Markus Rothhaar - Der manipulierbare Embryo

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Markus Rothhaar 24.08.2009

Der manipulierbare Embryo: Konsequenzen für das Spezies- und das Potentialitätsargument

Problemaufriss In der Debatte um den ontologischen, moralischen und rechtlichen Status menschlicher Embryonen spielen das Spezies- und das Potentialitätsargument ohne Zweifel eine herausgehobene Rolle. Im Rahmen der so genannten SKIP-Argumente, die versuchen, den Menschenwürde- und Menschenrechtsstatus ungeborener menschlicher Lebewesen zu begründen, wird gerade ihnen häufig die stärkste argumentative Kraft zugesprochen. Auch jenseits philosophischer Fachdiskurse entfalten das Potentialitäts- und das Speziesargument oft eine große Überzeugungskraft, die darauf hindeutet, dass beide Argumente einen starken lebensweltlichen

Anhalt

besitzen

oder

jedenfalls

an

tief

verankerte

kulturelle

Überzeugungsmuster anknüpfen können. Die diskursprägende Kraft beider Argumente zeigt sich nicht zuletzt auch darin, dass sie

in

Deutschland

selbst

für

die

einschlägigen

rechtlichen

Regelungen

zur

Stammzellforschung, nämlich das Embryonenschutzgesetz (EschG) von 1990 und das Stammzellimportgesetz (StZG) von 2002, die definitorische Grundlage für die Festlegung des Schutzbereichs beider Gesetze bilden. So gilt für das Embryonenschutzgesetz als „Embryo“, dem

alle

Schutzbestimmungen

des

Gesetzes

gelten,

„bereits

die

befruchtete,

entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an, ferner jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag“ 1. Das Stammzellgesetz geht dann einen weiteren Abstraktionsschritt darüber hinaus und definiert als „menschlichen Embryo“ bereits „jede menschliche totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag“ 2. Ungeachtet der dem Regelungsziel und auch dem jeweiligen technischen Stand der Zeit entsprechenden Unterschiede3 ist beiden Legaldefinitionen gemein, dass sie offensichtlich zur Beschreibung ihrer Schutzbereiche auf Potentialität – in Form der Totipotenz und der Entwicklungsfähigkeit – und auf Spezieszugehörigkeit – in Form der biologischen Zuordenbarkeit der betreffenden Zelle oder des Embryos zur menschlichen 1

Embryonenschutzgesetz (EschG), § 8, Abs. 1. Stammzellgesetz (StZG), § 3, Abs. 4. 3 Das EschG spiegelt deutlich den Stand der biotechnischen Entwicklung um 1990 wieder, als es neben der natürlichen oder künstlichen Befruchtung und dem sogenannten „Embryonensplitting“ keine weitere Möglichkeit zur Erzeugung menschlicher Embryonen bzw. totipotenter menschlicher Zellen gab. 2

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Spezies – abzielen. Beide Kriterien der Definition, Potentialität und gattungsmäßige Zuordenbarkeit, werden schließlich in der Bestimmung einer „Entwicklung zum Individuum“ zusammengedacht. Darin werden die Kriterien nicht einfach nur zusammengeführt, sondern zugleich auf einen Fluchtpunkt hingeordnet, der über die bloße biologische Zuordenbarkeit hinausweist: die Entwicklung der Zelle bzw. der Zellverbände zu einem individuellen Mitglied der Spezies Mensch. Nicht zuletzt ist darin auch der Grund angedeutet, um dessentwillen der Schutz der von den Legaldefinitionen umfassten Lebewesen erfolgt. Vor dem Hintergrund der philosophischen, medizinethischen und nicht zuletzt juristisch herausgehobenen Bedeutung von Spezieszugehörigkeit und Potentialität werden solche biotechnische Entwicklungen zu einer besonderen Herausforderung, die entweder die eindeutigen Grenzen zwischen den Spezies verwischen oder das Entwicklungspotential von Embryonen beeinflussbar und manipulierbar machen, sei es indem Körperzellen künstlich bestimmte Entwicklungspotentiale induziert werden, sei es indem das Entwicklungspotential von Embryonen mittels gentechnischer Manipulationen gestört bzw. ganz zunichte gemacht wird. Hinsichtlich der Speziesproblematik wären dabei in erster Linie diejenigen auf der genetischen Ebene speziesübergreifenden Lebewesen zu nennen, die durch Einbringung somatischer menschlicher Zellkerne in entkernte tierische Eizellen entstehen und die aufgrund der im Plasma verbleibenden mitochondrialen DNA dementsprechend einen geringen Anteil des tierischen Genoms aufweisen. In der Öffentlichkeit werden diese Lebewesen häufig mit dem Begriff „Chimäre“ bezeichnet; im fachwissenschaftlichen Diskurs wird dagegen in der Regel der treffendere Begriff „cytoplasmic hybrid embryo“ oder kurz „cybrid“ verwendet.4 Bereits 2003 berichteten chinesische Forscher, sie hätten 14 Stammzelllinien aus derartigen Kaninchen-Mensch-Cybriden gewonnen5. Im europäischen Bereich bildet Großbritannien den Vorreiterder Arbeit mit Cybriden. So hat die britische Human Fertilization and Embryology Authoriy (HFEA) die Herstellung solcher Lebewesen im September 2007 für Großbritannien grundsätzlich erlaubt6. Hinsichtlich des Potenzialitätsarguments werden entsprechende Fragen durch neue biotechnische Möglichkeiten der Manipulation des Entwicklungspotentials von Zellen aufgeworfen. So haben Meissner und Jaenisch 2005 mittels somatischen Zellkerntransfers

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Vgl. dazu die Stellungnahme der britischen Human Fertilization and Embryology Authority (HFEA) vom April 2007 (HFEA, Hybrids and Chimeras, London 2007. Im Internet unter: http://www.hfea.gov.uk/docs/Hybrids_Report.pdf, zuletzt aufgerufen am 24.08.2009). 5 Y. Chen u.a., Embryonic stem cells generated by nuclear transfer of human somatic nuclei into rabbit oocytes, in: Cell Research 13,4 (2003), S. 251-263. 6 Die Pressemitteilung findet sich im Internet unter: http://www.hfea.gov.uk/en/1581.html, zuletzt aufgerufen am 24.08.2009.

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(Klonen) Mäuseembryonen aus Fibroblasten erzeugt,7 bei denen das Cdx2-Gen durch gentechnische Manipulation deaktiviert war. Die so erzeugten Embryonen besaßen keinen funktionsfähigen Trophoblasten, konnten sich dementsprechend nicht in einen Uterus einnisten und waren insofern auch nicht entwicklungsfähig. Zumindest theoretisch könnte ein solches Verfahren auch bei geklonten menschlichen Embryonen angewandt werden. Umgekehrt existieren auch Möglichkeiten, Entwicklungspotentiale nicht nur zu hemmen bzw. zu blockieren, sondern sie hervorzurufen und gleichsam „herzustellen“. So ist bereits seit 1993 das Verfahren der tetraploiden Embryokomplementation8 bekannt, mit dessen Hilfe sich im Mausmodell aus embryonalen Stammzellen, die für sich genommen nur pluripotent sind, ganze Organismen klonen lassen. Die zunächst nur pluripotenten Stammzellen können durch dieses Verfahren also offenbar in einen Zustand der Totipotenz versetzt werden. Es gibt kaum einen Zweifel, dass dieses bei Mäusen seit fast zwei Jahrzehnten angewandte Verfahren auch mit humanen embryonalen Stammzellen funktionieren würde.9 Eine ähnliche Problematik eröffnet sich hinsichtlich der so genannten induzierten pluripotenten Stammzellen (ipSZellen), bei denen eine somatische Zelle (i.d.R. eine Fibroblast-Zelle) durch Transfektion stammzellrelevanter Gene in einen Zustand der Pluripotenz versetzt wird. Auch ipS-Zellen lassen sich mittels tetraploider Embryokomplementation zu einem vollständigen Organismus entwickeln, sodass hier letztlich eine komplette Sequenz von der somatischen Zelle über das Pluripotenz- zurück in das Totipotenz-Stadium ins Werk gesetzt werden kann. Zudem können ipS-Zellen relativ problemlos zur Klonierung verwendet werden, indem sie in einen bereits existierenden frühen Embryo eingebracht werden. Auch dies könnte man dahingehend interpretieren, dass die ipS-Zellen in so etwas wie einen „totipotenten Zustand“ rückversetzt werden. Jeder philosophisch-medizinethische Rekurs auf Potentialitäts- und Speziesargument muss sich zu diesen neuen biotechnischen Möglichkeiten ebenso verhalten wie das Recht, das in seinen Legaldefinitionen auf Potentialität und Spezieszugehörigkeit beruht. Dieses SichVerhalten von Ethik und Recht zu biotechnischen Entwicklungen weist verschiedene Ebenen und Stoßrichtungen auf. Auf der einen Ebene stellt sich die Frage, welchen ethischen, ontologischen und rechtlichen Status potentialitäts- und speziessmanipulierte Embryonen haben, bzw. welcher ihnen zuzusprechen ist und wie sie in rechtlicher Hinsicht zu behandeln

