De:Bug 181

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R AINALDGOETZ MARIOSIXTUS SASCHALOBO BRUCELABRUCE D I E T M A R D AT H 181 181 MERCEDESBUNZ DIEDRICHDIEDERICHSEN WO L FG A N G T I L L M A N S MARKUSBECKE DAHL LEIFRANDT JanJoswig S T E FA N H E I D E N R E I C H Alex andr aDröner Für ein besseres morgen … 04.2014

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181 — 3

IND€X 12

de:bug 181 04.2014

16 "Seitdem van Gogh 1886 Arbeitsschuhe malte, über die Heidegger, Schapiro und schließlich auch Derrida schrieben, hoffen wir in und an Arbeitsschuhen nicht nur Dreck, sondern auch Wahrheiten zu finden." Mercedes Bunz

36 "Es ist ja nicht Wut, es ist Hass. Aber auch die Wut wird immer scheußlicher. Es ist nicht mehr kommunizierbar. Bei jungen Menschen ist Wut eine schöne Sache, später eigentlich nicht mehr."

MANIFEST Hallo Masse: Fazit Masterplan — 06 Selfies: Die überwältigende Schönheit der Autoren — 08 Dietmar Dath: Battleship Literatur — 12 Alexandra Dröner: Hype & Hate — 14 Mercedes Bunz: Arbeit & Hosen — 16 Anton Waldt: Vom Paläolithikum raven lernen — 20 Jan Joswig: Abzweig Ausstieg — 22 Diedrich Diederichsen: Der blinde Fleck — 24 Stefan Heidenreich: Was nach dem Geld kommt — 26 Leif Randt: Postpragmatischer Spaß — 28 Hendrik Lakeberg: Work, don't cry — 30 Timo Feldhaus: Her majestys smarte Hose — 22 Felix Knoke: Nacht macht Vergessen — 34

"Ich denke manchmal: Warum sind die Schriftstellerinnen und Schriftsteller nicht viel arroganter? Warum sagen sie nicht Sachen wie: "Schön, dass ihr auch endlich kommt!" zu den Sounds, Bildern und Videos, die jetzt Dank allerlei Digitalkram endlich auch embedded, shared, remixed werden, was es doch bei Texten seit lange vor Jesu Beschneidung gibt."

SPREAD Rainald Goetz: Spekulativer Authentizismus — 36 Wolfgang Tillmans: Printing Press Kardiogram — 42

"Wenn dieser beschauliche Garten gänzlich gejätet und umgegraben ist und nichts mehr wächst - dann kann man endlich wieder darauf tanzen und auf den Morgen scheißen. Denn der wird niemals kommen, wenn immer Nacht sein kann."

NOCH MEHR MANIFEST Markus Beckedahl: User aller Länder, vereinigt euch — 50 Johannes Grenzfurtner: Teledildo rein — 51 Ji-Hun Kim: Ben kommt runter — 52 Sascha Lobo: Tschüss, elektronische Lebensaspekte — 54 Mario Sixtus: Upworthyisms — 56 Und jetzt alle: Rewind! — 58 Benjamin Weiss: Digital ist auch nicht schlecht — 62

Manifeste RELOADED Bruce LaBruce: Purple Resistance Army — 64 Weise7: Critical Engineering — 65

Rainald Goetz

68 "Ihr kennt sicher das Gefühl, Menschen, die ihr noch nie gesehen oder getroffen habt, näher zu sein als euch selbst. Sich verbunden zu fühlen mit ihren berauschenden Gedanken, ihre Euphorie zu teilen über Dinge, die uns wenig später ebenfalls erreichen." Michael Horn

BEKENNTNISSE Michael Horn: Lieblingsausgabe? 182! — 68 Jan Wehn: Zimtreis mit dem Technohochstapler — 70 Reisende Redakteure: Mission De:Bug — 72

REVIEWS Plattenbesprecher: Konzeptalben für die Insel — 76 Reviewmönch: Am Nullpunkt der Reviews — 80

FINALE A Better Tomorrow: Neu! Jetzt auch als Poster — 82

Dietmar Dath

34 Felix Knoke

42 "Bestes Beispiel Sascha, der mir bewies, dass PromoStapel auch dann noch einsturzsicher sind, wenn sie höher als einen Meter gen Bürodecke ragen." Jan Wehn


DE:BUG


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181 — LETZTE WORTE

Fazit Masterplan Hallo Masse, Wir freuen uns wie Bolle! Weil De:Bug viel länger funktioniert hat, als es nie geplant war. Natürlich auch weil jetzt jede Menge neue Knusperecken locken. Und nicht zuletzt weil der Tanz auf dem eigenen Grab eine richtig gute Party sein kann, wenn die richtigen Leute auflegen und schlaue, bewegende und überhaupt hörenswerte Leichenschmausreden geschwungen werden, wie in dieser letzten Ausgabe. Wenn wir geahnt hätten, wie fluffig sich so eine eigene Beerdigung anlässt, hätten wir uns schon vor Jahren spektakulär in Luft gesprengt, oder doch erst vor ein paar Monaten? Nein, hätten wir nicht, denn in Wirklichkeit bricht uns das Magazin-Ende natürlich das Herz. Aber eben nur einerseits und ein ewiges Basisparameter auf diesen Seiten ist ja, dass es immer auch Andererseitiges gibt. Ständig scharf auf neue Zukunft, aber ein Faible für Ultralangstrecken. Es ist wie immer wie Techno, die hohe Schule der Kreisquadratur. Neue Anfänge Wollten wir immer, haben wir inhaltlich auch öfters hingekriegt. Sonst gerne mal nicht, vieles musste über Jahre durchgemogelt werden. Aber das ist wohl die Schattenseite des Gegegenteilauch-geil immer auf Tasche haben. Oder, wie Sascha Lobo es in seinem Text (Seite 54) feinfühlig formuliert: Janusköpfig ist nur einen Buchstaben entfernt von anusköpfig. Wir waren zu radikal um ernsthaft radikal sein zu können, zu albern um an die Strenge einer Linie zu glauben, zu normal um prompt vor die Wand zu fahren. Eine Zeitung machen ist aber wohl im besten Fall sowieso wie ein Schwebezustand. Etwas aushalten, das eigentlich nicht

auszuhalten ist und das auch noch gerne. Seit wie vielen Jahren wollten wir schon rein digital werden? Und dann doch wieder Tüte aus Zeitung gebaut, rührende Treue zum Papier bewiesen, nur um es mit cellulosezersetzenden Unerhörtheiten vollzudrucken. Ein besseres Morgen De:Bug wollte immer nach vorne blicken. Haben wir auch reichlich, trotzdem das Orakel frisch von der Leber oft genug zum Piepen war, oder wenigstens zum Kichern. Wozu es natürlich auch prompt wieder ein Andererseits gibt: Manche Dinge muss man halt ein paar Jahre sacken lassen, bevor man weiß, ob sie wirklich so stattfinden. Beim Schreiben galt aber trotzdem die Notwendigkeit total, Dingen immer jetzt sofort auf den Grund zu gehen. Wer über ein Phänomen stolpert, hat umgehend rauszufinden, was sich damit machen lässt, welche Aus- und Nebenwirkungen es entfalten könnte und dann: Lass es raus. Und rein in den Text. Eben den Text als "Medium des Möglichen, Erwünschten und Erträumten", dessen Potentiale Dietmar Dath erklärt (Seite 12). Neusprechen Kommt man nicht drumherum, beim Hantieren mit Zukünften, beim Sondieren des jetzt plötzlich doch möglichen, oder auch beim Neuformatieren des Archivs. Also an flottierenden Worten rumfrickeln bis es passt oder - Schwamm drüber - neues Wort in die Versuchswelt droppen. Oder alte Worte recyclen, zum Beispiel Lebensaspekte, das früher immer mit "c" geschrieben wurde, damit es ja niemand mit Lifestyle verwechselt. Alte Worte, neue Worte, viele Worte um Nichts, vor allem weil sie sein müssen: Das Printmagazin als offenes Feld, in dem man driften und tasten darf, in dem niemand gleich kommentiert (Leif Randt, Seite 28). Perfektionismus Haben wir das perfekte Magazin gemacht? Haben wir eine einzige perfekte Ausgabe produziert, in der wirklich alles stimmt? Ersteres


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FOTO BROX + 1

vielleicht manchmal, letzteres eindeutig nicht, allein schon wegen des hartnäckigen Perfektionismus-Trolls, der sich 1997 prompt im Büro eingenistet hat, wo er sich bis heute mit dem Fünfe-gradeZwerg epische Battles liefert. Denn Scheitern muss dabei sein, weil Fehler oft lustig sind und manchmal auch nur einfach schön, aber auch weil ohne Einsatz alles nichts wert ist. Debuggen ohne Fehler? Was bliebe einem dann noch zu tun? Geflügeltes Wort der De:Bug Beauty Operators: Es muss auch mal richtig Scheiße aussehen! Bauchklatscher mit Ansage, die zu Klassikern wurden: "Die Zukuft ist das neue Ding!" Dabei hat Scheitern eine merkwürdige Nähe zum hirnlosen Optimismus, den es zu pflegen gilt, trotz und wegen allem, was in den letzten zwei Jahrzehnten so richtig schief gelaufen ist. Scheitern als Chance eben. Fan sein Statt Fanzine. Wir waren gelegentlich gerne zu nah dran. Objektivität, Distanz, diese Regeln des guten Journalismus, die man aller Orten so oft versagen sieht, vor allem wenn es um kulturelle Dinge geht, in denen die Distanz selbst zum objektiv zu beleuchtenden Ding werden müsste, statt hinter ihrem zu wahrenden Gesicht einfach nur als blasse Meinung in der Verkleidung der Macht aufzuscheinen. Wir waren dabei, als Leser, Hörer, Partygänger, Labelmacher, DJs, Drogenschlucker, letzter auf der Afterhour. Und wenn wir auf Abstand waren, wollten wir meistens einfach auch nicht hin. Haltung Programm? Philosophie? Lieber nicht. Aber es gibt eine Haltung, einen Kern. Eine Grenze, die man nicht überschreitet, auch wenn man sie nie genau ziehen kann. Wenn wir uns irgendwelchen Zwängen beugen mussten, dann mussten wir die Zwänge auch ein wenig zurück beugen. Selbstbeherrschung stand immer schon auf dem Titel. Auch das eine Folge merkwürdiger Bedingungen. Naiv wie wir waren, dachten wir am Anfang von De:Bug, so eine Zeitung,

die braucht einen Dreisatz von Themen: Musik, Medien, Kultur. Allgemeiner und platter ging es nicht. Das war nicht auszuhalten. Da fehlte was. Und wenn einem was fehlt, dann springt diese Haltung an und sagt so Dinge wie: Selbstbeherrschung. Wir hatten doch noch was vor. Kennt ihr die Platte Wir hatten doch noch was vor von classless Kulla & istari Lasterfaher auf Sozialistischer Plattenbau? Am Cover prangt eine Todo-Liste: Wäsche waschen Müll runter Kommunismus Weltraum Dermaßen straight waren unsere Prioritäten allerdings nie. Und natürlich haben wir völlig vergessen diese Platte, die eigentlich Platte des Monats hätte werden MÜSSEN, zu besprechen, ohne dass wir gewusst hätten warum. "Wir hatten doch noch was vor" wird für immer diese Leerstelle bleiben, an der wir uns bei allen entschuldigen, die nicht ihren gebührenden Platz erhalten haben. Schnittstelle zum Glück Ihr wisst schon, Grenzen überschreiben, oder richtiger: überschreiten, Zusammenhänge finden, wo keine waren, weil früher oder später läuft eh alles zusammen. Ästhetik, Technik, Drogen, Musik, Theorie, Politik, Absurditäten, Geld, kein Geld … Wenn es eine Welt der Zukunft geben soll, dann sicherlich eine, in der nichts mehr nicht zusammenhängt. Gelegentlich ist das die Schönheit der Kontingenz, manchmal treten sich aber alle auch nur auf die Füße und wenn man Pech hat, ist Krieg der Knöpfe. für ein besseres morgen, de:bug


Michael Aniser

Ann-Kathrin Obermeyer & Adrian Crispin

Ingrid Arnold

Lea Becker

Benedikt Bentler

Christian Blumberg

Tim Caspar Böhme

Brox

Dea Dantas

Verena Dauerer

Rachel de Joode

Fabian Dietrich

Michael Döringer

Alexandra Dröner

Friedemann Dupelius

Feed

Andreas Gehrke

Elisabeth Giesemann

Gene Glover

Johanna Grabsch

Lars Hammerschmidt

Marcus Hauer

Thaddeus Herrmann

Renko

Jan Joswig

Jan-Ole Jöhnck

Julia Kausch

Jin-Hun Kim

Christian Kinkel

Peter Kirn

Tobi Kirsch

Nils

Sulgi Lie

Jonas Lindstroem

Aram Lintzel

Aram Lintzel

Mari Lippok

Lotta

Sebastian Mayer

Me Ra

Philipp Rhensius

Janko Röttgers

Andreas Sachwitz

Bjørn Schaeffner

Kerstin Schäfer

Viviana Tapia

Oliver Tepel

Basti


Brox +1

Andreas Brüning

Mercedes Bunz

Claudia Burger

Wenzel Burmeier

Andreas Chudowski

Martin Conrads

Feed Eberhard

Bassdee Eberhard

Jonas Eickhoff

Phillipp Ekardt

Andreas Ernst

Timo Feldhaus

Nina Franz

Renko Heuer

Bianca Heuser

Jan Rikus Hillmann

Sebastian Hinz

Christoph Jacke

Julian Jochmaring

Rene Josquin

Nils Knoblich

Felix Knoke

Malte Kobel

Sascha Kösch

Chris Köver

Leon Krenz

Philipp Laier

Me Raabenstein

Natalie Meinert

Moritz Metz

Multipara

Tim Nagel

Kito Nedo

Anne Pascual

Bastian Thüne

Anton Waldt

Alexis Waltz

Jan Wehn

Benjamin Weiss

Sebastian Weiß

Christian Werner




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181 — MANIFEST

»In vier Wochen hatten durch Spam nicht weniger als 6.000 Personen pimmelblähende Pastillen geordert.«

PFUI TEUFEL! KARL KRAUS, 12. JUNI 1936

Mario Sixtus Januar 2004 De:Bug 78

Pick your battles / Veteran Wort


180 — 13

TEXT DIETMAR DATH

Dietmar Dath ist Deutschlands bester SciFi-Autor. Seine Erzählung "Der Minkowski Baumfrosch" erschien als Fortsetzungsgeschichte in den De:Bug-Ausgaben 19 bis 27. Hier entschuldigt sich der Medien- und RevolutionsCheftheoretiker noch einmal ausführlich nicht für den Text als Medium des Möglichen, Erwünschten und Erträumten. In meinem Büro bei der mittelgroßen Zeitung klebt ein, mit dem Handy selbstgeknipstes Schaumbadfoto der lesbischen Porno-Regisseurin Lily Cade auf einem Bild des nachdenklich lächelnden Schriftstellers H.G. Wells. Neben Ms. Cade guckt Joanna Russ ein bisschen skeptisch, die beste Science-Fiction-Autorin aller Zeiten, die mit Mr. Wells die Themen gemeinsam hat und mit Ms. Cade die Liebesorientierung. Diese drei, und ein paar andere, umgeben mich auf Bildern und mit Büchern, wenn ich das schreibe, was sich am übernächsten Tag schon wieder erledigt hat, damit ich nicht vergesse, es ihnen gleichzutun: Mach das, was du wichtig findest, bleib dran, wenn es anfängt, zu ruckeln, und pick your battles, wie der alte Bratzelkopp Robert De Niro neulich dem etwas jüngeren Weltordnerstreber Barack Obama hat ausrichten lassen. Der Minkowski Baumfrosch Man kann sich nicht mit allen anlegen, die dem Wahren, Schönen und Guten im Weg stehen. Aber man soll sie auch nicht alle laufen lassen. Mein Job ist Literatur, auch als Journalismus – das soll gar kein Maßstab für andere sein die schreiben, es gibt ja auch Leute, deren Job umgekehrt Journalismus ist, selbst als Literatur, und einige von denen haben jedenfalls mehr Wertvolles und Nützliches hingestellt als ich. Aber Literatur, was soll ich sagen, it’s the battle I picked, und der Rest ist dann die Frage, an welchem Frontabschnitt gerade was genau passiert, für was, gegen wen. Als mich vor, was weiß denn ich, sagen wir: dreiundvierzig Millionen Jahren die Einladung aus dem Hause Mercedes und Sascha erreichte, für De:Bug einen Fortsetzungsroman zu bauen, dachte ich, das ist ja unfassbar super, da sind doch tatsächlich mal Leute einerseits ganz nah dran an dem, was nachrichtlich in der Kultur gerade neu zündet – elektronische Lebensaspekte, Freunde und Nachbarn – und bringen dann andererseits wohl gerade deshalb die Souveränität auf, auch solche Menschen mitmachen zu lassen, die das Schreiben in Gattungen wie News, Interview, Rezension nur in Notwehr ausüben und am liebsten einfach erzählen würden. Schädelquetscher Mir hat das bei Spex damals echt den Schädel zusammengedrückt, dass es da diese, seinerzeit immer noch sehr lautstarke, dabei immer schnell beleidigte und ansonsten unangenehm eifrig ihre komischen Positionen mit immer neuen Offensiven gegen sogenannte "Spinnerei" vertretende Fraktion der organisierten Abdeckerei von Szene-Geschehnissen gab, dieses ewige, schlimme "Wir müssen abbilden, was passiert, und dürfen nicht erfinden, was wir gerne hätten". Ausgerechnet dort - in einer Redaktion, die doch hätte wissen können, dass das, was sie da monatlich ins Leben verabschiedete, für ganz viele Menschen zuallererst Literatur war statt (auch wenn das als Stoff unbedingt dazugehörte) Service oder Info - musste man sich diesen Nachfragequatsch

anhören. Die Tugend guter Zeitschriften und anderer regelmäßig erscheinender Wortmeldungen zu aktuellem, heißem Scheiß ist doch in Wirklichkeit immer die über diesen heißen Scheiß vermittelte Welterschaffung statt irgendeiner braven Welterschließung, also die Kommunikation von Haltungen, nicht die Mitteilung von Kennziffern und Eigennamen der Produktzirkulation. Angebrachte Arroganz Neuerdings popeln wieder allerlei mehr oder weniger Zuständige und Unzuständige, darunter behämmerterweise dann leider auch ich, in der deutschen Gegenwartsliteratur herum, im Sinne einer Debatte (oh good lord, can we please kill this word now?) darüber, ob in besagter deutscher Gegenwartsliteratur nicht dringend mal eine ganz irre Überraschung untergebracht gehört, oder ob da nicht wenigstens irgendwo ein Widerspruch klebt, mit dem man sich die Sterbensödnis bis zum nächsten Zeitjob verkürzen kann. Diese deutsche Gegenwartsliteratur wundert sich dann mit Recht, dass man ihr immer nur auf den Bauch guckt, also in die eigentlich ja eh nur als Zwischenschritt interessanten Ideen der Autorinnen und Autoren, statt direkt ins Gesicht, also dahin, wo zum Beispiel gerade Netz und Zeitschrift und Zeitung und Buch, lauter grundverschiedene Gesichtsmuskelstränge, ganz komische Grimassen schneiden. Ich denke manchmal: Warum sind die Schriftstellerinnen und Schriftsteller nicht viel arroganter? Warum sagen sie nicht Sachen wie: "Schön, dass ihr auch endlich kommt!" zu den Sounds, Bildern und Videos, die jetzt Dank allerlei Digitalkram endlich auch embedded, shared, remixed werden, was es doch bei Texten seit lange vor Jesu Beschneidung gibt. Stattdessen entschuldigen sich dauernd alle für alles: Die Buchmenschen, weil man sie noch nicht anklicken kann, die Netzleute, weil sie noch nicht rausgefunden haben, wie man für anständige Arbeit anständig bezahlt wird, die Journalistinnen und Journalisten, weil sie beim Reader-Scan schlecht abschneiden.

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Zum Heulen. Als Sascha mir gemailt hatte, dass die De:Bug aufhört und man diese Gelegenheit dazu wahrnehmen wird, sich noch mal ausführlich NICHT zu entschuldigen, fand ich das genau richtig. In alten Büchern steht einiges, was man nur ganz sachte updaten muss, schon stimmt es wieder – Brecht zum Beispiel: Die Schwachen kämpfen nicht. Die Stärkeren kämpfen vielleicht eine Stunde lang. Die noch stärker sind, kämpfen viele Jahre. Aber die Stärksten kämpfen ihr Leben lang. Diese sind unentbehrlich. Das ist nicht übel, vorausgesetzt, man kapiert, dass es auf "stark" und "schwach" nicht mehr so arg ankommt, seit die Dampfmaschine die Körperkraft ersetzt und das Internet das "gusseiserne Gedächtnis" (Arno Schmidt) für trivialen Scheiß aller Art überflüssig gemacht hat. Was Brecht gemeint haben wird, wenn wir dann irgendwann (= nie) mal fertig sind mit all den Kämpfen, wird einfach dies gewesen sein: Man muss die Kämpfe nicht alleine kämpfen, man muss sie nicht alleine sortieren, man muss sie nicht alleine gewinnen und verlieren, es sind immer andere in der Nähe, kurz-, mittel- und langfristig. Schau dich bloß mal um.

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181 — MANIFEST

TEXT ALEXANDRA DROENER

Hype macht Hate / Die kleinen ekstatischen Britzel Alexandra Dröner schrieb seit Ausgabe 93 regelmäßig für De:Bug, 2013 war sie ein sehr gutes Jahr lang Redakteurin und Hype-Expertin. Für sie sind ES die Nuancen der Wellen- und Weltbewegungen, die an Bedeutung gewinnen und die großen revolutionären Ideen ersetzen. Hyper, hyper. Wenn nur der schale Nachgeschmack verpasster Zukunft nicht wäre.

»Taptaptaptatap oder Taptaptaptatap?« Felix Denk September 2001 De:Bug 51

Denn das ist es, was wir wollen - wir wollen Zukunft. Auch, und gerade weil wir genau wissen, dass wir uns schon seit den ausgehenden 199#ern in einer zweifelhaften Zeitschleife befinden, in der Neu immer nur als eine Neuformulierung von allem was war und ist zusammengepuzzelt wird, sind es die Nuancen der Wellenbewegungen, die an Bedeutung gewinnen und die großen revolutionären Ideen ersetzen.

Enttäuschung Das Ritual des Hype ist uns eingeschrieben. Als Public Enemy Ende der 198#er Jahre den Kampfesruf "Don’t Believe The Hype" in unsere vom Punk noch anarchisch gestimmten Genome meißelten, war es längst zu spät. Wir hatten dem Hype bereits geglaubt und waren belohnt worden: mit den Beatles, mit den Sex Pistols, mit Public Enemy. Lebensverändernde Musikrevolten mit immensem Distinktionspotential für ihre Anhänger. Der Hype als eingelöstes Versprechen mit jeder Menge positiven Learnings, für die Presse, die Plattenfirmen und die Fans. Diese inzwischen anachronistische, aber immer präsente Hoffnung auf das große Neue führt in der gegenwärtigen, stakkatohaften Gleichzeitigkeit von Mikrohypes aber auch dazu, dass wir immer schneller und eindringlicher enttäuscht werden. Der Hater tritt auf den Plan. Wir, die wir gerade noch elektrisiert waren vom aufregenden Jetzt, werden von der Leere der Überdosis Hype übermannt wie Phantasien vom Nichts. Die Erde hat nicht gebebt, der Beat hat keinen neuen Takt und wir wenden uns von der vermeintlichen Sensation genauso schnell wieder ab, wie wir ihr gerade noch auf Soundcloud gefolgt sind.

Wenn der Hype in Form eines mittelalten HipsterPlayboys den Supermarktgang hinuntertänzelt oder entschieden zu niedliche Fremde beim ersten Kuss beglotzt, wissen wir natürlich sofort was los ist: Da will uns jemand mit unserer eigenen Coolness ködern, unsere Ahs und Ohs antriggern und unsere Finger auf den Teilen-Button zwingen. Wir werden zu braven, billigen Hypesoldaten im Auftrag gewiefter Marketingstrategen. Die drängelige Hysterie der Hypemaschinisten quillt aus allen Ecken, jedes Katzenvideo will dir mindestens den Verstand wegsprengen, jede Meldung die beste deines Lebens sein, während ein Hologramm von Kanye West an deiner Haustür klingelt, um dir ganz persönlich seine neue CD mit den Brüsten seiner Kindesmutter in die Hand zu drücken. Soviel Hype war nie. Da wäre der Rückzug in einen katatonisch verkrampften Kulturpessimismus verständlich, wenn nicht sogar angeraten, würden wir nicht immer noch und immer wieder diesen kleinen, ekstatischen Britzel verspüren, wenn uns in all dem Summen und Rauschen doch etwas unterkommt, das wir genau so noch nicht gesehen oder gehört haben. Unsere Antennen ragen steil nach oben, wenn uns plötzlich von irgendwoher dieses seltsam photogeshopt wirkende Alien-Gesicht von FKA twigs ansingt, oder alle Welt nach dem beatlosen Track eines, wie man hört, minderjährigen Typen namens Sophie tanzen will. Wir schmelzen dahin und haben das untrügliche Gefühl: Es geht weiter!

Hass Natürlich, der Hass ist kein neues Symptom. Der Leserbrief an die Bravo, wie doof Modern Talking sind oder wie scheiße man das dritte Soft-CellAlbum findet, wird nun übereffektiv ersetzt von unseren ständig funkenden sozialen Kanälen, über die wir unsere Erhabenheit über dieses oder jenes hippe Phänomen weithin sichtbar machen können. Gerne übrigens auch direkt beim Künstler selbst, was dann, wie gerade im Fall von Sky Ferreira und ihrer flammenden Rede gegen die ihr zugeschriebene Internettrolle geschehen, gleich wieder den Hype füttert. Hype und Hate folgen ganz ähnlichen menschlichen Bedürfnissen: Abgrenzung, der Herauskehrung vom überlegenen Spezial- und Geheimwissen oder Gruppenbildung - der Mob glücklich vereint in seinem Hass gegen Skrillex zum Beispiel (wobei es im Übrigen, wie uns eines der vielen Hype-Medien versichert, inzwischen wieder "out" sei, ihn zu hassen, pünktlich zum Release-Date seines neuen Albums). Egal wie hohl, gekauft und leer sich die allermeisten Hypes auch herausstellen, wir machen weiter mit unserer Suche nach dem nächsten Trend, der nächsten Jugendbewegung, dem heißen Scheiß. In einer Popkultur ohne Leitmotiv, einem Underground ohne verbindlichem Feindbild, sind es die vielen kleinen Regungen, die uns die Welt und das was kommt verständlicher machen. Unsere eigene Roadmap, auf der wir die Punkte zwischen Seapunk, gestohlenen R&BSchnipseln, der Glorifizierung des Normalen und einer plündernden Fashion-Meute bei einer ChanelShow verbinden können und plötzlich wissen, was wir morgen gerne zu Mittag essen wollen.



181 — MANIFEST

Arbeit, Jeans und ganz viel Entfremdung

NICHT SCHIESSEN! ROSA LUXEMBURG, 15. JANUAR 1919

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»Keine Frage: Wir sind Schmarotzer. Content-Mörder. Allesamt.« Janko Roettgers Januar 2003 De:Bug 67


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TEXT MERCEDES BUNZ

Mercedes Bunz ist Mitgründerin und strenger Aufsichtsrat der De:bug GmbH. mit Dutt, Foucault unter dem Arm und HackneyAkzent, arbeitet SIE als Projektleiterin an der Universität Lüneburg an neueR Medienforschung im Jetset zwischen Vorträgen und ihrer englischen Wahlheimat. Arbeit, was kann das noch sein?, fragt sie zu Recht in ihrem Abschiedstext und sucht nach den Resten des Widerstands in der Entfremdung.

Probier das mal: Wenn du das nächste Mal sehr früh aufwachst, Morgengrauen und so, öffnest du die Augen nur ein ganz klein wenig. Bewegst dich nicht. Genau, nicht rekeln. Einfach so tun, als ob man noch schläft und gut die Ohren spitzen, während sich die Gedanken anstelle der Träume im Gehirn versammeln. Was hörst du? Genau, es knirscht. Kontinuierlich. Das ist der grummelnde Grundton, der seit einiger Zeit dein Leben begleitet. Die Balken der Diskurse biegen sich, das ganze System wird umgewuchtet, gleich einem Schiff, das nach einer Halse sein Gewicht auf die andere Seite verlagert. Wir haben die Bewegung kaum gemerkt, und doch kann man die Veränderungen nicht mehr ignorieren: Die Logiken, in denen wir leben, sind nicht mehr modern. Für Theoretiker und Theoretikerinnen ist das natürlich toll. Es gibt Arbeit für sie. Bei diesem Wendemanöver ist jede Menge durcheinander geraten. Das Gleichgewicht der Begriffe hat sich verschoben. Bezugspunkte liegen wie umgekippte Schränke im Weg und behindern ein Weiterkommen. Lieb gewonnene Begriffe, einst strahlende Blickpunkte, hängen jetzt, nassen Lappen gleich, mutlos herab und verstellen die Sicht – die menschliche Perspektive kommt auch im digitalen Zeitalter nur langsam hinterher. Macht nichts. Wir haben Zeit, ein ganzes nächstes Jahrhundert. Ich will erstens über Arbeit reden, dabei zweitens aufzeigen, was sich verändert hat, auf welche Weise der Begriff Arbeit in der Welt sitzt und drittens beobachten, was uns diese Veränderung über den Diskurs sagt, dem wir beiwohnen. Selbstbestimmung und Kreativität gehörten dabei zu den ersten Begriffen, an denen das neue Monster – das derzeit herrschende System – seine Narration erfolgreich ausprobierte. Selbstbestimmung und Kreativität wurden – einst deutlich emanzipativ konnotiert – semantisch enteignet. Dass hier tatsächlich eine neue Diskurslogik am Werk ist, merkt man auch daran, dass Negation auf einmal keine Option mehr ist. "Selbstbestimmung – nein Danke" wurde natürlich kein Slogan. Die alte Technik der Dialektik – Negation – läuft im neuen System ins Leere, was aber nicht gleich heißt, dass wir im Zeitalter der Postdialektik gelandet sind. Gelandet sind wir jedoch irgendwo anders, denn die diskursiven Waffen des alten Systems funktionieren nicht mehr. Und man kann sogar eine Erklärung dafür finden, wie so eine Veränderung passieren konnte, ohne dass wir gefragt wurden oder das Bundesverfassungsgericht darüber beriet. Es scheint, als hat man jenen Trick angewendet, den der Philosoph Giorgio Agamben als "Signatur" beschreibt: "Signatures move and displace concepts and signs from one field to another without redifining them semantically." Anders als der Poststrukturalismus, der Begriffe geradezu frontal angriff und unwiderruflich aufbohrte, Autoren für tot erklärte und für jede Menge Diskurswirbel sorgte, passierte nach vorne heraus semantisch gesehen eher wenig. Niemand schrieb aufgeregte Feuilletondebatten. Dennoch merken wir, dass sich das gesamte System verschoben hat. Konzepte wie Selbstbestimmung und Kreativität finden sich versetzt, aber semantisch nicht neu definiert. Thus we are displaced, no doubt, wir sind verschleppt worden, und befinden uns in der Hand, beziehungsweise der Logik eines neuen Diskurses, dessen Eckpunkte wir grob folgendermaßen abstecken können. Wirtschaft ist die neue Politik. Effizienz ist die neue Ideologie. Globalisierung ist die neue Geschichte. Innovation ist der neue Fortschritt. Und Arbeit ist die neue Identität. Arbeit steht im Zentrum des neuen Systems, in dem wir uns jetzt befinden, was man schon daran bemerkt, dass es zu ihr kein Außerhalb gibt. Das Ich wird zu einem Unternehmen,

das sich durch andere Logiken, Liebe etwa, nicht mehr mitreißen lässt. Die Literatur kommt nicht mehr als Rettung infrage. Das Dachgeschoss ist ausgebaut. Die Liebe kann vielleicht Klassenschranken sprengen, gegenüber der Arbeit ist sie machtlos. Um dem Agieren der Macht und der Bewegung des Diskurses auf die Spur zu kommen, machen wir einen Umweg über eine Arbeitshose, die Jeans. Oft ist es ja so, dass sich im Zentrum alles verknäult, weshalb man am Rande besser sehen kann. Deshalb blicken wir nicht auf die Arbeit selbst, sondern versuchen das, was mit der Arbeit geschieht, von der Arbeitshose abzulesen. Ausgangspunkt dafür soll ihr Auftauchen in einem Film sein, in dem es keine Arbeit gibt, zumindest keine gute, selbstbestimmte: "Out of the Blue" von Dennis Hopper. Arbeitshosen-Erkenntnisse Hellblau wie ein Bergsee ist die Jacke, welche die junge Cebe quer durch den Film "Out of the Blue" trägt. Man könnte auch sagen: ausgewaschen, doch Dennis Hoppers drastischer Film ist eine Hommage an die Jeans. Wir schreiben das Jahr 198$, das Ende der Welt und der Hoffnung ist nahe, und die Jeans ist überall dabei. Während ihr von Schuld und Unfähigkeit verbeulter Vater die Hose noch zum Arbeiten anzieht, trägt Cebe ihre bergseeblaue Jeanskluft androgyn angreifend als Aussage durch eine feindliche Welt: Disco sucks, kill all Hippies. Die Welt ist in Unordnung, und mit ihr die Jeans. Schon seit Längerem hatte das Jeansmaterial begonnen, sich von seinem Gebrauchswert unabhängig zu machen und keine Arbeitshose mehr zu sein, sondern Mode zu werden, was der Film "Out of the Blue" spielerisch aufnimmt. Beispielsweise dann, wenn der Film die Daumen lutschende Raucherin Cebe für das Familienleben herausputzt und dazu in eine Art Trachtenkleid steckt, jeansblau natürlich. Und so zeigt sich an der Jeans, wie die einstige Ordnung endet und sich die Welt auf den Kopf stellt: Out of the blue and into the black. Mit der Jeans beginnt Arbeit, Mode zu werden, und sie tut das so ernsthaft, wie die Mode selbst geworden ist – schon lange zieht man ja Sachen nicht an, sondern "ist" sie – man ist von seinen Sachen nicht zu trennen, genauso wie man von seiner Arbeit nicht mehr zu trennen ist. Und hier stoßen wir auf unsere erste Hosenerkenntnis: Damit ist uns etwas abhanden gekommen, was wir eigentlich nie haben wollten, jetzt aber schmerzlich vermissen: die Entfremdung. Wir reden über Kreativität und Selbstbestimmung, denn wir sind schockiert, diese alten Werte jetzt wirkmächtig auch auf der fiesen Seite zu finden. Aber die Entfremdung, jenes Moment, das die Arbeit bislang immer begleitete, vermissen wir nicht, und das ist ein Fehler. Schon Hegel wusste, man entkommt ihr nicht: "Alles, was im Himmel und auf Erden geschieht – ewig geschieht –, das Leben Gottes und alles, was zeitlich getan wird, strebt nur danach hin, dass der Geist sich erkenne, sich selber gegenständlich mache, sich finde, für sich selber werde, sich mit sich zusammenschließe. Er ist Verdoppelung, Entfremdung…" Alles, was geschieht, ist von Entfremdung begleitet, muss von Entfremdung heimgesucht werden, auch die selbstbestimmte Arbeit; und in der Tat, so, wie sie seit einiger Zeit an uns herangetragen wird, erscheint sie uns durchaus befremdend. Zweite Hosenerkenntnis: Zuerst Arbeitshose, machte sich die Jeans eines Tages von ihrem alten Arbeitsgebrauch unabhängig. Sie rebellierte und wurde zur Uniform des Rock ’n’ Roll. Nachdem sie sich als Modewert schick gemacht hatte und der Stoff nun auch in Form von Jacke oder Hosenanzug ausging, folgte – einmal zur Aussage geworden – umgehend der nächste Schritt: Die Jeans wurde Design. Zur Designer Jeans geworden, verließ sie dann nach der Arbeit auch den angestammten Kontext, die Körper der sich gegen das Establishment Auflehnenden. Stattdessen erschien sie an Models und wurde über die blitzlichtbeleuchteten Laufstege der Modewelt getragen. Dank doppelter Entfremdung wurde sie zum radical chic. Nicht, dass sie hier ihren Weg beendet hätte. Mit einer dritten Verschiebung


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verließ die Jeans schließlich auch ihre Form und zum Teil sogar ihr Material, den Jeansstoff. Eine Freundin von mir, Katharina Tietze, Direktorin für Style und Design an der Zürcher Hochschule der Künste, beherbergt gleich eine ganze Sammlung dieser "Jeansdinge" – darunter finden sich Jeans-Gummistiefel, also ehemalige Arbeitsschuhe. Die sind für die theoretische Arbeit natürlich vielversprechend: Seitdem van Gogh 1886 Arbeitsschuhe malte, über die Heidegger, Schapiro und schließlich auch Derrida schrieben, hoffen wir in und an Arbeitsschuhen nicht nur Dreck, sondern auch Wahrheiten zu finden. Allerdings muss man das Hinsehen erneut lernen, um die neue Konzeption der Macht zu erkennen. Slavoj Žižek hat als einer der Ersten auf das neue Agieren der Macht hingewiesen. Er hatte, nie faul, einmal wieder die Verhältnisse verschoben: Während früher Konsum und Ethik sowie Wirtschaft und Soziales handlich binäre Oppositionspaare bildeten, scheinen neuere Erscheinungen einen verwirrenden Zusammenfall solcher Gegensätze zu zeigen. Žižeks Beispiel: Mit dem Kauf eines Starbucks-Kaffees vergrößert man jetzt nicht mehr nur das Imperium dieser globalen Kaffeekette. Dank des verwendeten Fair-TradeKaffees tut man nun auch noch etwas für

die Umwelt und verbessert das Leben von hungernden Kindern in Guatemala. Žižek schließt daraus: Der Kapitalismus hat die Opposition zweier vormals getrennter Dimensionen zum Einstürzen gebracht. Er ist in einen postdialektischen Status eingetreten: Widerspruch zwecklos, Opposition bereits mit inbegriffen. Doch ist Žižek dabei ebenso wenig wohl, wie vielen anderen Linken. Aber stimmt das wirklich? Sind wir in eine postdialektische Phase eingetreten? Als ob sie in alter Tradition gegen die Macht rebellieren, zeigen einem Jeansdinge auf, was hier Sache ist. Denn wie viel Jeans hat man in Jeansdingen vor sich? Wie die Macht hat auch die Jeans ihre Form geändert. Doch anders als die Macht behaupten Jeansdinge nicht, dass sie dabei eine Jeanshose geblieben sind. Das zeigt sich uns als nichts anders als ein jeanshaft angemalter Gummistiefel; und damit ist sie, die alte Arbeiterhose, einem dabei behilflich, sich in der neuen fundamentalen Umordnung zu orientieren und den Dreck bezeichnen zu können. Am Starbucks-Beispiel wird sichtbar, dass der Kapitalismus keineswegs in eine postdialektische Phase eingetreten ist. Die gute Absicht wird eingesetzt, um alle

"Der Kapitalismus hat die Opposition nicht inkorporiert, sondern sie nur außen draufgeklebt, als schicke Oberfläche" weiteren Verhältnisse zu verschleiern: vorne raus Selbstbestimmung, hinten raus ganz viel Entfremdung. U mwe lt s c h u t z, Fa ir Tr a d e, Selbstbestimmung und Kreativität sind allesamt aus der Kritik am Kapitalismus hervorgegangen. Lange haben sie den Kapitalismus nicht gestört, bis sie zu laut geworden sind. Da begann der Kapitalismus, sich gezielt mit dem Widerstand aufzubrezeln und dafür die Kritik fragmentiert zu inkorporieren. Das Ergebnis: Kritische Kräfte stehen mit einer nun hilflos ins Leere baumelnden Argumentation vor der neuen semantischen Aneignung,

finden sie doch den eigenen Widerstand nunmehr scheinbar auf der Gegenseite wieder. Ich würde Žižek an dieser Stelle auch widersprechen: Der Kapitalismus hat die Opposition nicht inkorporiert, sondern sie nur außen draufgeklebt, als schicke Oberfläche: Du lebst im Fortschritt. Es entsteht ein postdialektisches Konstrukt, das nicht viel mehr ist als schöner Schein. Lange hatte sich emanzipative Kritik als Widerstand verstanden, der gegen die Macht gerichtet war – und nicht als eigene Macht, basierend auf eigenen Grundsätzen, Werten und Idealen. Es gibt ein Problem, wenn politische Positionen

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sich ausschließlich als Gegner verstehen: Sie geraten in Gefahr, mit der Aneignung des Widerstands ins Leere zu laufen. Oppositionelles Agieren heißt nicht nur gegen, sondern auch für etwas zu sein – "politics of prescription" nennt das der britische Philosoph Peter Hallward, dessen Essay zu diesem Thema dringend zu empfehlen ist – in Zeiten wie diesen muss man sich mit neuen Sichtweisen bewaffnen. Denn wir haben es hier mit einem neuen diskursiven Monster zu tun. Es zwingt uns, binäres Denken von Macht – für oder gegen – zugunsten eines vermeintlich komplexeren Konzepts aufzugeben. Das braucht neue Ansätze. Einen hilfreichen Ansatz, das zu meistern, findet man in der Figur der Diffraktion, wie sie die Philosophin Karen Barad in ihrem Buch "Meeting the Universe Halfway" skizziert hat. Anstelle einer Binarität aus klar voneinander unterschiedenen Gegensätzen zeigt sie eine Überlagerung: eben die Diffraktion. Mit ihr sind die Dinge voneinander unterscheidbar, aber nicht als "in sich rein" zu denken: In einer dunklen Ecke kann es helle Flecken geben, doch erst, wenn die hellen Flecken die dunkle Ecke übernommen haben, hat sich ihr Zustand verändert. Grundlegend bleibt

also eine Dialektik, doch ihr Erscheinen in der Welt gestaltet sich weitaus komplexer als in einem "Für und Wider". Das Auftauchen einer Argumentation "für" auf der Gegenseite bedeutet nicht, dass sie ihre Logik fundamental geändert hätte. Genauso wenig wie ein Gummistiefel nicht zu einer Jeanshose wird, wenn das Jeanshaftige an ihm auftritt, um spielerisch Modebezüge und Arbeitsbezüge aufzurufen. Oder eine Arbeit nicht selbstbestimmt wird, wenn die Tätigkeit, nicht aber die Bezahlung mir ein lebenswertes Leben ermöglicht. Sorry world, es gibt noch Unterschiede. Man sieht: Es ist dringend an der Zeit für eine Erneuerung der Ideologiekritik, die in der Diffraktion eine neue Figur finden könnte. Oppositionelle Anliegen mögen sich wie die Jeansdinge aus ihrem Kontext und ihrer Form bewegt haben, doch wenn sie sich der Logik des Profits unterordnen, verlieren sie sich. Bewaffnet mit der Politik der Diffraktion kann man das aufzeigen und so verdeutlichen: Die angeblichen, "postdialektischen" Verhältnisse sind nicht eingetreten. Kapitalismus ist mit einem Male nicht ethisch gut, schlecht bezahlte Arbeit ist mit einem Male nicht selbstbestimmt. Dennoch glauben wir das viel zu oft, hat man uns doch den Begriff entwendet. Ein Beispiel aus der Praxis: Neulich saß ich in

der Akademie der Künste mit einer Freundin, die ihre Begabung in einem schlecht bezahlten Designkonferenzplanungsjob mit angehängter Pressetantefunktion geparkt hatte. Die Firma ging mal wieder fast in Konkurs und schuldete ihr 9.""" Euro, und sie damit dem Vermieter die Miete. Die Idee, die ihr darauf kam, spricht Bände für den Zustand unserer Verblendung: Nach Jahren der prekären Arbeit nahm sie sich nicht vor, endlich mal existenzangstfrei zu leben, sich also zum Beispiel einen besser bezahlten Job zu suchen und ein anständig selbsterfülltes Leben nach Dienstschluss zu führen. Eingezingelt in einem schwierigen Jobmarkt, vollgestopft mit anderen "Kreativen" – Berlin – wollte sie sich als nächstes einen Job suchen, in dem sie sich wirklich selbst "ausdrücken" könne. An absurden Überlegungen wie dieser sieht man: Die Entfremdung für uns produktiv einzusetzen, diese Technik ist uns abhanden gekommen. Wir leben ein "erfülltes Leben", was aber ja gar nicht sein kann, weil wir ja alle wissen, dass sich die Revolution eben nicht ereignet hat und wir nicht in befreiten Verhältnissen leben. Man sollte von seiner Arbeit leben können. Aber Arbeit ist nicht Leben. Arbeit ist zu einer hochkomplizierten Begriffsmaschine geworden, die aus den Fugen geraten ist.

