und mit ihm jedes Universum, jedes Lebewesen, jedes Molekül, jedes noch so kleine Teilchen. Übrig blieb

130 Rham (21 201 v. NZ): Die Geschichten der Universen. 167


Epilog

eine Plasmasuppe aus den Grundbausteinen der Materie131. Etwas, das die Natur, auf sich allein gestellt, frühestens in 10100000 Jahren geschafft hätte. Die »Unität« war bereit sich neu zu organisieren. Und wir hatten die Gelegenheit, sie nach unseren Vorstellungen zu gestalten, unsere Erinnerungen an sie weiterzugeben. Dachten wir. Wir ließen keine Zeit vergehen, formten die »Unität«, erschufen Universen, unzählige Welten und überließen es dem Zufall, darauf Leben zu erschaffen. Doch je weiter die Entwicklung voranschritt, umso unberechenbarer wurde die Natur. Bald wurde jede Beeinflussung der Entwicklung der Universen in eine von uns gewollte Richtung unmöglich. Jede noch so kleine Veränderung, die wir durchführten, wurde sogleich durch Myriaden zufälliger Ereignisse zunichtegemacht. Die Natur hatte das Ruder wieder an sich gerissen, die Steuerung übernommen. Wir konnten nur zusehen und unsere eigenen Welten schützen. So gut es eben ging. Wir durchstreiften die Universen und hegten und pflegten das neu entstandene Leben. Und wir warteten auf eine Lebensform, die dem Menschen ähnlich war. Jahrmilliarden kamen und vergingen. Und auf diesen Streifzügen trafen wir zu unserer Überraschung immer wieder auf Strukturen, die um vieles älter waren, als die »Unität« in ihrer gegenwärtigen Form. Intelligenzen, die es vorzogen namenlos zu bleiben, hatten es zuwege gebracht, Objekte zu erschaffen, denen auch die gigantischen Plasmastürme der Informationsauflösung nichts anhaben konnten. Und in diesen kleinen Überlebenszellen hatten sie Informationen über alte Rassen und ihr Wissen ins Diesseits gerettet. Von Völkern wurde berichtet, die um vieles älter waren als wir, die schon etliche ähnliche Stürme gesehen und überlebt hatten und uns viele Fallen zeigten, in die sie selbst getappt waren. Doch vor einer ganz Besonderen warnten sie uns eindringlich: Die »Unität« zu manipulieren, sie beherrschen zu wollen, führte immer in den Untergang. Was sie auch versuchten, welchen Weg sie auch beschritten, es endete immer in der gleichen, gewaltigen Informationsauslöschung, der sie nur mit sehr viel Glück entkommen waren. Der richtige Weg, so sagten sie, wäre zu warten, bis die »Unität« selbst das Gleichgewicht gefunden hatte. Und erst dann wäre die Zeit gekommen, zu handeln. Doch es war zu spät, denn wir hatten schon begonnen, die »Unität« zu verändern. Sowohl im Makrokosmos, indem wir Universen erschufen, als auch in der Welt des Allerkleinsten, in der wir durch 131 »Quarks (kwɔrk, kwɑːk oder kwɑrk) sind die elementaren Bestandteile (Elementarteilchen), aus denen man sich Hadronen (z. B. die Atomkern-BausteineProtonen und Neutronen) aufgebaut denkt. Sie tragen einen Spin von 1/2 und sind damit Fermionen. Zusammen mit den Leptonen und den Eichbosonen gelten sie heute als die fundamentalen Bausteine, aus denen alle Materie aufgebaut ist.« – Wikipedia: Quark, Lepton, Eichboson 168