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A. Meissner/R. Jaenisch, Generation of nuclear transfer-derived pluripotent ES cells from cloned Cdx2deficient blastocysts, in: Nature 439 (2006), S. 212-215. 8 A. Nagy u.a., Derivation of completely cell culture-derived mice from early-passage embryonic stem cells, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA 90 (1993), S. 8424-8428. 9 Vgl. dazu H.-W. Denker, Potentiality of embryonic stem cells. An ethical problem even with alternative stem cell sources, in: Journal of Medical Ethics 32 (2006), S. 665-671.

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sind. Auf einer weiteren Ebene stellt sich dann aber auch die Frage, welche Konsequenzen die neuen biotechnischen Möglichkeiten für die Argumente selbst haben, d.h. ob und in welcher Hinsicht das Spezies- und das Potenzialitätsargument in sich dadurch problematisch werden, dass Spezieszugehörigkeit und Entwicklungspotential von Embryonen nicht mehr selbstverständliche, naturhafte Gegebenheiten sind, sondern in den Bereich menschlicher Machbarkeit rücken. Auf dieser Ebene ist zu erwarten, dass beide Argumente zumindest eine Klärung und Präzisierung, wenn nicht eine tiefgreifende Modifikation erfahren müssen, scheinen sie in ihrer bisherigen Form doch stark auf genau den unausgesprochenen lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten zu beruhen, die durch die Biomedizin aktuell in Frage gestellt werden. Die damit aufgeworfenen Fragen sollen im Rahmen dieses Aufsatzes primär an diejenigen Varianten des Spezies- und des Potentialitätsarguments gerichtet werden, die diese in Form einer

am

Begriff

der

Menschenwürde

orientierten,

im

weitesten

Sinn

„transzendentalpragmatischen“ Reflexion durchführen und aufeinander beziehen. Eine solche transzendentalpragmatische Reflexion auf die Menschenwürde als unverfügbaren Grund der Menschenrechte wurde exemplarisch von Robert Spaemann und Wolfgang Wieland10 skizziert, findet sich aber ansatzweise auch bei einer Vielzahl weiterer Autoren. Der Grund für diese Fokussierung liegt darin, dass jene Reflexion die beiden Argumente in ihrer philosophisch denkbar stärksten Form entfaltet. Abgesehen von der spezifischen Variante des Potentialitätsarguments, die in Don Marquis’ „future-value-like-our’s“-Argument11 zu finden ist, ist eine solche transzendentalpragmatische Reflexion nach Auffassung des Autors zudem nicht allein die stärkste, sondern sogar die philosophisch einzig haltbare Ausformulierung von Spezies- und Potentialitätsargument.

Robert Spaemanns Menschenwürdeargument Robert Spaemann geht in seinen Überlegungen12 von einer Analyse des Begriffs „Menschenwürde“ aus und kontrastiert diese mit den in der Diskussion um den Status ungeborener menschlicher Lebewesen vorgeschlagenen Kriterien der Zuerkennung von Menschenwürde sowie mit den in Zusammenhang damit vorgeschlagenen Zäsuren, ab denen einem menschlichen Lebewesen allererst Menschenwürde und Menschenrechte zukämen. 10

Vgl. W. Wieland, Pro Potentialitätsargument, in: G. Damschen/D. Schönecker (Hg.), Der moralische Status menschlicher Embryonen, Berlin/New York 2003, S. 149-167. 11 Vgl. D. B. Marquis, Why Abortion is Immoral, in: The Journal of Philosophy 86,4 (1989), S. 183-202. 12 Vgl. R. Spaemann, Glück und Wohlwollen, Versuch über Ethik, Stuttgart 31993, S. 219 ff.

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Dabei zeigt sich zum einen, dass die Begründungen für nahezu alle diese Zäsuren jeweils mehr Menschen aus dem Kreis der Menschenwürdeträger ausschließen als nur Embryonen und Föten: je nach vorgeschlagener Zäsur also etwa auch Komatöse, geistig Behinderte oder sogar Schlafende. Zum zweiten beruht jeder Vorschlag immer unvermeidlich auf sehr spezifischen ontologischen oder metaphysischen Prämissen. So hängt z.B. die Zäsur bei der Messbarkeit von Hirnströmen von einer bestimmten materialistischen Metaphysik im Hinblick auf das Leib-Seele-Problem ab. Im Kontrast dazu drücke der Begriff der Menschenwürde, so Spaemann, aber gerade eine prinzipielle, jeglichem subjektiven Wollen und zeitgebundenen Meinen entzogene Unverfügbarkeit des Menschen und seiner grundlegenden Rechte für den anderen Menschen aus. Menschenwürde verliere ihren praktischen Sinn, wenn sie jederzeit dadurch unterlaufen werden könne, dass einzelne Menschen oder Gesellschaften in einem Akt der Selbstermächtigung Bedingungen ihrer Zu- oder Aberkennung aufstellen könnten. Die Aufstellung solcher Bedingungen enthält eine Willkürlichkeit, die der Begriff der Menschenwürde gerade verbietet. Alle denkbaren Zäsuren nach dem schlechthinnigen Beginn der menschlichen Entwicklung mit der Zeugung seien daher, so Spaemann, aufgrund ihres Willkür- und Selbstermächtigungscharakters mit dem Begriff der Menschenwürde unvereinbar. Das im Begriff der Menschenwürde enthaltene Postulat der Unverfügbarkeit eines Menschen für den Anderen sei vielmehr nur dann gewahrt, wenn die Zuerkennung der Menschenwürde gerade nicht von spezifischen Vorbedingungen abhängig gemacht, sondern solcher Bedingtheit entzogen werde. Die einzige Möglichkeit, dieser Forderung gerecht zu werden, besteht nach Spaemann und Wieland dann folgerichtig darin, für die Anerkennung des Menschenwürdestatus nichts anderes und nicht mehr als die einfache biologische Zugehörigkeit zur Spezies „Mensch“ zu verlangen. Jede darüber hinausgehende Bedingung wäre mit dem im Begriff der Menschenwürde implizierten Willkürverbot unvereinbar. So schreibt Spaemann prägnant: „Wenn es überhaupt so etwas wie Rechte des Menschen geben soll, dann kann es sie nur geben unter der Voraussetzung, dass niemand befugt ist, darüber zu urteilen, ob jemand ein Subjekt solcher Rechte ist. Denn der Gedanke des Menschenrechts meint gerade, dass der Mensch nicht ein aufgrund bestimmter Eigenschaften kooptiertes Mitglied der menschlichen Gesellschaft ist, sondern dass jeder in sie kraft eigenen Rechtes eintritt. Kraft eigenen Rechtes kann aber nur heißen: aufgrund seiner biologischen Zugehörigkeit zur species homo sapiens.“13

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R. Spaemann, Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik, Stuttgart 31993, S. 220.