Zum Beispiel, weil wir bald nicht mehr zur Arbeit gehen können, wenn sich Dank Digitalisierung nach der Arbeitszeit auch der Arbeitsplatz beginnt aufzulösen. Zum Beispiel, weil die noch verbliebenen Reste unseres Arbeitsbegriffs auf den Kopf gestellt sind und "Dienstalter" keine Auszeichnung, sondern ein Problem geworden ist. Zum Beispiel, weil wir in einem System leben, in dem der Lohn nicht mehr an die Arbeit gekoppelt ist, sondern ganz einfach steigt, je näher man am Finanzstrom sitzt. Zum Beispiel, weil wir Kommunikation nicht als Arbeit begreifen, obwohl ein Gang über die Frankfurter Buchmesse deutlich zeigt, dass es höllenanstrengend ist, sich auf Menschen und ihre Befindlichkeiten einstellen zu müssen. Man sieht, es gibt viel zu tun. Denn nein, wir leben nicht in postdialektischen Verhältnissen. Der Begriff der Arbeit wird ein philosophisch und ideologisch umkämpfter Begriff bleiben, eine Herausforderung, die nicht abzuschließen ist. Auch nicht für das Monster. Dem können wir jetzt zumindest sagen, wir leben nicht im Fortschritt. Es sieht nur so aus.

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LASST MICH IN RUHE! BRECHT, BERTOLT, 14. AUGUST 1956

Barbara Ehrenreich: Dancing in the Streets: A History of Collective Joy, Metropolitan Books 2006 Barbara Ehrenreich: Blutrituale, Rowohlt, 1999

»Nutzt euren Körper als Interface!« Nils Dittbrenner September 2003 De:Bug 74

Tanz der Steinzeithörste / Benimmregeln für Raver


TEXT ANTON WALDT

Anton Waldt ist das Tourette unter den Urgesteinen der DE:BUG-Fraktion. Ein unnachahmlicheR Geräuschredner und Wortwolfdreher, der jederzeit das letzte Schlückchen Jägermeister mit dir teilt. Den wahren Tanz fand er 200.000 Jahre vor Christus. Mit den Tanzflächen stimmt etwas nicht, heutzutage: Die breite Masse feiert nicht mehr miteinander, sondern nebeneinander her, jedenfalls immer öfter. Miese Manieren greifen um sich, keinen Benimm mehr die Feiernasen, keinen Begriff davon, was sich auf dem Floor gehört und was eben nicht. Rücksichtsloses Durchdrängeln, hirnloses Geschubse, Ausdruckstanzsperenzchen, breitbeinig Kumpels vollquatschen, torkelndes Geknutsche, Beiseiteschubsen und Füßetreten, unschlüssiges Rumgestehe, Ausfallhüpfer rückwärts, raumgreifendes Mackergehabe und unkontrolliertes Kippenfuchteln gehören nicht auf den Floor und die ganze HandyScheiße natürlich sowieso nicht. Mit Ungebührlichkeiten wie diesen wird die Rave-Kultur mit den Füßen getreten und droht zusehends aus dem Clubleben zu verschwinden, obwohl es eigentlich doch babyeinfach ist: Miteinander, zusammen, gemeinsam Tanzen eröffnet Dimensionen von Euphorie und Ekstase, denen man in der Ego-Abfahrt nicht mal nahe kommt, da kann man "Vollgas geben" soviel man will. Und auf dieser Party-Binsenweisheit basiert auch die Rave-Kultur, in der es ja im Kern darum geht, richtig gute Tanzflächen zu erzeugen, Tanzflächen des kollektiven High. Gute Tanzflächen erkennt man daher auch ganz einfach an ihrer Konsistenz: geschmeidig müssen sie sein, fluffig und klumpenfrei. Ein guter Floor pulst im Idealfall wie leckerer Brei zur Bassdrum und weist dabei eine gewisse Beständigkeit auf, ohne hektisches Hin- und Hergerenne und Show-off-Einlagen. Denn gute Tanzflächen sind sensible Gebilde, fragile Ökosysteme, die durch Verunreinigungen schnell zur Gröhlpöbelmasse verkommen können oder ins gymnastische Exerzieren umkippen, zu hirntotem Massenturnen, bei dem sich die Tanzenden statisch zum DJ/zur Bühne ausrichten. Ein guter Floor schaut derweil nicht nach vorne oder außen, er kreist vergnügt um sich selbst. Tanzschule Waldt Jenseits verkraftbarer, individueller Spaßabstriche droht mit der Erosion der Rave-Kultur aber auch ein fundamental wichtiges Erlebnis zu verschwinden: Die Tanzfläche als freundliche Erscheinungsform der Menschenmasse, einer Masse, die den Einzelnen nicht gleichschaltet, weil sie eine freiwillig und sogar lustvoll eingegangene Gemeinschaft darstellt, eine Art selbstverliebte Masse. Was dann direkt auf die steinzeitlichen Ursprünge der Feiertradition verweist, in der Techno nur die letzte Erscheinungsform in einer langen Reihe darstellt. Der Rausch im kollektiven Tanz geht nach Stand der Dinge auf unsere noch reichlich ungehobelten Vorfahren im Mittelpaläolithikum zurück, eine prähistorische Periode, die sich zäh von etwa 2"".""" bis 4".""" vor Christus hinzog, während die menschheitsgeschichtliche Ursuppe vor sich hinköchelte, in der Kultur und Gesellschaft entstanden, und damit die Basis des modernen Menschen und seiner Fähigkeit sich über die Natur zu erheben. Party bedeutet dabei mehr als primitive Folklore; im Feiern kulminiert vielmehr ein elementarer Moment der Menschheitsgeschichte: die Entdeckung des ungeheuren Potentials menschlicher Zusammenarbeit in großen Gruppen, wobei "groß" im Verhältnis zur Kernfamilie/sippe zu verstehen ist, in deren engem Horizont andere (Vor)Menschen im Zweifelsfall nur lästige Konkurrenten waren. Aber dann entdeckten unsere reichlich animalischen Vorfahren, dass der Mensch in großen, koordiniert handelnden Gruppen allen anderen Tieren tendenziell haushoch überlegen ist, sowohl offensiv wie defensiv. Im Angriff konnte eine organisierte Menschenmasse mehr Fleisch erbeuten, als sie benötigte, womit salopp gesagt Effizienz und Skalierbarkeit entdeckt wurden, wodurch die Menschen plötzlich Zeit übrig hatten, in der

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sie sich mit Kram jenseits der Nahrungsbeschaffung beschäftigen konnten. Gleichzeitig konnten unsere Ahnen im Verein aber sogar die menschenfressenden Bestien in Schach halten, die den (Vor)Menschen seines Lebens nicht froh werden ließen, weil er ständig damit rechnen musste, als Säbelzahntigermahlzeit zu enden. Tanz die Erde untertan Im Wechselspiel mit der frühen Gesellschaftsbildung entstand auch die Kultur, die Bindemittel und Symbol, Medium und Schule des Sozialen darstellt. Der Tanz der Steinzeithörste ums Lagerfeuer war dabei gleichzeitig Übung und Feier des Menschen als soziales Superraubtier. Insbesondere weil das gemeinsame Handeln vieler Menschen wie ein großes Wesen fallweise wörtlich zu verstehen ist, womit die musikalisch synchronisierten Tänze ums Lagerfeuer gleichzeitig Training und Erzählung von Jagd und Kampf darstellen. Die Menschen feierten beim Tanz die Überwindung der sozialen Hemmschwellen ihrer familiären Vergangenheit, die fantastischen Möglichkeiten der Kooperation in großen Gruppen und nicht zuletzt die überschäumende Lebensfreude, die aufkommen muss, wenn man aus eigener Kraft den Status als Beutetier hinter sich lassen kann. Detaillierter nachzulesen ist das alles im kurzweiligen Büchlein "Dancing in the Streets", in dem Barbara Ehrenreich den prähistorischen Wurzeln des Raves nachspürt und seine Traditionslinien quer durch die überlieferten Jahrtausende verfolgt, wobei das Muster der Urfeier mit Musik, Verkleidung, Tanz und kollektiver Ekstase zu bestimmten Anlässen in allen möglichen Erscheinungsformen auftaucht, von antiken Artemis/ Diana-Fruchtbarkeitsritualen zum Frühlingsbeginn, über römische Saturnalien und verschiedene Karnevalspielarten in Mittelalter und Neuzeit. Tanzverbot Quer durch die Geschichte findet sich auch ein wenigstens ambivalentes Verhältnis der Autoritäten zur Feierei, denn natürlich wittern Obrigkeiten prompt Insubordination und Chaos angesichts tobender Massen, die sich am Gefühl der gemeinsamen Stärke berauschen. Und die Steinzeit-Rave-Tradition verleiht den Feiernden nicht nur verdächtiges Selbstbewusstsein, sie ist obendrein ein zutiefst egalitäres Ritual, weil an Jagd und Kampf ursprünglich nicht nur Jäger/Krieger beteiligt waren, sondern auch Frauen, Greise und Kinder. Man könnte sogar sagen, dass mit der Entstehung der Jäger/ Krieger-Klasse eine Entwicklung ihren Anfang nahm, die in der ablehnenden Haltung der Autoritäten gegenüber den Rave-Massen in höher entwickelten Gesellschaften endete (mehr zu diesem Aspekt findet sich in einem weiteren Buch Barbara Ehrenreichs: "Blutrituale"). Auf einem guten Techno Floor kommen daher auch heute noch oft Menschen unterschiedlichster sozialer und kultureller Herkunft zusammen, die sonst nicht unbedingt viel miteinander zu tun haben. Denn gerade in der freudigen Überwindung der Scheu vor der (körperlichen) Nähe Fremder war offensichtlich ein Grundelement steinzeitlicher Feierei - vom Futterkonkurrenten zu Menschenfreunden. Zeitgeistig heißt das Phänomen dann "Diversity Managment". Pille rein, Kopf auf Wenn die Relevanz der Rave-Kultur in ihrer Traditionslinie zum steinzeitlichen Ritual liegt, muss man ihren Wert daran bemessen, wie verdammt geschmeidig und clever die Ur-Party zu neuem Leben erweckt und fruchtbar gemacht wird, wie auf der TechnoTanzfläche eine eigentlich unmögliche Gleichzeitig von Individualität und Gemeinschaftsgefühl entsteht. Ohne in esoterisches Klimbim, Hippie-Gefühlsduseligkeit oder Regelhuberei zu verfallen, erinnert ein guter Floor daran, was die menschliche Identität im Kern ausmacht: Zusammenarbeiten, Gemeinschaften erfinden, Gesellschaften bilden. Die Einforderung angemessener Rave-Manieren wird somit zur menschheitsgeschichtlichen Traditionspflicht, aber man kann die Pille auch deutlich flacher halten: Der Exzess nach Brauch und Weise funktioniert auch einfach besser, es feiert sich schneller, gründlicher und geiler miteinander, eben in der Tradition steinzeitlicher Ekstasemassen.


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TEXT JAN JOSWIG

Scheitern des Aussteigens / Die eigene Grube

Die Feuilleton-Soziologie hat unlängst einen neuen Typus Mann aufgespießt: den Totalverweigerer, der sich im Minimum einrichtet. Die Maximierer leben volles Rohr - im Dispo. Die Minimierer köcheln auf Sparflamme, als soziale Ausharrer in der Froschperspektive. "Die Zeit" verortet sie in Neuköllns Rollbergkiez unter den Geringqualifizierten. Sie hocken aber auch im gediegenen Kreuzberg als freie Journalisten. Eine Fallstudie von Innen (aber kein Lamento, ich jammere nicht ein Zehntel so viel herum, wie das halsstarrige Volk Israels beim Auszug aus Ägypten, dass der HERR nicht meiner zürne und mich mit seinem Schwert erwürge):

Jan Joswig, allererster DE:BUG-Praktikant, danach 10-jähriger Spitzenredakteur, AfroTechno-Auskenner sowie Feingeistspezialist mit Hang zum locker fliegenden Jackett, wurde später Berlins Nr.1 Fashion-Guru und genießt seit ein paar Jahren die Abfahrt als wortreiches Moto-Cross-Scrabble mit Selbstölung.

Raus aus der Gesellschaft, rein in die Höhle: Als Zehnjähriger grub ich mir meine eigene Grube in unserem Vorortwäldchen, deckte sie mit Ästen ab und klebte mir einen Catweazle-Bart an. Nichts als der modrige Geruch nach Erde und Pilzen und das Ich als Wurm im Rhizom. Ich zog mich wieder in den Mutterbauch zurück - einen Mutterbauch, der dumpf vor sich hin verweste. Raus aus der Gesellschaft, rein ins UniVakuum: Beim Studium Generale konnte man sich hinter Goethe vor den Anrufungen der Erwerbswelt verstecken, und vor den sich angerufen fühlenden Mitstudenten. Bei der obligatorischen Kunstgeschichtsexkursion saß ich beim Busfahrer vorn - in einer Sitzreihe ganz für mich allein.

DER TYP MUSS ANHALTEN. … ER WIRD UNS SCHON SEHEN. JAMES DEAN, 30. SEPTEMBER 1955

Raus aus der Gesellschaft, rein ins PeterPan-Land: Techno in Berlin um 2""" hat mir den Kopf gewaschen - oder weichgespült? Im Limbo gibt es weder ein Zurück noch ein Vorwärts. Selbstvergessenheit und Geschichtsvergessenheit verwirren sich zum Identitäts-Irrgarten. De:Bug war mein Ariadnefaden, zehn Jahre Bildung und Erbauung als Redakteur.

»Immer mehr Roboter zählen zu unserem Freundeskreis.« Nico Haupt September 1999 De:Bug 27

Raus aus der Gesellschaft, rauf auf den Bock: Das Motorrad bietet die perfekte Ausrede, um nie ankommen zu müssen. Der Weg ist das Ziel. Icke und meine Rosinante. Verdreckt und verstunken nach einem Sieben-Stunden-Ritt gerät man der Zivilisation gegenüber in die Rolle von Catweazle - so schließt sich der Kreis zur Waldhöhle der Kindheit. Als Motorradfahrer wird man zum räudigen Zentaur, dem sich die Welt rechts und links der Straße zum irrealen Kulissenzauber entfremdet. Jeder Supermarktstop wächst sich zum Kulturschock aus: Da herrscht ja Leben hinter den Fassaden. Da stehen ja Magazine in den Zeitschriftenständern, die sich auf eine zielgruppenoptimierte Ansprache konzentrieren. Schnell wieder rauf auf den Bock. Speeding motorcycle, the road is ours, speeding motorcycle, let's speed some more (Daniel Johnston). Ewig rollen die Räder und rufen die Wälder. Gegenbewegung Nummer eins - rein in die Politik: Als Schulsprecher organisierte ich ein Podium zu Wehrdienst/Zivildienst mit. Ich lud den Sprecher der Bundeswehr ein. Als er am Veranstaltungsabend sah, dass auch ein Vertreter einer Zivildienstinitiative teilnimmt, entrüstete er sich: "Wissen Sie denn nicht, dass es mir als offiziellem Bundeswehrvertreter untersagt ist, mit dieser nicht-legitimierten Initiative ein Podium zu teilen?" Und ich dachte, man könne bei einer zu einem Kerzenhalter umfunktionierten Weinflasche mit jedem reden. Gegenbewegung Nummer zwei rein ins Handwerk: In der DDR hatten sie's gut, Akademiker wurden ermuntert, eine Ausbildung voranzustellen. Ich wollte eine Ausbildung hintanstellen. Zweiradmechaniker statt Mietfeder - mit Mitte 4". Umschulung im Alter, lebenslanges Lernen, das muss doch die Arbeitsagentur unterstützen? Mein Kundenbetreuer stutzte: "Freier Journalist? Sie sind nicht versicherungspflichtig beschäftigt? Sie sind nicht einmal arbeitssuchend gemeldet? ..." Und ich dachte, man könne bei einer zu einem Kerzenhalter umfunktionierten Weinflasche über alles reden. Aber meinen Blaumann von Marquardt+Schulz trage ich so unermüdlich wie Dr. Kimble auf der Flucht sein blütenweißes Oberhemd. Zumindest symbolisch sind wir mittendrin in der Gesellschaft. So lässt es sich ausharren. Ob wir viele sind? Wir werden es nie in Erfahrung bringen, denn der neben uns interessiert uns nicht. Aber wenn wir schließlich als bröckelnder Rand die Mitte der Gesellschaft erodieren, dann hat Bartlebys "I would prefer not to" seinen massenhaften Sieg errungen - in der allerschäbigsten Lumpenvariante, Marquardt+SchulzBlaumann hin oder her.



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O, DAS SCHMECKT GUT. DANKE! JOHANNES BRAHMS, 3. APRIL 1897

das letzte Abendmahl / 404, zeitschrift not found

TEXT DIEDERICH DIEDERICHSEN

Pop-Theoretiker Diedrich Diederichsen über Entspannungsmöglichkeiten in der Verspannung. Und was er vermissen wird. In den 9"er Jahren saugte sich im, wie es damals hieß, "wiedervereinigten" Deutschland jedes Zeichen mit politischer Semantik voll. Das war unumgänglich. Die große Kodierung durch den Kalten Krieg war weggefallen und man musste erst wieder lernen oder auch erstreiten, was eigentlich was heißt (ganz unabhängig davon, was man sonst erreichen wollte). Die Hoffnung, Selbstüberschätzung, aber auch Selbstverpflichtung, dass man mit PopMusik inmitten der Schlacht um kulturelle Hegemonie stehe und dass diese wiederum sehr viel mit den neuen Verhältnissen zu tun haben werde, die Dringlichkeit gegen Rassismus zu handeln, all das trug dazu bei, dass eine molekulare Politisierung einsetzte, die anders als die der 6"er nicht an der (eigenen) Befreiung ansetzte, sondern an der Rettung (anderer oder auch der eigenen), die sich oft eher in Imperativen zeigte als in Sehnsüchten. Dabei übersah man die anderen neuen Realitäten, die der neuen Party und die der Digitalität, die dann im Zentrum von De:Bug stehen sollten.

Ich habe die ersten Jahre dieser Politisierung allerdings als enorm inspirierend für Schreiben und Denken in Erinnerung, auch wenn sie mit reichlich Konflikten und Verspannungen verbunden war; am Ende des Jahrzehnts hatte sie in eine Sackgasse geführt – und zwar erst in eine stilistische und dann auch in eine argumentative. Der blinde Fleck der kritischen Position Um aus solchen Lagen herauszukommen, braucht man neue Orte, neue Situationen. Für mich lieferten die immer Zeitschriften. Die De:Bug, die ja zum Teil auch eine Sezession aus der Spex war, war trotz aller Neigung zur Techno-Neuheit eine Zeitschrift im besten sozialen Sinne. Ende der Neunziger gab es drei neue Zeitschriften. Mit der "Jungle World" entstand ein Blatt, das das Politische wieder in einen Zusammenhang führte, an dem sein systematischer und regulativer Ort erstens klar ersichtlich war (und nicht psychologisch und molekular durch die Kapillargefäße zirkulierte); dennoch konnte gerade dadurch sich zweitens eine entspanntere Umgebung entwickeln als die traditionelle, Pop-Musik-feindliche der alten Linken. Die so genannten "Berliner Seiten" der FAZ führten ein neues Schreiben als Resultat der nun nicht mehr rein phantasmatischen, sondern realen Berliner Republik vor. Das war nicht alles Ergebnis einer Entfaltung des Wünschenswerten, aber es war eine starke Setzung einer neuen kulturellen Realität über ein neues Schreiben. Und dann war da die De:Bug, die den traditionell blinden Fleck der kritischen Position, die technische Seite der Lebensform, in den Blick nahm. Das, was in der "Dialektik der Aufklärung" fehlte und vielleicht auch fehlen musste: die entscheidende Vervollständigung der Gesellschaftsund Kulturbeobachtung. Auch wenn ich für alle drei Zeitschriften/Zeitungen nicht sehr viel geschrieben habe (am meisten noch für die "Jungle World"), sorgten sie in meinem Leben für neue Bezugspunkte und Positionsbestimmungsmöglichkeiten. In den letzten Jahren gab es einmal im Monat ein Abendessen im Restaurant, allein mit der neuen De:Bug. Es wird mir sehr fehlen.

»In zehn Jahren dürfte die reguläre Rentnerwohnung mit einem Hybrid-Roboter ausgestattet sein, der soziale und medizinische Funktionen in sich vereint.« Anton Waldt Januar 2002 De:Bug 55


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Das Ende DES GeldES / Ist nahe Geld in seiner aktuellen Form hat sich überlebt, meint Stefan Heidenreich, der sich mit dem Thema bereits im Merve-Bändchen "Mehr Geld" beschäftigte. Für De:Bug hat er von Ausgabe 23 bis Ausgabe 168 die Kolumne Bilderkritiken verfasst.

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TEXT STEFAN HEIDENREICH

Was die Regelung des menschlichen Zusammenlebens angeht, kann man drei große Regime unterscheiden. Zusammenleben soll hier das ganze Geben und Nehmen von Gütern, Dingen, Handlungen und vielleicht auch Worten umfassen. Wie sich das genau mit Worten verhält, ist schwierig zu sagen. Manche werden ja gegeben und sogar vergütet, andere laufen einfach so hin und her. Vielleicht würde die Unterscheidung zwischen Sprache und Information hier weiter helfen. Aber viel Information ist schließlich Geschwätz. Und viel Sprache wertvoll, aber umsonst. Abschweifung Ende. Unterscheiden wir beim Zusammenleben schlicht in einen Teil, in dem der Austausch formalisiert ist, und in einen anderen Teil, für den das nicht zutrifft. In unserer Gesellschaft lässt sich die Trennlinie relativ scharf ziehen: für manches wird bezahlt, für anderes nicht. Aber da ich ja hier die Formalisierung des Austausches betrachten will, kann ich sie nicht voraussetzen - schon gar nicht, um das Feld, um das es geht, zu bestimmen. Lassen wir diese Unterscheidung also fürs erste offen, nehmen aber an, dass es sie mehr oder weniger unscharf gibt, die Grenze zwischen einem formalisierten Teil und einem unformalisierten Teil des Zusammenlebens.

17.03.2014 10:24:45 Uhr


5 Uhr

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Zurück zu den drei großen Epochen in der Organisation dieses Zusammenlebens. Vermutung ist, dass wir es mit drei Regimen zu tun haben: das unformaliserte Zusammen, das geldförmige Zusammen, und das Zusammen nach dem Geld. Geld meint dabei weniger eine bestimmte Ware oder ein Wertmaß, sondern eine zählbare Formalisierung, in welchem Medium auch immer - Metall, Papier, Zahlen oder Datenbanken.

Geld-Horter Wie komme ich nun drauf, dass diese GeldEpoche zu Ende gehen könnte? Dafür gibt es einen einfachen mathematischen und graphentheoretischen Hinweis, den ich hier nicht rechnen, sondern nur skizzieren will. Das Zusammen hat zwei Dimensionen: das ist der Umfang und die Zeit. Also wie viel Leute an einer Gemeinschaft beteiligt

sind, und über welchen Zeitraum sich ihr Zusammenleben ausdehnt. Dazu kommt die Kapazität der Datenverarbeitung, also wie viele Transaktionen zwischen Leuten man sich merken, notieren oder sonstwie verwalten kann. In der imaginären dörflichen Gemeinschaft passt das ungefähr zusammen. 1"" Leute können ungefähr behalten, wer was von wem genommen hat, wer mehr gemacht hat und wem was zusteht. Es gibt da eine Kapazitätsgrenze, die man wohl berechnen könnte. Geld hat nun die Eigenschaft, jeden Tausch so komplett glattzustellen, dass danach nichts mehr notiert werden muss. Anstelle eines komplexen Geflechts zwischen vielen Beteiligten haben wir nun eine einfache Kontoführung und können den ganzen Rest vergessen. Geld ist eine Vergessens-Technik. Die mit einer Menge von Vorteilen, aber auch nicht zu knapp mit Nachteilen kommt. Unterm Regime des Geldes muss alles vergleichbar und auf einen Wert abgebildet werden. Da Geld zugleich Tausch abbildet und Wert speichert, wird es schließlich zum Mittel des Hortens. Bis wir heute wieder mal bei einem Zustand angekommen sind, bei dem die Geld-Horter nicht nur immer mehr für sich wollen, sondern eigentlich alles.

Wie komme ich drauf, dass sich daran was ändern könnte? Rechnerisch ist das einfach. Dankenswerterweise haben uns ja unsere amerikanischen Freunde letztens gezeigt, dass wir alles von jedem speichern und verrechnen können. Wir haben also ein Erinnerungs-System, das in der Lage wäre, die durch das Geld notdürftige komprimierte Formalisierung des Zusammen wieder auf den ganzen Reichtum aller Relationen auszudehnen. Das ist der Schlüssel, um in die nächste Epoche, das Regime nach dem Geld, einzutreten.

»Der Computer der Zukunft ist eine elektronische Wolke, die ihren Besitzer umgibt.« Konrad Lischka März 2001 De:Bug 45

SMART NEW WORLD XAVIER CHA, SIMON DENNY, ALEKSANDRA DOMANOVIC´ , OMER FAST, CHRISTOPH FAULHABER, KENNETH GOLDSMITH, INTERNATIONAL NECRONAUTICAL SOCIETY, KORPYS/LÖFFLER, TREVOR PAGLEN, LAURA POITRAS, TABOR ROBAK, SANTIAGO SIERRA, TARYN SIMON

S t ä n d i g e r Pa r t n e r P e r m a n e n t Pa r t n e r

Medienpartner M e d i a Pa r t n e r

Gedächtnisgeld Wie's vor dem Geld aussah, hat kürzlich David Graeber ziemlich brauchbar dargestellt. Dazu gehört nicht nur, dass das Zusammen ohne einen starken Begriff des Eigentums auskam, sondern dass Dinge vielmehr unter den Leuten dorthin kamen, wo sie gebraucht wurden. Etwas, was wir heute in allerlei Sharing-Services wieder zu implementieren versuchen. Aber es geht bei der Ökonomie natürlich um mehr, nämlich generell um die Frage, wer was tut und wer was bekommt. Diese Verteilungsfragen zu regeln, war nicht wie heute Geld überlassen, sondern lief über stabile soziale und politische Rollenzuweisungen. Durchaus unschön, nicht um etwa auf die Idee zu verfallen, wir könnten nostalgisch auf eine gute Steinzeit vor dem Geld zurück blicken.

Dann kam das Geld. Und zwar nicht zuerst als Münze, sondern als Formalismus im Abzählen und Aufrechnen des Gebens und Nehmens. Dass es sich später eingebürgert hat, markierte Tonklumpen oder Metallstückchen zu geben, anstelle den Tausch zu notieren, hat wohl mit Datenkompression zu tun. Die sofortige Gegengabe erübrigt es, über den Tausch Buch zu führen. Das Geld tritt an die Stelle der Erinnerung. (Ein amerikanischer Zentralbanker, Narayana Kocherlakota, hat genau das durchgerechnet und kommt zu dem Schluss, Geld sei eine Art von primitivem Erinnerungs-Medium.) Geld bringt all die Formalisierungen mit sich, mit denen wir heute zu kämpfen haben also einen starken Begriff von Eigentum, das Ware-Werden von Allem. Aber es sorgt auch dafür, dass die Reichweite des Zusammenlebens sich beliebig in Zeit und Raum ausdehnen lässt.

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Post Pragmatic Joy / Gleichgewichtsübungen

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RELEASED ON ACKER RECORDS

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TEXT LEIF RANDT

Der Roman "Schimmernder Dunst über Coby County" von Leif Randt war supersofter Normcore avant la lettre. Daran schliesst er nun an und entwirft exklusiv das Konzept des Post Pragmatic Joy: Warum sollte De:Bug eigentlich kein Energy-DrinkMagazin werden? "Ein kleines salziges Popcorn und ein Jever Fun, bitte." Als ich an der Kinotheke stehe, sorgt dieser Satz nicht für Aufsehen. Dabei ist es ein guter, postpragmatischer Satz. Er fühlt sich fremd an, ist aber völlig ehrlich gemeint, denn ich freue mich ja aufrichtig auf den salzigen Snack und das kühle Jever Fun. Die Kinomitarbeiterin reicht mir beides ohne zu lächeln, ich zahle mit einem neuen Fünf-Euro-Schein. Kurz darauf sitze ich zufrieden im kleinen Kinosaal. Ich bin einer von ganz wenigen Zuschauern. Der Film ist nicht wirklich gelungen, aber er berührt mich trotzdem. Postpragmatische Zustände lassen sich, wenn man ein herzloser Theoretiker ist, leicht als dümmliche Zustände missverstehen. Tatsächlich ist es nicht leicht zu definieren, wo die Ohnmacht endet und die Postpragmatik beginnt. Ohnmacht ist Networking, Postpragmatik ist Quality Talk. Ohnmächtig ist das Schweigen aus Unsicherheit, postpragmatisch ist das Schweigen als Entscheidung. Im Zentrum steht das Glückspotential, unsere Chance auf Joy: Wach sein, aber nicht überspannt. Mittendrin, aber nicht verloren.

Glorifizieren, ohne zu lügen Ich habe den Begriff Post Pragmatic Joy (PPJ) erstmals im Januar 2"12 verwendet, als Titel für eine fiktive Reiseerzählung. In der Geschichte geht es um zwei Männer, die im Alter von 28 ihren Sexappeal verloren haben, und nun als Dozenten für Neo-Spiritualismus und Post Pragmatic Joy durch ein fremdes Land fahren. Ihre Weltanschauungen stehen in Konkurrenz zueinander, trotzdem sind sie Freunde. Gegen Ende der Geschichte legen sie 3D-Tarotkarten aus, um etwas über ihre Zukunft zu erfahren. Ein tastender Text, eher sanft als streng. Das allermeiste bleibt offen, aber es öffnen sich ein paar Räume. Der Neo-Spiritualismus verwies noch auf "Schimmernder Dunst über CobyCounty", die Post Pragmatic Joy auf ein diffuses Später. Momentan verwende ich PPJ in einer neuen Spaceopera, die auf verschiedenen Planeten spielt, als Sammelbegriff für religiös grundierte Praktiken und Theorien. Die PPJ hilft den Prosahelden bei der Steigerung ihrer Lebensqualität. Das klingt vielleicht so, als wollte ich wieder eine Parabel schreiben. Aber das ist nicht wahr. Diesmal soll es ein Ratgeber werden. Ich halte "Spring Breakers" von Harmony Korine für einen postpragmatischen Film. Wegen seines pointenlosen Humors. Und wegen seines Blicks auf Jugend, der sowohl verklärend als auch erbarmungslos ist, und dadurch einen Zustand magischer Wehmut stiftet. Das Kunstprojekt "K-Hole" betreibt postpragmatische Essayistik, weil die Thesen zwar nicht haltbar sind, aber gut gelaunt nach vorne blicken. Und meinen eigenen, ersten postpragmatischen Text habe ich über einen Ausflug nach Eurodisneyland geschrieben, 1992. Auszug: "Und am nächsten Morgen als ich aufwachte da war mir übel. Und ich mußte aufs Kloh, und auf dem Kloh wackelte und schauckelte es überall. Aber ich hab es geschafft. Und dann kamen wir in Paris an. Wir stiegen aus und frühstückten auf dem Bahnhof Hörnchen. Dann fuhren wir mit der Metro und der Schnellbahn ins Euro Disney; dabei hatten wir Probleme mit unseren Karten. Und dann sah ich das

Disneyland Hotel. Die Rolltreppe brachte uns hinauf. Ein netter Mann zeigte uns den Weg zu den Bussen die zu unserem Hotel führten. Wir durften gleich unser Zimmer beziehen. Die Tür öffneten wir mit einer Karte die zuerst nicht funktionierte. Als wir in unser Zimmer kamen warf ich sofort den Fehrseher an. Dort gab es sechs Disneyprogramme. Und Kabelanschluss. Und internationale Programme. Und durch die Disney Programme kriegte ich so richtig Lust auf den Themenpark. Ich fragte Mama und Papa, ob sie endlich kommen wollten. Aber sie mußten sich noch waschen. Und das tat ich dann auch." An die Schreibregeln, die ich mit neun Jahren aufgestellt habe, halte ich mich bis heute. Nicht alles daran ist zwingend postpragmatisch, aber es ist auf dem Weg. Aufrichtige Sachlichkeit. Offenherzige Selbstkontrolle. Ein Programm für gleich könnte lauten: Glorifizieren, ohne zu lügen. Trauern, ohne zu weinen. Offen und freundlich sein, aber trotzdem streng. Die Dinge im Gleichgewicht halten. Sich nichts vormachen. Aus den Gegebenheiten den bestmöglichen Zustand herausdestillieren. Und immer so weiter. Und immer so weiter. Flying Horse Viele meiner Freunde haben momentan ein schlechtes Gewissen, weil sie in den letzten Saisons die De:Bug nicht oft genug gekauft haben. Und das obwohl sie lange Jahre Fans gewesen sind. Einer der Freunde fragt via E-Mail: "Wieso hat es De:Bug eigentlich nicht geschafft, aus seiner urbanen Kulturkompetenz heraus eine Agentur zu gründen?" Ein anderer: "Warum möchte sich kein Konzern mit der De:Bug dekorieren? Was ist los mit Samsung oder Nokia? Oder mit Flying Horse? Die könnten so endlich mal zu Red Bull aufschließen. "Mir gefällt das mit Flying Horse ziemlich gut. Ich antworte: "Würde Flying Horse die De:Bug übernehmen, dann wäre das eine schöne Verschmelzung." Ich erinnere mich noch genau an das Getränk. Meine Grundschulkameraden und ich teilten es an sonnigen Nachmittagen in meiner Garage. Nachts lagen wir dann mit beschleunigt pumpenden Herzen wach. Heute wird die Dose mit dem fliegenden Einhorn auf Energy-Drink-Magazin.de als Urgestein und Dinosaurier bezeichnet.

Sie ist angeblich nur noch an bayrischen Tankstellen verfügbar. Nostalgische User schlagen eine Marketingoffensive mit neuem Dosendesign vor. Ich schlage einen Kauf des Magazins De:Bug vor. Neue Diskotheken Die Idee ist der sonnige Frühlingstag, den man auf Flying Horse im Park verbringt, mit einer druckfrischen Ausgabe der De:Bug unter dem Arm. Zuerst der saure Geschmack nach Brombeeren, dann dieses Gefühl des klaren Optimismus, das vom Koffein erzeugt wird, und sich dann verlängern lässt, indem man eigene Überlegungen in den Artikeln der De:Bug gespiegelt sieht. Das Printmagazin als offenes Feld, in dem man driften und tasten darf, in dem niemand gleich kommentiert. Wünschenswert wären auch neue Diskotheken. Und neue Sportarten. Und neue Snacks. Es ist immer schwer etwas zu sagen. Aber in den guten postpragmatischen Zuständen geht es dann doch. Und dann schreibt man es auf. Und dann steht es erst mal da. Und eines fernen Tages, wenn alles genauer benannt worden ist, wenn wir offener und klarer sind, beginnt die Zeit der Post Pragmatic Joy. "Und dann wollten wir mit dem Dampfer fahren. Oder eher Mama, ich nicht so. Aber das war mir dann eigentlich egal. Und so standen wir dann an. Das Anstehen war lange nicht so lang wie das Anstehen an Phantom Manor. Und deswegen kann ich mich an die genauen Einzelheiten des Anstehens nicht mehr erinnern. Und ich glaube, es gab auch nichts Besonderes beim Anstehen. Dann stiegen wir ein. Und fuhren los."

»Blöde Arschlöcher auf Ecstasy sind auch nur blöde Arschlöcher.« Anton Waldt Dezember 2009 De:Bug 137


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WIR WOLLTEN ALLES, UND WIR HABEN ES BEKOMMEN, NICHT WAHR? MARLENE DIETRICH, 6. MAI 1992

Don’t cry, work / Formgebung

TEXT HENDRIK LAKEBERG

Vom Praktikum im Techno-Blättchen über den Berliner Clubzirkus zum knallharten Arbeitsethos: Hendrik Lakeberg erklärt, wie das geht, auch wenn die digitale Utopie dabei auf der Strecke bleibt. Lakeberg schreibt seit 2004 regelmäßig für De:Bug, unter andereM die Serie "Durch die Nacht", die von Ausgabe 121 bis 168 erschien. Ich bin wieder viel zu spät mit diesem Artikel, aber das war bei der De:Bug immer schon so. Dieses Mal kam noch erschwerend hinzu, dass es der letzte Text sein soll. Für ein Magazin, bei dem ich das Schreiben oder besser: das Denken in Worten gelernt habe. Ein trauriger Anlass. Wie stolz war ich, als in meiner Praktikumszeit ein Interview mit Drew Daniel von Soft Pink Truth auf dem Cover gelandet ist oder als Kollege Thaddeus Herrmann eine Rezension von mir - irgendeine Cabaret Voltaire DVD - ins Heft genommen hat, weil sie von einem "jungen Talent" stammt. Ich fühlte mich in diesem Momenten in einen Zirkel aufgenommen, der eine Mission hatte, mit der ich mich identifizierte. Diese Mission ist nicht leicht zu beschreiben und im Endeffekt war sie wahrscheinlich für jeden ein bisschen anders. Für mich handelte die De:Bug davon, das Utopische in die heraufdämmernde digitale Gegenwart zu retten. Genau das, wonach ich damals als junger Linker gesucht hatte: Neue Ideen jenseits der provinziellen, in sich selber kreisenden und Autonomenideologie und dem vor sich hindümpelnden Jugendzentrumsozialismus. Der Soundtrack dazu knisterte und floss elegisch in Ambientplatten dahin (Sachen wie 12k) oder er sprühte in hypnotischen Grooves Funken (Perlon etc.). Musik, die nicht an den Gedanken zerrt, sondern ihnen eine Bühne gibt. Einige meiner Indiefreunde in der ostwestfälischen Provinz haben darüber den Kopf geschüttelt, was mir ganz gut gefallen hat. Ganz vorne an der Popkulturfront zu sein. Gleichzeitig las ich die kryptischen Texte von Derrida, Deleuze, Foucault und Serres, weil das in der De:Bug zitiert wurde und das Label Mille Plateaux sich mit ihnen schmückte. Verstanden habe ich immer nur Bruchteile, was aber nicht schlimm war, denn ich beschäftigte mich mit all dem, weil ich hinter den unzumutbaren Sätzen das Versprechen auf eine bessere, schönere, sinnlichere Zukunft erahnte. Die elektronische Musik war ihr Vorbote, in dem das alles enthalten war. Irgendwie war das Jahr 2##4, in dem meine Zeit bei der De:Bug in etwa angefangen hat, immer noch ein Aufbruch, auch weil der New Economy Crash gefühlt gerade erst hinter uns lag.