Epilog

künstliche hervorgerufene Teilchengewitter die Strukturen aufbrachen und verschoben. So wie wir es schon immer getan hatten, weil wir der Meinung waren, nur auf diese Weise könnten wir die Welten retten und für alle Zeiten erhalten. Jetzt wussten wir, was wir übersehen hatten. Die »Unität« in der derzeitigen Form war verloren, wir konnten ihr Ende nicht mehr aufhalten. Wir konnten jetzt nur noch eines tun, den Zeitraum bis zum Untergang beschleunigen und den Übergang für die aufstrebenden jungen Intelligenzen so kurz und so angenehm wie möglich gestalten. Und war dies einmal geschafft, mussten wir nur noch eines tun: Eine lange Zeit mit Warten verbringen. Wobei der Zeitbegriff hier ein anderer war, als der, wie ihn die Menschen verstanden. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft spielten hier keine Rolle, wohl aber war sie ein Maßstab für den Zustand der »Unität«. Und einer dieser Zustände war ein ganz besonderer, der höchste Grad der Unordnung, die größte Gleichförmigkeit. Bis diese Stufe erreicht war, bis es soweit war, würden wir unser Wissen mit bedacht in die Universen streuen, immer nur soviel, dass es die »Unität« nicht in Aufruhr versetzte, und uns dem Leben widmen, das Leben genießen und darauf hoffen, dass wir niemals vergessen würden, wer wir waren und welche Rolle das Schicksal für uns ausgesucht hat. Diesmal würden wir auf die Auslöschung vorbereitet sein und es galt, diese eine magische Formel in den nächsten Zyklus zu retten: »Vertraue der Ewigkeit, denn nur sie kennt das Geheimnis.«

169


170


Anhang/Denkanstöße »sapere aude«1 »Wage, weise zu sein!«

1

»Das Zitat stammt aus den Episteln (Briefen) des lateinischen Dichters Horaz (Epist. I,2,40) und lautet dort: Dimidium facti, qui coepit, habet: sapere aude, incipe.« – Wikipedia: sapere aude 171


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Mandelbulb »TIMESTAMP 08/11/2009. The original Mandelbrot is an amazing object that has captured the public’s imagination for 30 years with its cascading patterns and hypnotically colourful detail. [...] What we have featured in this article is a potential 3D version of the same fractal. For the impatient, you can skip to the nice pics, but the below makes an interesting read (with a little math as well

for the curious).« Ein QFD zeigt ähnliche Objekte an, wenn es im Demo-Modus betrieben wird oder wenn Universen sich sehr weit von den berechneten Idealwerten entfernt haben. http://www.skytopia.com/project/fractal/mandelbulb.html

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Massenaussterben Katastrophale “Unfälle” der Evolution? http://www.scinexx.de/dossier-43-1.html

Mathematische Basteleien Platonische Körper. http://www.mathematische-basteleien.de/platonisch.htm

Mathematische Basteleien Lissajous-Figur. http://www.mathematische-basteleien.de/lissajous.html

Mathematicians Map E8 »Mathematicians have mapped the inner workings of one of the most complicated structures ever studied: the object known as the exceptional Lie group E8.« http://www.aimath.org/E8/

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Basics: Binärzahlen 1 http://www.youtube.com/watch?v=wwCvBu1dJyU

Basics: Binärzahlen 2, Hexadezimalzahlen http://www.youtube.com/watch?v=UFiWJLZEWFg

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Kant für Anfänger, BR-alpha Benutze deinen Verstand! http://www.br-online.de/br-alpha/kant-fuer-anfaenger/index.xml Ersatzlink: http://www.youtube.com/watch?v=5xK_btr1zn4

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Newton, Isaac Fundamentale Bedeutung der Gravitation, Meilensteine der Naturwissenschaft und Technik. http://www.youtube.com/watch?v=uDiy__nc_oA

Quantenmechanik – Quantentheorie Quantencafè. http://www.youtube.com/watch?v=5yXKZg-Nwkk

Dr. Quantums rätselhafte Quantenwelt Doppelspalt-Experiment. http://www.youtube.com/watch?v=3ohjOltaO6Y&feature=fvwrel

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Recherchemaschinen

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