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Spätestens an dieser Stelle ergeben sich nun zwei Probleme, von denen eines grundsätzlicher Natur ist, das andere dagegen scheinbar erst durch Entwicklungen der modernen Biomedizin aufgeworfen wird. Das grundsätzliche Problem lässt sich in den Fragen formulieren: Warum erfüllt nur die biologische Zugehörigkeit zur Spezies „Mensch“ die im Menschenwürdebegriff implizierten Forderungen der Bedingungslosigkeit und Willkürfreiheit bei

der

Anerkennung

des

Menschenrechtsstatus?

Ist

nicht

die

biologische

Spezieszugehörigkeit ebenso eine bloße empirisch feststellbare „Eigenschaft“ wie die Ausbildung des Neuralrohrs oder die Messbarkeit von Hirnströmen? Und liegt im Rekurs auf die Spezieszugehörigkeit nicht am Ende sogar ein Rückfall in ein biologistisches Menschenbild, das zudem alle Misslichkeiten und Fallstricke der Verwiesenheit an empirische Fakten mit sich führt? Die zweite Frage betrifft dagegen den moralischen Status von Lebewesen, die aufgrund biotechnischer Manipulation in biologisch-genetischer Hinsicht nicht eindeutig der menschlichen Spezies zuordenbar sind. Zur Beantwortung beider Fragen ist es offenbar erforderlich, den Sinn des Rekurses auf Spezieszugehörigkeit, wie er von Spaemann und anderen Autoren skizziert wurde, näher zu bestimmen. In der Rezeption dieser Argumentation wird häufig darauf abgehoben, dass die Spezieszugehörigkeit gegenüber allen anderen diskutierten Kriterien dadurch ausgezeichnet sei, dass es sich bei ihr um das willkürfreieste, weil voraussetzungsärmste Zuerkennungskriterium handelt, das überhaupt möglich ist. Jedes Kriterium, das mehr an Eigenschaften und Charakteristika fordert, ist voraussetzungsreicher und „bedingter“ und steht daher im Widerspruch zu dem aus dem Menschenwürdebegriff

hergeleiteten

Unbedingtheitspostulat.

Zugleich

ist

ein

noch

willkürfreieres Kriterium nicht denkbar, da bei einem Rückgang noch hinter das Kriterium „Mitglied der biologischen Spezies Mensch“ überhaupt kein Wesen existieren würde, das den Schutz der Menschenrechte genießen könnte. Die biologische Spezieszugehörigkeit wäre somit dasjenige Kriterium, das sich notwendig aus dem geradezu an die Paradoxien der negativen Theologie gemahnenden Dilemma ergeben würde, einerseits den Menschenrechten unvermeidlich ein bestimmtes Verständnis vom Menschen zu Grunde legen zu müssen, andererseits gerade eine solche Festlegung eigentlich nicht vornehmen zu dürfen, da jede derartige Festlegung der Menschenwürde als dem unverfügbaren Grund der Menschenrechte nur inkommensurabel sein kann.

Der Begriff der Person und das Problem der Potentialität

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Diese Deutung beschreibt sicherlich einen wichtigen Aspekt des transzendentalpragmatischen Speziesarguments, trifft aber noch nicht dessen Kern. Zudem löst sie gerade nicht die Probleme, die sich durch die Möglichkeiten der Erschaffung von genetisch gesehen speziesübergreifenden Lebewesen ergeben. Um diese Probleme zu überwinden, ist es vielmehr erforderlich, die Rolle des Personbegriffs und seines Verhältnisses zur Spezieszugehörigkeit im Rahmen der Spaemann’schen Überlegungen näher zu beleuchten. Der Begriff der „Person“ bezeichnet unbestreitbar den argumentativen Fluchtpunkt aller dieser Überlegungen. Einen ersten Hinweis auf ein angemessenes Verständnis der Rolle der Spezieszugehörigkeit gibt Spaemann, wenn er ausführt, dass das Personsein keineswegs auf die menschliche Spezies beschränkt sein müsse, dass diese Spezies aber derzeit die einzige sei, von der uns das Personsein bekannt ist: „Die Art, der wir Personsein zuerkennen, heißt „Mensch“, ohne damit ausschließen zu wollen, dass es außer Mensch noch andere Personen geben könnte.“14 Spaemann geht hier offensichtlich davon aus, dass zwar alle Menschen generell Personen, und das heißt: vernünftige Wesen, sind, dass es aber durchaus weitere Spezies geben könnte, deren Mitglieder vernünftige Wesen sind. Der Grund der Zuerkennung von Menschenwürde und Menschenrechten besteht dann in der Vernunftnatur, die wir mit dem Begriff der „Person“ bezeichnen und die wir nur deshalb allen Menschen zusprechen, weil die Spezies Mensch die einzige uns derzeit bekannte Spezies ist, deren Mitglieder Vernunftwesen sein können. Der durch die Menschenrechte gewährte Schutz hätte seinen Geltungsgrund damit in der Personalität bzw. der Vernunftnatur des Menschen, nicht aber in seinem Menschsein. Spaemann wie Kant sind dann aber wiederum mit dem bereits klassischen, insbesondere von Peter Singer formulierten Einwand konfrontiert warum, wenn der Geltungsgrund der Menschenrechte die Personalität ist, Menschen, die vorübergehend oder überhaupt keine personale Rationalität zeigen, die also aktuell nicht wie Personen denken oder handeln, in den Kreis derjenigen Lebewesen gehören sollten, denen Menschenrechte und Menschenwürde zukommen. Eine mögliche Antwort auf diese Frage gibt Wolfgang Wieland in Form eines modifizierten Potentialitätsarguments. Wieland geht, ebenfalls in deutlicher Anlehnung an Kant, davon aus, dass nicht ein spezifisches Faktum wie das Haben von Wünschen oder Interessen den Menschenwürdestatus begründen kann, da dies unvermeidlich einen SeinSollens-Fehlschluss implizieren würde. Vielmehr könne dieser Status aufgrund seines eigenen normativen Charakters selbst wieder nur in etwas Normativem begründet sein, nämlich in der Forderung, moralisch zu handeln. Diese Forderung wiederum sei an jedes Wesen gerichtet, R. Spaemann, Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ‚etwas‘ und ‚jemand‘, Stuttgart 32007, S. 253. 14

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das prinzipiell dazu befähigt sei, moralisch zu handeln. Diese prinzipielle Befähigung aber eigne jedem Lebewesen der Spezies Mensch, gleich zu welchem Zeitpunkt seiner Entwicklung, und zwar selbst dann, wenn er in seinem Leben auch nicht einmal wirklich moralisch handele. Da das, was dem Menschen seine Sonderstellung verschaffe, gerade die Fähigkeit sei, die Welt der empirischen Fakten, einschließlich der eigenen empirischen Verfasstheit, zu transzendieren, wäre es geradezu abwegig, die Sonderstellung ausgerechnet auf empirische Fakten gründen zu wollen: „Diese Würde lässt sich daher nicht auf empirisch erhebbare Fakten gründen […], sondern letztlich allein darauf, dass er [der Mensch, Anm. d. Verf.] ein Wesen ist, das nicht in seiner von der Natur vorgegebenen physischen, psychischen und mentalen Ausstattung aufgeht, sondern sich darüber hinaus vor allem durch seine Moralfähigkeit auszeichnet.“15 Ähnlich

argumentiert

auch

Spaemann,

wenn

er

die

Anwendung

des

Potentialitätsbegriffs auf Personen überhaupt ablehnt. Personalität liege, so Spaemann, allen denkbaren wechselnden Zuständen und Entwicklungsstufen der Existenz einer Person immer schon unhintergehbar voraus und stehe insofern noch jenseits der Differenz von Potentialität und Aktualität. So führt er aus: „Es gibt keine potentiellen Personen. Personen besitzen Fähigkeiten, Potenzen. Personen können sich entwickeln, aber es kann sich nicht etwas zur Person entwickeln. Aus etwas wird nicht jemand. Wenn Personalität ein Zustand wäre, könnte sie allmählich entstehen. Wenn aber Person jemand ist, der sich in Zuständen befindet, dann geht sie diesen Zuständen immer schon voraus. Sie ist nicht Resultat einer Veränderung, sondern einer Entstehung, wie die Substanz nach Aristoteles. Sie ist Substanz, weil sie die Weise ist, wie ein Mensch ist […] Personalität ist nicht das Ergebnis einer Entwicklung, sondern immer schon die charakteristische Struktur einer Entwicklung.“16 Ausschlaggebend für diese Argumentation ist, dass darin ein auf Aristoteles zurückgreifendes Gedankenfigur