Spießer Mit der Zeit fand ich die Theorie immer langweiliger und dafür die Orte interessanter, an denen die Musik, Techno und House vor allem, wirklich stattfand. Zuviel Abstraktion erzeugt eine Sehnsucht nach der Wirklichkeit. Ich glaube das ging damals vielen so, also schlug ich der Redaktion die Serie "Durch die Nacht mit…" vor. Das Ziel war, dahin zu gehen, wo das Leben spielt, wo es kaputt ist und schön, wo sich die Leute für ein paar Stunden oder Tage aus dem Alltag katapultieren. Warum zur Hölle geht man 2" Stunden am Stück in einen Club? Was sucht man da? Was findet man? Den eigenen Abgrund oder eine bessere Welt auf Zeit? Ich war nie ein echter Raver, sondern immer eher ein Beobachter, der selber gesucht hat und den Ravern bei ihrer Suche zugesehen hat, in der Hoffnung, dass sie eine Antwort haben. Vielleicht liegt hier auch ein Grund, warum ich meine Texte immer so spät abgegeben habe: Sie kamen von Herzen. Sie hatten immer auch sehr viel mit mir zu tun, deshalb konnte ich sie nicht schnell dahinwischen. Es war schwer, sie zu schreiben. Nun hat sich in den letzten zehn Jahren eine Menge verändert. Die De:Bug, Ich und alles um uns herum. Das Internet ist keine New Frontier mehr, sondern ein kolonialisierter Kontinent. Da ist soviel Musik, dass sie mir fast ein wenig egal geworden ist. Ich gehe kaum noch in Clubs und sitze am Wochenende am liebsten am Kneipentresen. Mit Sicherheit auch weil ich soviel über das Nachtleben und die Clubwelt geschrieben habe. Wenn du anfängst viel zu arbeiten und auch der Ort, wo du eigentlich die Arbeit vergessen solltest, Teil deiner Arbeit ist und du ihn immer nach potentiellen Geschichten scannst, dann kommt irgendwann der Punkt, an dem man des Nachtleben und der Musik überdrüssig wird. Mittlerweile verstehe ich Ben de Biel von der Maria, als er mal meinte, er würde es nicht mögen, wenn die Leute nachmittags mit einer Bierflasche in der Hand durch die Gegend laufen. Mein Vater hat mal das gleiche zu mir gesagt, als er mich in Berlin besucht hat. Ich war damals erschrocken wie spießig er am Ende dann doch war. Mittlerweile kann ich ihn und Ben verstehen. Irgendwann ist die Jugend vorbei. Du musst arbeiten und Geld verdienen. Es mag banal klingen, aber es wird der Hauptgrund sein, warum viele eine gewisse Zeit Feiern gehen. Aber irgendwann geht das nicht mehr geht, weil das Feiern zu viel abverlangt. Einige schaffen es, weiterhin Raver zu sein und trotzdem zu arbeiten, viele aber bleiben hängen, bekommen ein Drogenproblem und irgendwann wird die Clubwelt zum Kleingartenverein mit kleinlichen Grabenkämpfen, meistens irgendwie und im Endeffekt geht es um Geld und Anerkennung, von der jemand meint, nicht genug bekommen zu haben.

Auf dem Sprung In der De:Bug habe ich meine ersten, bezahlten journalistischen Texte veröffentlicht. Im Laufe der folgenden Jahre wurde die Arbeit immer mehr. Es ging in meinen Texten nicht mehr nur um Musik, sondern um Mode, um Autos, was auch immer in eines der Magazine passte, für die ich arbeite und schreibe. Ich habe gearbeitet als mein Vater krebskrank im Krankenhaus lag und ich war nicht da, als er gestorben ist. Ich erinnere mich, wie ich mich zum letzten mal zu ihm umgedreht habe und er auf dem Krankenbett saß und anfing zu weinen. Ihm war klar, dass unsere viel zu kurze Begegnung wahrscheinlich eine der letzten gewesen sein wird. Aber ich war auf dem Sprung. Den nächsten Text schreiben, ein weiteres Magazin in den Druck bringen und am Wochenende die neue Kolumne für die De:Bug schreiben. Übrig geblieben von den hehren Zielen, von den utopischen Ideen, von der Mission, die ich in der De:Bug gesehen habe, ist also im Endeffekt vor allem Arbeit. Das mag nun ernüchterter klingen als es gemeint ist: Bei der De:Bug habe ich gelernt, dass man der Welt eine Form geben kann. Dass man das Schöne in ihr hervorheben kann und dass das Spuren hinterlässt und Menschen inspiriert. Und das große Ganze, die Weltutopie, was auch immer, die ist soweit weg, darauf warten wir seid Anfang der Zeit. Solche Träume sind für Verlierer. Es geht ums Machen. Ein Freund, mit dem ich viele Nächte in Berliner Clubs verbracht habe, ohne den die meisten Durch-die-Nacht-Texte nicht entstanden wären, hat sich ein Tattoo stechen lassen, um das ich ihn beneide: In der Typografie des Suhrkamp-Verlags, dem wir die meisten der oben genannten Autoren und Bücher verdanken, hat er sich den Klappentext von Rainald Götz "Irre" auf den Arm tätowieren lassen: "Don’t cry, work". Während ich das hier schreibe, überlege ich ernsthaft es mir auch stechen zu lassen.

»Wer tanzt, humpelt nicht.« Anett Frank September 2001 De:Bug 51


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Mode kann nicht sterben, dafür ist sie zu klug. Warum es trotzdem noch keine Smart Fashion auf der Höhe der Technikzeit gibt, erklärt der langjährige De:Bug-Moderedakteur Timo Feldhaus, dessen Magazinkarriere ganz klassisch mit einem Praktikum begann. Theodore sieht aus wie Ken. Jedenfalls ist er so angezogen. Nicht eigentlich wie Ken, sondern eher wie die kleinen Puppen aus der Prä-Barbie-Kollektion, die Lego entwickelt hatte, die komplett floppte und der kurz danach, 1959, Barbie von Mattel Inc. folgte. Seit Weihnachten besitzt meine Tochter einige dieser Vintage-Modelle, die noch mehr wie liebe Menschen denn durchgekörperte Maschinen aussehen. Sie liegen allerdings vor allem in der Ecke, Töchterlein spielt viel lieber mit "Monster High". Das sind untote Barbies, noch anorektischer, aber mit Narben und sie sind Vampire: ganz neu, Megahit, alle Mädchen lieben die. Tochter kann ganz gut damit umgehen, superreflektierter Tussi-Begriff. Was ich aber sagen will: Theodore wurde von den Kostümdesignern in HER zu einem Kleinkind gemacht, eigentlich einer Puppe. Diese Hose! Der Latz offensiv viel zu lang geschneidert, nie trägt er einen männlichen Gürtel, das Material scheint eine Art urzeitlicher Filz, als wäre Joseph Beuys verantwortlich für diese Zwergenbuxe. Und dann das ulkige, etwas zu eng sitzende rote Jäckchen. Der eh schon nicht groß gewachsene Joaquin Phoenix (173 cm) wirkt darin noch süßer.

TEXT TIMO FELDHAUS

Unsmart Fashion / Nur eine Frage der Zeit

Die Physiognomie des Kindes macht es zum idealen zeitgenössischen Model. Weil die Körper noch kaum ausdefiniert sind, hängen Kleider an ihnen stets in Perfektion herab - wie beiläufig übergeworfen, flirrend, fliegend. So knuffelt Theodore in seinen Filzlatschen über die glatten High-Definition-Böden der futuristischen Architekturanlagen. Aber was ich eigentlich sagen will: Wo bleiben in diesem Jonze’schen Zukunftsszenario eigentlich wegweisende Textilinnovation, etwa für effiziente Hautkühlung oder partielle Muskelkompression? Nichts dergleichen. In der nahen Zukunft trägt der Mensch wieder riesige weiße Boxershorts, die gerade aus der Heißmangel zu kommen scheinen, oder gleich direkt aus den 5&er Jahren. Und das überrascht auch niemanden. Denn seit Jahren hat man sich damit abgefunden, dass innovative, smarte Mode nur mehr von der Designerin Iris Van Herpen erzählt wird, die Accessoires oder Schuhe im 3D-Verfahren herstellt und deren Objekte auf plastische Art noch immer unserem Bild von der Zukunft entsprechen: weiße, ornamentale, ultraleichte Gotik. Dabei gibt es durchaus noch andere Dinge da draußen, die neu aussehen: Bei X-Bionic fragt man sich seit 15 Jahren mit Blick auf Natur und Technik, wie man Textilien dazu bringt, smart zu reagieren. Die amerikanische Firma Silic bietet seit Kurzem ein wasserfestes, selbstreinigendes T-Shirt an. Oder Fabrican, die bereits 2&11 Kleidung aus der Spraydose, zum Aufsprühen entwickelten und direkt als das neue Ding nach 3-D-Mode präsentierten. Aber, welche 3D-Mode überhaupt? Hat die schon mal jemand irgendwo gesehen? Interessiert sich noch irgendwer für Wearables? Man muss Benjamin Bratton zitieren, der kürzlich auf dem TED-Talk den TED-Talk zerlegte. Dort würden immer so tolle Ideen präsentiert, die sich vor allem dadurch auszeichnen, dass aus ihnen allen nichts wird. Es ist zwar so, dass Nike, Adidas und seit zwei Jahren ganz viele Prêt-à-porter-Labels in Hi-Tech machen. Auch der japanische No-Logo-Brand Uniqlo, der im April erstmals in Deutschland ein viele Stockwerke großes Kaufhaus eröffnet, präsentierte kürzlich mit Heattech eine neuartige SecondSkin-Unterbekleidung, die Wärme von innen erzeugt. Das sind zum Teil ganz tolle Sachen, nur floppt der Versuch

»Der Anziehcomputer erfüllt eine wesentliche Anforderung an die dritte Welle der Informationstechnologie: Der Rechner verschwindet im Alltag.« Konrad Lischka März 2001 De:Bug 45


ICH HABE MICH NIE BESSER GEFÜHLT. DOUGLAS FAIRBANKS SEN., 12. DEZEMBER 1939

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beständig, diese hell leuchtenden, oft stark bedruckten Future-Fasern mit der Normalkleidung zu kombinieren, die sich ja verblüffenderweise in den vergangenen 1"" Jahren zur parallel laufenden, technologischen Welterneuerung kaum geändert hat. Kleidung, die symbolisch für die Zukunft steht, funktioniert in der zeitgenössischen Wirklichkeit nur auf den Laufstegen von Extremfeldern wie Outdoor, Hochleistungssport, Super-Unterwäsche. Ganz nah dran (am Körper), oder ganz weit draußen (in der Umwelt). Außer Jack-Wolfskin-Jacken und Nike-Free-Sneakern wurde smarte Kleidung nie PostInternet (oder sagen wir Post-Idee), sie wurde nie zur so genannten zweiten Natur, erreichte nie auch nur im Ansatz die selbstverständliche Weltintegrität technischer Objekte, aus denen sich in HER Kommunikation produziert. Mode dient in dem Film im Gegenteil als grundlegender Rahmen aus klassischer, kindlicher Erinnerung: Wir sehen gute Dinge, mit denen sich unsere Augen gut auskennen. Und an dieser Stelle ist der Film reiner Realismus. Denn auch in der wahren Wirklichkeit ist es eben so: In Zeiten größter technischer Erneuerung in allen Lebensbereichen übernimmt Mode plötzlich die Rolle der Konstante. Diejenige kulturelle Ausformung, die ihrer DNA nach das Neue, den Moment des Forward verspricht, verschleppt den Zeitgeist und bleibt auf der historischen Strecke. Die halbwegs positive Erklärung dazu lautet: Es ist schlichtweg extrem schwierig, ein so flexibles, kompliziertes, weil sich ständig wild bewegendes Material mit Hardwaretechnisch lieber statisch Existierendem zu verschränken. Ist dieser Zustand erst einmal überwunden, dann geht's richtig ab. Man könnte aber auch konstatieren: Wir wohnen dem Tod des sich selbst verschlingenden Systems Mode bei, das in immer neuen Ausprägung an diesem Dead End seiner Geschichte nurmehr um die eigene Vergangenheit kreist. Das Gros der Consumer Electronics sowie der Mode wird von Billiglöhnern in Asien hergestellt. (High Fashion nicht, aber High Fashion war auch nie irrelevanter als heute). Die einen produzieren aber High-End-Objekte (und Ramsch), die anderen nur Ramsch für H&M. So bleibt womöglich an diesem Punkt erst einmal nur die dümmste aller Ideen zur Revolution smarter Kleidung: Kauft mehr teure Kleidung! Doch darf man eins nicht vergessen: Mode kann nicht sterben. Dazu ist sie letztlich an sich zu schlau, denn sie folgt einer ganz eigenen, scheinbar widersprüchlichen Logik, die auf zwei Säulen fußt: Der sozialen Paradoxie (Individualität durch Nachahmung, ich will anders, nämlich genau so wie der Andere da vorne sein) und der Ordnungsparadoxie (Stabilität durch Veränderung, kurzer Rock folgt auf langer Rock folgt auf kurzer Rock). Das wird sich nie ändern, nur gibt es aktuell so ein schrecklich langweiliges Bild ab, da sich die Lifestyle-Industrie im Fegefeuer des Internet-Beschleunigers nur immer weiter von Scheinerneuerungen zu Mikrounterscheidung hangeln kann. Dazu kommt: Der einzelne Individualmensch interessiert heute keinen Mensch mehr, sondern der Cyberkörper, DigitalRoboter und Facebook-Avatar dient uns als Ort für Utopien. Die Folge davon auf dem Avantgarde-Bürgersteig: "Normcore", also das, was eine Trendagentur aus New York zuletzt so luzide als das vorgebliche Ende des Strebens nach Differenzierung und Zugehörigkeit auf den Begriff gebracht hat. Daraus erstarkt das Bedürfnis, auf der echten Identitätsebene etwas Einfaches, Verständliches, Unaffektiertes und milde Wirhaftes auszudrücken. Weil der Rest ja schon so kompliziert ist! Der komplett unsmarte Hoody-Look von Mark Zuckerberg oder die Uniform von Steve Jobs werden dabei als Gesten der Überlegenheit entdeckt. Einziger Lichtblick: Das Digitale befindet sich trendmäßig im Abseits und die Rückeroberung des Analogen wird in den kommenden 17 Jahren die Oberentdeckung. Und das wiederum wird Nährboden für: High Fashion, Fashion Forward und dann auch logischer- weil widersprüchlichsterweise endlich: Smart Fashion.


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Zurück in die Nacht / Für ein neues Nichts

Craig Koslofsky: Evening's Empire: A History of the Night in Early Modern Europe, Cambridge University Press 2011

Als die Nacht zum Tag gemacht wurde, kam der Menschheit auch die Erfahrung des Nichts abhanden. Höchste Zeit neue Nicht-Zustände, eine neue Nacht zu schaffen, meint Felix Knoke, der 2013 das Prokastinierungs-Grauen der freien Autorenschaft gegen die Freuden des Büroalltags als angestellter Redakteur getauscht hat.

»You don't have to go to extremes ...Just don't talk! (Wahlspruch für MitarbeiterInnen der National Security Agency, NSA)« April 2000 De:Bug 34

VERDAMMT NOCH MAL! WAGEN SIE ES JA NICHT, GOTT ZU BITTEN, MIR ZU HELFEN. JOAN CRAWFORD, 10. MAI 1977


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TEXT FELIX KNOKE

Nirgendwo will man den Menschen derzeit so spüren, wie dort, wo er nicht mehr ist. Die Ideen vom Spekulativen Realismus, vom Afterglow des Post-Internet, des Korrelationismus und einer neuen Metaphysik gründen auf einem Überdruss am Morgen und der Versteifung auf den menschlichen Blick. Der postmoderne Mensch gebiert nur Beliebigkeit, also gleich weg mit dem Menschen! Im Grunde geht es um eine Welt ohne Menschen - und um neue Formen kühler Transzendenz, ohne sich auf etwas Göttliches oder Jenseitig-Spirituelles beziehen zu können. Nicht aus dem Morgen, dem ewigen Gestern, soll geschöpft werden, sondern aus dem Nichts: Wie kommt das schönste, interessanteste, neueste Neue in die Welt? Aus dem Nichts! Die Arbeit am Nichts, dem wirklich kleinsten gemeinsamen Nenner aller Dinge, hat allerdings vor ein paar Hundert Jahren einen erheblichen Rückschlag erlitten. Dann nämlich, als im späten Mittelalter/frühen modernen Europa die Nacht zum Tag gemacht wurde - und so ein fantastisches Potenzial an Abgrund erst mit Spiritualität und Ekstase und dann mit schnöder Bürgerlichkeit gefüllt wurde. Hello darkness, my old friend Als die Menschen im frühen Mitteleuropa die Nacht eroberten, war das noch ein wissenschaftliches, mystisches, exploratives und ekstatisches Abenteuer: Die Nacht war die Gefahr, das Unheimliche, der Sammelplatz für Abweichler, die verbotene Zone. Wer im frühen Europa nach Sperrstunde das Haus verließ, galt als Krimineller. Die Nacht gehörte den Sektierern, Hexen und Dieben, den Prostituierten, Konspiranten und Jugendlichen. Die Nacht war eine zweite, entkoppelte Welt, in der andere Regeln galten - oder eben gar keine. Sie war nicht das Gegenteil von Tag, sondern dessen Abwesenheit. Die Nacht war schwarz und absolut, eine blendende Dunkelheit. Sie war Todesgefahr und Gottes-Versprechen, aber die längste Zeit kein Schauplatz für Spektakel. Sie war unerforschtes Land, man fürchtete sich vor ihr, verband sie mit dem Bösen und dem Besser-ungewiss-Bleibenden. Wenn man sich ihr näherte, dann seltsam passiv und entleibt in der halbwachen Stunde zwischen den Schlafphasen. Das war eine Zeit, in der etwa Johannes vom Kreuz halbluzide über sich, sein Leben, Gott und die Welt nachdachte und mit seinem Gedicht von der Dunklen Nacht der Seele die Grundlagen für unsere Nacht, die Nacht, wie wir sie benutzen und erleben, legte. Sie war ein Ort, zu dem Bilder und Gefühle gehörten, die von einem undefinierten Außen kamen. In der Nacht war man allein in der Welt und dieses Nichts nahm Kontakt auf. Die Nacht war zu groß, als dass man sie mit etwas anderem hätte füllen können, als mit Gott und Ekstase. Aber mit der Reformation geschah etwas Erstaunliches: Die Menschen eroberten die Nacht. Sie trafen

sich im Wald um ihren verbotenen Glauben zu praktizieren oder um sich gegen die Macht zu verschwören. Und sie sahen: Die Nacht ist nicht nur Gefahr, sie kann auch Freiheit bedeuten und Verheißung. Die Nacht war ein subversiver Spielplatz, eine Ort der Macht, der hegemoniale Zustände gefährdete. Die Nacht war Reformation und Aufklärung. Sie wurde kolonisiert und die Gesellschaft nokturnalisiert - wie das Craig Koslofsky in seinem fantastischen Buch "Evening's Empire" ausführlich herleitet. Scheißnacht Erst im Übergang zum 18. Jahrhundert wurde die europäische Nacht ein Ort des Vergnügens. Die Nacht, und für was sie stand, wurde mittels Straßenbeleuchtung zurückgedrängt, die Bourgeoise traf sich in den Kaffeehäusern und Salons, um miteinander zu reden. Man flirtete mit der Gefahr, wagte sich Schritt für Schritt tiefer ins Dunkel. Die Dialektik von Dunkelheit und Licht wurde aufgebrochen, die Nacht erhellt und so zum Tag gemacht. Die Nacht war damit nicht mehr nur ein aristokratisches Vorrecht (Licht am Hof, Sonnenkaiser), sondern auch ein bürgerliches Projekt. Damit folgte der transzendentalen Wucht der Nacht eine politische: In den spärlich erhellten Öffentlichkeiten formierte sich das Bürgertum gegen die Aristokratie und formte damit die Nacht, wie wir sie noch heute begehen. Für all diejenigen, die bislang in der Nacht Schutz suchten, war diese Entwicklung eine Gefahr: Plötzlich wurde ausgeleuchtet, was Verborgen bleiben sollte. Jugendliche und Prostituierte, schreibt Koslofsky, zerstörten die als revolutionär gefeierten Straßenlaternen, um so die Nacht für sich zurück zu erobern. Natürlich scheiterten sie. Die Nacht als Ausweitung des Tages führte zu gesteigerter Produktivität und Kontrolle, zur Modernisierung der Arbeits- und Lebenswelt. Man konnte nun haushalten mit dem Tag und dem Schlaf, auch durch Drogen, Musik und Seife. Die gefährliche Natur, die dunkle Seite der Menschen war gebändigt und die Nacht als Nichts für immer verloren. Die Nacht war nun Erholung vom Tag und damit nur dessen Kehrseite. Anstatt die Nacht vom Tage zu trennen, wird die vermeintliche Nacht in den Tag geholt: man feiert in der Sonne und hört Tanzmusik am Arbeitsplatz. Unsere Nacht ist langweilig. Weil unsere Tagund Nachtidentitäten zusammenfallen, wir den ekstatischen Anteil unserer Identität nicht mehr vor dem Tag geheim halten müssen, ist die Nacht verbraucht. Es ist bezeichnend, dass nur mehr in den queeren und schwulen Szenen, gerade an den repressivsten Orten - aber auch ausgesprochen in Berlin -, das letzte Versprechen einer alten, gefährlichen Nacht noch erhalten ist. Die Nacht als der große Darkroom, in dem Identität abgestreift werden kann um aus sich, besser, aus der repressiven Gesellschaft austreten zu können. Man kann sich vorstellen, das Sexualität bald die Nacht verlässt. Aber

was dann von der Nacht übrig bleibt, ist die Abwesenheit von Arbeit. Was für eine Scheißnacht. Nicht-Zustände Vielleicht sollte man diese Nacht endlich aufgeben und eine neue Nacht schaffen. Aber was könnte diese neue Nacht sein? Eine äußere Nacht, also die Abwesenheit von Licht, gibt es nicht mehr. Eine neue Nacht könnte ein gesellschaftliches Dunkel sein: des Repräsentationszwanges, der Identität, der Verantwortung und der eigenen Geschichtsschreibung. Diese neue Nacht hieße, die innere Dunkelheit auszuweiten, sich zum Geheimnis machen und die beherrschte Welt zurück zu drängen. Also Zustände zu schaffen, die weder für die anderen noch für einen selbst zugänglich sind. Nicht-Zustände, die aber eben nicht transzendent oder metaphysisch sind, sondern einfach nur nicht weiter erklärbar. Wenn wir wieder zum Geheimnis werden, aufersteht eine neue dunkle Nacht der Seele. Sie muss gefährlich sein, eine Konfrontation. In dieser Nacht muss alles möglich sein, ein magischer Ort. Zum Geheimnis geworden, könnte man eine absolute Phänomenologie betreiben: nur die Oberflächen betrachten, nicht die Strukturen und Zusammenhänge, die darunter verborgen liegen. An die Stelle von Vorbereitung und Selbstbeherrschung träte Erdulden und Zulassen. Letztlich geht es darum, die Illusion von Kontrolle aufzugeben und dadurch paradoxe Souveränität zu gewinnen. Eine PartyStoa ohne Logos, Pathos, Ethos. Mit dieser reduzierten Gesellschaftlichkeit wird die sinnlose Natur - die neue Nacht? - ihren Platz finden, Gewalt hat sie eh. Und diese Nacht wäre verstandlos. Warum überhaupt Verstand? Weg mit dem Verstand! Nacht als Gebiet, das regellos und deswegen unverständlich ist, weder Natur noch Gesellschaft. Hier gibt es nichts zu durchdringen oder sich anzueignen, der reine, leere Moment und ein zielloses Momentum. Man könnte als Mensch diesen Ort betreten und ihn verlassen und zwischendurch nichts wollen können. Diese Nacht würde uns nicht als Uhrzeit entgegentreten oder als Zustand, sondern etwa in Form von Menschen und Orten, die nur mehr Hindernis sind und zwar hinterfragt werden können, aber nicht weiter erklärt. Sie würden verrückt erscheinen, aber es gäbe nichts zu heilen. Jeder weitere Erklärungsversuch müsste geahndet werden. Es müssten Repräsentationszwänge identifiziert und vernichtet, die Instrumente der Performance zerstört und durch nichts ersetzt werden. Jedes Nachdenken über sich und seine Zusammenhänge gehörte unterbunden, jede Erwartung an den anderen gestört. Wenn dieser beschauliche Garten gänzlich gejätet und umgegraben ist und nichts mehr wächst - dann kann man endlich wieder darauf tanzen und auf den Morgen scheißen. Denn der wird niemals kommen, wenn immer Nacht sein kann.


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Großes, feierliches SuhrkampHaus, die Pressechefin flüstert, es sei ein komplettes Wunder, dass das jetzt hier geschieht. Der ist doch am Schreiben! Goetz holt die gerade akuten Buchhammer raus und reiht sie auf den Tisch (Herrndorf, Raddatz, Diederichsen, Realismus Jetzt, Klage), legt Zeitungen, sein eigenes Aufnahmegerät, seine Notizmappen dazu. Und kommentiert den Referenzberg direkt: "Ich weiß, es nervt." Es nervt natürlich überhaupt nicht, es ist natürlich im Gegenteil total toll. Goetz: Positivhysteriker, Haarewuscheler, Realitätsübersetzer, Jetztmaschine, Schnellredner. Vor 3" Jahren schlitzte er sich in Klagenfurt beim Vorlesen die Stirn auf. Vor zwei Jahren hat er ein neues Textverfahren entwickelt und einen Roman geschrieben. Der im Mai 6"-jährige Goetz ist einer der wichtigsten Schriftsteller in unserem Universum, seine Art Pop, Politik, Techno und überhaupt Leben in Bücher zu verwandeln, hatte auf alle hier Einfluss. Die Parole: Weltwirklichkeit wahrnehmen, Welt weiterschreiben. Was also denkt Rainald Goetz in diesem Augenblick?

BILD CHRISTIAN WERNER

Rainald Goetz "Keiner von uns will irgendwann von irgendetwas nichts mehr wissen"


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INTERVIEW TIMO FELDHAUS

RG: Würden Sie mir wohl zu Beginn die Ordnung Ihres Diskurses mitteilen? Debug: Ich habe wirklich im Vorhinein versucht, das zu Besprechende in Schlagwörter aufzuteilen. So sieht es aus: -

MENSCHEN ARBEIT INTERNET SCHREIBEN TAGEBUCH SELBSTBEHERRSCHUNG/ DÄMON SPEKULATIVER REALISMUS KÖRPER

Wunderbar. Wir haben 8 Begriffe. Wir wollen auf 8" Minuten kommen. Das heisst pro Wort nicht länger als 1" Minuten. Gut. Probieren wir es. Sie hatten mir am Telefon gesagt, Sie würden gerade erneut an Ihrem Buch "Klage" arbeiteten, das im Mai als Taschenbuch erscheint. "Die Fäden und Argumentationsketten noch einmal zuziehen, um es für mich abzuschließen." So wie Diedrich Diederichsen das mit "Über PopMusik" gemacht hat. Und der will ja jetzt nichts mehr wissen von Popmusik. Wovon wollen Sie denn nichts mehr wissen? Eigentlich von gar nichts. Ich glaube auch, dass das für Diedrich gilt. Diedrich hört ja ununterbrochen Musik. Dass das eben nicht nur Popmusik ist, macht sein Buch so aufregend. Die Faszination und Treue für diesen Gegenstand, die er gerade in dem Moment aufbringt, wo er eigentlich von ihm enttäuscht ist, das finde ich den großartigsten Gestus daran. Ich glaube, keiner von uns will irgendwann von irgendetwas nichts mehr wissen. Abschluss ist sowieso nicht möglich? Abschluss gibt es nicht. Wenn Diedrich sich mit anderen Dingen beschäftigt, dann macht er das immer mit diesem ganz speziellen Pop-Musik-geprägten Mind und dieser Ausgangspunkt macht alle weiteren Wortmeldungen zum Film, zur Philosophie, zur Ästhetik oder Kunst so interessant. Dass er den nun in dieser Breite ausgearbeitet und durchargumentiert hat, ist, wie JensChristian Rabe das in der SZ gesagt hat, ein ideengeschichtliches Ereignis. Dass einem Theoretiker und mitlebendem Aficionado für die gegenwärtigen Dinge so ein HochblüteWerk gelingt - da spricht ja eigentlich alles und alle Beispiele dagegen. Am Samstag mache ich mit ihm für die Lit-Cologne ein Gespräch in Köln, das bereite ich gerade vor, deswegen bin ich so in Panik. Für "Klage" haben Sie nachträglich ein Register erstellt, richtig? Ja, ich wollte die Argumente über die Begriffe erschließen, auch mit der Idee, dass die Worte und Begriffe, die da hintereinander

folgen, auch wieder ein eigener Text sind. Zuerst wollte ich auf jeder Buchseite zwei Begriffe rausziehen, aber es waren dann immer zehn, zwölf, fünfzehn Begriffe pro Seite, im Ergebnis weit über 4""" Begriffe. Die habe ich dann auf 2""" runtergeholt. Mit der Freude, die ich selber an solchen Wortlisten habe. Und immer mit der Frage: Wo ist was gesagt? Es sind viele für mich wichtige Argumente in dem Buch drin, über die verschiedenen Lebensbereiche, über Politik in Berlin, über Kunst, über Schreiben und Journalismus. Ich kann sie denkerisch entwickeln, quasi poetisch komprimiert, aber zu oft sind sie leider auch ein bisschen zu autistisch dargestellt. Über Diederichsen sagt man, er wäre milde geworden. Wie ist es mit Ihnen? Fühlen Sie weniger Wut?

"Ich bin extrem uncool. Meine Temperatur ist immer hoch."

Es ist ja nicht Wut, es ist Hass. Aber auch die Wut wird immer scheußlicher. Es ist nicht mehr kommunizierbar. Wenn, wie Sibylle Lewitscharoff, ein Mensch Ende 5", seine individuelle Wut der Welt gegenüber öffentlich äußert, ist das einfach unschön anzuschauen. Bei jungen Menschen ist Wut eine schöne Sache, später eigentlich nicht mehr. Bei Ihnen hatte man immer den Eindruck, Wut ist eine große Quelle der Produktivität. Ist auch so. Es hat nur durch den Wutbürger eine unangenehme Konnotation bekommen. Aber es ist schon eine mögliche Art und Weise, wie Intellektualität verfasst sein kann. Das hat seine Wurzel bei mir in einer agonalen Welterfahrung, die sich aus dem Streit mit mir selbst entwickelt und sich dann eben auch gegen andere Leute richtet. Das Gegenüber, der andere Mensch, das Abarbeiten an und die Auseinandersetzung mit dem ist elementar. Was sind das für Menschen, die gerade oder immer wieder oder seit neuestem wichtig sind für Sie? Diedrich Diederichsen war ja schon immer so ein Pol, und ich glaube Christian Kracht oder Dietmar Dath, das sind auch Leute, die immer eine Rolle spielen. Von Kracht waren Sie ja enttäuscht. Nein! Das bewegt sich immer hin und her zwischen sehr großer Begeisterung, absoluter Faszination und Enttäuschung in dem Sinn, dass man selber es sich anders vorstellt. Das muss man immer wieder umrechnen, dass man das nicht ganz aufgibt, dass man vom anderen das gleiche erwartet wie von sich. Das ist fundamental falsch, aber es ist trotzdem ein energieeffizientes Missverständnis des anderen, das produktive Effekte hat. Dass man denkt, die Leute, die man irgendwann mal toll gefunden hat, die müssen doch weiter toll sein, die müssen sich weiter so ähnlich entwickeln wie man selbst – was alles falsch ist! Es ist falsch im Ergebnis, aber es ist nicht falsch als Ansatz, um sich mit Energie mit denen auseinanderzusetzen und die passioniert weiter zu betrachten. Denn das ist nicht

selbstverständlich, das ist nicht üblich. Die Leute wenden sich ja immer ganz souverän von dem ab, was sie nervt. Bei mir ist das anders. Und das einzige, was mich dabei interessiert, ist, was kommen da geistig für Ergebnisse dabei raus. Was entstehen dadurch für Texte. Wenn Sie von Dialog sprechen, geht es dabei um Texte, die miteinander kommunizieren? Ja. Die wichtigen Gespräche des Schreibers finden in der Stille der Texte statt, da streiten die Texte in einem gegeneinander. Fürs echte Leben ist die finale Vorstellung eigentlich gegenteilig, dass man einfach neben denen steht, die man für ihre Intellektualität und Wesensart hochschätzt, ein Bier trinkt, und dann beobachtet man gemeinsam eine Szenerie und hat eventuell ähnliche Gedanken, was man am Gesicht des anderen sieht, wenn ein Blickkontakt passiert. Können Sie sagen, wie sich bei Ihnen ein Interesse für einen Gegenstand entzündet? Ich liebe einfach die öffentliche Erregung. Dass irgendeine Debatte mich langweilt, gibt es praktisch nicht. Sogar der langweiligste Satz der Welt, dass die Gegenwartsliteratur so wahnsinnig langweilig wäre, den Maxim Biller jetzt gerade wieder einmal in die ZEIT gesagt hat, regt mich sofort so auf, dass ich auch einen Debattenbeitrag zu schreiben anfange, "Im Kopf von Maxim Biller". Und wenn die


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Aufregung abgeebbt ist, höre ich mit dem Text auch schon wieder auf. Ich muss ihn ja nicht fertigschreiben. Dann ist schon Edathy dran, Sibylle Lewitscharoff, noch irrer, noch geiler. Ich folge da ganz einfach dem, was alle interessiert. Interessante Intellektualität entsteht nicht daraus, dass man sich gute Gegenstände rauspickt und lange bearbeitet. Man muss nur den allerbanalsten öffentlichen Diskurs nehmen und davon etwas lernen. Ich glaube, Sie formulieren da einen Moment, der viele Menschen auch im Umfeld der De:Bug über die Jahre aus der Wissenschaft hinaus in die Poparbeit getrieben hat. Das Bedürfnis, immer mit dem umzugehen, was die Wirklichkeit in dem Augenblick aus sich raus entwickelt. Das können aber auch ganz abwegige Sachen sein. Zum Beispiel hatte ich mich vor einiger Zeit für diese französische Ausstellung "De l'Allemagne" interessiert, vor allem für die deutsche Resonanz darauf. Das hatte ich auf meine Interessen am Roman bezogen, auf die Frage also, wieso es in Deutschland keinen Roman gibt in der Mitte des 19. Jahrhunderts. "Le Sonderweg". Die deutschen Journalisten hatten sich dann darüber beschwert, dass sie in dieser Pariser Ausstellung als Deutsche, mit ihrem ganzen deutschen Schwachsinn vorkommen. Und ich bin ja wirklich auch ein sehr deutscher Deutscher. Gerade deswegen bin ich überhaupt nicht entsetzt, wenn die Franzosen die Deutschen unter dem Aspekt des deutschen Irrsinns und Elends und der ganzen deutschen Scheußlichkeit sehen und dann sagen: diese verrückten, kranken Deutschen. Denn es stimmt ja! Das weiß ich als Deutscher. Das müssen Sie aber jetzt mal erklären mit dem deutschen Deutschen. Das hat mit der Sprache zu tun, was ich dadurch weiß, dass mein Schreiben nicht aus dem Erzählen kommt, sondern aus der Sprache, weil ich eben ein Sprachautor bin, ganz tautologisch, so wie der behandelnde Arzt im "Holtrop"-Roman als "Gesundheitsarzt" bezeichnet wird, - und diese Sprachorientierung führt einen tief ins Naturell dessen, was von daher, wie nennt man das eigentlich, gegeben ist. Soul? Das wäre jetzt was Schönes, aber ich meine eigentlich etwas Problematisches, quasi Nationalcharakterhaftes. Man ist eben kein Kosmopolit, wenn man sehr sprachfixiert ist. In den besten Seiten von Maxim Biller sehe ich zum Beispiel dieses tolle Kosmopolitische. Ich selbst habe da überhaupt keinen Zugang dazu. Mein Buch "1989", eine 3-bändige Mitschrift dessen, was ein Jahr lang im Fernsehen geredet wurde zu der Zeit - das stellt einfach ein Wortgebirge dar, aus den Medien heraus extrahiert, in der Spannung zwischen dem, was nur die Sprache hergibt und was die öffentlichen Ereignisse waren. Man selber ist nur Durchgangsstelle.

Also ein viel deutscheres Buch kann man sich eigentlich nicht vorstellen. Sie sind fasziniert von ihrer eigenen Sprache in der sie umgebenden Sprache? Ja. Das führt dann dazu, dass ich mir jedes neue Buch von Heidegger kaufe, jetzt gerade wieder diese Schwarzen Hefte. Und ich verstehe Heidegger immer. Darüber kann ich mich wirklich totlachen. Es gibt ein Buch, "Vom Ereignis", wo es auf hunderten von Seiten nur darum geht, wie der Faschismus in Heideggers Gehirn wütet, so um 1936 bis 38 herum, als Zeitstillstand im Sein. Sie können nachvollziehen, wie der Faschismus bei Heidegger Wurzeln schlagen konnte? Klar. Und weil es sprachlich so wahnsinnig durchgeknallt und hilarious ist, muss ich dann dauernd irre lachen, wobei es natürlich auch, wenn man es in seinen politischen Konsequenzen sieht, absolut grausig ist. Die zentrale Frage, die ich eigentlich an Sie habe: Wie ist überhaupt die Situation? Wo stehen Sie gerade? Mit dem Roman "Johann Holtrop" sind Sie aus einer langjährigen, jahrzehntelangen Ich-Jetzt-Haftigkeit ausgebrochen und haben eine andere, neue Erzählform gewählt. Machen Sie denn da nun weiter? Und gibt es überhaupt ein Zurück? Das weiß ich noch nicht. Aber durch den "Holtrop"-Roman und die kritischen Resonanzen darauf hat sich im Moment bei mir so ein besonderes Interesse am Roman entwickelt. Was im Roman die Probleme sind, formal, narratologisch, diese uralten Fragen finde ich gerade extrem interessant. Das habe ich jetzt in einem Aufsatz, den ich für die aktuelle Spekulations-Ausgabe der Texte zur Kunst geschrieben habe, unter dem Programmtitel "Spekulativer Realismus", zusammengefasst und mir klar zu machen versucht. Was für Probleme tauchen in dem Moment auf, in dem man den Leser als Steuerungsinstanz wirklich ernst nimmt. Was meinen Sie genau? Was verändert das? Na, der Leser steuert den Text mit! Das ist extrem untrivial, das verändert alles. Denn die Spekulation auf den Leser verändert den Sound. Im Fall von Ich-Literatur war der Sound meine Sprache, mein Gegenstand, mein Ich, eine Identität in sich selbst. Ich und Sprache als Maschine des Ich-Text-Autors. Und die Welt! Genau, die Welt! Ich, Welt, Sprache: das ist im Ich-Text-Autor und im Ich-Text alles eines. Ganz anders im Roman. Und wenn man jetzt beim Romanlesen einmal diesen speziellen Roman-Beam als beglückend, als innerlich motorisierend erlebt hat, will man dieses

spezielle Erlebnis wiederhaben: Alles passiert im Inneren, man wird nicht durch Bilder von außen gestresst, sieht die Vorgänge in sich ablaufen, ist davon erregt und zugleich auch ganz ruhig. Und merkt dabei gar nicht, dass man liest, das ist für mich die Idealvorstellung von realistischer Literatur, von jeder Literatur eigentlich. Das habe ich alles erst entdeckt, als ich vor fünf oder sieben Jahren Tolstoi gelesen habe. Aber Sie werden ja keine Theorie des Romans schreiben. Nein, aber ich werde hoffentlich den einen oder anderen Roman in Echtheit schreiben. Es ist schon so lange her, aber als ich erkannt habe, was ich in "Abfall für alle" und eigentlich auch immer davor gemacht habe, war es damit auch vorbei. Das war während der Poetikvorlesung "Praxis" in Frankfurt im Mai 98, wo ich mein ganzes bisheriges Schreiben erfasst und auf den Punkt gebracht habe. Ich hatte dann am Schluss der letzten Vorlesung noch die Hoffnung ausgesprochen, dass ich das alles wieder vergessen würde, das war aber nicht so. Gegen Ende des ganzen Buches habe ich dann gemerkt, wie der Würgegriff des "Es ist vorbei" sich um meinen Hals gelegt hat. Die Depression war da. Eben aus dieser Feststellung heraus, dass ich was ich tue, weil ich es verstanden habe, nicht mehr wiederholen kann. Dass das vielleicht vorbei ist für immer. Und wie arbeiten Sie jetzt? Gibt es Unterschiede in den Jahren, Prozessen, Strukturierungen Ihrer Bücher. Ausgehend von dem konkreten Tag? Wo schreiben Sie zum Beispiel was hin? Ich notiere ja die ganze Zeit irgendwas, schreibe die Gedanken auf. Aber Sie können doch nicht alles da per Hand reinschreiben in ihre Mappen. Das ist doch Durcheinander!

"Die Leute wenden sich ja immer ganz souverän von dem ab, was sie nervt. Bei mir ist das anders."


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Nein! (lacht laut und viel) Das wäre ja furchtbar. Ich muss dann immer an Arno Schmidt denken, diese Fotos von dem Zettelchenwahnsinn. Mit der Pinzette hat er die einzelnen Mininotitzzettel hervorgeholt, um sie aneinanderzuschreiben. Die Idee ist doch: Am Ende muss es alles von einem abfallen, die Fragen und Probleme, Erkenntnisse, Erklärungen, der Versuch, was man alles probiert hat, denn dann ist es da, dann spricht es und man nimmt es auf. Auf welchem Gerät schreiben Sie denn?

Das ist auch durcheinander, das ist auch unauffindbar. Es geht ja auch nur darum, dass man sich die konkreten Gedanken, die abweichen von dem, was alle anderen sowieso schon öffentlich sagen, für sich klar macht und fest hält und damit einen Sprung weiter kommt und den Gegenstand besser erfasst. Das ist die eine Sache. Und die andere Sache ist: Probieren. Ich probiere die ganze Zeit Text für das aktuelle Hauptprojekt zu schreiben, um den richtigen Ton zu finden, durch den alle Probleme sich dann lösen. Für den Holtrop, was ich da probiert habe, bis ich endlich diesen irgendwie harten, speedigen Ton hatte. Endlos, immer wieder. Das ergibt dann das Gefühl, von der Zukunft angezogen zu sein, obwohl es in der aktuellen Arbeit nicht wirklich weitergeht. Es gibt kein Ordnungssystem? Wie können Sie denn später nachverfolgen, was gut, was wichtig und was schlecht war? Das Ordnungssystem ist fundamental chaotisch. Wie es die Kreativität des Gegenstandes vorgibt. Und so ist auch die Arbeitsweise. Ich gehe dem nach, was mein Geist will. Sie halten also nicht verschiedene Tagebücher in die verschiedene Dinge reinkommen?

Völlig egal, mit allem natürlich. Das ist ja wie früher die Frage nach der Exquisitheit des Füllers, mit dem man schreibt, ob das auch mit dem Montblanc-Füller auf 18#-Gramm-Papier geschrieben ist. Oder eben mit dem SowiesoComputer im Irgendwas-Programm. Nee. Bei Musikern ist das was anderes, da spielt das eine Rolle, aber bei Autoren ist das völlig egal. Ich habe neulich gelesen, wie Elfriede Jelinek beschrieben hat, dass sie sofort, als es Computer gab, anfing mit irgendeinem blöden Computer, weil sie dann löschen und einfügen konnte, und was das alles an ihrem Schreiben verändert hat. Da hätte sie mal lieber ein bisschen an ihrem Denken gearbeitet, das hätte mehr gebracht. Ich bin dagegen, das zu fetischisieren. Ich musste gerade daran denken, weil Wolfgang Herrndorf in seinem Buch "Arbeit und Struktur" dauernd von seinem "Rechner" redet. Wenn Leute ihren Computer "Rechner" nennen, kriege ich sofort so eine Aversion. Mich stößt das ab, diese Welt, in der diese unwichtigen Dinge so wichtig genommen werden, der Sound, in dem da geredet wird. Ich bin da nicht dabei. Während der Gastprofessur für deutschsprachige Poetik an der FU vor zwei Jahren sprachen Sie über die herrschende "Angebersprache" auf Facebook. Sehen Sie darin ein Symptom? Da sind ja schon alle und permanent und alle nehmen konstant die Sprache dort auf, fangen dann auch an so zu reden und zu schreiben. Ich weiß es nicht. Ich verfolge das zur Zeit auch eher auf Twitter als auf Facebook, weil man das öffentlich lesen kann, ohne angemeldet zu sein. Ich bin oft sehr gestresst davon, verstehe es nicht, es zieht mich an, in Twitter kann man ja auch richtig versinken, wenn man von einem zum anderen Account zu immer fremderen Leuten weitergeht, immer mit der Frage, wer da redet, wen man da vor sich hat, wem man zuhört. Zum Teil mit sehr heftigen Reaktionsgefühlen, oft auch Abscheu, aber man bleibt dran, will mehr. Es ist für mich im Moment das interessanteste Medium, fast so faszinierend wie früher Fernsehen. Plötzlich sind zwei Stunden vergangen und ich versuche mich zu erinnern, wo ich jetzt überall war. So ist man früher durch Fernsehkanäle gefloatet. Es ist ein Ineinander hochaffektiver

Wertungsexzesse, bezogen auf den Sprecher, und von Informationen, was einen eventuell noch interessieren könnte, Links, Bilder zur Auflockerung, so dass insgesamt nicht vorgegeben ist, wie es weitergeht, wohin man sich treiben lässt, und vielleicht ist es diese Offenheit, die ja primär sprachgeführt ist, schriftgeführt, die einen daran zusätzlich so besonders anzieht. Und eben dazu dieses gigantische Angeberproblem, weil die Leute sich ja alle so unfassbar toll finden. Aber Leute, die man selber wirklich toll findet, gibt es halt überhaupt nicht so viele. Was ich in diesem Zusammenhang interessant finde, ist das Konzept Coolness, das immer wieder auftaucht bzw. Sie anprangern, was aber wiederum auch in vielen Ihrer Texte eine Rolle zu spielen scheint. Also dass da ein bestimmtes Bezugssystem aus Leuten besteht, ein Kreis von Freunden, in dem ich mich bewege, für die und aus denen heraus man da schreibt. Das stimmt, eine Gruppe von Leuten, aus der heraus man schreibt. Aber das hat nichts mit Coolheit zu tun. Ich bin ja extrem uncool. Meine Temperatur ist immer hoch. Mein bester Freund in München und ich, wir waren schon damals die uncoolsten Menschen in der ganzen Stadt, im Nachtleben jedenfalls. Aber nicht mehr zu Rave-Zeiten, Herr Goetz. Doch! Der Michi Kern und ich, mit dem ich Tausende von Nächten an der Babalu-Kasse gestanden bin und zehn Jahre in München Nachtleben gemacht habe – wir waren passionierte Aficionados, aber wir waren komplett uncool, allein weil wir so haltlos begeistert waren für bestimmte Sachen. Und außerdem muss ich auch wirklich sagen: Ich hasse das Konzept der Coolheit. Von Draußen, auch später dann, bei der Popliteratur, wirkte das ganz anders. Schaut man etwa heute ins Internet auf Youtube, kommt gleich diese TV-Talkshow von 2""1, mit dem sehr jungen, sehr gut aussehenden Moritz von Uslar und Alexa Hennig von Lange. Sie tragen so eine total coole silberne Bomberjacke und man hat schwer den Eindruck, das sind jetzt genau die richtigen Leute, die und wie die hier übers Fernsehen reden. Ja, das ist ein gutes Beispiel. Weil ich da schon beim dritten Mal, vor der letzten Sendung gemerkt habe, wie der Druck, sich dort in dieser Nachtstudio-Sendereihe selber aufführen zu müssen, für mich nicht gut war. Ich wollte einfach nur so ausschauen, wie ich mich fühle und wie ich bin, aber allein das stellt natürlich sofort einen Verkleidungsanspruch her, den ich total unangenehm fand. Dass da eine Drift entsteht in Richtung Performance, Irgendwas-anhaben, hat mich total angekotzt. Das war einer der Gründe, warum ich das nicht weitergemacht habe, wie es mir damals


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angeboten worden ist. Ich bin nicht genügend selbstdistanziert und zu wenig Pop-Musiksozialisiert, um mit Freude irgendwas darstellen zu können, ich kann das nicht. Meine Idee ist immer, wie eigentlich bei allen anderen Sachen auch: Unsichtbarkeit. Dann wird es schön. Ich denke jetzt gerade an Sascha Kösch, wie der mir im Zusammenhang mit dem Interview, das wir zuletzt mit Dietrich Diederichsen führten, beiläufig erklärte, was dessen und seine Pop-Musik-Auffassung absolut unterscheidet. Und zwar die Subjektorientiertheit von Diederichsen, der seine ganze Popmusiktheorie letztlich davon ableitet, dass ich als Rezipient immer wissen will, was das da für einer ist, was ist der Sänger für ein Typ, wie sieht der aus, will ich auch so, bin ich schon so? Und die DNA oder der Ausgangspunkt der De:Bug und Techno ja auch generell, ist eher vom Sound her gedacht, also DJ-Kultur, Gesichtslosigkeit. Bei Diederichsen wird dann logischerweise Performance ein ganz entscheidender Punkt. Das habe ich in diesem Moment erst richtig kapiert. Das ist ein total guter Punkt. Und deswegen bin ich auch so ein großer Diedrich-Fan, weil er gerade diese extreme Subjektivität vertritt. Weil er ein Ich sozusagen gigantischen Ausmaßes hat und ist. Das ist bei mir natürlich auch der Ansatz. Man macht nicht zwanzig Jahre Bücher über einen Gegenstand, den man unwichtig findet. Aber diese Ich-Begeisterung, -Faszination und -Ausbeutung für die Arbeit ist etwas anderes als die Stilisierung. Also wieder: Körper! Ja, aber immer aus Beobachterperspektive gesehen, nicht für mich selbst. Was signalisieren die Leute, die mir auf der Straße entgegenkommen, mit ihrem Outfit und Auftritt: wer sie sind, zu welcher Gruppe sie gehören. Das wird ja extrem eindeutig übermittelt, was eigentlich erstaunlich ist. Wieso will das jeder so deutlich zeigen, welcher Gruppe er zugehört? Wo doch jeder die Freiheit hätte anzuziehen, was er will. Aber dann würden falsche Erwartungen an ihn gerichtet im Kontakt unter Fremden, das würde Stress bedeuten, also dieser Effekt, dass man beim ersten Blick sofort weiß, im Straßenverkehr zum Beispiel, mit wem man es da zu tun hat. Und jeder weiß das, jeder kann jeden so einschätzen. Man schaut durch das Seitenfenster beim Überholen in den anderen Wagen und denkt sich nur: ah ja, ist klar. Ich warte immer darauf, dass jemand so ein Buch wie "Tableau de Paris" für das Berlin der Gegenwart schreibt, also die ganzen Sartorialists und StreetwearBlogs ausgedehnt auf alle Styles, auch die total normalen und uncoolen, und das dann nicht in Bildern, sondern in Worten beschrieben und erklärt. Vielleicht gibt es das auch irgendwo im Netz. Aber das wären mehr Fragen von Style, nicht so sehr von Körper.

Okay. Bei dem Interesse für Körper meine ich vor allem interaktionstheoretische Probleme, die vom Körper verursacht sind. Wenn zwei Körper sich gegenüberstehen, also Menschenkörper, was dann an Interaktivität stattfindet, an Gucken und Nicht-Gucken und Abchecken, was dabei passiert. Diese elementare Frage: "Was guckst du?" Genau. Die Diskretion, das zarte Miteinander, was daraus folgen kann. Und dann geht es eben um Ethik. Will man das, was man da erkennt, was der andere sich wünscht, ernst nehmen, oder will man darüber hinweggehen. Und unter großem Druck, vom Fernsehen und dann auch vom Internet, sind diese Dinge in ihrer Bedeutsamkeit zurückgetreten, die fundamentalen Aspekte des körperlichen Miteinander. Das spielt eine große Rolle in der Öffentlichkeit der Stadt, aber auch im Club, unter Freunden, das sind ja alles ganz differenzierte Situationen. Deswegen habe ich das Feiern so geliebt: Weil das für mich der höchstzivilisierteste Ort der schönsten Körperexpressivität und -begegnung und Reflexion bedeutet hat. Wenn das Feiern gut war, war es zart und gigantisch. Das wurde damals verfeinert und das kam mir sehr entgegen, weil ich genau das gespürt habe. Weil ich gemerkt habe, ich betrete einen Raum, und die Leute, die da sind, wollen vielleicht gar nicht, dass ich auch da bin, und dann fange ich an zu gucken, ob sich das irgendwie öffnet auf die anderen Leute hin. "Darf ich mit dir da sein?" Das ist mal nicht so selbstverständlich. "Es gibt nur cool und uncool und wie man sich fühlt", heisst es in einer frühen Textparole von Tocotronic. Und jetzt gerade habe ich gedacht, was dieser Satz eigentlich für ein Unsinn darstellt, denn im besten Moment gibt sowieso immer nur alles in einem. Ja, Dirk von Lowtzow ist natürlich der große Parolenweltmeister, und er hat damit auch die Möglichkeit gehabt – im Gegensatz zu Jochen Distelmeyer, der als Authentizist große Fortsetzungsprobleme hatte – , den Parolenansatz weiter zu bearbeiten und damit besser weitermachen zu können. Und dabei auch noch die denkbar schönsten Hemden immer anzuhaben. Ich habe Dirk mal gefragt, ob es für ihn nicht auch so furchtbar ist, auf der Bühne zu stehen. Einfach von mir aus gesprochen: Ich präsentiere zum Beispiel meinen Roman "Johann Holtrop", alles irre aufregend, die Leute denken, man freut sich, und für mich ist es Hölle pur. Und Dirk von Lowtzow sagt im Gegenteil: "Ich liebe es." Und wenn man ihn da auf der Bühne sieht, dann ist er wirklich ein Intellektueller, aber eben auch ein echter Bühnen-Man und Show-Typ.

"Das Feiern bedeutet der höchstzivilisierteste Ort der schönsten Körperexpressivität. Wenn das Feiern gut war, war es zart und gigantisch." noch nicht geklärt ist, ob sich die Welt für so einen Authentizitisten noch einmal unter einer anderen Perspektive neu auftut oder nicht. Das ist die Fragestellung, an der meine Arbeit aktuell steht. Davon hängt alles ab. Die Theorie wird ja tendenziell tatsächlich immer besser, je länger die Leute sie betreiben. Kant hat seine großen Kritiken im Alter von um die 6" geschrieben, Luhmann sein Hauptwerk "Soziale Systeme" mit Mitte 5", Diedrich sein Buch jetzt auch in genau dem Alter. Aber Künstler haben die Tendenz, ihre besten Sachen am Anfang zu machen. Die Reflexion verbessert zwar das Verstehen, was man macht, das hat aber nicht unbedingt produktive Wirkungen auf die kreative, bildende Arbeit, bekanntlich eher im Gegenteil. Und die Frage für mich ist, ob es mir gelingt, da auszubrechen und einen anderen Weg zu gehen. Ich bilde mir ein, in diesem Moment zu verstehen, warum Sie bei ihrer eigenen Romantheorie des Spekulativen Realismus, das Hauptaugenmerk auf die Spekulation legen. Weil das nämlich nun für Sie die Möglichkeit bietet, in einer Art artifiziellen – Künstlichkeit – Ja genau! – (lange Pause) – Fertig, oder? Vielleicht.

Und Sie sind ja eher ein Authentizitist, nicht? Ja, leider. Aber ich erkenne das. Ich finde es betrüblich und problematisch, und letztlich ist das auch genau die Frage, die

Wunderbar. (Gemeinsames freudiges Lachen) Zeit eingehalten. Man weiß nicht, was gesagt worden ist. Aber es hat Spaß gemacht. Das fand ich auch.











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TEXT MARKUS BECKEDAHL

Es ist unser Netz / Arsch hoch, Nutzer

Netzpolitik-Aktivist Markus Beckedahl liest uns die Überwachungsleviten und erklärt, was getan werden muss, damit das digitale Leben nicht zum repressiven AlbTAUM wird.

»August 1984« Erscheinungsdatum laut Cover August 2001 De:Bug 50

Bald ein Jahr ist es jetzt her, dass die ersten, durch Edward Snowden ausgelösten Enthüllungen die Öffentlichkeit erreichten. Seitdem vergeht kaum ein Tag, an dem kein weiterer Mosaikstein einer allumfassenden anlasslosen Überwachung unserer digitalen Kommunikationswelt bekannt wird. Dank Snowden kann die Frage, ob wir überwacht werden, mit einem klaren Ja beantwortet werden. Offen bleibt, wie oft, durch wen und wo überall, ob die gesammelten Daten auch für immer gespeichert und auch gegen uns verwendet werden. Wollen wir uns damit abfinden, dass unsere gesamte digitale Kommunikation überwacht, gerastert und gespeichert wird? Leben wir noch in einer Demokratie, wenn wir unser Leben und unsere Kommunikation an die potentielle Rundumüberwachung anpassen und bewusst oder unbewusst aufpassen, was wir wie und wo kommunizieren und manchmal vielleicht einfach darauf verzichten, unsere Meinung zu sagen? Wenn wir einen solchen Zustand akzeptieren, verlieren wir unsere Grundrechte. Auf unsere Bundesregierung können wir uns leider nicht verlassen, zu sehr möchte sie mit unseren eigenen Geheimdiensten mitspielen und sich nicht die Freundschaft mit den USA verbauen. Aber das kann doch nicht das Ende sein!

Dezentral und Spaß dabei Schön, dass es Facebook, Google, Twitter und Co gibt und sie uns einfache Kommunikationsmöglichkeiten geben. Aber wir bezahlen dafür mit jedem Klick, der irgendwo gespeichert wird. Unsere Kommunikation findet immer mehr in privatisierten Öffentlichkeiten statt, wo nur die AGB des jeweiligen Anbieters gelten und nicht unser Grundgesetz. Damit sollten wir uns nicht abfinden, sonst haben wir zukünftig nur noch mehr Probleme. Her mit den dezentralen, offenen und Datenschutz-freundlichen Services, die zudem einfach zu nutzen sind! Bei der Entwicklung von neuen Kommunikationstechniken muss Verschlüsselung von Anfang an mitgedacht werden. Hätte man auch früher machen können, hat man meist leider nicht. Eine flächendeckende Überwachung wird damit teuer und dezentrale Lösungen bieten weniger Einfallstore sowohl für kriminelle Geheimdienste wie auch monopolisierte Infrastrukturen. Mein Smartphone ist immer dabei, sendet leider ständig meinen Standort und zudem kann ich ihm nicht vertrauen. Natürlich kann ich es wegschmeißen und zum Kommunizieren in den Wald gehen, aber das ist auch keine Lösung. Was fehlt sind Smartphones, bei denen wir sicher sein können, dass sie nicht zugleich Wanze sind und ständig Informationen nach Hause telefonieren. Digitale Selbstverteidigung wagen Die eigenen Datenspuren im Netz können mit AnonymisierungsWerkzeugen verwischt werden. Das Internet wird damit zwar langsamer, aber es hilft, sich in der anonymen Masse zu verstecken. Verschlüsselung ist zwar häufig immer noch kompliziert, unpraktisch und unbequem, aber damit sollten wir uns nicht abfinden. Das muss einfacher werden, damit wir auch verschlüsselt mit unseren Eltern kommunizieren können. Wo sind die öffentlichen Förderungen, um diese Werkzeuge nutzerfreundlicher zu bauen? Wo ist die große Aufklärungsaktion nach dem Muster der AIDS-Kampagne: "Gib Überwachung keine Chance"! Aber nur zu verschlüsseln und zu anonymisieren, reicht alleine nicht aus. Dazu gehören auch die notwendigen politischen Maßnahmen, um aus dem NSA-Überwachungsskandal zu lernen und unsere Privatsphäre zu schützen. Und die goldene Regel dabei ist: Schluss mit aller anlasslosen Speicherung unseres Lebens, denn die Daten können eh nicht geschützt werden. Weg mit der Vorratsdatenspeicherung, die demnächst wieder speichern soll, wo wir in den vergangenen Monaten waren, wen wir getroffen und mit wem wir kommuniziert haben. Mehr ziviler Ungehorsam Wie werden wir genau überwacht, wer wusste davon und wie können wir technisch und politisch Antworten finden, um unsere Grundrechte zurückzuerobern? Im Moment scheint für Geheimdienste alles erlaubt, was möglich ist, solange wir nicht als Bürger auf die Barrikaden gehen. Doch genau das müssen wir tun, um dieses Überwachungsmonster zurückzudrängen. Vor allem müssen wir verhindern, dass die Enthüllungen als Machbarkeitsstudie für mehr Überwachung angesehen werden. Edward Snowden hat uns eine Warnung geschickt. Wir sollten uns für den Tritt in den Hintern bedanken. Es ist auch unser Netz. Erkämpfen wir es uns zurück.


TEXT JOHANNES GRENZFURTHNER

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OH WOW. OH WOW. OH WOW. STEVE JOBS, 05. OKTOBER 2011

Sex & Werkzeug / Teledildonik Tausendsassa Johannes Grenzfurthner klärt das Spannungsfeld zwischen Sexualität & Technologie auf und entdeckt Widerstandspotenzial. Von den tausende Jahre alten Höhlenzeichnungen einer Vulva bis zum neuesten Gonzo-Google-Glass-Porno-Live-Stream waren Technologie und Sexualität schon immer eng miteinander verbunden. Die Zukunft mag ungewiss sein, aber der bisherige Lauf der Geschichte legt nahe, dass Sex auch in Zukunft eine essentielle Rolle in der technologischen Entwicklung spielen wird und dass Technologie und deren Anwendung die menschliche Sexualität beeinflusst und gestaltet. Stammtischgerede zum Thema sind alltäglich aber übertrieben (Das Internet ist 9" Prozent Sex!) und auch irgendwie kulturpessimistisch-lustlos. Die Gespräche laufen immer nach denselben Mustern ab: Technologie würde uns entfremden, wo blieben denn die wahren Gefühle, die richtige Kommunikation der beseelten Körper! Technologie habe in der Sinnlichkeit der zarten und heiligen Zwischenmenschlichkeit nichts verloren. Aber zäumt euer Gejammer! Die Wirklichkeit ist nicht Neil Postmans Wichsvorlage! Wir dürfen nämlich die beiden fundamentalen Wahrheiten der menschlichen Spezies nicht vergessen: Wir sind sexuelle Wesen. Und wir verwenden Werkzeug. Und das war's eigentlich auch schon. Der Rest ist davon abgeleitet, ist Spekulation oder simple Selbstüberschätzung. Messerscharf KinkY Wenn es um Sex geht, sind Menschen zu kreativen Höchstleistungen fähig. Wir haben unsere Vorlieben und Kinks, und wir tun alles, damit sie wahr werden können. Dass wir in einem patriarchalen Machtgefüge feststecken, macht das ganze natürlich einseitig und verzerrt, denn der männliche Blick hat sich tief in die Fundamente unserer Zivilisation gegraben. Mainstream-Porn zeigt dies sehr deutlich. Aber unser Umgang mit Technologie kann dabei helfen, dies zu verändern. Sind Menschen bereit für (sexuelle) Freiheit? Marx kategorischer Imperativ lautet, alle

Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. Und das gilt natürlich auch (und wird leider immer wieder vergessen) für die privaten und sexuellen Beziehungen, in denen wir uns befinden. Dies gilt für die heteronormative Durchschnitts-Tristesse genau so wie für andere Konstellationen. Auch im BDSM muss wirklich darauf geachtet werden, dass die gespielten Verhältnisse nicht in reale Unterdrückungsmomente umknicken. Das Messer des Kink ist scharf, und reale Machtverhältnisse entstehen schneller als wir es uns eingestehen wollen. Technologie ermöglicht uns auch, uns neu zu erfinden. Nicht im Sinne eines konsumistischen Zugriffs nach Luxus-Tools, sondern in der Frage nach den persönlichen und gesellschaftlichen Bedürfnissen, die unterrepräsentiert sind und gestärkt werden sollten. Teledildonik Sex-Technologien bieten breite Fronten des (kommunikativen) Widerstands. Teledildonik und Sex Machines, BioHacking und Screw-It-Yourself, Körper mit erweiterten sexuellen Möglichkeiten, erotisch-genetische Utopien und die Vielfalt der Sichtweisen auf Gender und Geschlecht sind schon lange im Fokus der Literatur, der Science Fiction, der Pornographie. Zeit genug, sich diesen Träumen und Wünschen sowohl analytisch, als auch sinnlich zu widmen. Gejammert wird eh zu viel darüber, von den Konservativen bis zu den Liberalen und Linken. Facebook ist Fuckbook Und dennoch liegen diese distinktionsgewinnlerischen NaserümpferInnen falsch. Sie spielen auf Abgrenzung zur sogenannten "wirklichen Politik" (was auch immer das sein möge) und verkennen deswegen die gewitterwolkenfarbige Gegenwart des globalen Kapitals. Mit dem Postfordismus hat sich die Logik des Produktionsprozesses verändert. Inzwischen ist eine widerständische, subversive Politik der Zeichen eine handfeste Intervention im Zentrum der Gesellschaft. Sex und Technologie ist nicht nur eine Debatte um die Zukunft der Vibratoren, Sex-in-Videogames, der Fucking-Machines, des Google-Calendarsfür-Polyamoröse, sondern eine Frage zu Identität und wie wir unsere Körper

definieren. Und vergessen wir nicht, dass auch die Pille und Viagra sexuelle (Bio-) Technologien sind, die unsere Welt radikal verändert haben. Mustererkennung Der Brite David Levy prognostiziert, dass wir uns bis zum Jahr 2"5" in Roboter verlieben und sie sogar heiraten werden. Meine erste Reaktion ist sarkastisch: "Klasse, können wir dann Homosexuelle kurzum zu Robotern erklären, damit sich diese Diskussion endlich erledigt hat?" Meine zweite Reaktion ist realistisch: "Das passiert doch sowieso jeden Tag." Wir lieben Muster und unsere Mustererkennungssysteme suchen sie überall. Wir wollen uns in der Welt wiederentdecken. Wir sehen Gesichter in jedem Haufen Laub. Wir sprechen mit Verkehrsampeln, als wäre es ein magisches Ritual. Wir glauben, dass unser WinWord uns hasst, wenn es wieder einmal abschmiert. Es gibt Leute, die sind in ihren Hund verliebter als in ihre/n menschliche PartnerIn. Und es gibt Leute, aus dem Bereich der Objektsexualität, die den Eifelturm geheiratet haben oder die Reste der Berliner Mauer. Die Bandbreite menschlicher Empfindungen und Sexualitäten (sic!) ist unendlich groß. Deswegen halte ich es mit Foucault. Es ist nicht wichtig "Was" wir wissen wollen, sondern "Warum" wir etwas wissen wollen.

»Es beginnt nun die Zeit, in der Handys nicht mehr nur Anrufer mit Angerufenem verbinden, sondern ihre eigenen großen Netze entwickeln, in denen Spiele, Bewegung, Umgebung und gehörnte Tiere eine neue, unerwartet mobile Definition erfahren.« Anne Pascual Oktober 2001 De:Bug 52


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181 — MANIFEST

„Hey, ich bin Ben …“

»Bomberpiloten zu dumm? Der Oberst weiß einen Ausweg: An den Heimcomputern wächst eine Generation von Kids heran, die für den Ernstfall bestens geübt ist.« Stefan Heidenreich April 2001 De:Bug 46

VERSTEHT ES NIEMAND? JAMES JOYCE, 13. JANUAR 1941


180 — 53

TEXT JI-HUN KIM

Ben ist dein Albtraum, denn Ben ist wie du - Am Beispiel der fiktiven Figur Ben dreht Ji-Hun Kim die Lebensweltpotentiale und -Abgründe des Berliner Kreativarbeiters zwischen Musik, Drogen, Feierei und Kunst durch den Textwolf. Als De:BugRedakteur fungierte Kim von 2008 bis 2012 als House-Beauftrager und Digitalschlaumeier. Ben holt sich nach 28 Stunden Raven und viel Multitox einen runter. Alleine, mit der Pornofrau Eva aus Slowenien. Sie schaut ihm aus dem matten Bildschirm tief in die Augen, die Schminke trieft vermischt mit Körpersäften über ihr Gesicht. Kreischen und Sabbergeräusche gellen aus den Laptop-Boxen. Ben hört nichts. Eva Ben auch nicht. Ben wollte sich nach 28 Stunden Raven und viel Multitox einen runterholen. Aus Langeweile. Es geht nicht. Eher noch könnte er seine Brusthaare flechten oder eine Kerze üben. Macht er beides nicht. "Wir sind doch alle Opfer des Optionismus", denkt er und dreht sich eine verkrümelte Zigarette, "dass sich heute keiner mehr entscheiden kann." Früher war alles anders. Da waren After Hours noch After Hours. Nicht so wie dieses zerschossene Rumgehocke eben bei Robert. Damals haben DJs aufgelegt. Heute laufen Videofenster mit rotem Fortschrittsbalken im Hintergrund.

Höchstens zwei Minuten, bis jemand eine bessere Idee hat. Da darf jeder mal ran. Genauso wie die Gangbanger, die mit ihren Penissen wie Hyänen in Evas Gesicht rumfuchteln. "Demokratisierung ist doch beschissen." Heute muss Ben sich darüber streiten, ob Ritalin, Speed und Chrystal Meth nicht alle dieselbe chemische Zusammensetzung haben. Was also den Unterschied macht? Die Lager geteilt, kein Chemiker weit und breit, zum Wikipedia lesen alle zu stulle. Kerstin dreht liegend auf Ketamin Hamsterradkreise auf dem Dielenboden. Es knarzt rhythmisch angenehm dabei. Es sieht dennoch kacke aus. Christine, Medien-Nerd, rote Haare und Tumblr-Fotografin, glaubt, dass Speed und Meth das Gleiche sind. "Breaking Bad ist die gleiche verschwörerische Scheiße wie Fox News! Die verarschen uns alle voll. Huhuuu! Bloß die Finger davon, ist voll gefährlich und so. Voll überdramatisiert und so. Ich sag dir, ist das Gleiche wie Speed." - "Ey, Speed haben die Nazipiloten schon genommen. Voll krass, oder?“, grunzt Christine. Die anderen spielen Quizduell. Ben hat schon viel gemacht in seinem Leben. Er weiß auch gar nicht, ob er elf Berufe oder elf Hobbys hat. Geld hat er eh keins. Ben hatte mal versucht, zu studieren, machte dann aber durch Zufall den Nightmanager in einem Club. Er fand die job description "Manager" schon recht fett. Fett wurde aber nur seine Leber. Seine Freundin hat seine Vodkafahnen am Morgen nicht mehr ertragen und verließ ihn. Ben dachte dann, er müsse was Kreatives machen. Mit paar Unifreunden hat er ein Label gegründet. Sie wollten es erst "Ministry of Pound"

nennen. Haben sich dann gestritten. Geld gab es bei 1.$$$ Vinyls und drei Artists aus dem Freundeskreis auch nicht so viel. Ben verstand sich schon immer mehr als DJ denn als Labelmacher.

von Machtstrukturen! Das Rhizomatische: Deleuze, Lacan, Mitterrand, verstehst du?" Ben und seine Freunde liebten es, im Rio die Runden von oben nach unten durch den Club zu zählen. Einmal kamen sie auf 39.

Ben hing gerne tagsüber im 1$3 in der Kastanienallee ab. Frischer Minztee und rote Gauloises, auf dem Heimweg holte er sich von den verbliebenen fünf Euro gestrecktes Gras im Weinbergspark und musste am nächsten Morgen immer stark husten. Ben sieht ganz gut aus. Also machte er auch Model. Eine Kekswerbung, eine VIVA-Kampagne und ein Plakat von Berliner Pilsener schmücken seine Setcard. Seine Schauspielerfreunde mochten Rockmusik, also spielte er in ihrer Bands Bass. Sie spielten mal auf einer Geburtstagsparty. Tim Renner war da. Er so: "Das war authentisch. Bei euch ist nicht wichtig, dass angesagte Jungschauspieler dabei sind. Da kann man was draus machen." Bens Schauspielerfreunde bekamen ein helles Glitzern in den Augen. Ein Album haben sie nie aufgenommen.

Ben ist seither in regelmäßigen Abständen abwechselnd Freelancer und Foulancer. Irgendwas geht immer. Ein Praktikum bei der De:Bug, BookingAgentur, PR für ein Start-up. Ab und zu hat Ben für die taz geschrieben. Über Popmusik. "Hauptsache geil performen, Geld ist doch zweitrangig“, argumentiert er immer. Ben glaubt an Mikroökonomien und kuratiert heute das Musikprogramm eines kleinen Ladens in Neukölln. Künstler aus London, Baristi aus Madrid und Musiker aus Brooklyn hängen dort ab und präsentieren ihre kreativen Arbeiten. Seitdem die Expats alle total scharf auf alten Deephouse und Berlin Techno sind, legt er einmal die Woche ein paar BasicChannel- und Dance-Mania-Platten aus seiner Sammlung auf und gibt den alten, weisen Dancefloor-Don. Kürzlich traf er seinen Zahnarzt im Golden Gate. Sie haben über Bens neue Krone gesprochen und zusammen Speed und Kokain genommen. Eigentlich wollte er schon längst mit dem Scheiß aufgehört haben: Musik, Drogen, Feierei, Kunst. Mit seinen WMF-Kumpels hat sich Ben mal geschworen, dass sie so lange weitermachen, wie es die De:Bug gibt. "Bikini Bridge und Thigh Gap sind Symptome, keine Ursache. Rhythmus ist kein Zufall. Das Internet ist nicht schuld. Liebe ist ausschließlich eine Frage des Timings. Morgen fange ich ein neues Leben im alten an."

Ben ging gerne ins WMF. Eines Morgens klaute er, es war keiner da, den Clubstempel. Er und seine Freunde kamen für lange Zeit umsonst rein. Einmal hat er dort auf Ecstasy eine Italienerin geschwängert. Sie wollte ihn zum Katholizismus konvertieren. Ben aber rief seine Freunde an und sie gingen feiern. Am meisten hasste er die verstrahltintellektualisierten Pseudo-Diskurse im Club: "Der Dancefloor ist ein dynamischer Raum. Jeder Tänzer ist ein demokratisches Partikel. Die Partikel werden alle durch den Sound zusammengehalten. Das ist eine Kommunion. Das ist die Nivellierung


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181 — MANIFEST

TEXT SASCHA LOBO

Mainstream statt Manifest / Wen meinen wir, wenn wir wir sagen?

»Der Gedanke ist verführerisch: Ein Gerät, mit dem man Musik hören, Videos schauen, Bilder machen, telefonieren und ins Netz kann. Yes, please. Her damit.«

SIEG, GROSSER SIEG! ICH SEHE ALLES ROSENROT. KARL MAY, 30. MÄRZ 1912

Thaddeus Herrmann September 2005 De:Bug 95

Das deutsche Internet sieht ein wenig so aus wie Sascha Lobos Kopf: An den Rändern ganz wenig, in der Mitte ganz viel. Vielleicht, weil's pars pro lobo, so gut passt, erklärt er in den Mainstream-Medien erst das Internet, dann das Ende des Internet - und jetzt bei uns, warum die DE:BUG eben wegen diesem Internet nichts mehr sagen braucht. DE:BUG ist Mainstream, sagt Lobo!

Freiheit war nur eine geduldete. Die alten Abhängigkeiten von alten Mächten und alten Märkten ließen sich nicht abschütteln. Aber nur ein Schulterblick zurück, wenn überhaupt. Nach vorn und nach hinten gleichzeitig sehen zu wollen, ist anmaßend. Janusköpfig ist nur einen Buchstaben entfernt von anusköpfig; völlig zurecht. Der Kopf, nach vorne schaut man mit den Augen, in der Mitte denkt man mit dem Gehirn, hinten kriegt man Nackenschläge. Ein Moment der Wehmut, mehr darf nicht erlaubt sein, Nostalgie macht aus dem Hirn ein eitles Verklärwerk.

Es gibt keine elektronischen Lebensaspekte mehr, weil es keine nicht-elektronischen Lebensaspekte mehr gibt. Da ist dieses ursprünglich treffende Wort, das schon Anfang der 9"er von Marketing-Mundhupen entbedeutet und mit schaumigem Nichts aufgeladen wurde: Lebensgefühl. Als das Elektronische begann, aus den Geräten in die Gesellschaft zu wachsen, als die digitale Vernetzung vorher frei flottierende Teilbereiche verband, als das Internet bitsschnell von der Technologie zur Haltung wurde – da konnte eine Gruppe Neugieriger tatsächlich ein elektronisch verbundenes Lebensgefühl entwickeln. Für Avantgarde zu viele, für Early Adopter zu kritisch, für Vorkämpfer zu entspannt. Da waren diese Leute dann, elektronisch geprägte Lebensentwürfe, mit Musik als verbindendem, emotionalen Element, das diffuse Wissen darum, dass man nicht allein war auf eine Art. Idealisten irgendwie, Teilzeitidealisten. Aber es war nur ein Abschnitt; das ist heute offensichtlich, war es vielleicht immer. Für Außenstehende. Die Euphorie wurde getragen vom Wunsch, das Neue möge sich manifestieren, ohne allzu viel stinkenden Ballast von der Restwelt zu übernehmen. Die Freude, dass andere das auch dachten, verhinderte die Frage, was genau sie eigentlich dachten. Den digital ausgerichteten Neuanfang mit neuen Leuten, neuen Mitteln, neuen Medien unbelastet beginnen, beinahe: unschuldig beginnen. Es hat nicht geklappt, es konnte vielleicht gar nicht klappen, vielleicht war sein Ziel allein die Utopie und sein Wert letztlich die gütige Ernüchterung. Da war zu viel Welt um das Elektronische herum, zu viel zu schwere Welt. Vielleicht hat man es geahnt von Anfang an, vor Snowden, nach Snowden, das taugt auch als Zäsur der Kulturepochen. Denn eine Begleiterkenntnis hat sich steinschwer herausgebildet, fast nebenbei: die digitale

Auch die nüchterne Analyse aber sagt, dass diese Phase eine besondere war und kein inszenierter Aufbruch. Denn die Dinge haben sich verändert, und mit ihnen die Gesellschaft drumherum. Im Detail nur anders als erhofft. Hoffnung sind große Pläne ohne Hand und Fuß, immer schon konnte man Idealisten als die Wegbereiter derjenigen begreifen, von denen sie anschließend überrollt werden. Immer schon ging es aber auch nicht ohne sie, die Idealisten, das konnten sie sich jedenfalls immer schon einreden. Hoffentlich stimmt es, alles andere wäre ohne Drogen ja kaum zu ertragen. Die Welt ist auf andere Art anders, als Idealisten sich "anders" vorstellen. Wären die letzten anderthalb Dekaden bloß eine Selbsttäuschung, eine PseudoÄra gewesen, man könnte sie sich wie bei einer Häutung abstreifen und es bliebe nichts, kein Schmerz, aber auch keine Erkenntnis. Wenn es so wäre, wenn also alles Quatsch mit Soße gewesen wäre, man bräuchte am dringendsten: ein neues Manifest. Manifeste im Zeitalter ihrer technosozialen Reproduzierbarkeit sind zur PR geronnen, schaumsprühende Beliebigkeit in Thesenform. Eine Öffentlichkeit von 1"" Millionen Leuten verträgt eine Manifestfrequenz von höchstens 1 je Jahrfünft. Ein Manifest ist ein matterhornhafter Monolith, zwei Manifeste sind ein splittriger Steinbruch, drei Manifeste sind ein verdammter, knirschender Kiesweg in die Sackgasse. Für die nächsten anderthalb Dekaden wird es hundert Manifeste geben oder tausend oder googolplex, die sich in ihrer bestürzenden Egalheit alle zusammen zu Nichts ergänzen, eine Sinnimplosion. Irrelevant wäre geprahlt. Der Umkehrschluss: Wir brauchen keine Manifeste. Wir brauchen nicht einmal ein einzelnes Manifest. Wir müssen überhaupt erst mal wieder herauskriegen, wen wir meinen, wenn wir wir sagen. Eine Zeitlang war das einfach, denn wir teilten elektronische Lebensaspekte. Aber die gibt es jetzt nicht mehr.



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181 — MANIFEST

Teaser Terror / Zuerst dachte ich "was für eine dämliche Überschrift", aber dann las ich den Text darunter, und meine Augen wurden immer größer. Am Ende war ich total verblüfft!

»Was spricht also gegen den Loop? Was spricht also gegen den Loop? Was spricht also gegen den Loop? Was spricht also gegen den Loop? Was spricht also gegen den Loop? Genau das. Loops sind böse.« Robert Henke November 2003 De:Bug 76


180 — 57

TEXT MARIO SIXTUS

Mario Sixtus ist nicht nur Elektrischer Reporter und erfolgreicher Zigaretten-zuMarathon-Konvertit, sondern auch De:BugAutor der ersten Stunden. Heute schaut er für uns mit Grauen in eine Medienzukunft der viral-optimierten Upworthy-Maschen - Optimismus? Pustekuchen. Einmal kurz die Facebook-Timeline heruntergescrollt, schon springen sie einen an, die brutalstmöglich Klick-lockenden Headlines: "Dieser Mann hat nur zum Spaß einen Schwangerschaftstest gemacht. Was dabei herauskam, hätte er niemals erwartet." - "Ein Mann klickt Google Streetview an und entdeckt etwas, das er nie vergessen wird." - "Ein Großvater hatte viele Jahre lang ein Geheimnis gehütet. Nun ist es gelüftet. Und ich liebe es." Ich weiß nicht, ob es schon einen Begriff gibt für solcherlei Teaser-Terror, aber wir brauchen dringend einen! Denn wir haben es hier nicht mit einer Sprachmode zu tun, sondern mit der neuesten Generation des Online-Publizierens, dem "Upworthy"-Genre. Das SchlagzeilenSystem funktioniert so: Neugier wecken und Spannung aufbauen: "Da gibt es etwas, das du bisher noch nicht über Katzen gewusst hast." - "Es ist ein Ort wie aus einem Disney-Film aber er existiert tatsächlich." - "Eben noch ist sie eine fröhliche 19-Jährige. Nur einen Augenblick später geschieht ein unvorstellbarer Albtraum." Eine schnelle Belohnung in Aussicht stellen: "Es wird dich umhauen. Ernsthaft, schon ab dem ersten Bild."

"Was dieser Schimpanse in der 3. Minute dieses Videos macht, musst du gesehen haben." Und damit diese eiskalt kalkulierte Aufmerksamkeitsansaugmethode nicht direkt als eiskalt kalkulierte Aufmerksamkeits-Ansaugmethode zu erkennen ist, am besten noch ein Ich-Element einbauen. Das strahlt Menschlichkeit aus, Authentizität und Persönlichkeit: "Ich kämpfe mit den Tränen." - "Mir fehlen die Worte." - "Dann sah ich genauer hin und war geschockt." Nicht mit Details aufhalten! Namen? Egal: "ein Mann", "ein Mädchen", "ein Hundewelpe" reicht völlig. Ebenso unwichtig ist der Ort der Handlung. Wenn die Leser erfahren, dass die Geschichte auf der anderen Seite der Erdkugel stattfand, schrauben sie vielleicht ihre wertvolle Empathie herunter. Weswegen man das Publikum auch nicht mit solchen Nebensächlichkeiten wie Daten verwirren sollte. Denn vielleicht finden sie eine Geschichte ja gar nicht mehr so spannend, wenn sie erfahren, dass das Video schon vor fünf Jahren bei "Pleiten, Pech und Pannen" lief. Hundewelpen für Millionen Hinter den trickreich gebastelten Headlines findet man dann in der Regel leicht verdauliches Prokrastinationsfutter, inhaltlich so nahrhaft wie billige Bonbons - und ebenso verlockend. Erfunden hat dieses Konzept der amerikanische Viral-Aggregator Upworthy, den das mit Superlativen selten geizende Magazin Fast Company "das am schnellsten wachsende Medienunternehmen aller Zeiten" nannte. Im englischsprachigen Sektor von Facebook ist Upworthy mit enormem Abstand Sieger in Sachen ContentSharing. Ein Upworthy-Artikel wird auf Facebook im Schnitt 75.### Mal geteilt,

rund zwölf Mal so häufig wie Artikel des Zweitplazierten Buzzfeed, dessen Output Facebook-Nutzer durchschnittlich 6.3## Mal teilen. Upworthy ist der einsame Sieger des Newskonsum-Kulturwandels, den die Social Networks in den letzten Jahren losgetreten haben: Nicht mehr Publikationen konkurrieren miteinander, sondern einzelne Artikel. Nicht mehr die Startseite eines News-Angebotes ist der Einfallsort der Netzbewohner, sondern die direkt verlinkte Artikelseite. Und schließlich: Es gewinnen die Inhalte, die eine sofortige Belohnung (Buzzword: "instant gratification") bereithalten, ein massenkompatibler Kurz-Emotionskick, den man gerne weiter gibt. Facebook ist die natürliche Biosphäre von Upworthy; auf Twitter findet die Website kaum statt. Kein Wunder, CEO und CoGründer Eli Pariser verriet dem Business Insider einmal ein paar seiner Rezepte. Eines davon: "Focus on Facebook, not Twitter!" Ein anderes: "Only write something 1.""".""" people would be happy to learn about!" Das ist auch deswegen interessant, weil Eli Pariser nicht nur Chef und Mitgründer von Upworthy, sondern auch der Erfinder des Begriffs "Filter Bubble" ist. In seinem gleichnamigen Buch warnt er davor, dass wir uns im Netz durch Korinthenpickerei im Medialen und im Zwischenmenschlichen plüschige Info-Blasen basteln, in denen allein unsere Meinungen und Ansichten herrschen. Kritisches muss draußen bleiben. Ob Eli Pariser nun mit HundewelpenVideos und rührenden Geschichtchen, die mindestens einer Million Menschen gefallen sollen, all unsere kleinen Filter Bubbles aufweichen will - oder direkt unsere Hirne, das ist nicht ganz klar. Was man Upworthy zu Gute halten muss: Die Redakteure versuchen auch Politisches und gesellschaftlich Relevantes in ihr virales Glitzerpapier zu wickeln.