Substanzverständnis zusammengebracht

mit

wird.

einer

Personalität

transzendentalphilosophischen hat

demzufolge

insofern

transzendentalen Charakter, als sie die stets existierende Bedingung der Möglichkeit aller wechselnden personalen Akte, Zustände, Entwicklungsstufen und Eigenschaften bildet. Vermöge dieser sich durchhaltenden Existenz weist sie zugleich wesentliche Züge des Substanzbegriffs der klassischen Metaphysik auf. Gleichwohl ist Spaemanns Argument aber nur auf den ersten Blick substanzontologisch, denn tatsächlich wird der Substanzbegriff hier nicht allein transzendentalphilosophisch überformt, sondern erfährt auch eine charakteristisch moderne, nach-Hegel’sche und nach-Heidegger’sche Umdeutung. Personalität ist in 15 16

W. Wieland, Pro Potentialitätsargument, a.a.O., S. 161. R. Spaemann, Personen, a.a.O., S. 262.

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Spaemanns Verständnis nämlich offensichtlich nicht eine in reiner, unveränderlicher Aktualität verharrende substantia im klassischen Sinn, an der sich als einem Seienden ein bloßer Wechsel von Akzidentien ereignet, sondern bildet vielmehr gerade eine Seinsweise, die als solche selbst ein stetes Wechselspiel von Sich-Offenbaren und Sich-Zurückziehen ist. Spaemann trifft mit dieser Rückweisung einer aktualistischen Auffassung von Personalität die Achillesferse bioethisch „liberaler“ Argumentationen. Denn ohne die Annahme eines Seienden oder jedenfalls einer Seinsweise, die allen verschiedenen Akten, Momenten, Eigenschaften und Zuständen des Personseins zugrunde liegt und sich durch diese hindurch zieht, wäre es letztlich überhaupt nicht möglich, Lebewesen als Personen anzusprechen und ein bestimmtes Lebewesen je als diese Person in einer zeitlichen Kontinuität zu denken. Das Einzige, was möglich wäre, wäre ein Lebewesen als etwas anzusprechen, das zu einem bestimmten Zeitpunkt t im Zustand der Personalität war oder einen personalen Akt vollzog, zum Zeitpunkt t’ aber nicht, und zum Zeitpunkt t’’ dann doch wieder. Selbst prononcierte Verfechter der bioethisch „liberalen“ Position scheinen eine derart radikale Personalitätskonzeption üblicherweise nicht zu vertreten, gehen sie doch offensichtlich davon aus, dass Schlafende, reversibel Komatöse oder vorübergehend bewusstseinsgestörte Menschen nicht ihren Personenstatus verlieren. Insofern ist selbst hier noch ein Grund der jeweils aktuellen personalen Akte und Zustände unterstellt, der als solcher gerade nicht rein aktualistisch gedacht werden kann.17 Bei Spaemann wie bei Wieland lässt sich mithin eine Verknüpfung von Spezies- und Potentialitätsargument vornehmen. Nach der Seite des Geltungsgrundes der Menschenwürde wären Träger von Menschenwürde und Menschenrechten alle diejenigen Lebewesen, die Person sind. Person wiederum wäre die Seinsweise derjenigen Lebewesen, deren Entwicklung, Akte und deren Zustände solche von der Art des Personseins sind. Zu diesen Lebewesen gehören nach der Seite des Geltungskriteriums zumindest alle Mitglieder der Spezies Mensch, da Personsein offensichtlich die spezifische Seinsweise von Wesen dieser Spezies ist, wenn auch offen bleibt, ob es nicht weitere Spezies gibt, deren Seinsweise ebenfalls das Personsein ist. Rekonstruiert man das Speziesargument in dieser Weise, so entgeht man in der Tat sämtlichen Problemen, die mit der Verwischung von Speziesgrenzen verbunden

sind.

Denn

Geltungsgrund

des

Menschenwürdestatus

ist

nicht

die

Die einzige Alternative zu Spaemanns Konzeption der Personalität als „Seinsweise menschlicher Lebewesen“, die sich für eine bioethisch „liberale“ Position vor diesem Hintergrund nun bietet, besteht darin, den Grund der Kontinuität und Identität von Personen materialistisch im Gehirn verortet zu sehen. Dieses Modell setzt zwar eine materialistische Ontologie und Metaphysik voraus, es bleibt aber als ernst zu nehmende Alternative zu Spaemanns Theorie im Spiel. Eine spätere Zäsur als das Einsetzen der Hirntätigkeit wäre insofern auch im Rahmen eines „bioethischen Liberalismus“ schlechterdings nicht begründbar. 17

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Spezieszugehörigkeit als solche, sondern die Personalität, während die Spezieszugehörigkeit dafür nur ein offenes Zuschreibungskriterium bildet. Insofern würden alle Lebewesen, deren Seinsweise die Personalität ist, in den Kreis der Menschenwürdeträger gehören und zwar auch dann, wenn ihre biologische Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies nicht oder nicht klar abgrenzbar gegeben ist. Eine Mensch-Tier-Chimäre wäre also genau dann Träger von Menschenwürde und Menschenrechten, wenn ihre Seinsweise als die der Personalität identifizierbar und beschreibbar ist. Mit der so gefassten Rekonstruktion wird nun allerdings auch schon eine grundlegende Schwierigkeit sichtbar. Diese Schwierigkeit ist bereits in der oben gewählten Formulierung, „Person wiederum wäre die Seinsweise derjenigen Lebewesen, deren Entwicklung und deren Zustände von der Art des Personseins sind“, versteckt. Denn zum einen lässt diese Formulierung offen, wie und woran wir überhaupt die Seinsweise der Personalität identifizieren können, wenn es sich bei der Personalität doch um eine transzendentale oder qua Substanzbegriff sogar um eine metaphysische Größe handelt. Zum zweiten lässt sie offen, von welchen Entitäten sie eigentlich auf welcher Grundlage ausgesagt werden kann. Spaemann selbst scheint hinsichtlich der ersten offenen Frage davon auszugehen, dass Personalität etwas sei, das in einer intersubjektiven Anerkennungsrelation erfahren wird, über die im folgenden Abschnitt noch Genaueres zu sagen sein wird. Was die zweite offene Frage angeht, so scheint Spaemann wiederum ein auf den ersten Blick recht triviales Kriterium vorzuschlagen: Jedes Seiende, das irgendwann im Laufe seiner Entwicklung oder in irgendeinem der Zustände seines Existierens als „jemand“, d.h. als Person erfahrbar ist, ist immer schon Person gewesen oder kann jedenfalls nicht anders gedacht werden denn als ein Seiendes, dessen Existenzweise immer schon ohne Abstufungen und Entwicklungsschritte in vollem Sinn die der Personalität war. Hier zeigt sich nun freilich deutlich, in welcher Hinsicht Spaemanns, aber auch Wielands Rekonstruktionen des Spezies- und des Potentialitätsargument auf philosophisch noch nicht gänzlich eingeholten lebensweltlichen Gewissheiten aufruhen. So beruht die Identifikation von Menschen als Personen augenscheinlich auf der lebensweltlichen Gewissheit, dass die Seinsweise erwachsener, geborener Menschen üblicherweise die der Personalität ist, oder genauer gesagt, dass ihre Seinsweise üblicherweise intersubjektiv als Personalität erfahrbar ist (Speziesargument). Zum zweiten scheint sie nicht minder auf der lebensweltlichen Gewissheit zu beruhen, dass menschliche Embryonen und Föten sich, wenn alle notwendigen äußeren Bedingungen ihrer Entwicklung erfüllt sind, üblicherweise zu erwachsenen, geborenen Menschen entwickeln (Potentialitätsargument). 10


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Eben diese lebensweltlichen Gewissheiten werden nun aber durch die neuen Möglichkeiten der biotechnologischen Manipulation in Frage gestellt. Neben der Verwischung der biologischen Speziesgrenzen ist auch und gerade das Entwicklungspotential von menschlichen Embryonen keine unveränderliche, naturwüchsige Vorgabe mehr, sondern durch menschliches Handeln beeinflussbar. Angesichts der Möglichkeiten biotechnologischer Manipulation scheint nun tatsächlich die von Spaemann und anderen postulierte Unmöglichkeit eines Übergangs von „Etwas“ zu „Jemand“ (und, so wird man hinzufügen, von „Jemand“ zu „Etwas“) und damit der Kernpunkt seines Arguments fragwürdig zu werden. Denn wird durch diese biotechnischen Methoden nicht ganz real und zudem durch zielgerichtetes menschliches Handeln „Etwas“ zu „Jemand“ gemacht? Und umgekehrt durch die künstliche Hemmung des Entwicklungspotentials „Jemand“ zu „Etwas“?

Personalität und Anerkennung Um diesen Fragenkomplex zu beantworten, ist es unerlässlich, noch einmal auf die Rolle des Entwicklungspotentials und damit auf den letzten Grund der Anerkennung von Menschenwürde- und Menschenrechtsstatus zurückzugehen. Diese Anerkennung nämlich konstituiert sich weder in Form einer objektiv-empirischen Zuschreibung, noch beruht sie auf irgendwelchen empirisch feststellbaren, objektiven Eigenschaften desjenigen, der anerkannt wird. Personalität stellt in diesem Sinn nicht eine Beschaffenheit oder eine Eigenschaft eines Seienden dar, die als solche gegeben oder nicht gegeben sein könnte, sondern eine im intersubjektiven Raum sich ereignende Seinsweise, die sich als solche jeder objektiven qualitativen oder quantitativen Beschreibbarkeit und jeder Definition über Eigenschaften entzieht. Charakteristisch für diese Seinsweise ist ihr relationaler Charakter. Jede Person kann sich selbst nur als Person erfahren, indem sie sich als in Beziehung zu anderen Personen erfährt, die sich wiederum ebenfalls als Personen nur im Rahmen ihrer Beziehung zu anderen Personen erfahren können. Personsein ist daher von Anfang an ein Verhältnis, das lediglich nachträglich in die Form einer gegenständlichen Zuschreibung übersetzt werden kann und vielleicht übersetzt werden muss. Das bedeutet, dass personales Sein immer schon ein Füreinander-Sein von Personen ist. „Menschenwürde“ wiederum bezeichnet dann nichts anderes als das zum praktischen Bewusstsein gekommene Für-einander-Sein, das in dem ethischen Grundentschluss liegt, den jeweils Anderen faktisch auch als lebendigen und unverfügbaren Anderen statt als ein verfügbares An-sich-Seiendes zu behandeln. Spaemann verweist in diesem Zusammenhang ganz richtig auf die Gleichursprünglichkeit der eigenen und der 11


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fremden Personalität: „Wenn aber ,Person‘ den Platzhalter eines einmaligen Ortes in einem durch Personen konstituierten Beziehungsraum meint, dann ist es wiederum uno actu, dass wir uns selbst und die andern als solche Platzhalter wahrnehmen. Menschen als Personen wahrzunehmen heißt, diesen apriorischen Beziehungsraum wahrzunehmen, der durch Personalität konstituiert wird.“18 Das interpersonale Anerkennungsverhältnis besitzt nun gerade aufgrund seines apriorischen Charakters die Struktur einer Einholung der eigenen Voraussetzungen, wie sie im Deutschen Idealismus besonders von Hegel herausgearbeitet wurde. Empirische Personalität im Sinne des Vollzugs und der Erfahrbarkeit personaler Akte kann sich je nur konstituieren, wo die transzendentale Anerkennung als Person vorgängig bereits erfolgt ist. Diese vorgängige Anerkennung wird im Laufe der biologischen und sozialen Entwicklung dann auch für die empirische Ebene eingeholt. Das bedeutet aber gerade nicht, dass diese vorgängige Anerkennung letzten Endes in das Belieben des oder der Anerkennenden gestellt wäre und der Menschenwürdestatus sich einer willkürlichen „Verleihung“ in Form einer „Annahme“ verdanke, nämlich dergestalt, dass der oder die Anerkennende die Macht hätte, über das Menschsein eines menschlichen Lebewesens erst zu entscheiden. Dieses Missverständnis19, das sich leider bei vielen Autoren findet, die ansonsten zu Recht auf den relationalen Charakter der Menschenwürde hinweisen, hat seinen Grund darin, dass das Einholen der Voraussetzungen von diesen als ein Vorgang gedacht wird, der gleichsam nur eine Bewegungsrichtung hat, und dass darin zugleich der Charakter des apriorischen Beziehungsraums, in dem Personalität sich ereignet, verkannt wird. Hegel beschreibt dagegen in der „Wissenschaft der Logik“, genauer im Übergang von der Seins- zur Wesenslogik, den Vorgang des Einholens einer scheinbar willkürlich gemachten Voraussetzung richtigerweise als Prozess, in dem sich ebendiese Voraussetzung als eine Setzung erweist, die eine spätere Entfaltungsstufe des Prozesses überhaupt erst gemacht hat. Das scheinbar bloß „An-sich-seiende“ der Voraussetzung erweist sich in der

18

R. Spaemann, Personen, a.a.O., S. 196. Es findet sich – etwas verklausuliert – bereits Anfang der 70er Jahre in der Stellungnahme der Theologen E. Jüngel, E. Käsemann, J. Moltmann und D. Rössler zur Diskussion um den § 218 (vgl. E. Jüngel u.a., Annahme oder Abtreibung, in: J. Baumann (Hg.), Das Abtreibungsverbot des § 218, Darmstadt ²1972, S. 135-143). Neuerdings wurde diese Position noch einmal vehement von Claudia Wiesemann vertreten (vgl. C. Wiesemann, Von der Verantwortung ein Kind zu bekommen. Eine Ethik der Elternschaft, München 2006). Sie beruht auf einer grundlegenden Fehldeutung der Natur und Struktur interpersonaler Anerkennungsbeziehungen, die in eklatanter Weise deutlich wird, sobald man sie probehalber auf menschliche Lebewesen überträgt, die unstrittig Träger der Menschenwürde sind. 19

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Entwicklung als immer schon Für-sich-Seiendes, wird zu diesem Für-sich-Seienden zugleich aber auch erst, indem es seine Voraussetzung als eigene Setzung in sich aufnimmt.20 Übertragen auf die Entwicklung personalen Seins bedeutet das, dass der Anerkennungsakt, der der Person bereits in ihren scheinbar vorpersonalen Entwicklungsstufen gilt, nur scheinbar ein äußerlicher und asymmetrischer Akt ist, der von einem geborenen Menschen in einseitiger Weise ausgeht und insofern von diesem auch nach Gutdünken verweigert werden könnte. Gerade diese Äußerlichkeit, Asymmetrie und Willkür erweist sich als Schein, wenn die Personalität der anerkannten Person auch wechselseitig kommunikativ erlebbar wird. Geschieht dies nämlich, so wird nicht einfach ein „Vorschuss“ eingelöst, der von anderen Personen gewährt wurde. Vielmehr enthüllt sich der transzendentale Beziehungsraum, der nur von beiden Gliedern des Anerkennungsverhältnisses konstituiert werden kann und immer schon konstituiert wurde, selbst als Grund, Ausgangspunkt und voraussetzendes Moment der Anerkennung. Damit erweist sich dann aber auch der Anerkennungsakt als ein Akt, der eben nicht äußerlich und asymmetrisch ist, sondern zum einen von vornherein immer schon inneres Moment des personalen Seins und Lebens des Anerkannten selbst war und zum anderen nicht von einem einzelnen Subjekt, sondern vom transzendentalen Raum der Intersubjektivität ausging. Dementsprechend steht es dann gerade nicht in der subjektiven Willkür einzelner Subjekte, die Anerkennung zu gewähren oder zu verweigern. Vielmehr ist der Anerkennende zur Anerkennung kategorisch genötigt, wobei diese „Nötigung“ zunächst rein ethischer Natur ist. Zwar besteht zwischen dem anerkennenden und dem anzuerkennenden Subjekt die faktische Asymmetrie eines Machtgefälles, dieses faktische Machtgefälle darf aber nicht ethisch affirmiert werden, indem dem Anerkennenden auch ein Recht eingeräumt wird, die Anerkennung zu verweigern. Im Raum des Ethischen nämlich besteht gerade eine umgekehrte Asymmetrie zugunsten des Anzuerkennenden. Von ihm geht ein unbedingter Anspruch auf Anerkennung aus. Die Anerkennung kann dann zwar immer noch faktisch verweigert werden, damit wird jedoch der Raum des Ethischen verlassen.