Darauf einen Messwein Allen, die nun diese Erfolgsmethode kopieren, ist solcherlei Ansinnen allerdings fremd. Im deutschsprachigen Web sind es Websites wie Heftig.co, die das UpworthyPrinzip eins-zu-eins nachspielen, es allerdings von sämtlichen gesellschaftlichen Ansprüchen befreien und auf diese Weise mit wenig Aufwand auf Facebook recht erfolgreich sind. Die nächsten Adepten der UpworthyMethode sind vermutlich Focus Online. Unter dem ehemaligen Axel-Springer-Mann Daniel Steil hat sich die Publikation bereits jetzt in einen Wildwuchs aus FragezeichenJournalismus verwandelt. "Warum hatte der Pilot einen Flugsimulator zu Hause?", raunt eine Überschrift dort etwa fragend im Kontext des Fluges MH 37#. Fehlt nur noch ein "Du wirst die Antwort nicht glauben. Sie hat mir den Atem geraubt." Auch in der Politik würden Upworthyesque Slogans funktionieren, und sie wären sogar ehrlicher als so manche herkömmliche Zusicherungen: "Wir versprechen ein Grundeinkommen für jeden Bürger. Wähle uns, und Du wirst schnell sehen, was Du wirklich bekommst! Ich kann es gar nicht abwarten." Oder in der Religion: "Du wirst es nicht glauben, wie prächtig das Paradies aussieht. Werde Katholik, und schon direkt nach deinem Tod wirst du es sehen. Ich trinke darauf einen Messwein." Die Methode Upworthy wird die Medienwelt verändern. Und es wird furchtbar sein. Ein publizistischer HundewelpenAlbtraum. Aber neben 1.372.556 Gründen, über das Ende der De:Bug tief traurig zu sein, ist das wahrscheinlich der eine einzige nichttraurige Grund: hier niemals solchen Teaser-Terror lesen zu müssen.

11.04.–30.06.2014

NIK NOWAK

014 10.04.2 MIT NUNG E F F Ö R E C RMAN PERFO h 19

BERLINISCHE GALERIE Alte Jakobstraße 124–128, 10969 Berlin Mi–Mo 10–18h, www.berlinischegalerie.de www.facebook.com/berlinischegalerie

Nik Nowak, Panzer, 2011, © Nik Nowak, Foto: Nik Nowak

ECHO


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181 — ALTPAPIER


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d a n k e d e :b u g l) (vo n ma rc o, sa s c ha , Fl o und da nie



SCHEISSE AUF DIE GANZE GESELLSCHAFT. SCHEISSE AUF ALLES, WAS UNWICHTIG IST. JOAN MIRÓ, 25. DEZEMBER 1983

62 — 181 — MANIFEST

Klangsynthese / Digital ist auch nicht schlecht


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TEXT BENJAMIN WEISS

Benjamin Weiss ist De:Bug-Mitbegründer und hat sich von der ersten bis zur letzten Ausgabe der sachkundige Erörterung von Knöpfchendrehereien aller Art gewidmet. Zum Finale plädiert er angesichts des grassierenden AnalogFetischismus für mehr originär digitale Sound-Synthese. Trotz Touch-Interfaces, dem einen oder anderen Fuchtel-Controller und zuweilen auch sehr innovativer Interfaces wie etwa dem Controller-Ball AlphaSphere waren die letzten Jahre im Musiktechnikbereich im Großen und Ganzen geprägt von einer beispiellosen Retrowelle: kleine kompakte Desktop-Analogsynthesizer wohin das Auge reicht und die Rückbesinnung auf die Ergonomie und bewährten Bedienkonzepte von vor drei Jahrzehnten wie XOX-Step-Sequenzer oder die PadMatrix der MPC. Der Trend zu Desktop-Analogsynthesizern ist, obwohl kleine Boutiquehersteller seit Jahrzehnten die Analogfahne hochhalten, erst mit Korgs monotron-Serie vor vier Jahren so richtig hochgekocht, die die Blaupause für das aktuelle Erfolgsrezept lieferte: klein, günstig, einfach zu bedienen und mit der Aura und/oder den Bauteilen eines berühmten Vorgängers aufgewertet, der sonst nur für viel Geld auf dem Gebrauchtmarkt zu haben ist. Klone von 3"3 und 8"8 waren bis dahin die Domäne von Klein- und Kleinstherstellern wie Acidlab, MFB oder Jomox, von den gescheiterten Versuchen von Roland aus den Neunzigern (MC 3"3 und Co.) mal abgesehen, die meistens außer ähnlichen Namen so gut wie nichts mit dem Original zu tun hatten.

Nachdem die ersten monotrons draußen waren und Korg bald mit der monotribe nachlegte, griffen Arturia, zu dieser Zeit vor allem für ihre Softwareemulationen bekannt, das Ganze auf und brachten mit dem MiniBrute ihren Analogsynthesizer heraus, der wesentlich erfolgreicher war als ihr erster Hardwaresynthesizer Origin. Danach gab es dann in rascher Folge diverse analoge Desktopsynthesizer wie Moogs Minitaur, Doepfers Dark Energy, Waldorfs Rocket, Arturias Microbrute, Eowaves Domino, Waldorfs Pulse 2 und mit Novations Basstation 2 auch die Wiederkehr eines der ersten Synthesizer, die als 3"3-Klon angetreten waren. Hysterie ohnegleichen Der Analog-Claim in Verbindung mit einem angeblich oder tatsächlich günstigen Preis (viele der Boutique-Hersteller bieten ihre Synths mit den gleichen Features seit langem zu den gleichen Preisen an, obwohl sie mit viel kleineren Stückzahlen rechnen müssen) war auch hier das Mittel zum Erfolg, obwohl das direkte Klassikervorbild fehlte. Mit der volca-Serie kombinierte Korg letztes Jahr nach der Wiederauferstehung des MS-2" als MS-2" mini alle Zutaten nahezu perfekt: extrem günstiger Preis, klassisches, intuitiv erfassbares Bedienkonzept, druckvoller Sound und die zwei begehrtesten Vintage-Vorbilder 8"8 und 3"3 zwar nicht direkt emuliert, aber vom Design und der Namensgebung so deutlich referenziert, dass allen klar war, um was es hier geht. Inzwischen ist es soweit, dass allein die Ankündigung einer analogen Drummachine mit analogem Synthesizer auf der Musikmesse im unteren Preisbereich (wie Akais Rhythm Wolf) zu einer absurden Hysterie ohnegleichen führt: jede Menge Interviews, Hands-Ons und Videos eines denkbar unspektakulären Prototypen, der noch dazu eines nicht kann: auch nur einen Ton von sich geben.

Analogue Circuit Behaviour Schöner Nebeneffekt der Analogmanie ist, dass die Boutique-Hersteller analoger Hardware mit ihren Klein- und Kleinstauflagen davon profitieren, wieder an Stellenwert gewonnen haben und endlich die verdiente Aufmerksamkeit bekommen. Ausgerechnet Rolands AIRAs könnten jetzt aber dafür sorgen, dass das Image von Digitalsynthesizern wieder besser wird, denn sie emulieren zwar mit Analogue Circuit Behaviour analoge Synthese, sind aber trotz beeindruckendem Sound komplett digital. Trotzdem werden sie gerade und vor allem auch von einstigen absoluten Verfechtern der Originale in Scharen und mit großer Begeisterung gekauft, die sich in den Jahren vorher noch überkritisch zu jedem noch so kleinen Bauteil äußerten, dass wesentlich aufwendiger aufgebaute Klone von den Originalen unterscheidet. Lustigerweise gab es in der allerersten De:Bug, die noch Buzz hieß, einen Test von ReBirth, der ersten Softwareemulation von 8"8 und 3"3. Wenn man sich heute die iPad-Variante davon neben den AIRAs anhört, fällt es bei geschlossenen Augen gar nicht leicht, den Unterschied zwischen den 3"3-Emulationen wirklich zu hören. Digitale Synthese wird grundsätzlich unterschätzt und versteckt sich in den meisten Fällen immer noch verschämt hinter der Emulation der analogen Verwandtschaft: nach wie vor werden aktuelle digitale Synthesizer vor allem damit beworben und daran gemessen, wie genau sie analogen Sound abbilden können. Das liegt unter anderem auch Mangel an berühmten Vorbildern: neben dem DX-7 gibt es so gut wie keinen digitalen Synthesizer, der einen ähnlichen Kultstatus wie die Analogklassiker erworben hat, ohne diese selbst zu emulieren. Warum nicht all die DSP- und CPU-Power mal anstatt für die tausendste aufwendig berechnete virtuell-analoge Schaltung für etwas nutzen, das analog einfach nicht geht?

Geht doch Um die Jahrtausendwende war das noch anders: Clavia hatte mit dem Nord Modular gerade einen ausgewiesen digitalen Modularsynthesizer auf den Markt gebracht, Pure Data und Max/Msp erblickten das Licht der Welt und erlaubten neue Synthesewege und mit Generator/ Reaktor gab es von NI einen wirklich innovativen Synthesizer-Baukasten, der zwar auch analog emulieren konnte, aber nicht darauf reduziert war. Obwohl sich seitdem nach dem mooreschen Gesetz die Prozessorleistung äußerst konservativ gerechnet vervierzehnfacht hat, hat sich im Bereich der digitalen Synthese hardwareseitig erschreckend wenig getan, zumindest bei den großen Herstellern. Auch hier sind die kleinen Vorreiter und haben es zumindest ab und zu versucht: Rozzbox und OP-1, die Monomachine, Oto, Shruthi und Meeblip sind nur einige wenige, die aus ihrer digitalen Herkunft keinen Hehl machen und demnächst steht mit Emphase auch ein neues digitales HardwareFlaggschiff von Reaktor-Mastermind Stephan Schmitt an. Digital ist zwar nicht besser, aber auch nicht schlecht.

»Was bleibt, ist allein die Hoffnung, dass kein Kopierschutz perfekt ist. Und die Ahnung, dass die Hacker dieser Welt demnächst verdammt viel zu tun haben werden.« Janko Roettger Mai 2001 De:Bug 47


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181 — MANIFESTE VON GESTERN

TEXT BRUCE LA BRUCE

manifesto / Purple Resistance Army

WEH MIR, ICH GLAUBE, ICH HABE MICH BESCHISSEN! KAISER TIBERIUS CLAUDIUS, 54 N.CHR.

The Purple Resistance Army is a united and federated grouping of members who have, under homosexual and minority leadership, formed and joined The Purple Federated Republic (PFR) and have agreed to struggle together on behalf of all their people and races and sexes and political parties' interests in the gaining of Freedom and Self Determination and Independence for all faggots and others. The PRA declares revolutionary war against the Fascist Capitalist and Largely Heterosexual Class and all its agents of murder, oppression and exploitation.

Never Trust Anyone Under 30! This neo-axiom of the PRA is designed both as an historical broadside against the age-ism that has become endemic to society, and as a reminder that, under the new world order, tender youth has long since lost its counter-cultural compass and can no longer be trusted or relied upon to instigate or disseminate revolutionary ideals a priori. Although voter turnout in the eighteen to twenty-five year age demographic has dwindled in the past several decades in western democracies, it is by no means a dependable indication that the youth of today is anything less than a vast, empty cadre of reactionary, close-minded clones who will swallow any sort of predigested pablum that is placed in front of them. Get To Know Your Asshole! The Purple Resistance Army entreats all males, but particularly the self-proclaimed "heterosexuals" to get in touch with their assholes, by any means necessary. In an industrialized society which has reached a point of abundance, a certain repression over and above the one necessary to advance culture is forced on its citizens in order to exert a particular notion of "normalcy" that is more aligned with conformist social and institutional attitudes rather than ideas of individual fulfillment. The redundant, unnecessary work upon which advanced capitalism is predicated, results in a distraction from one's own personal and sexual needs. A person who functions normally in such a sick society is himself sick, while it is only the "nonadjusted" individual who can achieve a healthy acting out against the overly strict restraints and demands of the dominant culture. It is such a society that prevents constitutionally bisexual men from exploring their homosexuality, and in particular, from getting to know their assholes. Many men can spend their entire lives not experiencing the pleasure of the anus. Neglect of this region leads to poor prostate health, general irritability, spiritual malaise, or worse. Anal Liberation Now! Discourse Sucks! The Purple Resistance Army does not in general support or condone artists or, in particular, art discourse, although bullshit artists and their discourses are provisionally accepted. The art world has become a purely reactive and reactionary institution whose trends and tendencies are determined and circumscribed by the broader conservative cultural forces and socio-economic policies of an exploitative capitalist ruling class. As an alternative to the art orthodoxy, the PRA promotes finger painting, free range graffiti, tattooing (although not on pigs), home movies, ad hoc shrines – or, for conceptualists, practical jokes, pranks, hoaxes, and public nudity not organized and sanctioned by institutionalized art stars. Counterintuitivity The Purple Resistance Army, a militant band of insurgent sissies, must not succumb to the current cycle of cynicism and apathy that has infiltrated and destroyed the spirit of resistance, subversion and highly civil disobedience that was once at the very core of the homosexual psyche. In today’s topsy-turvy, wrong is right, revolutionarily reactionary world, the members of the PRA must learn to use counterintuitivity to fight its enemies.

Death to Celebrity! Celebrity culture has become the biggest boondoggle of the modern world, and members of the PRA must do everything in their power to destroy it. "In the future everyone will be famous for fifteen minutes" has been wildly misinterpreted as an endorsement of celebrity for all as a kind of democratic principle in a capitalist context. Warhol's real prediction for the future was probably more along the lines of an Orwellian (or perhaps Kafkaesque) dystopic nightmare in which each individual in society is forced, by means of an assembly line or factory model, into a limited window of fame/labour precisely fifteen minutes in duration, none more significant or important than the next. Celebrity itself has become a disease that mangles and maims the egos of those who suffer it, reducing them to delusional paranoiacs who should be at the very least, not paid very much attention to, at best, deprogrammed. Down with Overexposure! Up with Anonymity! Show Business is Politics/ Politics is Show Business. Awards shows receive their own special category of condemnation from the PRA for their smug self-congratulatoriness and crass commercialism, propping up, as they do, the celebrity infrastructure by lording the wealth and power of the privileged few over the increasingly impoverished, debt-ridden anonymous masses. Celebrities now campaign for major awards like seasoned (read: corrupt) politicians, hiring teams of strategists and publicists to promote their cause, while politicians are styled and cosmetically sold to the public like programmatic B-list movie stars. Death to the Hollywood insect who preys upon the life of the people! The Tyranny of Stylists Modern styling has become particularly offensive to the PRA, especially considering that it’s an invisible fifth column of our tragically misguided misogynistic homosexual brothers, from stylists to designers, who have dictated and enforced the grotesque style imperatives that now govern the image of women in the western world. A new model army of faux lap-dancers have willingly conformed to the style of the hyper-objectified woman, thereby capitulating to the male gaze. Cruelly, the advent of high definition media technology only serves to exaggerate and intensify the monstrosity of these highly engineered viral vixens on television and, to a lesser degree, in the movies. File sharing is not only true democracy in action, but it’s also environmentally friendly! And remember, intellectual property is theft! The Charm Offensive Counterintuitively, PRA members must always be kind, courteous, and polite. The fact that the world is going to hell in a Kate Spade handbag is no excuse for rudeness. Down with Revolutionary Reactionaries! A relatively recent phenomenon, the term revolutionary reactionaries refers to formerly radical groups of disenfranchised minorities and/or oppressed peoples who are now fighting, sometimes violently, for the right to be conservative, stable, and inert. From the French riots, during which so-called socialist youths donned balaclavas and sacked the libraries of the Sorbonne (the very site of the genesis of May ’68!) to promote their fight for sedentary, entrenched job security; to angry gays and lesbians struggling to participate in the military, marriage and to adopt family values: the oppressed are doing a pretty good job of oppressing themselves these days without the help of hegemonic states, bureaucracies and institutions. The Purple Resistance Army urgently implores you to Wake Up and Smell the Tear Gas!


180 — 65

TEXT FELIX KNOKE

»Niemand erfriert hier im Minimaldubecho.« Rene Margraff November 2001 De:Bug 53

Das Manifest ist unter der GNU Free Documentation License v1.3 auf www.criticalengineering.org erschienen. Oliver, Savicic und Vasiliev betreiben mit Weise7 ein Hacklab und Studio in Berlin. Alle drei sind Künstler gewordene Hacker, die sich kritisch gegen eine naive und unpolitische Medienkunst richten.

/ CRITICAL ENGINEERING In ihrem 2011 vorgestellten Manifest erklären Julian Oliver, Gordan Savicic und Danja Vasiliev die IngenieurInnen zur transformativen Kraft des technologischen Zeitalters. Vor dem Summer of Snowden galt ihr Typus des "Kritischen Ingenieurs" nur als Kritik an einer verspielten, naiven (Medien) Kunst. Für die Zukunft ist es auch ein Appell an die Konstrukteure der digitalen Welt: Nutzt euer konstruktives Potenzial der Zerstörung und Störung!

0. Der Critical Engineer versteht Technik als die wirkungsmächtigste Sprache der Gegenwart, die Denken, Kommunikation und Mobilität der Menschheit verändert. Der Critical Engineer studiert diese Sprache und ihre missbräuchliche Anwendung. 1. Der Critical Engineer betrachtet Technik, die Abhängigkeit und Hörigkeit fördert, als Bedrohung und Herausforderung, ihr Innenleben ohne Rücksicht auf gesetzliche Verbote zu ergründen. 2. Der Critical Engineer benennt die politischen Herausforderungen, die mit jedem technischem Fortschritt einhergehen. 3. Der Critical Engineer entlarvt "reichhaltige" Nutzererlebnisse als Täuschung. 4. Der Critical Engineer überwindet die Ehrfurcht vor technischen Implementationen und benennt ihre Methoden, Einflüsse und Eigeneffekte. 5. Der Critical Engineer erkennt, dass jede Technik ihen Benutzer in proportionaler, wechselseitiger Abhängigkeit manipuliert.

6. Der Critical Engineer erweitert den Begriff "Maschine" auf Wechselbeziehungen zwischen Geräten, Körpern, Agenten, Kraft- und Netzwerkstrukturen. 7. Der Critical Engineer behält die Diskrepanz zwischen Technikherstellung und -Nutzung im Blick und prangert Unregelmäßigkeiten an. 8. Der Critical Engineer studiert die Geschichte, um vorbildliche Arbeiten des "critical engineerings" für die Gegenwart nutzbar zu machen. 9. Der Critical Engineer stellt fest, dass geschriebener Code zunehmend in soziale und psychologische Bereiche vorstößt und dabei das Verhalten sowie die Interaktion von Mensch und Maschine reglementiert. Mit diesem Verständnis rekonstruiert der Critical Engineer als digitaler Archäologe aufgezwängtes Benutzerverhalten und soziale Prozesse. 10. Der Critical Engineer betrachtet den "Exploit" als die erstrebenswerteste Form von Enthüllung.


181 — KULTUR

DE:BUG PRÄSENTIERT IM MÄRZ

66 —

© Johannes Paul Raether

© Distruktur

25.04.– 03.05. Krems

Donaufestival 2014

30.04.– 11.05. köln

Acht Brücken Festival

23.05. köln

Electronic Beats

Das Donaufestival feiert Zehnjähriges. Zum Geburtstagsständchen an den zwei Wochenenden des 25.4. & 26.4. sowie des 30.4. – 3.5.2014 hat man wie gewohnt unter dem Überbau einer Plethora an Formaten zwischen Konzerten, Clubevents, Installationen und Performances hochspannende Künstler gebeten, ihre Visionen hör-, sicht- und fühlbar zu machen. Jon Hopkins gibt sich mit Vaporwave-Boss Oneohtrix Point Never und dem Granularsynthese-Fetischist Fennesz die Klinke in die Hand. Ebenso werden L.I.E.S.-Chef Ron Morelli und Blixa Bargeld in Kollaboration mit Teho Teardo aufspielen. Außerdem wird es neben den musikalischen Hochkarätern zahlreiche Performances – unter anderem von Santiago Sierra und Dinos Chapman – geben. Man ist also ein weiteres Mal herzlich dazu eingeladen auf utopische Gesellschafts-Gegenentwürfe jenseits überholter Denk- und Handlungsmodelle zu treffen und sich in einem Hauch von Zukunft den Kopf zerbrechen zu dürfen – oder einfach nur zu tanzen.

Dieses Jahr widmet sich das Acht Brücken Festival in Köln unter dem Titel "Im Puls" der Untersuchung der Antonyme menschlicher Puls und maschineller Takt. Mit Ausgangspunkt in der immer weiter voranschreitenden Technisierung der Gesellschaft die mit dem ersten Weltkrieg in Gang kam und sich in allen Bereichen der Kunst und des Denkens des 20. Jahrhunderts niederschlug, wird versucht dem Spannungsfeld zwischen Mensch und Maschine mit einer breiten Auswahl moderner Musiker & Komponisten Rechnung zu tragen. Ein großes Augenmerk wird folglich auf die Arbeiten des ungarischen Komponisten György Ligeti gelegt, die oft stark durch das im Fokus des Interesses stehenden Gegensatzpaars geprägt sind insgesamt 24 Werke aus der Entstehungszeit von 1948 bis 2001 werden aufgeführt. Auch weniger akademischen Künstlern wird nahrhafter Boden für eine Auseinandersetzung mit dem Thema geboten: Robert Henke (Monolake) wird das Festival mit der Uraufführung einer neuen Arbeit bereichern und die Mülheimer Entschleunigungslegenden Bohren & der Club of Gore werden ebenso eines ihrer faszinierenden Schauspiele zwischen Stillstand, Melancholie und Sarkasmus zum Besten geben.

Die Electronic Beats-Festivals sind seit einigen Jahren bekannt dafür, Shows mit einer stilsicheren Mischung aus heißen Newcomern, bühnenscheuen Kultacts und etablierten Größen abzuliefern. Das nächste Electronic Beats-Event wird am 23. Mai in Köln stattfinden und bietet genau jenes aufregende Line-UpKaleidoskop, das einen Eyecatcher-Effekt garantiert: der vielgerühmte ElectronicaInnovator Jon Hopkins steht dieses Mal Seite an Seite mit "Jizz Jazz"-Erfinder Mac DeMarco und seinen entrückten Pop-Entwürfen. Mit Vimes und Milky Chance sind auch zwei Vertreter der Zukunftsmusik aus Deutschland dabei, die beide akustische und elektronische Instrumente ineinanderschmelzen lassen, mit ihrem ureigenen Approach. Das Highlight des Billings wird für viele sicher Goldfrapp darstellen - die Electropop-Legenden spielen ihr einziges bisher bestätigtes Deutschland-Konzert im Rahmen des Electronic Beats Festivals. Tickets gibt’s auf der Electronic BeatsHomepage oder ganz bequem über die beiden EB-Apps zu erstehen.

DONAUFESTIVAL.AT

ACHTBRUECKEN.DE

ELECTRONICBEATS.NET


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© VG Bild-Kunst, Bonn 2014

29.04.– 01.05.

© Robert Mosbach

hamburg

Kommt zusammen Festival

23.05.– 23.05.– 25.05. 05.04.– 25.05. Her mit 10.08. © Team Gallery, New York

rügen

Porec, Kroationen

Lighthouse Festival

dem Schönen Leben Festival

düsseldorf

Smart New World

Das Lighthouse Festival, initiiert von der Wiener Pratersauna mit Unterstützung zahlreicher Satellitenclubs und anderen Partnern, feierte letztes Jahr sein Debüt - mit überwältigender Resonanz. Mit einer idyllischen Location an der Küste des adriatischen Meeres in Kroatien und den vielversprechenden Erstankündigungen des Line-Ups wird das dieses Jahr wohl auch nicht anders aussehen. Axel Boman, Joyce Muniz, Kollektiv Turmstrasse und Dream Koala sind einige der ersten Garantien für eine erfolgreiche Wiederholung des letztjährigen Erfolges. Da das Lighthouse Festival auch so etwas wie ein Urlaubsersatz sein will, gibt es natürlich noch reichlich anderes zu tun als tanzen - die malerische Kulisse wird dieses Mal auch zum Schauplatz eines Tischtennis-Wettbewerbs, einer Rollerdisco in einer Venue aus den 70er Jahren und auch für die Bespaßung der Kleinsten wird im "Kids Club" gesorgt. Maiurlaub mal anders.

Mit Rødhåd, Oskar Offermann & Edward, Recondite und Blawan an der Ostküste Rügens feiern – genau diese Möglichkeit bietet euch das Her mit dem schönen Leben-Festival, das dieses Jahr zum ersten Mal stattfinden wird. Umgeben von kilometerlangen Stränden, Dünen und dichten Wäldern bietet Prora eine mehr als außergewöhnliche Kulisse für drei Tage tanzen. Das Line-Up, das in Zusammenarbeit mit namhaften Clubs, Crews und Labels des Tanzmusikuniversums realisiert wurde – unter anderem der Ritter Butzke-Crew aus Berlin und den Leuten von Uebel & Gefährlich aus Hamburg – bedient sich glücklicherweise nicht am allsommerlichen Einheitsbrei, sondern kann durchaus mit einigen Acts aufwarten, die sonst eher zu den Festivalbühnen-Raritäten zählen. Die Sause findet auf insgesamt fünf Floors statt – drei davon unter freiem Himmel, zwei unter bebenden Decken.

Was heißt es, ein Individium in der Informationsgesellschaft zu sein? Dieser Frage geht die "Smart New World" betitelte Ausstellung nach, die vom 5. April bis zum 10. August diesen Jahres in der Kunsthalle Düsseldorf im Rahmen der Quadriennale zu sehen sein wird. Eine kleine Armada an Künstlern, darunter Santiago Sierra, Trevor Paglen und Xavier Cha, werden sich der brüchigen Beziehung zwischen Subjektivität und postindustrieller Gesellschaft in einer Zeit, in der die Selbstdarstellung zunehmend von der Omnipräsenz eines digitalen Voyeurismus übernommen wird, widmen. Unfassbare Datenmengen, NSAStempel unter der endgültig verstorbenen Privatsphäre, in hunderte Einzelteile zersplitterte digitale Spiegelbilder des Gegenwartsmenschen - auf diesen Pfeilern ruhend wird ein intimer Ballungsraum für die künstlerische Auseinandersetzungen zwischen Zukunftsperspektive und Gegenwartsangst entstehen.

LIGHTHOUSEFESTIVAL.TV

HER-DAMIT.INFO

KUNSTHALLE-DUESSELDORF.DE

Das seit einer Dekade in Rostock ansässige KOMMT ZUSAMMEN-Festival expandiert. Dieses Jahr findet zum ersten Mal eine dreitägige Sause in Hamburg statt. Der KOMMT ZUSAMMEN-Banner stand in Rostock immer für einen Spielplatz diversester Facetten der elektronischen Musik, aber auch die Szenevernetzung und ein breites Angebot neben den Parties, die ihr Hauptaugenmerk auf Musik legen, stehen im Fokus der Macher. Dieses Konzept wird natürlich auch in Hamburg fortgeführt. Der diesjährige Auftakt in Hamburg soll nur der erste Schritt hin zu einer Vielzahl an Spielstätten, Szeneaktivisten und Musiker aus dem Hamburger Umfeld sein, die sich beim KOMMT ZUSAMMEN-Festival künftig versammeln und ihren Ideen und Wünschen ein angemessenes Outlet bieten können. Gestartet wird aber in einem kompakten Rahmen, der es möglich macht die drei Tage vom 29.04. bis zum 01.05. durchweg mit Highlights zu füllen. Eröffnet wird mit einer Lesung von Tino Hanekamp, unlängst ist er durch seinen Roman „So was von da“ auch über die Grenzen Hamburgs hinaus bekannt geworden. Wer dann Lust hat seine Cluberfahrung ganz dem Beispiel Hanekamps zu vertiefen, hat dazu mehr als genug Gelegenheit - im Ballsaal des Uebel & Gefährlich startet das 3000Grad - Skazka Orchestra die Nacht. Im Anschluss daran darf das geneigte Tanzbein zu Techno, House und Bassmusik geschwungen werden - mit Douglas Greed, Dapayk, Andreas Henneberg und The Micronaut uvm. dürfte für die Befriedigung aller Geschmäcker gesorgt sein. Falls die Feierlust dann immer noch nicht gestillt ist - für eine Afterhour im Tanzcafe HalliGalli wurde auch gesorgt.

KOMMTZUSAMMEN-HAMBURG.DE


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181 — LESERBRIEFE

TEXT MICHA AUS BLANKENBURG

micha aus blankenburg / Lieblingsausgabe #182 Micha aus Blankenburg ruft an! Das war eine verlässliche GröSSe, sogar schon als einige von uns noch bei der Frontpage waren. Die Treue schlechthin. Zum Schluss haben wir den SpieSS mal umgedreht und bei Micha angerufen, um uns seine persönliche Mensch-MediumGeschichte erzählen zu lassen. Dazu HAT seine TOCHTER dann noch dieses grandiose Bild zum Magazin gemalt. Der Wert Diese Zeitschrift hat uns elektronische Welten eröffnet und Lebenssinn gegeben. Das ist bei weitem mehr als eine Zeitschrift überhaupt leisten kann. Neben der formidablen Themenauswahl, dem exquisiten Layout (mit jeder Umstellung irgendwie immer noch besser), den hervorragenden Interviews und Features, der Vorstellung technischer Neuer scheinungen und tausenden Plattenkritiken hatte die De:Bug etwas, was den meisten anderen fehlt: enorme Dichte und musikalische Strahlkraft. Die Übertragung Ihr kennt sicher das Gefühl, Menschen, die ihr noch nie gesehen oder getroffen habt, näher zu sein als euch selbst. Sich verbunden zu fühlen mit ihren berauschenden Gedanken, ihre Euphorie zu teilen über Dinge, die uns wenig später ebenfalls erreichen. Auch das Vertrauen in ein Team zu haben, das großen Einfluss auf unzählige unserer Lebensmomente hatte. Die Redaktion Wir haben miteinander geredet, uns geschrieben, zugehört und gemeinsam auch getanzt. Danke dafür, allen voran Sascha, aber natürlich auch Thaddi, Mercedes und Bianca,

Benjamin und Anton für ein besseres Morgen und den vielen MitstreiterInnen aus den vergangenen Jahren. Sie waren da - für uns. An ihrer Kompetenz (Feiern inklusive) besteht für mich nicht der geringste Zweifel. Das Ritual Die De:Bug lag meistens als Abo im Postkasten, oft auf der Treppe im Hausflur. Sie wurde sehnsüchtig erwartet, als Zeremoniell mit feuchten Händen der Schutzfolie entrissen, quergelesen, studiert, quasi aufgesogen und anschließend behutsam archiviert. Fünf Großbuchstaben - wer erinnert sich nicht an die unverwechselbaren Titelseiten - machten klar, dass mit Erscheinen immer auch eine neue Zeit begann (zumindest: ein Warten auf das nächste Mal). Der Rhythmus Nicht immer war es einfach, der regelmäßigen Informationsflut Herr zu werden, die monatliche Masse an Zeichen zu lesen, Reviews zu checken, Charts abzugleichen und den jährlichen Leserpoll mit auszuwerten. Wir wussten ja, was uns monatlich erwartet eben verlässlich, wie die Basslines von Gerald Simpson oder Kicks von Modeselektor. Der Schlusston Die Nachricht vom Ende schlug ein wie eine Bombe. Ohne Vorankündigung, mit aller Wucht und Zerstörung, dann Trümmer überall und die drängende Frage nach dem Warum? Das Danach Darüber lässt sich natürlich nur spekulieren. Ich könnte mir eine digitale Fortsetzung genauso gut vorstellen, wie eine Zersplitterung, ein Auseinanderdriften, ein Suchen und dann ein Starten von etwas Neuem. Die Stille Fragt mich heute jemand nach meiner Lieblingsausgabe, antworte ich natürlich: die 182. Aber will ich mich mit dem Status Quo einfach so abfinden und zur Tagesordnung übergehen? Ich fürchte, ich muss.


180 — 69

»MP3-Player werden zum Weihnachts-Geschäft neben jedem Keksregal stehen.« Anton Waldt November 1999 De:Bug 29

De:Bug in Blankenburg Filzstift auf Papier Hannah Horn, 2014


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181 — MANIFEST

BekenntnissE eines TechnoHochstaplers / Moritz Wehn Vom Praktikant zum Redakteur war es in der De:Bug oft kein weiter Weg, zuletzt schlug ihn Jan Wehn ein, der seit Herbst 2013 zur Redaktion gehört. Zum dicken Ende outet er sich als dreister Techno-Hochstapler: Ohne Rave-Ahnung in die Höhle der Auskenner - Oh Boy!

TEXT JAN WEHN

Was reimt sich auf Moritz? Po-Schlitz. Es ist 1993. Ich stehe auf dem Pausenhof der Grundschule Hohenlimburg. Um mich herum zehn, vielleicht 15 Sebastians und Noras, Philipps und Tanjas, die immer wieder "I like to Moritz Po-Schlitz!" singen und sich dabei in Sachen Phrasierung, Rhythmik und Intonation an Real 2 Reals RaggaHouse-Smasher "I Like To Move It" orientieren. Moritz, das ist mein zweiter Vorname. Meine Eltern haben ihn mir extra ohne Bindestrich gegeben - damit ich mir aussuchen kann, wie ich genannt werden möchte. Moritz, das weiß ich spätestens jetzt, sicher nicht. Mittags gibt’s Milchreis mit Zimt. Danach der Anblick des nässenden Herpes eines alten Rentners, der mir und meiner Schwester das Spielen auf der Blockflöte beibringen soll. Seine krustigen Lippen saugen das rohrförmige Blasinstrument aus Holz ein. Immerhin weiß ich jetzt, wie man ein tiefes C spielt. Am Samstagmorgen staubsaugt mein Vater das Wohnzimmer. Unter das Rauschen der Miele-Maschine mischt sich ein AORKlangteppich erster Güte: Genesis, Chicago, Manfred Man’s Earth Band, Dieter Falk. Am Abend schauen 18 Millionen Menschen und ich Michael Jackson dabei zu, wie er bei "Wetten dass...?!" in die wackelige Gondel steigt, unters Dach der Mehrzweckhallen in DuisburgHamborn schwebt und, von der Nebelmaschine durchgepustet, unseren schönen aber maladen Planeten besingt. Thomas German moderiert "Hit Clip" vor dem Lavalampen-Greenscreen. Meine Mutter bringt das erste Album von Take That mit nach Hause. Zum Geburtstag bekomme ich einen Michael-Jackson-Zweiteiler, mein Vater hat aus einem alten Kopfhörer das passende, obligatorische Kopfmikrofon gebastelt. Ich tanze stundenlang vor dem Spiegel. Peter Andrés Bauchmuskeln, die Bravo Hits 1', Ich mit Foto von Nick Carters Pottschnitt beim Frisör. Das macht 12 Mark, bitte. Im Konfirmandenunterricht tauschen wir schlecht kopierte Thunderdome-Kassetten mit selbstgemalten Covern unterm Tisch. Dann Bong rütteln und Beats bauen. Später: Baggys adé. Jeden Tag eine neue The-Band, den BarréGriff bekomm ich nach drei Wochen ganz gut hin. Reicht nicht. NuRave ist doch auch ganz geil: neonfarbener Heavy Metal für die Hipster, von denen ich auch so gerne einer wäre.

»Über jeden französischen Techno- oder Houseact wird ein Mülleimer voller schlechtgebeugter Nasale ausgekippt, so dass der Arme sich nach spätestens zwei Artikeln für ein krosses Baguette mit Käsefüßen halten muss.« Sascha Kösch, Mai 1999, De:Bug 23

Paul Kalkbrenner bespielt die Pollerwiesen. Alles riecht nach Jean Paul Gaultier. In meinem Nachbericht steht folgender Absatz: "Ich bin etwas skeptisch, als die dritte Nummer gleich ‚Sky and Sand‘ ist. Aber so, wie die Augustsonne langsam hinter den Wipfel verschwindet, die Nebelmaschine dampfende Fabelwesen über die Menge pustet und auf einmal alle irgendwie doch gleich aussehen, meint man fast noch das Rauschen des Rheines und den knirschenden Sand unter seinen Füßen zu spüren - der wahrscheinlich größte Moment an diesem Abend.“

Adventszeit. Ich backe mit meiner Mutter Heidesandplätzchen. In unserem alten Küchenradio steckt das erste Tape von Bushido. Mama wollte es gern mit mir zusammenhören. Weil's ja doch was anderes als der heile Mittelstandsrap von den Beginnern ist. Ich habe mehr Angst als sie. Nach 6' Minuten "Carlo, Cokxxx, Nutten" setzen wir uns kritisch mit dem eben Gehörten auseinander. Vielleicht ging's da los. Mit Mama und Papa zu Besuch in der Hauptstadt. Im Kino in den Hackeschen Höfen schauen wir gemeinsam "Berlin Calling". Guter Film. Studium in Bonn. Mein Mitbewohner trägt lange Haare und hört Burial. Und µ-Ziq. Und Fennesz. Und Bohren & Der Club of Gore. Ich muss das jetzt gut finden. Erst mal ein Spex-Abo abschließen. De:Bug-Redaktion, Schwedter Straße 9, Prenzlauer Berg. Bewerbungsgespräch zum Praktikum. "Und, wohin gehst du so aus?“. Anton Waldt quetscht Buchstaben in seine Tastatur und mich über mein Feierverhalten aus. Gute Frage. "Hm, eigentlich gar nicht so richtig." - "Gar nicht? Oh Boy!" Nee, tatsächlich gar nicht. Ich bin ohne Techno großgeworden. Interessiert mich einfach auch nicht so richtig. Drei Mal Berghain, am Wochenende lieber Frau und Hund und BaWüBergstraßenromantik galore. Wie um alles in der Welt bin ich hier gelandet? Völlig egal. Ich darf wiederkommen. Drei Monate später: Alles so schön bunt hier! Und so kompliziert! Ji-Hun Kim findet Digitalism gehe gar nicht. Dabei waren das doch meine Helden! Ich sag’ besser nix. Nächstes Fettnäpfchen: Erlend Øye in einer Rezension als Waldschrat bezeichnet. Sieht Thaddeus Herrmann als großer Kings-of-ConvenienceFan gar nicht gern. Muss raus. Himmel, war das anstrengend! Vertuschen, dass man nicht alles weiß, an den richtigen Stellen nicken, aber auch mal gekonnt stirnrunzeln. Woher wissen die eigentlich alles? Die können doch gar nicht... doch können sie. Bestes Beispiel Sascha, der mir bewies, dass Promo-Stapel auch dann noch einsturzsicher sind, wenn sie höher als einen Meter gen Bürodecke ragen. Ich darf weiter schreiben. Über SmoothFi, Jersey Club, dreamy-sleazy Water Rap, Hipster-Horrorcore-Hybridmusik, ZukunftsR’n’B zwischen Rapidshare-Eigenvertrieb und kokainistischen Hedonismus, Porno-Pop, Supergenres, sexelnde Samplequeens. Wo sonst geht so was bitteschön? Meine Freunde hören halt Musik. Weil sie da ist. Oder weil sie gut klingt. Die haben nie so recht verstanden was ich da mache: über Musik schreiben, Platten hören, gut oder schlecht finden, die richtigen und falschen Fragen stellen. Damit verdient man Geld? Wenig, aber es reicht. Das soll ein Job sein? Ja, es ist einer. Der beste, den ich mir vorstellen kann. Trotz ohne Techno. Besonders hier bei der De:Bug. Rave on!