Personalität und Entwicklungspotential Dieser Hintergrund einer Dialektik der Anerkennung erlaubt es nun, Rolle und Sinn des Spezies- und des Potentialitätsarguments genauer einzuordnen. Zunächst ist zu bedenken,

20

Vgl. G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Bd. I/2, hg. von Georg Lasson, Hamburg 1932 (Neudruck 1971), insbesondere S. 3-26.

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dass der Speziesbegriff nicht primär biologisch zu verstehen ist, sondern auf einen genealogischen, anerkennungstheoretischen und ontologischen Zusammenhang verweist. Die Betonung der Zugehörigkeit zur biologischen Spezies „Mensch“ zielt dementsprechend auch nicht empirisch-objektivistisch auf das Vorliegen eines „menschlichen Genoms“ ab, sondern auf das anerkennungstheoretische Eingebundensein in eine Spezies, deren Seinsweise die der Personalität ist. Zum einen würden daher zur Spezies „Mensch“ bereits alle Individuen gehören, die in ihren Lebens- und Seinsäußerungen als spezifisch menschliche und erfahrbar sind bzw. sein können, sofern ihre Entwicklung nicht durch äußere Umstände oder Manipulationen behindert wird, unabhängig davon, wie ihr Genom einzuordnen ist. Weiterhin würden auch alle Mitglieder biologisch gänzlich anderer Spezies, deren Seinsweise sich als die der Personalität erwiese, in den Kreis der Träger von Menschenwürde und Menschenrechten gehören, selbst wenn sie unseren Vorstellungen vom Menschsein ansonsten gänzlich fremd wären. Das von Spaemann und anderen Vertretern des Menschenwürdearguments postulierte Verbot, bestimmte Eigenschaften oder „Was-heiten“ als Kriterien oder Vorbedingungen der Anerkennung des Menschenwürdestatus aufzustellen und stattdessen das bloße „Dass“ des Menschseins als hinreichende „Bedingung“ zu akzeptieren, erweist sich vor diesem Hintergrund als eine Denkfigur, die über die weiter oben erwähnten Anklänge an eine „negative Theologie“ oder „negative Dialektik“ deutlich hinausgeht. Tatsächlich ist das Bestimmungs- und Bedingungsverbot nämlich nur die negative Seite einer „positiven Dialektik“ der wechselseitigen Anerkennung personaler Individuen. Diese positive Dialektik liegt der negativen dabei zwar zu Grunde, ist aber aufgrund ihres spezifisch intersubjektiven und ereignishaften Charakters selbst nicht in der Form objektiv-empirischer Beschreibungen aussagbar und bildet dementsprechend auch keinen „Grund“ im Sinne des möglichen Ausgangspunkts einer beweisenden Deduktion. Auf der Ebene objektiv-empirischer Beschreibungen kann sie insofern nur in der Weise einer negativen Dialektik ausgesprochen werden, in der sich die Spezieszugehörigkeit aufgrund ihrer nicht weiter hintergehbaren Inhalts-

und

Willkürfreiheit

als

einzig

legitimer

Anknüpfungspunkt

der

Menschenwürdezuschreibung darstellt. Reformuliert und verknüpft man Spezies- und Potentialitätsargument vor diesem Hintergrund, so verlieren die faktischen Möglichkeiten der biotechnischen Manipulation von Spezieszugehörigkeit und Potentialität von (teil-)menschlichen Embryonen ihren auf den ersten Blick bedrohlichen Charakter für beide Argumente. Um dies zu verstehen und zugleich eine Kriteriologie dafür aufzustellen, welche Lebewesen genau seitens des Rechts als Träger 14


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von Menschenwürde und Menschenrechten behandelt werden sollten, muss allerdings zunächst das Verhältnis von ontologischer Bestimmtheit, lebensweltlicher Erfahrung und Recht präziser bestimmt werden. Personalität ist demnach die Seinsweise von Lebewesen der Spezies Mensch. Die Spezieseinordnung ist beim Menschen aber von vornherein nie einfach nur im biologischen bzw. naturwissenschaftlich-empirischen Sinn zu verstehen; vielmehr erfasst die biologische Seite gerade nicht das spezifisch Menschliche des Menschseins, wenn denn Menschsein gerade ontologisch durch seine spezifische Seinsweise gekennzeichnet ist. Sinnvoll ist der Rekurs auf die biologische Gattungszugehörigkeit aber insofern, als in einer Welt ohne biotechnische Eingriffs- und Manipulationsmöglichkeiten der biologische Speziesbegriff als Kriterium herangezogen werden kann, um die Extension dieser Seinsweise zu bestimmen, da biologische Gattungszugehörigkeit und ontologische Bestimmtheit in einer solchen Welt offenbar deckungsgleich sind. Anders sieht es jedoch in einer Welt aus, in der es jene Manipulationsmöglichkeiten gibt. Die Schwierigkeit, die diese mit sich bringen, hat ihren letzten Grund im bereits beschriebenen Voraussetzungscharakter der Seinsweise der Personalität. Da Personalität wesentlich in der Einholung ihrer eigenen Voraussetzung besteht, ist für die Frühphase personaler Existenz das Eingebundensein in den Kreis der Personen lebensweltlich immer nur ex post feststellbar. Personalität wird in der lebensweltlichen Erfahrung des Anderen als Person „festgestellt“, muss dann aber als von Beginn seiner Existenz an immer schon gewesene vorausgesetzt werden: wir können nicht anders, als jedem Lebewesen, dessen Seinsweise wir lebensweltlich als von der Art des Personseins erfahren, zuzugestehen, dass es immer schon Person gewesen ist. Das ist der eigentliche Sinn des Spaemann’schen Diktums, es gebe keinen Übergang von „etwas“ zu „jemandem“. Für die Ethik, insbesondere aber für das Recht, die beide grundlegend auf Allgemeinheit und überindividuelle Verbindlichkeit gehen, entsteht damit bereits vor der Möglichkeit biotechnischer Manipulationen der Spezieszugehörigkeit und der Potentialität das Problem, wem sie Menschenwürde und Personenstatus zuerkennen, wenn zum einen die Personalität der frühsten Existenzstadien menschlicher Lebewesen nicht lebensweltlich erfahrbar ist und zum anderen jede lebensweltlichen Erfahrung zu individuell und zu leicht durch Interessen und Vorurteile verzerrbar ist, um als Grundlage desjenigen Allgemeinen zu dienen, das als „transzendentaler Beziehungsraum“ beschrieben wurde Die aktuellen Manipulationsmöglichkeiten verschärfen nur dieses bereits vorhandene Problem. Lösbar ist es nur, indem in Form einer Reflexion auf die lebensweltliche Erfahrung des Anderen deren verborgene transzendentalphilosophische Tiefenstruktur und damit letztlich auch der 15