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181 — DIENSTREISEN

Dienstreisen / Mission De:Bug

Wenn es nach dem redaktionellen Reisebudget gegangen wäre, hätte sich der De:Bug-Reportageradius auf U-Bahn- bzw. Fahrraddistanz zum Büro in der Schwedterstraße beschränkt. Dem war aber nicht so, vielmehr haben unsere findigen Reporter zweitverwertet, aus eigener Tasche draufgebuttert oder sich mutig aufs gefährliche Eis bezahlter Ausflüge begeben und trotzdem unbestechlich subjektive Texte verfasst. Kairo - Universität. Noch zu Zeiten Mubaraks. Wir präsentieren die Ergebnisse des Digital Consumer Culture Workshops des Goethe Instituts. Der Hörsaal voller Schleier. Vor mir ein Ägypter der Cybertaskforce, oder der Geheimpolizei. Konnte man nicht wissen. War zu geheim. Hackern gehöre die Hand abgehackt, mindestens, so der Tenor. Auf Gegenfragen nur Blicke, die töten können. Von mir dann: Grundkurs Produkte missbrauchen um Schönheit zu basteln. Ovals "Post Post" knistert durch den Hörsaal. Ekkehard Ehlers "Plays John Cassavetes B" endlose Beatles-Variation. Alle Ägypterinnen durch die Bank verzückt. Die werden glücklich im Schleierabteil mit der U-Bahn nach Hause fahren, dachte ich mir. Mal nicht über die neuste Fatwa gegen das Verbrennen von Reisstroh grübeln müssen. Khaled Said war noch nicht totgetreten. Die Revolution war noch weit weg. Aber die Hoffnung war in jeder Faser des Aufsaugens dieses Knisterns spürbar. Jahre später hing ich tagelang halb weinend am Al-Jazeera-Livestream vom Tahrir Platz. (bleed)

»In Europa soll derweil die NSAStation Menwith Hill (UK) aufgerüstet werden. Dort sollen Stimmerkennungsmuster über Satellit nach Fort Meade (Maryland) geschickt werden.« Nico Haupt April 2000 De:Bug 34

Tokio - Unsere erste Japan-ClubLektion findet im coolen Amate-Raxi statt, das keinen internationalen Clubvergleich zu scheuen braucht, wenn es um Anlage, Licht oder Barpersonal geht. Die Tanzfläche füllt sich, wir verzweifeln am Bierpreis knapp unter 8 Euro, der übrigens gleichermaßen an den Bars wie an den Getränkeautomaten vor den Klos gilt, eine Einrichtung die europäische Clubs doch bitte sehr zügig übernehmen sollen. Jedenfalls wollen wir oberschlau eine billige Runde Bier beim Minisupermarkt an der nächsten Ecke einlegen, um zu lernen, dass es in japanischen Clubs keine Stempel gibt und sich der Türsteher nicht an uns erinnern mag - Aber Langnasen sehen ja auch alle gleich aus. (waldt)


180 — 73

Warschau - In Berlin, so sagt man, habe man das Feiern verlernt. In Städten wie Tel Aviv hingegen trötet sich die Jugend derart durch die Nächte, als wäre der nächste Sonnenaufgang das jüngste Gericht. Jedes Wochenende. Auch in Warschau kann man feiern. Backstage eines bekannten Clubs nahe der Wisla. Ein neonbeleuchteter, ein karger Raum. Schmierige Sofas an den Wänden. Ein großer Tisch, ein Kühlschrank. Gegen Eins füllt sich der Raum beträchtlich. DJs, Freunde, Residents, eine kleine, charmante Stehparty. Eine junge Polin stellt sich vor, fragt, ob man was nehmen wolle. Ja nee, muss eigentlich nicht. Es plumpst ein daumengroßer Klumpen Kokain aus einem Plastiktütchen auf die dunkelweiße Tischplatte. Das Mädchen ruft sich Freunde herbei und zu fünft wird mit dem Eifer eines chinesischen Sweatshops das Koks zerlegt. Drei Minuten später liegen, wie eine Dünenverwehung in der Sahara, fünfzig Lines auf dem Tisch. Die Initiatorin stellt sich auf einen Stuhl und klatscht in die Hände: "Meine Damen und Herren, das Büffet wäre angerichtet …" (ji) Hollywood - Wir, ich und eine Truppe von Drum-and-Bass-Kids aus Berlin, sichtlich bemüht, die Brown Bags mit Drinks ins erste große Drum-andBass-Rave zu schmuggeln und später Joints und Zigaretten unterm DJ-Pult zu rauchen. Finger der anderen Hand immer festgeklebt an der Nebelmaschine. In der Eingangshalle auf dem Boden ein großer Haufen zusammengewürfelter Kids auf E, anschmiegsam verkuschelt wie ein Wurf Hundewelpen. Auf dem Floor Breakdance zu Metalheadz Amen Breaks. Kulturschock überall. Die Produzenten der Stadt wohnten in Gated Communities, es fiel ihnen kaum auf. Der DJ Funk Gig, das handgepickt einzige Clubevent von Relevanz die Woche, eine Scratch-Orgie ohne auch nur den Gedanken eines Dancefloors. Die Stadt eine Ansammlung von Parkplätzen. Und die Berliner Exoten auf unbekümmertem Fußmarsch auf der Suche nach einer Tüte Milch ohne Vitamin-D-Zusätze waren immer wieder ein denkwürdiger Anblick. Wie wollen die einparken, so ganz ohne Auto? (bleed) Oslo - "Vier Bier bitte." Das Gesöff füllt gemächlich die blassen Kneipengläser, die Kreditkarte ist gezückt, souveränskandinavisch versteht sich. "5" Euro? Aber ganz schön happig..." Die Norwegerin, der ich das Bier überreiche, zeigt sich sichtlich überrascht. "Für mich?" "Ja, macht man doch so." "Aber nicht hier." "Verstehe nicht." "Du glaubst wohl, wir wären alle stinkreich. Wenn man einer Frau in Norwegen ein Bier ausgibt, kommt es einem Heiratsantrag gleich." (ji)

Jena - An einem erfreulich warmen Karfreitag sitzen wir mit den Wighnomy Brothers im Gastgarten des "Gruenowski" in Jena. Die Jungs sind gerade von einer ausgedehnten Südamerika-Tour zurück und mental noch nicht wirklich vor Ort, aber die Sonne und Vodka-Apfelsaft lassen den Nachmittag im Block entspannt angehen: Das "Gruenowski" teilt sich nämlich das Erdgeschoss einer Gründerzeitvilla mit dem Plattenladen "Fatplastics", in den oberen Stockwerke findet sich das Freude-amTanzen-Büro und Gabors "Musikzimmer", sowie eine handvoll Büros aus dem Umfeld der Grünen, denen das Gebäude gehört. Auf der sonnigen Wiese vor uns kläfft sich ein Punkköter seine asthmatische Seele aus dem räudigen Laib, um eine Schildkröte zu beeindrucken. Natürlich völlig zwecklos, das Reptil zieht seine Extremitäten nicht einmal ganz unter seinen Panzer zurück, offensichtlich abgehärtet durchs Stadtleben: "Jena hatte die größte Schildkrötenzucht des Ostblocks," erläutert Sören die verwirrenden Eigenheiten der lokalen Fauna. (waldt) New Delhi - Wie um alles in der Welt war ich nach New Delhi geraten? Richtig. Goethe! Mit den SonarkollektivJungs. Der Club war im ehemaligen StaatsHotel, in das man mit einem Elefanten hätte einreiten können. Im VeggieRestaurant dieses irren Komplexes gab es das weltallerbeste Essen für einen Euro. Das wird eine billige Woche. Der Resident mochte mich. Ich kam aus Berlin. Ich musste ein Freund von Westbam sein. Mir schwante Böses. Erst mal ne Runde Bier für die Berliner holen. 3" Euro. Wirr. Zwischen den Tänzern (nur Jugendliche aus bestem Hause, versteht sich) Bedienstete mit Besen und Kehrschaufel, die sich behände durch die Masse groovten und den Floor blitzblank hielten. Auflegen. Und alle Schreien und gehen ab wie verrückt. Ich fühlte mich wider Erwarten sehr westbammig. Zur Afterhour die Gegend erkunden. Keine 1"" Meter vom Hotel am Abwasserkanal die BlechhüttenSlums. Doch lieber wieder zurück, aber erst mal vorbeimogeln an einer Handvoll höchst aufmerksamer Tuk-Tuk-Fahrer, deren Brüder definitiv die besten Teppichläden der Stadt haben. In der Hoteleinfahrt steht jetzt wirklich ein Elefant. Die nächsten drei Tage sollten viele davon anstampfen, Tag und Nacht: Hochzeit, indische Hochzeit. 3""" Gäste im Saal unter mir. Ein konstanter Trommelwirbel. Sanftes Runterkommen dann beim Sonarkollektiv-Gig im GoetheSaal, wo ich das erste und letzte Mal, aus mir unerfindlichen Gründen eine Polonaise auf dem Dancefloor bestaunen durfte. (bleed) New York - November 2""9. Ein Hersteller vom Smartphones will mit uns Golf spielen. Downtown. Na gut, eigentlich im Central Park. Anstatt von Caddys

und Schlägern haben wir nur brandneue Telefone in der Tasche, bespielt mit einer Killer-App, die mit Hilfe von Google Maps und GPS waschechtes Urban Golfing verspricht. Gleich nach dem Aufstehen hatten wir uns während eines HelikopterRundflugs die besten Spots im Park ausgeguckt und dann schlägt der erste Kollege ab. Funktioniert. Bonus: Man erschlägt keine Eichhörnchen. Nicht so gut: Querfeldein ins Gestrüpp, durch ein Rinnsal, den Hügel hoch, quer über die Eisbahn geht die Route. Wir sind alles Nieten. Und plötzlich steht ein Uniformierter vor uns und weist darauf hin, diese Ecke des Central Parks, das sei eine Art Wirtschaftshof, wir hätten hier nichts zu suchen und wer wir denn seien und was wir denn hier wollen würden. Golf spielen. No Sir, we kid you not. Augenverdreher seitens der Uniform. Get lost. Das Hotelzimmer in New York kostet pro Nacht so viel wie das De:Bug-Büro im Monat und ist kleiner als mein Klo zu Hause. Es lebe der Fortschritt. (thaddi) Singapur - Ein Gig im Zouk. In der Clubzone Singapurs. Fast wie ein kleines Ibiza. Club an Club und nur da. Sonst nirgends in der Stadt nennenswerte Jugendkultur. Hier aber alles brechend voll. Eine Stunde vor dem Gig merke ich endlich, ich spiele auf dem Drum-and-Bass-Floor. Nicht dabei das Zeug, wir hatten uns doch gerade erst getrennt. Minimal hochpitchen was geht? Wird gehen. Der ganze Floor voller Mädchen mit Handys in der Hand. Tippen und Tanzen? Noch nie gesehen. Scheint aber zu funktionieren. Kameras hätten damals bei dem Licht nur Grissel gebracht, so schlecht waren sie noch. Die Smartphones waren noch lange nicht erfunden. Drum and Bass oder nicht, war ihnen dabei auch egal. Das universelle swingende Freundschafts-Sekretariat im Nanny-State funktionierte im expliziten Underground-Club Singapurs auch so. Vielleicht haben sie sich auch alle konstant höflichst via SMS über mich lustig gemacht. Wir hatten trotzdem Spaß. Den wahren Underground haben wir später auch noch gefunden. Das einzige abbruchreife Haus in der Innenstadt. Die DJs: Heavy-MetalLookalikes mit Bärten und langen Haaren aus der Schwulenszene. Und natürlich mehr DJs als Gäste. Unschlagbarer Widerstand an unwiderstehlich unwiderständigen Orten. Vermutlich wurde der Laden die Woche drauf abgerissen und durch verschlungene Gartenwegarchitektur für Babywägen ersetzt. (bleed) Ibiza - Mai 2"11. Im Gran Hotel Ibiza findet der Ibiza Music Summit (IMS) statt. Hier treffen sich Jahr für Jahr Größen der Club- und Tanzszene. Hier wird Business gemacht. Pete Tong, Paul Kalkbrenner, alle hängen mit tellergroßen Sonnenbrillen am Fünfsterne-Hotelpool herum, tun geschäftig, machen Geschäfte, von einigen zwielichtigen Gestalten will

DEMDIKE STARE RYOJI IKEDA RUSSELL HASWELL EMPTYSET THE HAXAN CLOAK RASHAD BECKER YURI ANCARANI W/ LORENZO SENNI HOLLY HERNDON WOLF EYES ROBERT LIPPOK W/ LILLEVAN PHILIP JECK CHRISTOPH FUEGENSCHUH KEVIN DRUMM ENSEMBLE ECONOMIQUE HARD TON WERNER MOEBIUS W/ HANS-JOACHIM ROEDELIUS DALGLISH LUMISOKEA RUBEN D’HERS FESTIVAL & TICKET INFOS: WWW.HEARTOFNOISE.AT


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man gar nicht wissen, womit und wie sie dabei mitmischen. Hier geht es um die Liga Tiesto, David Guetta, Clubs wie Pacha und Co., bei denen das :// about blank selbst für die Besenkammer zu schmuddelig wäre. 2"11 dreht die Popwelt allmählich wieder den Kopf Richtung Dancefloor. Es gibt mit Skrillex und Deadmau5 neue Superstars, alle anderen machen mit. Im Konferenzraum ein Panel. Zwei Engländer, ich kann mich nicht mehr erinnern wer (wichtig waren sie bestimmt), diskutieren darüber, dass es Zeit wird, dem aufkommenden Trend einen Namen zu geben. "Es reicht nicht

ICH HATTE HÖLLISCH VIEL SPASS UND ICH HABE JEDEN AUGENBLICK DAVON GENOSSEN. ERROLL FLYNN,14. OKTOBER 1959

mehr, über Techno, House oder Dubstep zu reden! Es ist etwas Größeres: USA, Asien, Südamerika! Nennen wir es EDM. Electronic Dance Music!" Einige im Publikum raunen und nicken, andere fühlen sich peinlich an den Fehler IDM erinnert. Ich weiß in dem Moment nicht, ob lachen oder weinen. Meine Sonnenbrille habe ich vergessen. Heute, drei Jahre später, hat Las Vegas Ibiza als Mekka der Gagenperversion abgelöst. Afrojack und A-Trak haben dort die Jobs von Celine Dion und Tigerdompteuren übernommen. Daft Punk gewinnen Grammys. Und EDM? Ja EDM, dieses verfickte EDM aber auch. (ji)

Tokio - Unser Hotel liegt in Spukweite der Station Shibuya, in dieser Gegend gibt sich Stadt jung, hip und dynamisch, selbst die Angestellten der umliegenden Bürotürme wirken ungezwungen im Vergleich zu ihren verkniffenen Pendant in Ginza. Aber an der Rezeption weht ein anderer Wind, hier empfängt uns ein Mittfünfziger alter Schule, der mit großem Elan ein bürokratisches Ritual zelebriert, inklusive Formularen, Durchschlagzetteln und sorgsam gestempelten Formblättern, in denen sich aber leider, leider nicht alle reservierten Zimmer fanden. Das anschließende

Schauspiel zog sich über eine Stunde und war vom klassischen Kodex bestimmt, der Europäer um den Verstand bringen kann: Zuerst wurde den Männern unserer Gruppe Zimmerschlüsselkarten im Wortsinn auf dem Tablett serviert, und erst anschließend das Palaver mit Reiseleiterin Mayuri begonnen. Als nach einer halben Stunde unversehens der Zettel mit dem fehlenden Zimmer auftaucht, ist aber mitnichten alles klar! Im Gegenteil, jetzt wird aus dem langwierigharmlosen Gezicke eine ausgewachsene Staatsaffäre. Unser verstockter Concierge gehört nämlich einer Generation an, in der traditionelle Regeln noch ungebrochen


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zu retten. Verschärfend kommt dazu, dass ihm mit Mayuri eine Frau gegenübersteht, denn zu den traditionellen Regeln gehört auch eine klare Hierarchie, die Frauen auf Plätze verweist. Das Eheleben alter Schule wird in Japan beispielsweise nur halb ironisch mit der Befehlsfolge "Meshi! Furo! Nero!" beschrieben, frei übersetzt "Essen! Badewanne! Ruhe!". Um das Drama am Hoteltresen zu beenden, bleibt Mayuri schließlich keine andere Wahl, als wieder besseren Wissens alle Schuld auf sich zu nehmen und für diese Schuld umgehend mit einen Preis zu zahlen, indem sie ein weiteres Zimmer anmietet, für das sie keine Verwendung hat. (waldt) Finnland - Eine Vodka-Marke hatte zur Mitternachtssonne eingeladen. Ganz weit oben in Finnland. Dort wo die Propellermaschinen zwischen RentierGeweihen landen. Ein Märchenpark mit organisierten Schamanen und tanzenden Feen im Gebüsch, Spießrutenlauf durch Unterwegsvodka-Tanken, kunstvoll getarnt als Eiswelt-Skulpturen zur Lichtung. Die Party ein Schlachtfest zwischen Lachsen am Feuer, Rentieren auf Spießen und mehr, viel mehr Vodka. Mal so gemischt, gerne auch so, oder sonstwie, oder mit Rosmarin (noch die beste Variante). Ich liebe Vodka. Vodka, pur, auf Eis. Schwer zu bekommen. Reinste Schmuggelware. Die Barkeeper wollten das nur unter Protest unter der Hand rausrücken. Anders aber war die Masse der russischen Großgastronomen mit ihren schönheitsoperierten Kataloghausdamen weder während der dürftigen musikalischen Darbietungen noch auf ihrem lautstarken Weg in die Sauna zu ertragen. Aber die Mitternachtssonne ging wirklich nie unter und die Zeit stand wirklich still. Die Schönheit der Welt ist einfach nicht kaputt zu kriegen. (bleed)

gelten - wohlgemerkt nur Regeln, denn die Werte aus der Redewendung waren in Japan immer eher zweitrangig. Dem Mann hinterm Tresen wurden jedenfalls die überlieferten Regeln noch so richtig gründlich eingebimmst und dazu gehört auch, Fehler im Beruf niemals zuzugeben, weil das die eigene Ehre beflecken würde. Und Japaner alter Schule sind extrem ehrpusselig, nicht zuletzt weil die Wiederherstellung der beschädigten Ehre ein kompliziertes bis unmögliches Unterfangen darstellt. Es geht jetzt also nicht mehr darum, dass unsere Reisegruppe Zimmer bekommt, es geht in erster Linie darum, die Ehre des Concierge

San Francisco - Location: kleiner Kellerclub. Publikum: jung, studentisch. DJ: Traktortyp mit Hang zum Brostep. Drinks: aus dem Schlauch. Szenario: Junger Mann mit umgedrehter Baseballkappe balzt mit ansehnlichadretter Dame auf der Tanzfläche. Kennt man noch von The Grind. Nur ein bisschen derber. Ein bisschen Twerk links, ein bisschen Twerk rechts. Die Minuten streichen ins Land. Offensichtlich knistert es zwischen den beiden. Das Mädchen flüstert dem Jungen etwas ins Ohr. Er zieht prompt darauf sein anderthalb Nummern zu großes T-Shirt über den Kopf und beide begutachten den akkurat-schlank trainierten Torso des Jünglings. "Auf dem Waschbrett kannst du Diamanten schleifen." Das Mädchen lässt den Blick noch mal kurz Richtung Gesicht schnellen und langsam zurück gen Turnschuhe gleiten. Ein akzeptierendes Nicken. Gemeinsam verschwinden sie auf der einzigen Frauentoilette und spielen auf dem Sixpack Marimba. Nach 2" Minuten wartet

noch immer geduldig ein gutes Dutzend Mädchen aufs Klo. Wirklich aufregen tut sich keiner. (ji) Brasilien - Henrique, da ist ein Pool, lass uns schwimmen gehen. Rein. Der beste Moment der Afterhour nach der Afterhour. Wir kamen aus dem Warung, das aussieht wie ein Langhaus in Bali (wo ich nie Langhäuser gesehen hab). Die Crew des D’Edge Clubs hatte geladen. Renato hat ein Penthouse, den coolsten Club des Landes, die sympathischste DJ-Crew, die beste und irgendwie auch normalste Crowd jenseits von Berlin, und trotzdem... Am Ende in den Pool. Simple Pleasures. Die grünäugige Dame aus Blumenau (liegt irgendwo in der Gegend, im tiefsten Südbrasilien) musste sich ausgerechnet jetzt über meinen Freund bei mir beschweren. Mein Freund war in dem Moment wiederum Sven Väth. Ich hatte drei grandiose Sets von ihm hinter mir, in zwei Tagen. Der wollte sie wohl ins Hotel mitnehmen. Das geht bei brasilianischen Mädchen gar nicht durch als guter Stil. Auch nicht als DJ-Star. Simple Pleasures. (bleed) Köln - Ich war lange nicht mehr in Köln. c/o Pop ist sicher ein Grund. Alte Freunde auf der Kompakt-Party begrüßen. Ehrensache. Mehr als genug davon da. Alle wie immer stolz wie Bolle. Unsere Stadt. Geregelte Bahnen passten mir gerade, ich war unglücklich verliebt. Dann traf ich dieses Mädchen. Entschlossene Raverin auf Abwegen, das konnte nur gut gehen. Bande gründen für eine Nacht. Auf einer Party mal wieder was tun, was man nie tut. Ehrensache. Wir beschlossen Taschendiebe zu werden, klauten reihenweise Kleinzeug, um es direkt wieder zurückzugeben. Du, dir ist was aus der Tasche gefallen. Knicks. Die Party war viel zu früh zu Ende. Afterhour in Köln? Davon hatte ich noch nie gehört. Sie war sicher, die gibt’s, immer, nur einen Anruf weit weg. Es gab sie. Mit Ketamin Flaschenweise. Der Krankenwagen kam oft. Den wie immer kurzen Fußweg lang, morgens zurück zur c/o Pop, durfte ich Ralph Christoph konstant versichern, dass er wirklich, echt, absolut ganz normal aussieht. Und ich, völlig am Ende, wurde zurecht von Mike Ink aus dem Kompakt Shop geworfen, rauchen ist wirklich ungesund. (bleed)

»Sie reden! Sie haben's warm!« Pan Sonic März 2001 De:Bug 45


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DIE PLATTE für danach

Unsere in Bitcoins angelegten Cultural-Capital-Millionen reichen locker für einen gemeinsamen Urlaub aller Reviewautoren auf der virtuellen Insel. Bleibt eigentlich nur die obligatorische Frage, bevor man irgendwo im Südpazifik eine Scholle mit den Eisbären teilen muss: Welche Musik nehmen wir mit? Nicht nur um eine bessere Akustik auszureizen, sondern natürlich auch, um die Diskurse und Streitwerte der letzten 16 Jahre irgendwie kompakt in musikalischer Form zu bewahren. Herausgekommen ist ein einziger Power-Chord für Musik ohne Distinktionszwang.

Popgefühl 1999 Mouse on Mars, Pavement, Blumfeld, Sterolab, Notwist, Phoenix Efdemin hat das in der letzten Ausgabe ganz gut gesagt: "Zwischen 15 und 25 prägen einen gewisse Dinge, die sich festsetzen und von denen man später nicht mehr loskommt." Ich glaube mein Popgefühl rahmte sich endgültigerweise 1999, mit 19. In diesem Jahr releasten Mouse on Mars "Niun Niggung", Pavement "Terror Twilight", Blumfeld "Old Nobody" und Sterolab "Cobra And Phases Group Play Voltage In The Milky Night". Im eigentlichen Sinne muss auch "Shrink" von Notwist dazu zählen, das ein Jahr davor und "United" von Phoenix, das ein Jahr danach erschien. Was eint also all die Werke, außer ihre gleichzeitige Welterblickung und das alle Bands etwa dieselbe "Größe" haben? Fast alle von ihnen berühren erstmals die Elektronik. Zwar kannten Mouse on Mars die schon länger, doch gerade deren Album beginnt irrerweise mit einer Gitarre. Es war eben die Zeit verschmitzter Annäherungen und folgenreicher Verschmelzungen. Indietronic war ganz anders, existiert auf keinem dieser Alben, aber loderte doch irgendwie anwesend drum herum. Diese Musik, die für mich ja zum Teil wirklich die bis heute meistgehörteste darstellt, sie tönte zugleich seicht und schlau, alt und neu. Doch bevor hier nachträglich die heranwachsende Psyche wiedererweckt wird, fällt ein anderer Gedanke in mein Hirn: Ich habe ja die Idee, dass seit 20 Jahren keine gute Musik aus Berlin kommt. Dass in Berlin gute Musik praktisch nicht möglich ist (Außer To Rococo Rot und Dominique). Die Beispiele sind dafür Garant: Jochen Distelmeyer, Mouse on Mars - seit dem Umzug aus Hamburg und Köln machen die nur noch Quatsch. Auch Stephen Malkmus und Tim Gane von Sterolab haben ja länger hier gewohnt und produzieren seitdem langweiligere Musik als vorher. Und ich sage es hiermit voraus: Keins der auf diesen Seiten rezensierten Alben wird aus Berlin sein! Aber damals, 1999: upliftende Hi-End-Melancholie. Blumfeld entdeckten Münchener Freiheit, Notwist entdeckte Mouse on Mars, Stereolab sich selbst. Und Pavement waren einfach Pavement, nur ruhiger. Für mich bedeuten all diese Alben natürlich der Soundtrack einer damals schon verlängerten Jugend (Abi mit 21), Kassettenspulen auf nächtlichen Überlandautofahrten, Kleine-Drogen-große-Gespräche-Musik. Und, wie jede sehr gute, natürlich auch komplette Mädchenmusik. Timo Feldhaus Shackleton Fabric 55 (Fabric/2010) 2006 entstand ein Riss in der Wirklichkeit der durchdesignten Clubmusik-Landschaft. Ausgelöst von der subbass-getränkten Musik eines Produzenten, der damals seine erste 12inch aus der "Soundboy's"-Serie auf dem eigenen Label Skull Disco veröffentlichte: Shackleton. Seitdem hat sich an der Wirkung der losen Klanglandschaften aus türkischer Saz-Musik, Dubstep, Krautrock und hypnotischen Techno-Loops, die vom Echo und Hall des Dub zusammengehalten werden, nur wenig geändert. Auch seine aktuellen Alben und EPs enthalten diese akustischen Parallelwelten, die so fremdartig, aber auch so vereinnahmend sind wie die Protagonisten in einem David LynchFilm. Strange Clubmusik gibt es doch zuhauf, könnte man einwenden. Klar, aber selten wird eine solche, den Regeln konventioneller Clubmusik entgegenstehende Musik auch in den internationalen Szeneclubs gespielt. Das liegt vor allem auch an seinen ekstatischen Livesets, bei denen sich der aus Bristol stammende Ableton-Virtuose immer wieder selbst remixt. Der 2010 erschienene Livemix auf der Londoner Fabric Live-Reihe ist dafür das bisher beeindruckendste Zeugnis. In den ersten Minuten wird ein Fluss erzeugt, der an die Minimal Music eines Steve Reich erinnert und ihre hypnotische Kraft vor allem aus der radikalen Repetition von kurzen Motiven bei gleichzeitiger Variation verdankt. Dieses Prinzip wird durch komplex verschachtelte Percussions und ultratiefe Subbässe ergänzt, die gelegentlich von glasklaren Tamburins und flirrenden HiHats konterkariert werden. Melodien werden stets nur angedeutet und stammen oft von stark verfremdeten akustischen Instrumenten wie Orgeln oder analogen Synthesizern. Es ist nicht nur die stetige Dialektik aus Erwartung und Erfüllung, die die Musik so besonders macht. Es ist auch das psychoakustische Spiel mit den musikalischen Zwischenräumen. Denn die oft nur vage ausformulierten Beats vermeiden stets den four-to-thefloor-Modus und bleiben dennoch tanzbar, da die Abwesenheit eines straighten, tanzbaren Rhythmus’ stets anwesend ist. Die unterschiedlichen Klangschichten, die gelegentlich durch aufblitzende Stimmenfragmente oder Sprachfetzen von Vengeance Tenfold ergänzt werden, sind eine Herausforderung der selektiven Hörwahrnehmung. Und dennoch wird es nie zu abstrakt. Denn wenn es etwas gibt, was das Shackletonsche Pendel zwischen Abstraktion und unmittelbarer Kraft in der Waage hält, dann ist es die Fähigkeit zur akustischen Überwältigung. Durch sie wird der Club-Besucher daran erinnert, dass der menschliche Körper hauptsächlich aus Wasser und Knochen besteht und damit ein perfekter Resonanzkörper für zukunftsweisende Körpermusik ist. Diese Erfahrung wird den Riss in der Wahrnehmung nie mehr kitten. Philipp Rhensius OM - Conference Of The Birds (Holy Mountain) Der Flug der Vögel, die in dem persischen Epos "Die Konferenz der Vögel“ nach dem Simurgh, einer mythischen, phönixähnlichen Kreatur suchen und am Ende ihrer Reise statt des Fabelwesens ihre Reflektion in einem See finden und ganz nach Sufi-Lehre realisieren, dass der gesuchte Gott in dem einheitlichen Ganzen, von dem sie Teil sind, verborgen liegt und sich nicht in einer Führerfigur manifestiert, bietet den perfekten allegorischen Rahmen für diese Platte. Bass und Schlagzeug, ein wenig Gesang, mehr Zutaten braucht es nicht - hier wird die DNA getanzt, daran erinnert, das alles nur Schwingung ist, der Gegensatz zwischen Stillstand und Bewegung als nichtig bewiesen. Auch nach unzähligen Durchläufen seit Erscheinen

der Platte empfinde ich bei den zwei Viertelstündern auf "Conference of the Birds" dieses archaische, warme Kribbeln, das einem beim Hören das Gefühl gibt, gerade viel mehr zu machen als eben nur zu hören. Am Ende ist es die Einfachheit der Idee zwei Rockinstrumente ganz ohne Attitüde oder Showmanship miteinander zu synchronisieren, die so überwältigend gut funktioniert, dass man schreien möchte und sich in einen leeren, von jeglichen Einflüssen des Lebens befreiten Raum zurückgeführt fühlt. Alles nur endlose Vibration. Wo Cans Repetitions-Messe "Halleluwah" gleichzeitig nach allen Seiten der Wahrnehmung greift, beschwören OM mittels Wiederholung ad extremum einen introspektiven Unendlichkeitsgroove, der dem Hörer eine Kontemplation über alles und nichts erlaubt. Womit wir wieder bei Simurgh wären. Tim Nagel Hype Williams One Nation (Hippos In Tanks) Erst drei Jahre alt und schon historisch. Hype Williams war wohl von Anfang an nicht mehr als ein temporärer Kunstraum. Die "Band" von Inga Copeland und Dean Blunt ist Geschichte, vielleicht, erstmal. Aber "One Nation" wird in die Musikgeschichte eingehen, da bin ich mir sicher. Nicht in die offizielle, wie denn auch, wenn Hype Williams selbst immer nur eine halb inoffizielle Phantomerscheinung waren? Seit Dean Blunts bizarr-schönem Singspiel-Opus "The Redeemer" hat sich das geändert. Auch Inga Copeland veröffentlicht im Mai ihr erstes eigenes Album. Unabhängig davon, was von den beiden noch alles kommen mag: Über "One Nation" werden ein paar Wenige in zehn oder zwanzig Jahren reden wie über Captain Beefheart oder Joe Meek. Wieso? Weil Hype Williams eigentlich aus diesem lebensgefühligen Generations-Ding Hypnagogic Pop rausfallen und ihren kleinen Hype vor allem ihrem irren, visionären Sound verdanken. Ein Sound der so leise und unwahrscheinlich ist, dass er an denen vorbeigehen muss, die sich nicht die Mühe machen wollen, hinzuhören. Hypes sind laut, Hype Williams waren leise. Musik aus der Reihe: "records that set the world on fire (while nobody was listening)", wie das Wire-Magazin 1997 seine alternativen Ewigkeits-Charts nannte. Wenn diese Liste ein Update bekommt, wird "One Nation" dabei sein. Es ist immer noch schwer, diese Musik mit ein paar griffigen Kategorien zu beschreiben, aber das erscheint auch immer nebensächlicher. Alles spielt eine Rolle: die billigen Geräte, die verrauschten Aufnahmen, die Poesie, der Nonsense, die Reverse-Loops, die Fragmente von HipHop, Dub und Chicago House. Am Ende kommen alle Teilchen auf eine Weise zusammen, die so magisch einfach klingt, und trotzdem niemand so rührend und verstörend erreichen konnte. Hype Williams waren meine erste große De:Bug-Geschichte. Es hat Nerven gekostet, aber am Ende saß ich bei den beiden im Wohnzimmer, für - soweit ich das sehe das einzige Interview, das man Dean Blunt aus deutscher Sicht jemals entlocken konnte. Natürlich haben sie mich auch ordentlich verscheissert, aber was soll’s, ich habe alles geglaubt, sie beim Tüten bauen geknipst, richtig schön unprofessionell. Wie ihre Musik, wie De:Bug manchmal, aber immer gut, ernst und richtig gemeint. Und so sieht’s aus: In keiner anderen deutschen Zeitschrift hätte man vier Seiten mit schlechten Fotos über Hype Williams machen können. Never ever. Auch das werden spätestens in zehn Jahren viele realisieren. Michael Döringer Grimes - Visions (4AD/Beggars Group) Rumpelbeats, Klimperkeyboard und turmhohe Vocalschichten, dazu ein Look, dessen Beschreibung als Gothicmangahiphopethnoraveballerina immer noch verkürzt ist. Mit der Veröffentlichung ihres dritten Albums "Visions" bei 4AD wird Grimes alias Claire Boucher über Nacht zur Lady Gaga unter den Schlafzimmerproduzenten. Intelligent ohne zu überfordern, ideenreich aber nicht zusammenhanglos ist diese von Boucher innerhalb von drei Wochen im Alleingang mit GarageBand produzierte Platte. Damals, Anfang 2012, diskutiert alle Welt auf einmal über Grimes‘ pinke Ponyfrisur. Noch merkwürdiger ist jedoch, dass in vielen der überschwänglichen Kritiken zu "Visions" der Begriff Witch House auftaucht. Zwei Jahre später können wir uns nur noch dunkel daran erinnern, was das eigentlich war. Das Buzzword ist tot, "Visions" aber lebt. Die Substanz des Albums liegt gerade in der ätherischen Substanzlosigkeit seiner Soundästhetik. Boucher singt leicht entrückt, mit hoher Kopfstimme und mit sich selbst im Duett von sexueller Belästigung und vom Verlassen des Freundes zugunsten der Karriere. Und so absurd das alles auch klingt: "Visions" ist und bleibt ein kleines Lehrstück in Sachen Pop. Lea Katharina Becker Hot Chip Made In The Dark (EMI) Neulich im Stadion habe ich mir das zweite Mal in meinem Leben "Pommes Weltkrieg" zubereitet, also Fritten mit Ketchup, Mayo UND Senf. Soll aus dem Ruhrpott kommen - auch wenn ich bis heute keine Person mehr getroffen habe, die mir das bestätigen konnte. Ich weiß nicht mehr, wie hungrig ich war, als ich mir am Stuttgarter Hauptbahnhof dieses übergroße Heft mit der Pommestüte auf dem Cover gekauft habe, Anfang Januar 2008. Hot Chip prangten auf dem Cover, buchstäblich - kein Bandgepose, sondern Fast Food Fotografie. Außerdem im Heft: Pierre Henry und Justus Köhncke, Web 3.0 und Ableton Live 7. Fand ich gut. Besser als "Made In The Dark", das "dazugehörige" Album von Hot Chip, das ich mir ungefähr zeitgleich zugelegt hatte - hauptsächlich wegen Track 8, "One Pure Thought". Die CD habe ich ziemlich genau zweieinhalbmal gehört, danach nie wieder. War nicht schlecht, aber eher wie Pommes ohne Weltkrieg. Ganz zu meiner Welt wurde von da an aber De:Bug - auch wenn bis heute keine weitere Ausgabe mehr im Großformat erscheinen sollte. Meine nächsten Pommes salze ich mit einer Träne. Friedemann Dupelius


181 — 77 Kylie Minogue - Fever (Capitol Records) Simple Euro-Dance-Beats machten 2002 das große DiscoComeback von Minogue perfekt, die eigentlich nie ganz weg war, sondern mit – ja, ja, das wissen wir alle noch zu gut – Nick Cave und den Manic Street Preachers kollaborierte. Mit diesem soft groovendem und eher minimalistisch gehaltenem Album zeigte sie jedoch, wie Disco-Pop-Musik für Erwachsene zu klingen hat. Und dies passierte – trotz dünnen Stimmchens - mit einer Lässigkeit, die die mit Hanteln herumturnende Madonna noch älter aussehen ließ. Wäre "Slow" von dem darauffolgenden Album noch auf "Fever" gerutscht, Kylie hätte getrost ihre Karriere beenden können. Natalie Meinert Burial - Untrue (Hyperdub/Cargo) "Holdin' you – couldn't be alone. Lovin' you – couldn't be alone. Kissin' you – tell me I belong" so die ersten geisterhaften Vocalfetzen, die Burial auf seinem zweiten Album "Untrue" über seinen merkwürdigen SchnipselStep jagt. Klar, am Ende ist das Geheule immer groß. Dann, wenn der Schweiß getrocknet, der Gesichtsfasching vorbei ist und nur noch weiße Flecken und Zähneknirschen bleiben. Hier hat einer Rave verstanden. Dass "Untrue" den musikalischen Höhepunkt im Werk eines der größten Club-Chronisten unser Zeit markiert, wurde über die vergangenen Jahre hinlänglich diskutiert. Derart wissend hat sich noch kaum einer durch die dunkelsten Ecken des Hardcore Continuums gewühlt, ohne darüber besserwisserisch, altklug oder allzu sophisticated zu klingen. Etwas mehr als 10 Jahre zuvor hat schon einmal einer Wahrheit über die Kaputtheit dieser Sache namens Rave gesprochen: "Man reißt sich unglaublich zusammen. Man hat sich brutal gehen lassen. Man hat nicht erwartet, dass man die Quittung dafür nicht präsentiert bekommen würde. Man richtet dem Abturn die gesamte Armada aller inneren Kräfte entgegen. Nicht gerade wenig. Es geht. Man findet ein Taxi. Ein Augenblick großer Nähe, im wortlosen Elend. Der Dankbarkeit. Der Freund steigt ins Taxi und sagt zum Abschied den berühmten letzten Satz." Und dann? Grausam laute Stille, aufgebissene Lippen und der Geruch des Duftbäumchens am Rückspiegel. Holdin' you. Lovin' you. Kissin' you. Ich kann jetzt nicht allein sein. Bitte sag' mir wohin ich gehöre. Burials Platte endet im watteweichen Endorphinrausch: It's the only way of life. "Und wir erzählen uns später, wie das der Moment war, der uns in dieser Stunde der Not und Zerrüttung ein letztes Restchen an Würde zurückgegeben hat, ja. Nein, wir hören nicht auf, so zu leben." Niemals. Hardcore will never die – auch wenn das Continuum wahrscheinlich darauf scheißt, ob wir existieren. Auf Wiedersehen, De:Bug. Es war mir eine Ehre Dich zu halten, zu lieben und zu Dir gehören zu dürfen. Philipp Laier Crowdpleaser & St. Plomb - 2006 (Mental Groove) Voilà, ein Schweizer Superlativ: Das beste und auch verkannteste Schweizer House-Album aller Zeiten ist "2006". Es erschien auf Mental Groove, auch so ein ganz wichtiges Schweizer Label. 2006 fand ich, "2006" sei eine Hommage an Disco und den klassischen Sound von Chicago, nie aber eine Anbiederung an Old School. Frischer Wind aus allen Röhren. Heute würde ich schreiben, das Album mäandert zwischen Brinkmann'schem Zukunftsdenken und verkiffter Soul-Attitüde. Dabei funktioniert dieser quirlige House eben ganz wunderbar im Albumformat. Die Westschweizer alliance von Crowdpleaser und St. Plomb war ein Glücksfall. Und vielleicht sogar eine kleine Schulklasse für sich: Während Luciano als wirbliger Schweizer Sonnyboy Furore machte, rumpelte es im Keller von Genossen wie Kalabrese oder eben Crowdpleaser & St. Plomb. Ein Radio-Interview wollte dem verdatterten Journalisten damals nicht gelingen, blame it on the EarlySkype-Days. Was bleibt? Das irgendwie visionäre Stück "1er Mai". Geriet der 1. Mai 2006 doch zum langersehnten Frühlingsbeginn. Eine große, glücksstrahlende Party war’s. Alpenglühen! Bjørn Schaeffner Giuseppe Ielasi Stunt (Schoolmap) Sicher nicht die beste Veröffentlichung der vergangenen 16 Jahre, nicht einmal das auffälligste Werk von Giuseppe Ielasi selbst. "Stunt" – erster Teil eines Triptychons, in dem sich der Mailänder Musiker mit der Schallplatte als kompositorisches Ausgangsmaterial beschäftigt – ist dennoch nicht wenig toll und an dieser Stelle zu nennen, weil hier exemplifiziert werden kann, was mich in all den Jahren an (elektronischer) Musik faszinierte und noch immer fasziniert. Auf "Stunt" geht es Giuseppe Ielasi also zuerst um den Groove, genauer gesagt um dessen Grenzen, um jene Bereiche, in denen der Groove bricht, sich umschichtet, darum, wie sich aus einem simplen oder ach so waghalsigen Loop der Rhythmus schält. Ein immer auch erlösender Moment. Als einen Kontrapunkt dazu setzt Giuseppe Ielasi das Unfertige, Störgeräusche und (vermeintlich) zufällige Klangereignisse (Glitch), das Fragmentierte. Es werden so keine Geschichten erzählt, sondern Stimmungen vermittelt. In ihrer wilden und ungebürsteten Form hat diese Musik das Temperament des Free Jazz. Der Sound selbst ist bestimmt von kalten Symmetrien (vorzufinden bei Autechre in den 90s bis Mark Fell heute), zu denen sich teils melodiöse, beinahe "soulful" zu nennende Klangaspekte gesellen, die mit dem vom Medium Schallplatte entnommenen Rohmaterial einerseits auf HipHop, andererseits auf Turntablism in seiner avantgardistischen Form (Phillip Neck oder Christian Marclay) verweisen. Hochkultur und Subkultur überlappen sich hier bis zur Unkenntlichkeit. So sollte es doch auch sein: Kunst als kompromisslose Abgrenzung vom Kult des Wahren. Sebastian Hinz