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Personenstatus der Frühformen menschlicher Existenz im wahrsten Sinn des Wortes „rückerschlossen“ wird. Aus dieser – nota bene unvermeidlichen - Reflexion ergibt sich sodann die folgende Sequenz von Kriterien der Inklusion und Exklusion in den Kreis der Lebewesen mit Personenstatus: Ein Lebewesen mit Personenstatus ist erstens zumindest jedes Lebewesen, das irgendwann im Lauf seiner Entwicklung als Person erfahrbar ist. Die Reflexion auf den Voraussetzungscharakter der Personalität macht es notwendig, ein solches Lebewesen als eines zu denken, das immer schon Person gewesen ist. Da alle lebendigen Wesen der Spezies Mensch üblicherweise irgendwann im Laufe ihres Lebens als Personen erfahren werden können, gehören auch alle Lebewesen dieser Spezies - wie immer brüchig der Begriff der „biologischen“ Spezies hier sein mag – in den Kreis der Personen. Darüber hinaus gehören zweitens in den Kreis der Menschenwürdeträger alle Lebewesen, die zwar nicht der biologischen Spezies Mensch angehören, aber aktuell als Personen erfahrbar sind oder von denen man plausiblerweise vermuten kann, dass sie es wären, würde man sie erzeugen bzw. aufwachsen lassen. Das bedeutet drittens nicht, dass nur Lebewesen, die faktisch als Person erfahren werden oder wurden, den Personenstatus genießen. Es geht nicht um die faktische lebensweltliche Erfahrung, sondern – da und insofern das Recht und Ethik in ihrer Allgemeinheit auf die ethisch-transzendentalphilosophische Reflexionsebene rekurrieren müssen – um eine prinzipielle, reflexiv gefasste Erfahrbarkeit von Personalität, die unabhängig von der faktischen Erfahrung ist. Damit ist nun auch endgültig der Ort des Potentialitätsarguments im Zusammenhang der Statusdebatte bestimmt. Die Entwicklung eines einzelnen Lebewesens von der Seinsweise der Person kann selbstverständlich durch kontingente Umstände fehlgehen, abbrechen oder künstlich gestoppt werden, so dass das betreffende Lebewesen nie lebensweltlich als Person erfahrbar sein wird. Sofern aber die ethische Reflexion die Zuerkennung des Personenstatus von der faktischen lebensweltlichen Erfahrung löst und lösen muss – wobei sie freilich immer auf sie rückbezogen bleibt – muss sie zwangsläufig auf die prinzipielle Erfahrbarkeit als Person abstellen anstatt auf die Erfahrbarkeit im Sinn einer faktischen Möglichkeit oder gar auf die faktische Erfahrung selbst. Das bedeutet im Hinblick auf die Frühstadien personaler Existenz, dass die immanente Entwicklungspotentialität der in Frage stehenden Lebewesen zum Ansatzpunkt der Zuerkennung genommen und diese von einer bloßen äußerlichen Entwicklungsmöglichkeit reflexiv unterschieden wird. Das geschieht denn auch exemplarisch im deutschen Recht, wo StZG und EschG alle diejenigen Entitäten in den Kreis der von ihnen geschützten Wesen 16


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einbeziehen, die sich bei Vorliegen der „dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen“21 aus sich selbst heraus als personale Wesen entwickeln und entfalten können. Die so umschriebene immanente Potentialität wiederum ist mit dem Begriff des „Lebens“ verschränkt. Nur ein lebendiges Wesen kann überhaupt „Jemand“ sein; Leben ist mithin die notwendige Bedingung des Personseins. Die Fähigkeit zur Entwicklung, die notwendiger Bestandteil individuellen Lebens ist, ist mit der transzendentalen Personalität als Bedingung oder Grund der Möglichkeit personaler Akte und Äußerungen dementsprechend zwar nicht einfachhin gleichzusetzen, sie stellt aber ihrerseits ein grundlegendes Moment der Personalität dar. Das ist insofern der Fall, als Personalität immer an das Leben eines individuellen Organismus rückverwiesen ist und zum Leben eines individuellen Organismus immer die Fähigkeit zur zielgerichteten Entwicklung, Bildung und Entfaltung aus sich selbst heraus gehört. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass eine Entität, die ein derartiges individuelles, individuierendes und teleologisches Leben nicht zeigt und nach aller Wahrscheinlichkeit auch nicht zeigen kann, schlechterdings auch nicht als Person angesprochen werden kann. Vor

diesem

Hintergrund

stellen

nun

biotechnische

Manipulationen

des

Entwicklungspotentials von Embryonen oder embryoiden Entitäten keine so tiefgreifende Herausforderung für das Potentialitätsargument dar wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Zwar kann der Übergang von „Etwas“ zu „Jemand“ heute höchstwahrscheinlich22 durch biotechnische Manipulationen gezielt bewerkstelligt werden, wie allein die Möglichkeiten der tetraploiden Embryokomplementation und des Klonens zeigen. Im Grunde stellen diese biotechnisch bewerkstelligten Übergänge aber kein anderes und kein größeres Problem dar als der natürlich erfolgende Übergang aus den beiden „Etwas“ der menschlichen Eizelle und der menschlichen Samenzelle zum „Jemand“ des menschlichen Embryo. In beiden Fällen, dem natürlichen wie dem künstlich gemachten Übergang, ist der Unterschied zwischen „Etwas“ und „Jemand“ durch die immanente Fähigkeit markiert, sich als lebendiges Wesen personal zu entwickeln. Diesem reflexiven Rekurs auf die immanente Potentialität zur Bestimmung des Kreises der Menschenwürdeträger stehen auch jüngere Erkenntnisse nicht entgegen, welche die große Bedeutung epigenetischer Faktoren in der frühsten Embryonalentwicklung und die gewichtige Rolle der Nidation bzw. Implantation für die embryonale Entwicklung zeigen.

21

Stammzellgesetz (StZG), § 3, Abs. 4 Durch Versuch definitiv bewiesen ist es natürlich nicht, dass die einschlägigen Methoden auch bei „Jemandem“, d.h. Menschen funktionieren würden, nicht zuletzt weil es ethisch höchst problematisch wäre, einen solchen Versuch zu unternehmen. Die Wahrscheinlichkeit ist allerdings sehr hoch. 22

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Insbesondere Christian Kummer und Nikolaus Knoepffler haben daraus geschlossen, dass ein menschlicher Embryo diejenige aktive Potentialität, um die es bei der Frage, ob der menschliche Embryo als Mensch mit Rechten und Würde anzusprechen ist, allein gehen könne, jedenfalls vor der Nidation noch nicht aufweise. Kummer sieht das aktive Entwicklungspotential vielmehr erst ab dem Punkt gegeben, ab dem die epigenetische Programmierung erfolgt ist und die Körperachsen des menschlichen Lebewesens angelegt sind. Entscheidend ist dabei, dass beides in einem wie auch immer näher zu beschreibenden Zusammenwirken23 interner Informationen des embryonalen Organismus und äußerer Signale seitens des mütterlichen Organismus geschieht. Nikolaus Knoepffler geht über diese Überlegung noch hinaus und macht in der frühsten Embryonalentwicklung sogar gleich vier Wechsel der Substanz aus.24 Da Kummer wie Knoepffler ihren Überlegungen eine traditionell verstandene aristotelische

Substanz-

und

Entelechie-Konzeption

zugrunde

legen,

folgern

sie

konsequenterweise, dass Embryonen vor der Nidation oder Implantation in den weiblichen Uterus nicht als Lebewesen angesprochen werden können, die der Substanz nach „Mensch“ sind, und dementsprechend auch nicht als Träger von Menschenwürde und Menschenrechten. Diese Folgerung ergibt sich allerdings in der Tat auch nur dann, wenn man von einer traditionell verstandenen Substanzontologie ausgeht, nach der die Substanz zum einen durch absolute Eigenständigkeit gekennzeichnet ist und zum anderen die Substanz eines Lebewesens erst da gegeben ist, wo das telos dieses Lebewesens vollständig determiniert ist und autonom aus ihm selbst heraus realisiert wird. Geht man demgegenüber von einem transzendentalphilosophisch gebrochenen, dynamisierten und relationalen Wesensbegriff aus, wie ihn etwa Hegel in der „Wissenschaft der Logik“ überzeugend entwickelt hat, so verliert die Verwiesenheit des Embryo auf den mütterlichen Organismus ihren für den Menschenwürdestatus problematischen Charakter. Die biologische Verwiesenheit des Embryo auf den mütterlichen Organismus lässt sich dann zwanglos als naturhafte Vorform der wechselseitigen anerkennungstheoretischen Verwiesenheit der Menschenwürdesubjekte aufeinander begreifen. Wie diese wird auch jene im Verlauf der Entwicklung vom sich entwickelnden Embryo selbst eingeholt und in das eigene Selbstsein integriert. Die

23

Kummer weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass nach dem gegenwärtigen Stand der Biologie die empirischen Befunde zwar dafür sprechen, dass die Anlage der Körperachsen nicht autonom durch den Embryo erfolgt, sondern auf Signale des mütterlichen Organismus angewiesen ist, betont aber selbst, dass diese Frage noch nicht endgültig geklärt ist (Vgl. C. Kummer, Zweifel an der Totipotenz. Zur Diskussion eines vom deutschen Embryonenschutz überforderten Begriffs, in: Stimmen der Zeit 7 (2004), S. 459-472 (hier: 470). 24 Vgl. N. Knoepffler, Der moralische Status des frühen menschlichen Embryos, in: Nova Acta Leopoldina Neue Folge 96 (2007), S. 177-188 (hier: 183f.).