V.A. - DJ-Kicks: Kruder & Dorfmeister (Studio !K7) Leipzig, Mitte der Neunziger: Der alte Hauptbahnhof wird zu einer Shopping Mall umgebaut, Helmut Kohl ist noch Bundeskanzler und Ulf Poschardt promoviert an der Berliner Humboldt-Uni bei Kittler über DJ Culture. Ich stehe im Schall und Rausch und frage Philipp nach dieser neuen, aufregenden Musik. Die Worte wollen nicht recht nicht zum Gesuchten passen. Versetzte Rhythmus-Pattern? Verlängerte Klangflächen? Irgendwie räumlich? Doch, klar, Meister P weiß sofort, um was es geht. Auf dem Heimweg steckt der Kruder & Dorfmeister-Mix in der Tasche: Ausgerechnet die beiden zurückgelehnten Wiener mit dem Hang zum Simon & Garfunkel-Zitat weisen die Richtung in die Clubmusik. Obwohl ich mit der Leipziger DJ-Legende Cora S. auf der Schule war, ging die erste Techno-Welle völlig an mir vorbei: Keinen blassen Schimmer. Es war allerdings nicht das 1996er, meilensteinige DJ-Kicks-Album mit dem schön grünstichigen Duo-Portrait – fotografiert von Ali Kepenek – das sich mit der Zeit zum Konsens-Tonträger auswuchs, sondern der kleine Bruder. "Conversions" aus demselben Jahr ist das obskure DJ-Mix-Album geblieben: kühles retro-futuristisches Grafikdesign mit Lounge-Musik, die sich heute – klar – seicht anhört. Wie eine vertonte Sechzigerjahre-PsychedelikLiegelandschaft von Verner Panton. Der Vorgeschmack auf die Schröderjahre. Alles wird Ambient: So sahen die Chill-Out-Räume damals auch aus. Sofort setzten wir uns ins Auto nach Berlin um Peter Kruder und Richard Dorfmeister im Delicoius Doghnuts Club in Berlin-Mitte auflegen zu sehen. Vorher natürlich noch in den Imbiss International. Die Idee, auf dem vermeintlich wilden Parkplatz an der Rosenthaler Straße neben dem Eimer zu parken, bereuten wir ein paar Stunden später bitterlich: In den frühen Morgenstunden betteln wir beim Eimer-Türsteher vergeblich um die Freigabe des geliehenen Elternautos. Kito Nedo Towa Tei Sound Museum (East West Japan) Liebe Spekulative Realisten, die ihr zur Zeit zu denken versucht, wie es sich denn so aus der Perspektive anorganischer Materialien denken würde, die sich zu Zusammenhängen kombinieren, in denen das, was wir Technik und Design nennen, sich selbst ausführt, und in denen der Mensch nur noch "auch" vorkommt. Liebe alle anderen. Dieses Album enthält mit "GBI (German Bold Italic)" das vermutlich erste und bislang einzige Stück der Musikgeschichte, dessen Lyrics aus der Perspektive einer Schrifttype geschrieben sind. Es wird von Kylie Minogue gesungen: "Hello, my name is German Bold Italic, I am a typeface that you have never heard before, that you have never seen before. I can complement you well … you will like my sense of style … Gut ja! … I fit like a glove. Let me adorn you. The bold design of you. High contrast … It’s cool. " Towa Tei lässt den Track kühnerweise mit demselben Sample beginnen, mit dem er einst Deee-Lites "Groove Is in the Heart" anfangen ließ, was in den seltenen Fällen, in denen dieses Stück beim Ausgehen gespielt wird, zu Verwirrung führen könnte. Dem Ganzen unterlegt ist ein sehr schneller und dumpf pochender Bass, just shy of booty, darüber gelegentliche geschmeidige Klavierabgänge, schneidende Synthesizer-Ausreißer und wie Blasen aufsteigende, verhallte Klangsequenzen, pointiert von Snares. Alles durchzogen von einem Hauch HINRG. Eher montiert als integriert verfolgt dieses wirklich ausgezeichnete Stück dieselbe Politik wie das gesamte Album "Sound Museum" im Verhältnis zu dessen bekannterem, kommerziell vermutlich viel erfolgreicheren und mit seiner Japano-BrasilieroÄsthetik letztlich auch einfacher zu prozessierendem Vorgänger "Future Listening": Nicht besser werden, sondern seltsamer, war hier das Programm des Künstlers. (Die "Enhanced CD" enthält einen Folder mit German-Bold-Italic-Schriftproben.) Philipp Ekardt Edition Kunst Edition Kunst plays (erhältlich bei A-Musik) Ich hatte das Gefühl, eine Entdeckung gemacht zu haben. Die 30 Euro für eine Platte, die auf der Hülle außer dem Titel "Edition Kunst plays", den Namen Terre Thaemlitz, Ekkehard Ehlers, Thomas Brinkmann, Robin Rimbaud, Paul D. Miller und Carsten Nicolai sowie in Anführungszeichen gesetzten Linernotes von Diedrich Diederichsen keine weiteren Informationen barg, hielt ich im April 2003 für interessant ausgegeben. Ein Beiblatt ließ keinen Zweifel, dass die sechs Stücke tatsächlich nichts mit den genannten Musikern zu tun hatten – und zwar anders nicht als bei Ekkehard Ehlers’ "plays"Reihe. Ohne Urheberangabe wurde postuliert: "Sechs Ein-TrickMusiker werden in zwei Stunden musikalisch entschlüsselt und rekonstruiert". Und später: "Vier ’Ehlers plays’-Schallplatten werden gleichzeitig abgespielt und dabei manuell leicht manipuliert." Kurz zuvor hatte ich die CD-Veröffentlichung von Ehlers’ "plays"-Reihe für die De:Bug besprochen (Ekkehard Ehlers plays Albert Ayler, … John Cassavetes, … Hubert Fichte, … Robert Johnson, … Cornelius Cardew). Prinzip war, "Referenz" und "Reverenz" so weit auszudehnen, dass alleine die Nennung der Namen auf dem Cover und die zur Disposition gestellte Idee, Ehlers’ Musik würde dort irgendwie ja gerade doch /nicht klingen wie, Diskurs schwingen lassen würde. Dass "Edition Kunst plays", der sehr spezifisch gesetzte, anonyme Generalangriff auf mit den sechs Namen verbundene "Phänomene und die sie begleitende Rezeption, insbesondere innerhalb des vielbeschworenen ’Crossover’-Diskurses zwischen Musik und Bildender Kunst" bis dahin an mir vorbeigegangen war, wunderte mich. Die Rezeption war doch ich. Wo kam diese Platte her? Das bald darauf erhaltene absenderlose Rundschreiben bedauerte die ausgebliebene Resonanz (u.a. der De:Bug) auf das Projekt und legte verteidigend nach, denn, wie sich später herausstellte, verstanden zwei der "gespielten" Musiker/Künstler keine Kunst/Musik. Der bedauerliche Rest eines richtigen Konzepts sind eingestampfte Exemplare und eine zensierte Restauflage bei A-Musik. Martin Conrads

Venetian Snares and Hecate Nymphomatriarch (Hymen Records) Als sich Hecate aka Rachael Kozak und Venetian Snares im Jahr 2002 auf gemeinsamer Europatour auszogen und mittels Kontaktmikrophonen sowohl außen als auch innen via Einführen beim Sex sampelten war das eine kleine Sensation. Von Playboy bis Jay Leno reichte die internationale Medienaufmerksamkeit. Das war natürlich ein super Gimmick, das war ja damals auch so eine Zeit als plötzlich alles gesamplet wurde. Stichwort Matmos und ihre fett klatschende Schönheits-OP-Konzeptplatte. Das schöne an "Nymphomatriarch" ist aber, bar jeder Sex-Sells Marketing Strategie, die schlichte Direktheit mit der sich die Tracks zum vielleicht romantischsten Album der Welt fügen. Eine Platte für die Ewigkeit, Pop im trivialsten aller Sinne: körperlich, verliebt und absolut gegenwärtig. Kuschelrock für kurze Aufmerksamkeitsspannen, Amphetamin Amour. In De:Bug Nummer 78 wurde die Platte "als aurale Peepshow" besonders "autistisch abstrakt begabte[n] Hörer[n]" nahegelgt. Auch nach 12 Jahren noch super fresh. Hecate aka Rachael Kozak arbeitet heute als Domina in Wien. Aaron Funk ist immer noch als Venetian Snares unterwegs. Zusammen sind sie schon lange nicht mehr. Michael Aniser John Maus Love Is Real (Upset the rhythm) Alain Badiou erklärte John Maus unlängst zum Verbündeten seines philosophischen Neokommunismus. Und in der Tat klingt das Badiou-Zitat im Titel des letzten Maus-Albums selbst schon noch Maus-Theorie: "we must become the pitiless censors of ourselves" (2011). Musikalisch indes zensiert der in Austin, Minnesota, geborene EGS-Absolvent nicht so streng; die Maus-Genealogie reicht von Joy Division und den frühen Human League bis zu Ariel Pink. Im Verein mit Letzterem und Molly Nilsson bildet er das Triumvirat eines digital abgerüsteten Synthiesounds, der sich nach Techno und dem Ende des arbeitsteiligen Band-Fordismus endgültig von allen Indierockufern abgestoßen hat. Doch sobald die unendliche Zitatschleife des neuen Retro-Jahrtausends einmal Fahrt aufgenommen hatte, gingen dem digitalen Musikarchiv seine subjektpolitischen Charaktermasken verloren. Internet kills the Singer-Songwriter-Star. Mit der Neubestimmung der Koordinaten von Kalkül und Leidenschaft, Ironie und Innerlichkeit, Pragmatik und Wahnsinn trat nun ein neues Subjektmodell auf den Plan, das einmal mehr (Frühromantik!) alles will: brennendes Eis, erstarrtes Feuer – das Heilig-Nüchterne. Doch nur in John Maus hat das frühe zweite Jahrtausend so gründlich selbst Hand an sich gelegt, dass sich die retromanischen Gelüste seiner Zeitgenossen selbst entwaffnen. Maus bleibt der "Erhabenster aller Hysteriker" – und "Love is real" (2007) sein Manifest, in dessen Ursuppe und Nachgang Songs wie "Cop Killer", "My hatred is magnificent" oder "Just Wait Til Next Year" entstehen konnten – mit oder ohne Badious textliche Subtraktionsparole: "oh oh I long for you I long for you I hate you / oh oh I think I'll put a bullet in my head / oh oh I'd cut off all my fingers just to touch you / oh oh you stupid bitch you multilate my soul / oh oh I want to put my fingers deep inside you / oh oh I wonder if you're thinking of me now." Sami Khatib Hudson Mohawke Butter (Warp Records) Das erste Anhören des Debütalbums weckt sofort Nostalgie an die Zeit, in der man liebevoll von Mikrowelle, Cartoons und Playstation großgezogen wurde. Euphorische Synthiewellen, Bleeps und ordentlich Bass sprechen direkt den hyperaktiven 12-jährigen in der Hörerin an. Zu Beginn wird diese Agenda in "Gluetooth" passenderweise auch von zwei Kids ausgesprochen, man wolle flüchten in ein entferntes Land, um nicht ins Bett geschickt zu werden. "Butter" ist mega-fett, jedoch ist das Album, zu welchem zusätzlich das Online-Game "Butterstar Galactica" erschien, nicht komplett rund. Es scheint, es musste viel überschüssige Energie aus dem damals 23-jährigen heraus, was auf Tracks wie "Joy Fantastic" in leicht infantilen Albernheiten enden kann. Nein, darf! Denkt man am Anfang der B-Seite noch man hätte langsam verstanden was abgeht, wird man mit "Zo00OOM" eines besseren belehrt. Das nimmt eine komplett neue Form an und kommt mit richtig dicken Eiern daher, die sich dann wiederum in "Acoustic Lady" in sphärische Synthiewellen entspannen. Die hyper-eklektischen Formen, welche auf den höheren Frequenzen herumdudeln, machen hochgradig abhängig, das Album ist ein einziger Zuckerrausch auf Fruity Loops. Träume von Weed und R’n’B gehen trotz aller angedeuteten Transzendenz ordentlich nach vorne, es gibt Diskoanleihen mit der L.A.- Legende DaM-FunK und auch der Klassiker "Fuse" befindet sich großzügigerweise auf dem Album. Um jedoch nicht zu viele Party-Tools zu liefern, geht HudMo anschließend im U-Turn über in das sphärische "Star Crackout", um dann auf "Allhot" darauf hinzuweisen, dass die ganze Nerdyness auch einfach nur sexy sein kann. In knappen 50 Minuten macht Ross Brichard klar, dass in seinem intergalaktischen Universum alles möglich ist. Solange man wach bleibt, darf man beim Hören von "Butter" alles sein: Superheld, Tussi, Kiffer, Fan. Elisabeth Giesemann Calla - Calla (Sub Rosa/EFA) Produktive Retromania in Form (m)eines Re-Reviews. Original in Nummer 28 im Oktober 1999. Zwischen Cash und Cave steht Cat Power. Eigentlich nichts für die De:Bug. Fast unauffällig davor eine ganze Sektion mit Alben von Calla. Das trifft den Geist schon eher. "Calla" war das Debüt. Zugleich eines meiner ersten Reviews hier. Danach Gonzales, Depth Charge, Matmosphere, Bohren & Der Club of Gore usw. Vielleicht war Calla zeitlich das erste De:Bug-Album, dessen

Musik ich vollends liebte. Eher irgendwie postrocky, eigentümlich ’un-de:bug’sch’, wenn auch mit verhuschten Dub- und AmbientVerweisen. Allerletzte Spurenelemente von Rockistischem. Wenn Demdike Stare mit Gitarre und gutturalem Stimmrest in der Wüste stünden. Fast verweht. Deswegen hier nochmals besprochen. Aufbruch. Letztlich. Ins Dunkle. Kein Spaß. Eigentlich war alles zu Ende, obwohl alles erst ganz am Anfang schien. Uneigentlich ist jetzt alles am Beginn, obwohl es vorbei scheint. Calla stehen für den großen, ergreifenden Trost. Für mich legitimer und packender als alle Spaß- und Tanzmusiken, die freilich andere Jobs tun und vollkommen wichtig sind. Aber das hier ist Kunst, Konzentration statt Ablenkung. Auf sich selbst zurückgeworfen sein. Psychoanalyse mit den drei Herren aus Texas. Stellvertretend für so viele große kathartische Sounds und Lyrics. Damals: Elektrifizierter Geräusch-Come-Down ohne Drogen. Heute: Desolates Labsal in Isolationsschlaufen des eben einerseits immer einfacher und andererseits immer komplexer Werdenden. Trotz Drogen. Ein – und aus – und wieder ein. Christoph Jacke Carlos Niño & Miguel Atwood-Ferguson Suite For Ma Dukes (Mochilla) Ich stehe also morgens an diesem See. Die alte Hütte befindet sich in meinem Rücken, aber ich nehme sie schon gar nicht mehr wahr. Ich schaue nur noch vorne, weit hinaus auf den See. Auf diese tiefblaue Folie, die sich so glatt und akkurat über das riesig ausscherende Erdloch spannt, das erst ganz weit draußen, da hinten am Horizont von den weißgespitzten Bergen begrenzt wird. Alles sieht aus, als hätte ich Mutters Sonnenbrille auf. Die mit den bleich-braunen Gläsern, durch die man alles wie durch einen Filter sieht: Die Farben sind blasser, von der Sonne geschwächt, irgendwie auch angenehmer. Nichts macht einem Angst. Alles tut gut. Ich schlendere am Ufer des Sees entlang und wie ich da so langschlendere, liegen vor mir plötzlich, hübsch hintereinander aufgereiht, drei kleine Boote. Sie ruhen mit der offenen Seite auf den Steinen, so dass ihre ausladenden, knallorangen Bäuche in der Sonne glänzen. Nussschalen, ja, jetzt erinnere ich mich wieder. Mein Vater hat diese kleinen Bötchen immer Nussschalen genannt. Dabei haben sie doch so gar nichts gemein mit so einer Schließfrucht. Ihre Unterseite ist nicht knorrig, verschrumpelt, braun und ganz und gar hässlich. Nein, sie sind glatt, schnitt, total sexy und einfach wunderschön. Ich lege meine Handflächen auf das warme Plastik und schließe die Augen. Wann ist endlich morgen? Jan Wehn Nick Cave & The Bad Seeds Push The Sky Away (Bad Seeds Ltd.) Wisst ihr was? Zur Hölle mit der Bassdrum, geh kacken, synthetische Deepness, lasst lieber in Würde gealterte Männer Geschichten erzählen, die so auch jenseits des Dancefloors hätten passieren können und allein so schon eine nachhaltigere Relevanz haben. Denn die Nacht, die 15 Euro an der Tür kostet, ist flüchtig. Nick Cave war erst rabiat, dann zerbrechlich. Beides wegen Heroin. Ein Berliner Ex-Pat mit Westberliner Patina. Dann, dann wurde Cave kitschig. Nicht wegen Kylie. Sondern einfach deshalb, weil die Stimmung damals so war. Wunden lecken mit Samt. Und nun ist er so erwachsen wie noch nie. Natürlich geht es um den Titel. Natürlich muss ich die Brücke bauen zu diesem Magazin, das es nach diesen Zeilen nicht mehr geben wird. Der Himmel, den alle, auch ich, immer versuchten zu erreichen, ist weggedrückt. Verschwunden. Eigentlich ist das gut. Mission accomplished. Andererseits müssen die warriors am elektronischen typewriter nun gegen etwas anderes, neues anrennen, -schreiben. Cave singt im Titeltrack: "I got a feeling I just can't shake. I got a feeling that just won't go away." Das habe ich auch. Cave singt jedoch auch: "And some people say it's just rock'n'roll. Oh but it gets right down to your soul. You've gotta keep on pushing, keep on pushing, push the sky away." Ein neuer Himmel findet sich immer. Und diese Platte hier füllt die Suche mit Klang, mit Hoffnung, mit dem Wissen, dass Dinge einfach passieren. Das tut weh, aber dann hebt Cave schon wieder an und der Horizont taucht wieder auf. Ein neuer Himmel findet sich immer. Thaddeus Herrmann Morgan Geist Super (Environ) Eigentlich müsste hier ja ein Album stehen. Irgendwas von Aphex Twin oder Boards of Canada vielleicht. Wenn es denn um Kanon, Bucketlists, Diskurs oder ähnliches ginge. Ich habe mich für eine EP entschieden: "Super" von Morgan Geist aus Brooklyn, erschienen im Sommer 2001 auf Morgans eigenem Label Environ. Eine EP, die mein Verständnis von elektronischer Tanzmusik verändert hat. Eine EP, die meine Liebe zum Club maßgeblich mitbestimmt hat. Denn es war auf einmal alles da: Der große Song, die sehnsüchtige Hoffnung, die präzise in Stein gemeißelte Bassline, die harmonische Komplexität von Kammermusik, der gewissenhafte Umgang mit der Gegenwart und diese nostalgische Wärme, eher utopisch als gemütlich. Metro Area, das gemeinsame Projekt von Geist und Darshan Jesrani, kennen wahrscheinlich alle und auch hier ist jeder Release ein Klassiker gewesen. Das 2002 erschienene Album "Metro Area" sowieso Konsens. "Super" klingt mit seinen dronigen Percussions aber noch ein bisschen krautiger und minimaler, irgendwie perfekter. Eine Platte wie ein Erdrutsch. Die A-Seite "24K" mit seiner unfassbaren Schönheit, der alles sagenden Orchestrierung und Dynamik, diesen wirklichen Streichern vom "Kelley Polar Quartet", die kein Mensch mit Emulator oder Sampler so hinbekommt und je hinbekommen wird. Auch Hans Zimmer nicht. Historisch gesehen ist diese EP für mich ein Befreiungsschlag. Sie hat gezeigt, dass es nicht mehr um die Thematisierung von Produktionstechnologien, neue, generative Sounds, Maschinendiskurse und politisch diskutierte Organisationsformen (Rave) gehen muss. Das hier ist einfach nur Musik, besonnen, klug, gefühlvoll, ehrlich und mit sehr viel Sex. So wie das Leben eigentlich sein sollte. Ji-Hun Kim


78 —

181 — REVIEWS

Bo Harwood - Last Room On The Right (boharwoodmusic. com) Auf dieser Kompilation finden sich 20 Stücke, die von 1970 bis 1985 aus einer Kollaboration zwischen Bo Harwood und John Cassavates entstanden. Sie finden sich über diverse Filme wie "Love Streams", "Opening Night" oder "A Woman Under The Influence" verteilt auf den Soundtracks des amerikanischen Regisseurs, die offiziell leider nie erschienen. Mit der Webseite www.boharwoodmusic.com existiert seit 2013 erstmals eine Plattform, die den Vertrieb dieser Songs ermöglicht. Sie erschienen dort in Begleitung eines 65-seitigen Booklets, das Bo Harwood, der sich später noch an Produktionen wie Pee Wee’s Playhouse oder Six Feet Under beteiligen würde, selbst in seinem lustigen dude-y Tonfall verfasste: "He loved working late and always managed to lasso someone into working with him. Being the pup that I was... Hell, why not?" Harwoods Protokoll der Zusammenarbeit ist besonders süß, weil seine Sprache einen extremen Gegensatz zu den Texten der Songs darstellt. Deren Poetik und Witz lässt sich leichter mit John Cassavetes’ Drehbüchern in Verbindung setzen und changiert zwischen der herzzerreißender Romantik der "Love Streams Operetta", in der Gena Rowlands’ Film-Familie in einem fieberartigen Traum wieder zusammenfindet, und dem lakonischen Witz von "Tru Luv", wenn dessen Sänger Bobbi Permanent meint: "When I look into your eyes, and I tell you all those lies, I know this must be true love". Bianca Heuser J Dilla -Donuts (Stones Throw) Die ultimative Nachhilfestunde in Sachen Sampling. Der Legende nach wird James Dewitt Yancey, mit einer unheilbaren Bluterkrankung ans Bett gefesselt, von seinen Freunden mit einem Boss SP-303-Sampler und einem Stapel 45er versorgt. Daraufhin verbringt er seine letzten Tage – wie die vorigen 20 Jahre – mit dem musikalischen Puzzlespiel. Als ginge es um den maßstabsgetreuen Nachbau der Heimatstadt Detroit, isoliert Dilla Grooves, bis keine 7 Inch mehr ungeflippt bleibt. In durchschnittlich anderthalb Minuten langen Tracks verknotet er bis zu sechs Quellen miteinander, die ihren Weg als Loop so schnell nicht wieder aus dem cerebralen Cortex finden. Mit seinem Instrumental-Werk emanzipiert Dilla dabei nicht allein HipHop-Beats von ihrem DienstleistungsAppeal. Vielmehr statuiert er gleich ein doppeltes Exempel für die medienreflexive Arbeit mit Tonträgern: Im klassischen Sinne fungieren die Samples als historischer Verweis, etwa auf die heimische Musikmaschine Motown ("The Twister"). Sie funktionieren aber genauso als Musik gewordene Reflexion des Materials, mit dem J Dilla hantiert. Ganz in der Tradition von King Tubby und seinem Mischpult, verschmelzen der Musiker und die Kiste, die sie Sampler nannten, hier zu einer untrennbaren Einheit – "Donuts" trägt ebenso J Dillas Sampling-Handschrift wie die der Maschine, wie die des Vinyls. Hört man "Donuts", nimmt man nicht nur alle anderthalb Minuten einen Bissen von dem runden, geschichtsschwangeren Ding mit dem Loch in der Mitte, sondern wird ebenso Zeuge einer ästhetischen Dialektik von Mensch und Maschine, die nicht mehr Soul haben könnte. Frei nach Kodwo Eshun: ‘Maschinen entfremden uns nicht von unseren Emotionen, ganz im Gegenteil. Soundmaschinen verstärken unsere Empfindungen über ein breiteres emotionales Spektrum als je zuvor.’ Wenzel Burmeier

TRAUM V173

dwig - Forget The Pink Elephant (Giegling) dwig steht für "die Wiese im Garten". Das ist bis heute das Einzige, was ich über den Giegling-Künstler weiß, dessen LP mir Thaddi irgendwann Anfang letzten Jahres in die Hand drückte, mit dem Kommentar: "Hör mal rein, ist 'ne schöne Platte." Seitdem ist "Forget The Pink Elephant" meine Medizin für Tage, an denen der alltägliche Stress mal wieder zu Kopf steigt. Ab auf die Couch, Play, Augen zu und abschalten. Von der ersten Sekunde an, umhüllt einen der Opener "Endtitle" mit seiner warmen, voluminösen Kick. Wärme und Volumen werden zu Eckpfeilern des Albums, während einzelne Tracks immer wieder Ausreißer in unterschiedliche musikalische Gefilde unternehmen. So wandert man von Vinylknistern und Glitches in (fast) gerade Housenummern ("Flying Duck"), über völlig verspulte Entschleunigung ("Superunke") bis zum genialen Finale "Old Times Good Times". Zwischenzeitlich begegnet einem Hip-Hop, Jazz und eine gute Portion Downbeat. Die einzelnen Zutaten dieser Medizin sind schwer zu entschlüsseln, wahrscheinlich wirkt sie deshalb so unglaublich gut. Benedikt Bentler Yves Klein Musik Der Leere /Tanz Der Leere (Sight & Sound Production) Ich dachte, ich kannte seinen Musikgeschmack. Alex hörte hauptsächlich alten ElektroFunk und Hip-Hop, Afrika Bambaata und solches Zeug. Aber als ich diese Platte von 1959 eines Tages im Zimmer meines Mitbewohners entdeckte, war ich ernsthaft überrascht. Er erklärte, sie sei ein Geschenk gewesen, das er irgendwann einmal von seinem Onkel erhalten hatte. Der Onkel, ein sehr unwissender Mensch, hatte meinem Mitbewohner seine gesamte Sammlung vermacht. Wir waren 20 oder 21 damals und dachten, LPs von Santana oder Sade wären antiquarische Schätze. Der berühmte Künstler Yves Klein dagegen sagte uns nichts. Umso erstaunter waren wir, als wir "Musik der Leere/ Tanz der Leere" in die Hände bekamen. Die Tracktitel waren ja schon geil genug. "Als die Holländer kamen, waren die Indianer schon da", "Prince of Space (Outer Space Philharmonic Orchestra, dirigiert von Charles Wilp)" oder "Gefrorener Knall". Wir lauschten, und hörten: nichts. Die Platte enthielt Leere, vollkommene Stille (wenn man vom Knistern der Nadel absah). Uns überforderte das damals grob. Wir legten Yves Klein beiseite, rollten einen neuen Joint und machten wieder Stevie Wonder an. Später versuchte ich, meinem Mitbewohner die Platte viele Male abzutauschen, doch es gelang mir nie. Mir waren irgendwann zwei Dinge klar geworden. Erstens: "Musik der Leere/ Tanz der Leere" wird womöglich auf dem Kunstmarkt für Summen gehandelt, die mein Jahreseinkommen übersteigen. Zweitens: "Musik der Leere/ Tanz der Leere" ist das Gegenstück zum Urknall, das Produkt gewordene Ende der Musikgeschichte. Etwas Beruhigenderes als diese Schallplatte, die heute wahrscheinlich in irgendeinem Londoner oder Münchner Keller vor sich hin gammelt, gibt es nicht. Fabian Dietrich

ARJUN VAGALE & RAMIRO LOPEZ

Sensate Focus Sensate Focus 10 (Sensate Focus/ A-Musik) Es gibt keine Lieblingsplatten. Aus dem Blütenmeer die eine, wahre herauszuheben: widersinnig! Persönliche Schlüsselplatten, die gibt es. Die fünf Jahre im Regal schlummern, oft unverstandene Empfehlungen waren, deren Potential urplötzlich aufspringt und das eigene Musikverständnis völlig umkrempelt. Dankbare Sperrigkeit des Vinyls, davon nur eine Handvoll. Sensate Focus 10, die erste der Sensate-Focus-Reihe, war keine solche Schlüsselplatte. Mit ihrer vertrackt ungeraden Rhythmik, projiziert auf den Dancefloor, rannte sie offene Türen ein. Jedenfalls bei mir. Man kann sich ja in alles reinhören. Man kann auf alles tanzen. Zu 7/8 sowieso. Die 31/32 auf der Rückseite warfen nur den Mix aus der Bahn. Der Wahnsinn ging erst auf den Folgeplatten wirklich los. Aber mit dem Ohrenkrieg eines Venetian Snares hatte die geschmeidige Eleganz dieses sandgestrahlten House-Entwurfs, sein fast Bossa-Nova-artiges Fließen, nie etwas zu tun. Von Mark Fell kam diese EP, irgendwie auch von Terre Thaemlitz, und für Fells Werk brauchte ich in der Tat lange. Der kulinarische Click-and-Cut-Minimalismus der ersten Generation seiner SND-Releases mit Mat Steel, 1998-2002, bleibt mir fad. Die gute Terre schlummert noch immer. Bei Sensate Focus jedoch fanden zwei auseinander strebende Elemente in magischer Kompaktheit zusammen: eine irreduzible persönliche Sound-Prägung, warm, vertraut, nostalgisch, im zeitentrückten Schwebezustand des Club-Moments, die unmittelbar einnimmt. Und sich damit nicht zufrieden zu geben. Man will ja wachsen. Etwas wagen, etwas erschaffen, von dem man nicht weiß, ob es funktioniert, funktionieren kann. Knüppel zwischen den Beinen. Oder sei es nur in Bass Music Country auf den Bass verzichten. Und dann geht es wirklich! Für den Künstler ein Meilenstein, für uns ein glücklicher, gestochen scharfer Augenblick, der für ein paar Wochen aus der Zukunft herüber leuchtet, eine Schneise ins Dunkel schlägt, den Weg fortführt. Bis die nächste Platte übernimmt. Wann kommt die nächste? multipara

TRAPEZ 153

TRAPEZ DIG 04

TELETIENDA

MIXED BY RILEY REINHOLD

MBF 12112

TELRAE TRACKS EINS

MBF LTD 12055

MAD DOG

FORCES

CTHULHU

TRAUM V174

DOMINIK EULBERG HANNES RASMUS & GABRIEL ANANDA MUSIK FÜR FÜNF MASCHINEN

TRAPEZ LTD 134

Björk - Biophilia (Nonesuch records) Egal, was andere jetzt sagen mögen: "Biophilia" ist Björks bestes Album. Es klingt wie das Werk einer Künstlerin, die sich endgültig von allen kommerziellen Zwängen losgesagt hat und macht, was sie die ganze Zeit gemacht hätte, wäre da nicht das liebe Geld gewesen. Und der Drang und der Sturm und das ganze Jugendgesumme. Egal ist dabei sogar, dass es ein Konzeptalbum ist, die meisten Instrumente selbstgebaut sind und dass es dazu eigene Apps gab, und Ausstellungen und Kindermitmachzeugs. Mir ist sogar das lyrische Element mit Erde, Kosmos, DNA, Silberfüchsen und Göttern egal. Und das mit Gott ist normalerweise immer ein Problem. Es ist mutig, Tracks zu machen, die überhaupt keiner rhythmischen Struktur unterliegen (wie zum Beispiel Dark Matter) - auch wenn man Björk heißt und immer alles abgesegnet bekommt, weil man dieses Feenhafte hat und spinnt und so. Denn wenn der krasse 4/4-Industrial-Breakbeat in die 7/8-Struktur von "Chrystalline" reinballert, ist das Katharsis, Verzückung und Ekstase. Die rigorose Verdrängung des Gesangs in hintere Hallräume lässt den experimentierfreudigen Mund offen stehen. Björk öffnet auf diesem Album Musik auf allen Ebenen, rhythmisch, klanglich, strukturell und inhaltlich, mal subtil mal brachial. Vielleicht ist es gerade wenn man Björk heißt mutig, sich nicht auf dem Fabelwesen-Image auszuruhen und nach all den Experimenten mit Oper und Medulla, immer noch weiter zu forschen, wie nah man dem Nichtidentischen kommen kann wenn man perfekte Songs desintegriert und sich ihrem Inneren widmet, dem "Mutual Core". Johanna Grabsch

BUDAI

ALEX UNDER

VAN BONN

EMBARK 04

MARIO HAMMER

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John Frusciante The Empyrean (Record Collection) Wäre John Frusciante nicht John Frusciante, sondern sagen wir Sufjan Stevens, so hätte es 2009 nach dem Release von "The Empyrean" eine sensationelle WeltTournee gegeben, von der wir noch unseren Kindern erzählen würden. Klarer Fall von Luftschloss, denn der 44-jährige Multiinstrumentalist und ja, Ex-Gitarrist der Chili Peppers, hasst die große Bühne. Nach Weltruhm, Heroinsucht und Wiederauferstehung war 2004 mit insgesamt fünf(!) Solo-Alben zunächst läuternde Reinigung angesagt, ehe er fünf Jahre später mit "The Empyrean" all seine Omnipotenz zu einem Meisterwerk zusammenführte. Benannt nach dem höchsten Punkt im Himmel (siehe Dante), ficht er ein sakrosanktes Streitgespräch aus: mit sich selbst, den höheren Mächten, ja selbst mit dem Herrgott, dessen Rolle er annimmt. Himmel und Hölle, Gut und Böse, Leben und Tod – der deepe Shit halt. Beginnend beim Opener, der neunminütigen Funkadelic-Ode "Before The Beginning", über das Tim-Buckley-Cover "Song To The Siren" bis hin zu all den wundervoll imperfekten Delays, Reverbs und Synthie-Experimenten, denen er sich in den letzten Jahren angenommen hat – freigeistiger und epischer war Frusciante nie wieder. Ein Streicher-Quartett, zwei Soli von Smiths-Gitarrist Johnny Marr und selbst der kolossale Chor-Loop geraten leicht in den Hintergrund, wenn Frusciante sein markerschütterndes Timbre ausbreitet. Egal, ob Falsett oder Bass. Trip, Konzeptalbum, Meilenstein – alles in einem. Und es ist anzuraten, der Packungsbeilage zu folgen, denn diese LP "should be played as loud as possible and it is suited to dark living rooms late at night." "The Empyrean" ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Fanal. Free your mind and your ass will follow! Sebastian Weiß D'Angelo - Voodoo (Virgin / Universal) Tack ta-dack, tack… tack… tadack. Ungerade, die Rhythmen. Meist mechanisch eingespielt, aber auch in ellenlangen Sequenzen von J. Dilla programmiert. Vorbei an Timbalands R&B-Futurismus, durch den Spalier aus Nellys und Sisqós Dauererektionen, schlich D'Angelos lang erwartetes zweites Album ans Tageslicht. Doch dort wollte es nicht lange sein, die Platte klang wie eine nächtliche Session. Viel zu hell hier! Sie sprach in der Stimme alter Field Recordings, wippte feixend zu Professor Longhairs Pianogrooves, begegnete James Brown im Apollo, schlenderte mit Curtis Mayfield durch Wanderdünenlandschaften und lauschte dem bassigen Stampfen der Tänzer, die in Princes Paisley Park ihre Schritte einstudierten. Nur ihre Zeit traf sie nie. Nicht dass D'Angelo vollkommen fern aller Moden tönte, ganz und gar nicht, er öffnete vielmehr die Einbahnstraße des Retro R&B, mit seinen trägen HipHop-Beats im Rimshot-Klassizismus. "Voodoo" hatte wenig vom verkrampften Abarbeiten an kanonisierten Heroen der Soulhistorie. Es waren die selben Beats, aber auf einmal ging Questloves Rechnung auf, die Anspannung wich einem ausgedehnten Schwelgen über nachtfaltergleiche Song-Versatzstücke. Das war anno 2000 eher keine Musik für die De:Bug, 2-Step und Cyber R&B, über die ich hier schreiben durfte, passten weit besser. Doch auch im R&B verhallte "Voodoo". Live blühte diese Musik, mit Backing-Sängern in hautengen Lederwesten und Mardi-Gras-Kopfschmuck. Wohin führte sie D’Angelo? In die Depression. Als ich die Platte gestern Nacht wieder hörte, verwirrte mich ihre Klarheit nebst unerwarteter Assoziationen an die 80er. Verblüfft fand ich in ihr gar meine aktuelle Lieblingsmusik, den rhythmischen Impressionismus von Warpaint, die aquarrellgleich verlaufenden Songstrukturen Lucrecia Dalts oder die passive Stille im Gesang FKA Twigs’. "Voodoo" lebt. Oliver Tepel


181 — 79 Efdemin Efdemin (Dial) Ich habe Efdemins Produktionen nie als Tanzmusik wahrgenommen. Für mich als damaliger Noch-Techno-Fremdling war dieses Album, sowieso das ganze Dial-Umfeld, die bezirzende Sirene an der Türschwelle zu einer etwas anderen Musikwelt. Klänge, Strukturen und Räumlichkeiten, die ich so nicht kannte und die in der Musik sitzen. Aber auch in der Umwelt, die diese Musik umgibt, in den Kellern, in denen dazu getanzt wird, in den Kreisen, in denen über sie geschrieben wird. Da gibt es Basslines so fantastisch wie auf "Further Back", zerbrechliche Stimmen aus fern-vergangenen Utopien auf "Stately, Yes". Verhallte Rimshots. Nicht enden wollende Loops. Und Räume, die nur aus ein paar Chords gebaut sind und von Hi-Hats wieder vernichtet werden. Dial ist eine Mutter. Sie hat mir das Laufen beigebracht, im Vier-Vierteltakt. Malte Kobel Britney Spears Greatest Hits: My Prerogative (Sony BMG / Sony) 2004 via Jive/Sony BMG erschienen. Echt nur Hits drauf. Wollte hier erst was von 'Oneohtrix Point Never' besprechen, aber hier sind ja viel mehr Stücke drauf. Spitzen CD. Kann ich sehr empfehlen. Viele Grüsse, Christian Blumberg Lynx & Kemo The Raw Truth (Soul:R/ST Holdings) Ein Drum&Bass-Album soll es an dieser Stelle schon sein. Liegt mein Herz doch dort für wohl alle Zeit begraben. Warum dann nicht "Timeless", "Inside The Machine" oder "Wormhole"? Nein, in dieses "Goldene Ära"-Gequatsche möchte ich mich bei all seiner Berechtigung nicht einreihen. Und schließlich brach abseits all der Genre-Grabschaufelei der letzten Dekade, an ihrem Ende dann doch noch eine neue Welle Diskurs-fähiger Drum-&-Bass-Releases, die auch die "The Raw Truth"-Debüt-Perle von Lynx & Kemo anschwemmte und dem Realness-Gepredige eins über die Finger zog. Denn plötzlich ließ sich wieder zwischen den Beats lesen, plötzlich ließ sich Rap wieder mit Drum & Bass vereinbaren, plötzlich wurde wieder mit Konzept und eben nicht nur in Richtung Dancefloor gearbeitet. Das Sound-Bild ist erhaben, aber nicht arrogant, technisch kristallklar und auf den Punkt gebracht, ästhetisch aber immer leicht verschwommen und ausschweifend. Kemos Rap dabei zurückhaltend, wohltuend ignorant und die rauchige Stimme verschmilzt so wunderbar wie Melancholie mit Whiskey mit den schwermütigen Basslines des Produzentenwunderkinds Steve Lynx. Darüber die kantigen Drum-Patterns, die einen Kompromiss aus starrer Reduktion und vitaler Verspieltheit gefunden haben, die den Groove immer wieder neu ausloten, ihm links auf die Schulter klopfen und rechts vorbei huschen. Die Tracks gehen nahtlos ineinander über, verknüpfen über das Sound-Design Soul, Funk, Oldschool-Breakbeat und ein bisschen burialesken Post-Dubstep. Dazwischen Zitate aus der besagten "Goldenen Ära" – "Shadow Boxing", "Brown Paper Bag", "Wormhole" –, die wohl behütet ihre Zeitlosigkeit dokumentiert bekommen. Simultan schaut "The Raw Truth" zurück und nach vorne und manövrierte sich so aus dem Spannungsfeld zwischen Erbe und Innovation und gehört damit in den Kreis der oben genannten Klassikerwerke. Christian Kinkel youAND: THEMACHINES Behind (Ornaments 029/ WaS) "No neighbourhood is rough enough", rappte Genius GZA. "Weder zur Furcht noch zur Hoffnung besteht Grund, sondern nur dazu, neue Waffen zu suchen", schrieb Gilles Deleuze. Trotzdem fühlt es sich unwirklich an. Die De:Bug verkörpert für mich nicht nur den Rückzug in den Underground am Zenit des Massen-Rave (Stichwort: Frontpage-Abgang) und das Ende der Eindeutigkeit, sondern auch bis zum Schluss den Versuch, doch das richtige im falschen Leben zu führen – (musikalische) Horizonterweiterung, true spirit, Detroit und Selbstbeherrschung inklusive. Auch wenn es traurig ist, verrät die Inschrift auf Herbert Marcuses Grab schon alles für die Zukunft: Weitermachen! Kurz bevor ich im Sommer 2008 als Praktikant zur Redaktion stieß, erschien die erste Ornaments. Das Label, das mich zu Dubtechno brachte und untrennbar mit meiner Zeit bei der De:Bug verbunden ist. Ihm, und als Ausblick, dass die letzte Bassdrum noch lange nicht aufgelegt ist, widme ich diese letzte Review. "Sansula", der Ruhepol auf Martin Müllers Debütalbum wird in den Händen der Basic Soul Unit zum überdrehten Intro, das nur darauf wartet, in einem Club zu explodieren. Kosta XDBs "Perception" huldigt der Handclap in ungewohnt-stampfender Stand-Up-for-Detroit-Manier. Auch The Analog Roland Orchestra entdeckt eine neue Seite an sich und schüttelt mal nebenbei ein Boards-of-Canadaeskes "Desire" in mondscheinschönster Melancholie aus den Geräten. Herbert setzt zum großen Schlag an und lässt "Uncover" Dancefloor-zermürbend, Wishmountain-mäßig dahinklappern, als ob 1997 im Omen nie zu Ende gegangen wäre. Legowelts "Domain Specific" klingt gewohnt souverän in seiner mythologisch-verschwörerischen Analog-Art. Weitere Tracks veredeln youANDme, Boo Williams, Marko Fürstenberg & Luke Hess, Youandewan, Jamie 3:26 und Carlos Nilmmns. Neben der handbemalten Triple-12" wird das exzellente Album auch als Kassette erscheinen – for those who know. Danke für die schöne Zeit und die grandiose Musik. Rave on. Bastian Thüne