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epigenetischen Prozesse, die der Embryo in der biologischen Symbiose mit der Mutter durchlebt sind dementsprechend nichts, was dem Embryo äußerlich widerfährt, sondern Momente

seiner

je

eigenen

Entwicklungsgeschichte

und

seines

eigenen

Entwicklungspotentials. Dekliniert man alle diese Erkenntnisse für Wesen durch, die rein theoretisch durch eine tetraploide Embryokomplementation mit menschlichen Zellen geschaffen werden könnten, so ergibt sich folgendes Bild: Diejenigen Zellen, die bei der Komplementation benutzt werden, haben vor dieser nicht den Status von Menschenwürdesubjekten, sondern einen Status, der in etwa dem einer Eizelle oder eines Spermiums entspricht. Sobald die Komplementation dagegen erfolgt ist, existiert ein menschliches Lebewesen, für das ein wie immer näher ausgestalteter Schutz seiner Menschenwürde angezeigt ist. Komplexer stellt sich die Lage für den Fall dar, dass die von Meissner und Jaenisch entwickelte Technik der Schaffung klonierter Embryonen mit „ausgeknocktem“ Cdx2-Gen bei menschlichen Embryonen angewandt würde. Hier scheint vordergründig in der Tat die Entwicklungsfähigkeit nicht mehr gegeben zu sein. Betrachtet man die Auswirkungen der gentechnischen Manipulation allerdings näher, so ist zumindest fraglich, ob diese wirklich so beschrieben werden darf, dass hier das immanente Entwicklungspotential betroffen wäre. Wie bereits weiter oben geschildert, führt die Ausschaltung des Cdx2-Gens dazu, dass keine Placenta ausgebildet wird, so dass der Embryo sich nicht einnisten25 und daher auch nicht vom mütterlichen Organismus versorgt werden kann. Insofern ist dann zwar nicht die immanente Potentialität des erzeugten Embryos betroffen, wohl aber seine Fähigkeit, dieses Potential zu realisieren, indem er von sich aus mit dem mütterlichen Organismus in Verbindung tritt. Was den so manipulierten Embryonen fehlt, ist also nicht das immanente Entwicklungspotential, sondern die Meta-Potentialität, eigenständig zu den für die Realisierung dieses Potentials notwendigen „weiteren Voraussetzungen“ zu kommen. Wollte man den – sicher in vielen Hinsichten hinkenden, gleichwohl aber instruktiven – Vergleich zu einer Eichel als dem Keim der Eiche heranziehen, so würde es sich bei derart manipulierten Embryonen sozusagen um Eicheln handeln, die aus einem in ihnen selbst liegenden Grund nicht auf den Boden fallen und daher auch nicht keimen können. Entscheidend ist aber nicht, ob sie auf den Boden fallen können, sondern ob sie das immanente Potential aufweisen, zu keimen und sich zur Eiche zu entwickeln, wenn sie auf den Boden fielen. Das freilich wäre bei besagten Eicheln der Fall, ebenso wie bei es bei Cdx2-manipulierten Embryonen der Fall

25

Damit handelt es sich bei der Ausschaltung des Cdx2-Gens gleichsam um einen auf der genetischen Ebene „eingebauten“ Nidationshemmers.

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ist, dass sie sich entwickeln würden, wenn sie mit dem mütterlichen Organismus in Kontakt träten. Gleichwohl bleibt hier eine Grauzone, die jedoch aus gerechtigkeitstheoretischen Gründen, gerade weil solche Embryonen mit dem einzigen Zweck künstlich erzeugt werden, spezifische ethische Bedenken gezielt zu umgehen, nicht zu Ungunsten der Embryonen ausgelegt werden sollte. Tutioristische Erwägungen legen es zudem nahe, sie eben wegen der Unklarheit ihres Status sicherheitshalber in den Kreis der Menschenwürdeträger einzubeziehen. Mithin sollte bereits ihre Erzeugung untersagt werden, würden sie uns doch aufgrund ihrer fehlenden Meta-Potentialität bei gleichzeitig vorhandenem immanentem Entwicklungspotential vor das moralische Dilemma stellen, sie entweder absterben zu lassen oder der verbrauchenden Forschung zuzuführen. Anders als bei den von Meissner und Jaenisch geschaffenen Cdx2-Embryonen würde es sich mit – bislang rein hypothetischen – „Embryonen“ verhalten, deren Ausgangszellen, seien es somatische Zellen oder Keimzellen, wirklich gentechnisch derart manipuliert wären, dass der entstehende „Embryo“ keinerlei immanentes Potential aufweisen würde, sich als Person zu entwickeln und zu entfalten26. Bei einer derartigen Entität, die nicht einmal dieses grundlegende Moment

personalen Lebens

aufweisen würde, wäre es

tatsächlich

schlechterdings nicht mehr plausibel, noch von einer Entität von der Seinsweise der Personalität zu reden. Solche Gebilde fielen daher aus dem Kreis der Wesen mit Menschenwürdestatus heraus. Unberührt davon bleibt die Frage, ob es nicht vielleicht aus anderen Gründen sinnvoll und richtig wäre, die Erzeugung derartiger Entitäten zu untersagen. Auf Personalität wird eine entsprechende Argumentation sich allerdings nicht berufen können.

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26

Hier könnte man etwa an embryoide Entitäten denken, die durch eine genetische Manipulation der Ausgangszellen von vorneherein die Fähigkeit zur Anlage der Körperachsen nicht aufwiesen.

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Human Fertilization and Embryology Authority (HFEA): Hybrids and Chimeras, London 2007. Im Internet unter: http://www.hfea.gov.uk/docs/Hybrids_Report.pdf, zuletzt aufgerufen am 24.08.2009 Jüngel, Eberhard u.a.: Annahme oder Abtreibung, in: Baumann, Jürgen (Hg.): Das Abtreibungsverbot des § 218, Darmstadt 21972, S. 135-143. Knoepffler, Nikolaus: Der moralische Status des frühen menschlichen Embryos, in: Nova Acta Leopoldina. Neue Folge 96 (2007), S. 177-188. Kummer, Christian: Zweifel an der Totipotenz. Zur Diskussion eines vom deutschen Embryonenschutz überforderten Begriffs, in: Stimmen der Zeit 7 (2004), S. 459-472. Marquis, Don Bagley: Why Abortion is Immoral, in: The Journal of Philosophy 86,4 (1989), S. 183-202. Meissner, Alexander/Jaenisch, Rudolf: Generation of nuclear transfer-derived plutipotent ES cells from cloned Cdx2-deficient blastocysts, in: Nature 439 (2006), S. 212-215. Nagy, András u.a.: Derivation of completely cell culture-derived mice from early-passage embryonic stem cells, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA 90 (1993), S. 8424-8428. Spaemann, Robert: Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik, Stuttgart 31993. Spaemann, Robert: Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ‚etwas‘ und ‚jemand‘, Stuttgart 32007. Wieland, Wolfgang: Pro Potentialitätsargument, in: Damschen, Gregor/Schönecker, Dieter (Hg.): Der moralische Status menschlicher Embryonen, Berlin/New York 2003, S. 149-167. Wiesemann, Claudia: Von der Verantwortung ein Kind zu bekommen. Eine Ethik der Elternschaft, München 2006.

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