The Other People Place - Lifestyles Of The Laptop Café (Warp/Rough Trade) "Something's happening to my transmitters, starting to overload / Sitting here in this cafe drinking my latte" – eigentlich hat der macchiatofuturistische Monolog, mit dem sich Drexciya bei diesem Nebenprojekt gleich im ersten Track zu Wort melden, etwas so hoffnungslos Altmodisches, dass man sich fragt, ob die Sache damals – 2001 – ernst gemeint oder komplett ironisch war. Doch trotz des Reizworts "Latte" hat das Ganze auch etwas Rührendes, und um Gefühle geht es auf diesem eindeutig romantischsten aller Beiträge zur "Storm"-Serie ganz explizit. Zwei Nummern führen sogar das Wort "love" im Titel, wobei sich die Musik allenfalls eingeschränkt mimetisch zur Thematik verhält. Drexciya haben sich bei aller Emotionalität nie zu wirklich schwelgerischen Klangmalereien hinreißen lassen. Den Rahmen menschlicher Aktivität bildet immer noch ein staubtrockener Funk aus dem Drumcomputer, um den sich die Synthesizer diesmal mit stark zurückgenommenen Basslinien und Staccato-Melodien organisieren. Die Härte ist einer bedächtigen Skepsis gewichen, durch die "Lifestyles Of The Laptop Café" zu einer fast schon klassischen Sprache findet, die auch dann noch berühren wird, wenn es längst keine Laptops mehr gibt. Tim Caspar Böhme Anne Laplantine / Angelika Köhlermann - Care (Tomlab 17) Elektronika, diese Kuschelmusik vom Küchentisch, kann leicht in selbstgestrickten Nettigkeiten ersticken. Das Genre beerbte Anfang der 2000er die Haltung der britischen Wimp-Bands der 80er um das Creation-Label: Ich bin klein, mein Herz ist rein. Nur mussten die ElektronikaMusikerInnen keine Gitarrengriffe pauken, sondern sie guckten mal, was aus elektronischen Instrumenten, die mit zwei Minicell-Batterien laufen, herauskommt. Das konnte man lesen als Verweigerung des Starsystems, des bigger than life, ohne wie bei Techno den Autoren gleich ganz ausschütten zu wollen. Mäuschen statt Star. Oder es konnte einem gehörig auf den Wecker fallen als selbstgenügsames, weltignorantes Vor-sichhin-Träumen, als akustischer Vorbote des allgegenwärtigen Neo-Biedermeier. Anne Laplantines Album "Care" streut die Nettig- und Niedlichkeiten mit großäugiger Geste aus. Aber ihr geraten dysfunktionale Schrulligkeiten in die Parade, die wie ein Tourette-Syndrom alles Kleinmädchenhafte sabotieren. Die Platte wirkt so treuherzig wie Gizmo, aber die Gremlins rumoren schon im Schrank. Man möchte diese Musik gerne umarmen, fürchtet aber, dass sie einem dann heimlich irgendwelches verquere Zeugs auf den Rücken sprüht. Schönste Wiegenmusik, um auf der Hut zu bleiben. Kein Wunder, dass Anne Laplantine mit Momus, diesem anderen gemeingefährlichen Eigenbrötler, zusammengearbeitet hat. Jan Joswig Dr. Rockit Indoor Fireworks (Lifelike) Drinnen oder Draußen? Stubenhocker oder Sexy Boy? Matthew Herbert versuchte - und das nicht nur als Dr. Rockit - das Minimal-Dogma von innen auszuhöhlen und an seine Grenzen zu treiben; naheliegende ExitStrategien waren dabei die Disco und das Geräusch. An die Grenzen der Kommunikation gerieten Herbert und ich, als wir uns anlässlich dieses Albums via Standleitung unterhalten wollten. Ich saß allein im De:BugBüro und im Hinterhof war kurz davor ein desolater Mann vor meinen Augen umgefallen. Ich musste den Notarzt rufen. Aufgewühlt erzählte ich Matthew Herbert davon, und es entstand ein metaphysisch angehauchtes Gespräch über DAS ENDE und DEN UNTERGANG. Erst viel später merkte ich, wie mir Matthew Herberts Kulturpessimismus und seine unterkomplexen Feindbilder (Coke, McDonalds, Amerika) auf die Nerven gingen. Das war nicht die Selbstkontrolle, die ich meinte. Die Platte war trotzdem ein Knaller. Aram Lintzel

Christian Naujoks True Life/In Flames (Dial Records) Dass Christian Naujoks auf dem pulsierenden Hamburger Techhouse-Label Dial Records seine Instrumental-LP "True Life/ In Flames" veröffentlicht hat, verwundert nicht. Dial war nie ein reines Label für Tanzmusik, sondern immer etwas unberechenbar. Christian Naujoks begeistert in seinem Album allein mit dem reinen Klang des Flügels, der Marimba und seiner Stimme, also komplett ohne Einfluss von Elektronik. Dies ist tatsächlich auch für Dial ein Gehen auf neuen Pfaden gewesen - zwar nicht gänzlich, aber eben doch in der Konsequenz. Naujoks Stücke sind geprägt von virtuoser Improvisation, die teilweise in melodische Muster übergeht, um sich dann ebenso schnell wieder in einer abstrakten Sehnsucht aufzulösen. Der Hörer kann selbst sehr tief in diese elegischen Klangbilder eintauchen, sie mit seiner eigenen Synästhetik füllen. Für die Aufnahme seines Albums wählte Naujoks einen außergewöhnlichen Ort: die Laeizhalle Hamburg. Durch diese Räumlichkeit besticht "True Life/In Flames" nicht nur durch allgemein gute Klanglichkeit - dieser Raum verschafft den Stücken noch ein wenig mehr Melancholie und Tiefe, in der Form unerreichbar für digitale Programme. Mit seiner Zusammenführung von Retrospektive, Moderne und Purismus lässt sich Naujoks bereits in einem Atemzug mit modernen Koryphäen populär-avantgardistischer Komponisten wie Glass, Reich oder Richter nennen. Zumindest erinnert seine Musik recht stark an die Arrangements dieser modernen Klangmaler. Denn Naujoks Piano-getränkte Werke haben ihre eigene Kraft, wirken magisch, gar bewegend. Grade deshalb ist es auch sehr schade, dass seit dieser LP Ruhe um Naujoks eingekehrt ist. Jonas Eickhoff Chemical Brothers Dig your own Hole (Freestyle Dust/ Virgin) Ich war schon lange ein Fan von Musik, die vermeintliche Grenzen überwindet. Im Gegensatz zu vielen anderen pflegte ich Freundschaften in der Schulzeit weniger über den gemeinsamen Musikgeschmack. Meine beiden engsten Kumpels hörten Techno und Rap, während ich mit langen Haaren eher Metal und Grunge zugeneigt war. Durch sie kam ich aber eben auch in Kontakt mit anderen Szenen inklusive Raves beziehungsweise Jams und deren Musik, was in den Neunzigern in Deutschland noch nicht selbstverständlich war. Ein Zeitlang hatte ich Mitte der Neunziger wenig elektronische Musik (abgesehen von den Bristol Ikonen des Downbeats vielleicht) wahrgenommen, dann kam diese Scheibe heraus. Vor allem der Opener "Block Rockin Beats" mit der prägnanten Basslinie hat mich weg gehauen. Da kamen diese beiden Jungs an und kombinierten die für mich besten Elemente aus Rockmusik, Hiphop und Elektronik. Ich war infiziert und genauso überrascht über die Reaktionen meines Umfelds, die auch eher typische Indie- Slacker waren. Das Album hat wirklich alle halbwegs für Musik offenen Menschen erreicht. Das Titelstück ging dann schon deutlicher Richtung Rave als der Hit. Bis heute fasziniert mich das coole Sampling und die Unverfrorenheit, mit der hier Musikgenres ad acta gelegt worden sind. Natürlich ist das dicke Hose, was Tom Rowland und Ed Simons hier abliefern. Der zweite Hit "Setting Sun" treibt es auf die Spitze mit dem pathetischen Gesang von Noel Gallagher und einem Sägezahn-ähnlichem Sound als Loop. Erst gegen Ende beweisen die beiden Produzenten mit "Where do I begin" und Beth Orton am Mikro, dass sie auch in ruhigen Gefilden reüssieren können. Und mit "Private psychedelic reel" führen sie den Hörer auf die große Rave- Abfahrt mit einer wunderbaren Dramaturgie . Danach stand die Tür weit offen, Genres endgültig hinter sich zu lassen. Von BigBeat ist insgesamt nicht viel geblieben, mir hat diese Scheibe erst wieder die Ohren für elektronische Musik neu geöffnet. Tobi Kirsch

IMPRE S SUM DE:BUG Magazin für elektronische Lebensaspekte Schwedter Straße 8-9, Haus 9a, 10119 Berlin E-Mail Redaktion: debug@de-bug.de Tel: 030.28384458 Fax: 030.28384459 V.i.S.d.P: Sascha Kösch Redaktion: Timo Feldhaus (feldhaus@de-bug.de), Jan Wehn (jan. wehn@de-bug.de), Felix Knoke (felix.knoke@de-bug.de), Sascha Kösch (sascha.koesch@de-bug.de), Anton Waldt (waldt@de-bug.de), Benjamin Weiss (nerk@de-bug.de) Bildredaktion & Artdirektion: Lars Hammerschmidt Review-Lektorat: Tilman Beilfuss Redaktions-Praktikanten: Raphael Hofman (dj-bloom@live.de), Tim Nagel (nagel.tim@gmx.de) Texte: Alexandra Dröner, Anton Waldt (anton.waldt@de-bug. de), Benjamin Weiss (nerk@de-bug.de), Bianca Heuser (bianca.heuser@gmx.net), Bruce LaBruce, Christian Blumberg (christian.blumberg@yahoo.de), Diederich Diederichsen, Dietmar Dath, Felix Knoke (felix.knoke@ de-bug.de), Hendrick Lakeberg, Jan Joswig (janj@ de-bug.de), Jan Wehn (jan.wehn@googlemail.com) , Ji-Hun Kim (ji-hun@de-bug.de), Johannes Grenzfurthner, Leif Randt, Mario Sixtus, Markus Beckedahl, Mercedes Bunz, Michael Horn, Sascha Kösch (sascha.koesch@ de-bug.de), Sascha Lobo, Stefan Heidenreich, Thaddeus Herrmann, Timo Feldhaus (feldhaus@de-bug.de) Fotostrecke: Wolfgang Tilmans Illustrationen: Harthorst Fotos: Christian Werner Stockphotographie: Seite 12 © Elena Schweitzer, Seite 14 © Kaarsten, Seite 16 © Gina Sanders, Seite 20 © SerrNovik, Seite 22 © Marcin Sadlowski, Seite 24 © Ljupco Smokovski, Seite 26 © digisana, Seite 28 © milkovasa, Seite 30 © antiksu, Seite 32 © Kirill Kedrinski, Seite 34 © Creativa, Seite 50 © Nikolai Sorokin, Seite 51 © sergemi, Seite 52 © Kzenon, Seite 54 © Max Topchii, Seite 56 © Eric Isselée, Seite 62 © Valua Vitaly, Seite 65 © Taigi, Seite 68 © shootingankauf, Seite 70 © Lisa F. Young, Seite 72 © volkonskaya, Seite 74 © fotomek - alle FOTOLIA Reviews: Aram Lintzel, Bastian Thüne, Benedikt Bentler, Bianca Heuser, Bjorn Schaeffner, Bleed, Christian Blumberg, Christian Kinkel, Christoph Jacke, Elisabeth Giesemann, Fabian Dietrich, Friedemann Dupelius, Jan Joswig, Jan Wehn, Ji-Hun Kim, Johanna Grabsch, Jonas Eickhoff, Kito Nedo, Lea Katharina Becker, Malte Kobel, Martin Conrads, Michael Aniser, Michael Döringer, Multipara, Natalie Meinert, Oliver Tepel, Philipp Ekardt, Philipp Laier, Philipp Rhensius, Sami Khatib, Sebastian Hinz, Sebastian Weiß, Thaddeus Herrmann, Tim Caspar Böhme, Tim Nagel, Timo Feldhaus, Tobi Kirsch, Wenzel Burmeier Axel Springer Vertriebsservice GmbH Tel. 040.347 24041 Druck: Druckhaus Humburg, Bremen Marketing, Anzeigenleitung: Mari Lippok, marketing@de-bug.de, Tel: 030.28384457 Andreas Ernst, andreas.ernst@de-bug.de, Tel: 030.28388892 Es gilt die in den Mediadaten 2013 ausgewiesene Anzeigenpreisliste. De:Bug online: www.de-bug.de Herausgeber: De:Bug Verlags GmbH Schwedter Str. 9a, 10119 Berlin Tel. 030.28388891 Fax. 030.28384459 Geschäftsführer: Sascha Kösch (sascha.koesch@de-bug.de) Debug Verlagsgesellschaft mit beschränkter Haftung HRB 65041 B, AG Charlottenburg, Berlin Gerichtsstand Berlin UStID Nr.: DE190887749 Dank an Typefoundry Binnenland und Mika Mischler für den Font Relevant, zu beziehen unter www.binnenland.ch


80 —

181 — REVIEWS

UND DANACH DANN MEHR 45.265 Reviews und 32.224.2&5 Zeichen später (rund 7,3 Bibeln) konnten wir auf einen Abgesang zum Abgang nicht verzichten. Unser hauseigener Review-Mönch wurde für ein paar Tage eingekerkert (wie immer), hat sich an die diffizile Aufgabe der doppelten Werk-Exegese gemacht, das halbe Tausend Platten des Monats durch seine Ohren fließen lassen, nur um dann brutalstmöglich auf zwei schlappe Seiten runterzukürzen. Seine Aufgabe war einfach: schreib los, wie immer, um dein Leben, transkribiere was du hörst, zu hören glaubst, hoffst, denkst, oder was sonst gerade in deinem Kopf rumspukt, detailtreu und schriftgewandt wie immer, notfalls darf auch geschwurbelt werden, aber vergiss dabei nur eins, die Namen der Platten, um die es wirklich ging. Nur dieses eine Mal. Gesagt, getan, ausgeblutet.

Unknown - Unknown 1 (White Label) Wie ist das, wenn jeder Track Abschied feiert. In sich diese Menge an Referenzen versammelt, die Geschichte ausmachen, die einen in dieser Schwebe festhalten, die eine Weigerung ist, die Zeit akzeptieren zu können, weil sie die Zeit in sich aufweicht, zu einer verschlungenen Geschichte macht, nicht zu dieser Welle aus unberührt nach vorne preschenden Momenthaftigkeiten. Wie ist das, wenn die Welt sich nicht dreht, sondern in einem Blick stillhält, in einem Kick den Weg in eine Sicht freimacht, die sich nicht von den Belangen der Realität einfangen lässt, sondern auf etwas verweist, das mit einem bis in die letzten Winkel der Seele (wir meinten nie Seele, wir meinten immer dieses ungreifbar unauslöschbar Materielle) verhaftet ist. Wie ist das? bleed Unknown - Unknown 2 (White Label) Strings. Warum sind es immer wieder Strings, die einen dazu verleiten jemand alles abzunehmen? Sich selbst auch. Stell dir vor auf der Straße, ein Streichquintett. Geigt dir was vor, das wäre nie so ein Moment, den man stolz mit "das war dieser Moment in dem" betiteln würde, sondern voller Kanten, voller Brüche, unmöglicher Zusammenhänge, die nicht schnurstracks in diese Ebene führen, in der sich ein Himmel aus surrend, gurrend, schnurrenden Synths auftut, in den man all seine letzten Gefühle mit einer Bereitwilligkeit übergibt, die keine Grenze kennt, außer der der eigenen Fähigkeit, sich begeistern zu können, rückhaltlos, mit jedem treibenden Rimshot, jedem noch so kleinen Snarewirbel, jeder noch so beliebig unter der Lupe totgetretenen Idee von Detroit und Chicago. Näher hinsehen, die bewegt sich noch, die krabbelt einem unter dem Gewicht der Old School einfach davon, weil es diese geteilte Begeisterung für den Ursprung ist, der keiner war, sondern ein Sickern aus allen Poren, das nicht aufzuhalten ist. Wie ein Patient, der aus jeder Pore blutet, obwohl es nicht sein kann, nur um als Mysterium zu erscheinen, sich zu verwandeln, nicht in sein eigenes Ende, sondern in die endlosen Anfänge auf der Suche nach dem Grund. bleed Unknown - Unknown 3 (White Label) Wisst ihr, der Tunnel. Der Tunnel war immer wieder ein schwieriger Begleiter. Der Tunnel nimmt einen nicht an die Hand, entführt einen nicht auf eine Reise, von der man nicht weiß wohin, der Tunnel sagt da lang und man geht einfach so mit, obwohl man die Richtung kennt, die Ausweglosigkeit. Sich übergeben. Nicht konvulsiv, geführt, eingebettet, abgedunkelt. Kein Abenteuer, keine zerbrechenden Wände, keine Wände an denen man abprallt, der Tunnel hat keine Grenze, keine Brüche, kein Licht am Ende. Im Tunnel nimmt man das Licht mit, in den Ohren, die diesen Aal auskleiden, wie eine Passage in die Zeit dazwischen, die nicht sein kann, sich aber gut überleben lässt. Ein schwieriger Begleiter, den man nicht missen kann, weil er nur mit einem selbst zusammen zu durchschreiten ist. Und das selbst ist bockig. bleed Unknown - Unknown 4 (White Label) Es gibt diesen Moment, an dem man alles gut findet. An dem man blind wird, weil man soviel sieht, an dem die Gefühle unbeschreibar zu werden drohen, nicht weil sie Gefühle sind, sondern weil sie in ihren feinsten Nuancen zu flatterig sind, als dass eine Schrift auf ihnen noch Platz hätte. Hat man diesen Moment erreicht, der eigentlich das Gegenteil eines Moments ist, oder vielleicht sein Sinn, kann man so blöd sein zu sagen, mir fehlen die Worte. Ist man so blöd, kommen meist andere, das ist dann die Blindheit, die sich durch die kommenden Worte tasten muss, um genau das zu erwischen, das sich in dem Geflatter so präsentiert, als gäbe es gar keinen Zweifel, dass genau dieses Wort stimmt, jetzt sein muss, jetzt das Wort ist, das man dem Strudel anvertrauen kann, weil es mit dahin weht, wo man sich glaubt zu befinden. Es sieht eh keiner mehr nach, ob das stimmig war. bleed Unknown - Unknown 5 (White Label) Rauschen. Es gibt ein unaufhörliches Rauschen. Nicht der Krach, die Undifferenziertheit als Generve, das nur Unfähigkeit ist. Eigene. Es gibt dieses Rauschen, das die Überwachung abweist, weil es zu viel Information ist, aber auch so viel Information schafft, dass wir die Punkte, um die es wirklich geht, erst sehen können. Dieser Schleier an Rauschen, der mehr zeigt als er verdecken wollte. Dieses Rauschen als Duftspur, der man nicht nachgehen kann, weil sie wie die erste Sommerwärme einfach alles umgibt, alles tönt, alles mit einer Sicherheit umgibt, die keine Blase ist, die zerplatzen könnte, sondern die jedes Außen zu einer fragwürdigen Existenz macht, über die man gerade nicht nachdenken kann, weil sie unvorstellbar ist, auch wenn man sie hinschreiben kann. Dieses Rauschen ist eine Gewalt, die Gewalt des unspürbar Anwesenden in allem, das in ihm sichtbar (wir meinten nie sichtbar, es gab immer zu hören) wird. bleed Unknown - Unknown 6 (White Label) Was wenn ein Review kürzer ist als die Musik. Verrat. Aber von wem? Wer hat wen da abgewürgt? Die Musik bleibt trotzdem. Was immer man damit anfangen kann, soll, will. Die dunkle Seite der Macht ist überall, das Rettende auch. Brotkrumen aus Referenzen halten alles zusammen. bleed Unknown - Unknown 7 (White Label) Darkness ist nicht das Gegenteil von Licht. Lasst euch das nicht erzählen. Darkness sind all die Farben, die etwas schwerer zu sehen sind. Und gelegentlich können die ganz schön rumalbern. Ein Track wie ein Stahlträger mitten durchs Gehirn. Ich nehme zwei davon bitte, to go. Toppings? Echt jetzt? Ok, Erdbeere, was sonst. bleed Unknown - Unknown 8 (White Label) "Niedertracht", was für ein Titel. Mal im Ernst. Du hast hier so wenige Worte, warum dann gerade das? Muss das sein, wir hatten uns doch gerade erst alle so lieb gewonnen, und du weißt es doch auch, auf dem Floor hört den keiner, nicht mal als Hintergedanken. Und nein, falls du darauf hinauswolltest, der reimt sich nicht auf Trachtenberg. Auch nicht auf Achtung. Wie in Achtung, ich dreh mittendrin die Bassdrum um, versuch erst

gar nicht mich wegzumixen. Oder wie in Achtung, mein Track ist so schwer, der gießt die Nacht in Blei. Wir wissen doch beide, beides kann und wird man genießen. Bis zum letzten Atemzug, und wenn die Nacht zu Blei wird, verwandeln wir - tapsige Alchemisten - das Blei in Quecksilber, das Quecksilber in Nebel und den Nebel in Schweiß. bleed Unknown - Unknown 9 (White Label) Wo sind hier die Breaks? Ich frag ja nur. Es gibt wenige Tracks, denen ein Amen nicht gut tun könnte. Ja, ich nehm' auch eine Bassline stattdessen. Eine auf der man stehen kann, wie auf einer Welle, die Balance finden. Warum das "Wax" heißt? Weil es wachst. Blöde Frage. Auch das Snowboard will gewachst werden. Wie sonst ginge das mit dem Gleiten? Jeder Track ist ein Parcours. Jeder Instant Replay. Wir sind die, die dem Wax vertrauen, das Gleiten da hindurch so arrangiert zu haben, dass wir am Ende nicht mit Knochenbrüchen - noch schlimmer, einer Bogengangsdehiszenz - im Krankenhaus landen. Verlassen wir uns also lieber auf das Wax. Es gibt keine Enttäuschung, nur Täuschung. bleed Unknown - Unknown 10 (White Label) Das ist genau so ein Track. (Erst mal feststellen.) Da muss man einfach immer lauter drehen. (Lass uns alle die gleiche Bewegung machen.) Jede noch so flapsige Bassdrum soll den Schädel wegpumpen. (Gewalt ist wenn man trotzdem lacht, alles andere ist Verbrechen.) Nimm mich und zerstäube was du findest ins All. (Kosmonauten aller Länder…) Und wenn es nicht lauter geht, glaubt nicht, wir hätten nicht die Möglichkeit selber noch lauter zu machen, selbst wenn es nur flüstert, wozu sonst gibt es das wir? (Jetzt sind selbst wir verwirrt.) Gut, dass am Ende eines solchen Tracks, immer ein sanftes Outro auf einen wartet, das einen ganz sanft wieder auf den Boden der Tatsachen zurückführt, der schon viel zu lange keinen Staubsauger mehr gesehen hat. bleed Unknown - Unknown 11 (White Label) Wenn das Piano nicht mehr hilft, dann ist es Zeit die Notlichter anzuschalten. Wir stellen uns das so vor. Am unwahrscheinlichen Ende der Nacht, ganz unverhofft, blicken erst mal alle verwirrt durch die Gegend, die DJs trudeln durch die letzten Gefangenen und machen die große Konferenz der Tiere. Was ist da schief gelaufen? Das konnte doch gar nicht passieren. Das Piano, Mensch! Verkommen diese Szene, die das Piano nicht ehrt - ist des Kicks nicht wert. Wir haben sie glücklicherweise nie erlebt. Ein gutes Ravepiano duftet wie Kastanienholz getränkt in Ecstasy, hat ein Herz aus Strobo und ist hier so anschmiegsam, dass wir natürlich alle hier bleiben. Für immer. bleed Unknown - Unknown 12 (White Label) Kein Leben ohne Sample. Soweit sind wir gekommen. Wir lassen uns immer gerne etwas schenken, gerade weil wir es kennen, in und auswendig. Wir vergleichen noch den letzten Rest eines Soundfetzens mit den Trillionen (Der Autor dieser Zeilen hat in seiner Jugend zu viele Lustige Taschenbücher geschnupft, Anm. der Setzer) anderen Fetzen. "Ringtone", was für ein Titel für einen Track, der mit falschen Didgeridoos lockt und zwischen Ragga und Diven nicht unterscheiden will. Das ist so entschieden Aphex Twin, dass man es nicht im entferntesten hören kann. Da können wir gar nicht falsch liegen, weil jeder einzelne Groove so sprunghaft um die Ecke gekantet kommt, dass unsere Füße in einem Tempo über dem Boden schweben, dass wir uns selbst kaum zugetraut hätten. Was obendrein den guten Nebeneffekt hat, dass wir uns um eine grundlegende Diskussion von Samples herumdrücken können. Und die sind geschwätzig. bleed Unknown - Unknown 13 (White Label) Nicht jeder der singt, kann singen. Wir sind in den letzten Jahren nicht müde geworden, das zu betonen, und nicht nur weil wir ich bin, der findet eine gute Stimme ist so selten wie eine leckere Tomate, oder weil ich abhängig bin von Tomaten, oder weil Musik kein Gemüse ist, oder weil es darauf ankommt, was man daraus macht und wie gemein übrigens, hier der Stimme eine so verbratene Bassline unterzuschieben, dass man am Ende versucht sich an Gedanken von akustischer Flatulenz festzuhalten, deren Odem der Stimme… So. Jetzt ist uns der Satz abgebrochen. Das hast du nun davon, das so unverschämt gegeneinander laufen zu lassen. Wie hätten wir darauf vorbereitet sein können. Nein, auch im Review kann man, wie auf dem Floor, nicht zurückspulen. Da musst du uns schon abholen. Das kannst du. Wiederholung ohne ewige Wiederkehr ist doch unsere große Erfindung. Darauf verlassen wir uns einfach mal. Und streiche bitte verlassen aus deinem Wortschatz für die nächsten Tage. Das kommt schon von selbst wieder, keine Sorge. bleed Unknown - Unknown 14 (White Label) Wenn ein Track sich, wie dieser hier (wir wollten immer schon die Freiheit uns vom Release zu lösen, wir sind weder Romanciers noch deren Duftküchelchen) stolz "Give Me More" nennt, dann gehört schon eine Portion Genie (lange nicht mehr gesehen) dazu, dieses mehr auch zu liefern. Oder - die durchtriebene Variante - zu ignorieren. Wir sind uns nicht sicher welches von beiden hier zutrifft. Die Spannung ist so schon kaum auszuhalten. Aber was, wenn in deinen Adern kein Acid fließt? Bist du dann kein Alien? Manchmal kann man nicht helfen. Verführung ist auch nicht gerade die Qualität, die man in einem Alien sucht. Ein Track, so gut, dass man ruhig jetzt auch mal an die Bar gehen kann, der nächste muss noch besser werden. bleed Unknown - Unknown 15 (White Label) Versteht uns nicht falsch, das mit der Bassline, damit ihr wisst wovon ich rede, das ist nicht immer so. Manchmal packt die einen auch einfach, in den Eingeweiden, an den Fusselhärchen, oder wo man sonst gerade angreifbar ist, nimmt einen in ihre schmutzig brummigen Hände, zerrt einen auf den Floor, wirbelt einen herum, zermalmt einen zu ganz viel Brei, der sich gerade noch halten kann, als wabernd glücklich glucksendes etwas und spuckt einen bestenfalls kurz aus, um dann mit dem Wiederkäuen des


181 — 81 Glücks zu beginnen. Beim zweiten Mal ist das erste Mal immer gleich noch schöner. Das meint man, wenn man die Bassline gelegentlich als einen alten Bekannten bezeichnet, der einem noch die letzte Energie rausleiert, weil man gemeinsam schon so verspult ist, dass man über die Schlingen nicht mehr stolpern kann. bleed Unknown - Unknown 16 (White Label) Funktional ist kein Tool. Ein Tool ist kein Tool. Immer erst mal alles verneinen. Der Hammer der fällt, ist immer noch ein Hammer, aber hör' doch, wie der fällt, immer wieder, wie tapfer die Maschine für uns diese Dinge tut, die das Herz zum Summen bringt, das die Maschine sofort als ihren Traumpartner erkennt, Schlag um Schlag. Die blinzeln sich heimlich an, zwinkern sich zu, sind verliebt, da kann man nichts machen, manchmal, vor allem da, wenn man der intimen Beziehung von Herz und Maschine in die Quere kommen wollte, man weder Herr seiner selbst ist, noch überhaupt weiß was wirklich geschieht, weshalb wir hier den handelsüblichen Reflex vorschlagen, den beiden einfach zuzusehen, ein wenig extrakorporale Auszeit im Spannertum hat noch niemand geschadet. Zumal, am Ende ist immer die Auslaufrille und die Auslaufrille knisterte immer schon verheißungsvoll. bleed Unknown - Unknown 17 (White Label) Für diese Platte muss man sich Zeit nehmen. Ist mir egal, wo ihr die herklaubt. Liegt nicht auf der Straße rum? Dann sucht halt woanders. Und was bekomm ich dafür? Such bitte ganz woanders. Und wenn ich was besseres vorhabe? Kann gar nicht sein. Diese Platte ist die Gewissheit, dass ihr nie was besseres hättet vorhaben, geschweige denn erfinden hättet können. Soviel Demut muss sein. Soviel Demut. Darauf könnte man sich ausruhen, für Jahrzehnte. bleed Unknown - Unknown 18 (White Label) Manchmal ist so ein Stück einfach zu schnell vorbei. Wenn es sein Fehler ist, ist es immer noch das Gegenteil eines Fehlers. Dass du mehr wollen kannst, auch das ist etwas, dass man nicht kaufen kann. Wie auch immer dieser Lump das gemacht hat, die so anzustacheln, dass du nach dem ersten Ton schon so süchtig warst, dass das Ende voraussehbar eine Qual sein wird, ist vielleicht kein Geheimnis, aber wir bewahren es dennoch wie eins auf. Und selbst wenn wir hinter die Karten blicken, da wo die Geheimnisse noch Kronen tragen dürfen, ist unser Wissen am Ende nicht mehr als das Wissen, wie sehr wir am Ende dieses Wissen vermissen werden, weshalb Gott (ja, der mit dem Hipsterbart) aus diesem Grunde, in seiner weisen Voraussicht dafür gesorgt hat, dass es kein Ende gibt, nur andere Anfänge. bleed Unknown - Unknown 19 (White Label) Unknown. Pah. Du denkst wohl wir hören nicht wer du bist? Deine Claps sind doch unverkennbar und den Synth hast du auch nicht erst seit gestern und du willst dich neu erfinden, was hast du denn vorher gemacht? Wir ignorieren den Mystizismus, den Kult um den Nicht-Namen, kommt doch eh raus und am Ende bleibt der fahle Beigeschmack eines Selfies von der Stange. Menschen, immer wieder putzig wie sie sich dagegen sträuben, dass ihnen jemand eine Brechstange aufklebt, um dann damit sich selber aufzubrechen. In der Welt der Namenlosen ist der lösbare Name ein Frosch. (Diese Platte wurde - das erste Mal in der Geschichte dieser Zeitung - ganz und gar ohne Hören der - zugegeben nicht wirklich existierenden - Platte besprochen). bleed Unknown - Unknown 20 (White Label) Eine schlechte Platte. Mehr gibt es darüber eigentlich nicht zu sagen. Normalerweise wäre hier ein Punkt. Dann würde ich die Löschtaste suchen. Ganz Abgegriffen die Arme. Sollte ich mich wirklich aufgeregt haben über die ganz einzigartig besondere Schlechtigkeit dieser Platte, nicht nur, weil sie so dahingeworfener hirnloser Dreckskram ist, gäbe ich mir noch die Mühe irgendwo im Horrorkabinett von oberfiesestem Fieskram, das die Menschheit so in Überfülle für uns alle zur Abschreckung (ja, so ist das gemeint) bereithält, nach etwas Passendem zu suchen, denn auch böse Menschen brauchen ja nicht einsam zu sterben. Am Ende aber, hoffe ich auch ohne Druck, das hat wer gehört, das braucht man nicht als Parade in die Welt schicken, Paraden der Abscheulichkeit gibt es eh genug und es hilft auch nicht, Gut und Böse gegenüberzustellen, um eine Perspektive zu bewahren, denn mit Helden könnt ihr mich jagen. bleed Unknown - Unknown 21 (White Label) Musik wie ein Baustein. Bausteine. Hohe Kunst. Lego-LogoKonfitüre. Ausgebreitet in den Rillen. Der Grand Canyon des Floors. Textbausteine. Was einem immer wieder durchgeht. Einen Moment nicht achtsam genug gewesen, schon bricht die Konfitüre aus den Schluchten und zermalmt all das, wofür man kämpfen wollte. Retro ist kein Problem. Regression schon. Als Problem aber offen für Lösung, als Lösung ein Bauplan, der heilige Gral für Bausteine, die was auf sich halten, egal wie Krickelkrakel. Killer. bleed

Unknown - Unknown 22 (White Label) Als ich diesen Typen, dessen wundervolle neue Platte ihr jetzt mit mir zusammen genießen wollt, das erste Mal traf, dachte ich - schon das ein Fehler - ihm einen wissenden Blick zuwerfen zu müssen, wir einigten uns darauf zu zwei Wodka zuviel eine Acapella-Version von Abbas "Thank You For The Music" zu trällern. Konnte keiner hören, die Musik war zu laut. Was für ein Mensch aber. Seine neue Platte hingegen, nicht der Rede wert. Naja schon gut so, wie die letzte, aber auch nicht besser und irgendwie sind die doch alle irgendwo gleich, oder etwa nicht? (Autor nach Diktat in Berufswechselkrise verschwunden.) bleed

Unknown - Unknown 29 (White Label) Nach ihren letzten Platten hätte ich das nicht mehr erwartet. Aber wozu sind Erwartungen gut, wenn nicht dafür, dass man sie in die Tonne tritt, mit Nachdruck. Was für eine Monster! Die Hände die man in die Luft reißen möchte, wachsen einfach nicht schnell genug nach, um der Begeisterung, die einen fast platzen lässt, irgendwie Ausdruck zu verleihen. Jede Stimme, jeder Rimshot, jeder langsam aufgeputzte Chord kennt nur eine Richtung und wenn man denkt, jetzt geht wirklich gar nichts mehr, dann legen die erst los. Wer diese Platte nicht sofort kauft, sollte die Finger vom Plattenteller lassen, für immer. bleed

Unknown - Unknown 23 (White Label) Auch wenn es unkt, die besten Sätze reimen sich auf Punkt. bleed

Unknown - Unknown 30 (White Label) Ist kaputt jetzt wirklich schon das neue Schwarz? Das Einreißen noch der letzten Bestände an geraden, einfachen, direkten, irgendwie gewohnt schönen Sounds, der neue Glitter? Das neue Neon? Die neue Disco? Wir stellen uns den Floor dazu vor, wie ein unübersichtliches Gerümpel, Gerumpel, Gerangel und Gedöns. Wir stellen uns den Floor dazu vor mit umgeschmissenen Esstischen, Krümeln von Fischresten, eingerissenen Wänden und Decken, die nicht oben sind wo sie hingehören. Und wenn nicht so verdammt klar wäre, dass die Begeisterung hinter diesen Tracks einfach unausweichlich wäre, dann hätten wir jetzt wirklich ein Problem. bleed

Unknown - Unknown 24 (White Label) Diese Platte ist auch in zehn Jahren noch Kult, wenn sie es nicht schon vor 20 Jahren war, denn bis ins letzte Detail könnten die Tracks auch damals entstanden sein, wir haben nur den Waschzettel mitgewaschen und mal ehrlich, die liest doch wirklich kein Mensch. Jede 303, 606, 707, 808, 909 und was sonst noch in unserem akustischen Universum an falschen Flugnummern sicher gelandet ist, wurde hier verbraten, verraten und nachher verkauft, um sich einen schönen Lebensabend auf den Bermudas zu leisten. Ein Lebenswerk sozusagen. bleed Unknown - Unknown 25 (White Label) Wenn man es so macht, dann ist ein Intro die reine Verführungsmaschine. Das Intro ist die große gnadenlos unterschätzte Kunst, die das Leben bis zur ersten Bassdrum so lange hinauszögert, wie es eben geht. Das Zögern ist die große gnadenlos unterschätzte Kunst, das Abkassieren so lange nicht stattfinden zu lassen, bis man sich sicher ist, auch die letzten Ohren, die letzten Winkel des Körpers sind auf nichts anderes mehr ausgerichtet als diese Erlösung. Die Erlösung ist die große gnadenlos unterschätzte Kunst Zögern und Intro nicht mit einem falschen Ton nachträglich zum schlimmsten Betrug zu machen, dem man je aufgesessen ist. So banal das klingen mag, hier macht jemand alles richtig und dabei nichts so richtig, dass es verflachen könnte. bleed Unknown - Unknown 26 (White Label) Eine Plattenbesprechung, in der nicht ein einziges Mal das Wort deep auftaucht, hat ihren Sinn und Zweck völlig verfehlt. Deeper noch, das muss uferlose Deepness sein, das darf keine Grenze kenne, das muss die Nacht ausloten wie nichts zuvor, das muss in uns übergehen, ganz tief in unsere Welt hineinsinken, bis wir nicht mehr raus können, geschweige denn wollen. Und erst dann können wir anfangen, wirklich über die Deepness dieses Tracks hier nachzudenken, die wie ein Traum ist, der sich nicht mal mehr selbst träumen kann, so komplex und doch so nah ist man mit ihm verwoben. Der Feind der Deepness ist der Kitsch, deshalb gehen sie gelegentlich auch gemeinsam einen trinken, aber nie alleine, noch gemeinsam nach Hause. Wenn Deephouse die Kriegsführung der Unerschütterlichen ist, dann ist diese Platte ihre Waffe. bleed Unknown - Unknown 27 (White Label) Unknown. Wirklich, Hand aufs offene Herz, ich habe keine Ahnung woher die kommen. Oder der, oder die. Die Musik zählt. Die Restspuren eines Soundgerüsts, an dem man sich so eben noch festhalten kann, diese auseinanderberstenden Klänge, deren Richtung unbestimmbar in eine Atemlosigkeit führt, der wir hier versuchen hinterherzuhecheln, auch wenn wir daran zugrunde gehen. Wenigstens hatten wir dann den richtigen Soundtrack und - Randbemerkung für alle die gelegentlich mal ins Kino gehen - damit schlägt Unknown Hollywood um Längen und auf ganzer Breite. Wenn mir irgendein Bild so direkt in den Kopf schießen könnte, ohne dabei auch nur eine Millisekunde in Banalität zu verfallen, wäre die Welt wirklich verrückt. bleed Unknown - Unknown 28 (White Label) Was für eine Tiefstapler-Platte. Wirklich. Tuschelt in fast atemberaubender Stille von einem Glück, das so übernatürlich wahnwitzig real und greifbar zu sein scheint, auch wenn es einem immer wieder durch die Finger zu rinnen scheint, dass man am liebsten mit jeder noch so kleinen Drehung mitwachsen möchte. Denn genau darum geht es hier. Das ist nicht Musik, das ist ein Organismus, seine langsame Entfaltung, diese Zeitlupe des Lebens, das nahtlos magische Pulsieren eines irgendwie zusammenhängenden Ganzen, das erst mittendrin plötzlich schemenhaft erkennbar wird, nur um dann ebenso unnachahmlich wieder ins Nichts zu verschwinden. Die glücklichsten 12 Minuten meines Lebens. Schon wieder. bleed

COME AND SEE O

UR V. I. PEE. ROO

Unknown - Unknown 31 (White Label) An die Dekonstruktion von Detroit haben sich schon viele gewagt. Meist bleibt am Ende nicht viel mehr als ein Abziehbild zurück und man kehrt geläutert und leicht erschöpft wieder zurück zu den breiten Flächen, den blubbernd aquanautischen Sequenzen, den knorrig pulsierenden Grooves. Manchmal aber, so langsam dämmert uns selbst auch warum wir darüber reden wollten, wird das Haus so wie hier erneut eingerissen, weil es immer schon eingerissen war und wir alle nur nicht mehr sehen konnten, wo die Bruchlinien eigentlich verlaufen müssen, damit man am Ende auf dem Schutthaufen auch tanzen kann, den wir in unserer Traumvorstellung von Detroit als mystischen Ort zementiert haben, der alles überlebt und jeden noch so unwahrscheinlichen Winkel zu einer puren Emphase des Widerstands macht. bleed Unknown - Unknown 32 (White Label) Wie bitte? Auf der Oberfläche klingt dieser Track wie eins dieser absurd zusammengehackten Breakcoremonster nach denen man sich immer so frisch durchgerüttelt gefühlt hat, wie ein Gurkensaft kurz vor dem Urknall. Sichtlich gerührt von all dieser Verwirrung fällt einem dann aber auf, dass irgendetwas mit der Zeit nicht stimmt. Nein, es ist wirklich nicht so spät, es ist nur so langsam. Ist euch schon mal das liebste Liebhaberstück aus der Hand gefallen und ihr habt in Schreckstarre zusehen müssen wie es ganz langsam aber ohne dass man etwas dagegen unternehmen könnte, auf dem Boden in tausend Stücke zerschellt? Oder einen Traum gehabt, in dem man einfach keinen Millimeter vorwärts kommt, weil man rennt wie irre aber gleichzeitig doch gelähmt ist? Ja, ja, ja, sag doch endlich! OK. So fühlt sich das im Vergleich zu oben erwähntem Gurkensaft an. Prost, runter damit, aber nur auf eigene Gefahr. bleed Unknown - Unknown 33 (White Label) Ernsthaft, ich dachte Konzept-Platten wären langsam ausgestorben. Wir fordern Artenschutz für Gatefoldsleeves! Aber nicht nur das Cover will so eindeutig etwas von uns, nein auch die Tracks haben sich zwanghaft darauf versteift, dass keiner das tun darf, was er/sie/es sonst am besten kann, oder wir erwarten würden. Die Idee, das Konzept wenn man so will, runtergebrochen mal auf den einzigen Punkt der übrig bleibt, wenn man es sämtlicher sonstiger flapsigen Pseudophilosophien eines feuchten Kuratorentraums entledigt, ist die: Musik ohne Kicks für Räume ohne Schwerkraft, in denen ein Takt eh schwer zu halten ist. Die Musik wäre also schon mal da, nur der Raum ohne Schwerkraft, den werden wir wohl nicht mehr erleben. Eigentlich schade, gerade jetzt, wo wir, dass der Weg dahin nur durch den Vomit Comet führt. bleed Unknown - Unknown 34 (White Label) Und wenn es am Ende nur dieses Fingerschnippen ist, was mir von dem Track in Erinnerung bleibt, dann weiß ich doch, dass ich Fingerschnippen nicht nur liebe, sondern es schon einer gewissen tapferen Lässigkeit bedarf, wenn man Fingerschnippen auf dem Housefloor mit allem frisch geschnetzelten Jazzsound, der dazu gehört, so legendär nebensächlich losschnippen lassen kann. Obendrein, wir sind immer dankbar für eine Steilvorlage der nächtlichen Kommunikation darüber, welcher Track das nun verflixt noch mal war, der einen am Ende dann völlig wegtickern hat lassen. Hier reicht ein (und jetzt alle) Fingerschnippen. bleed

Unknown - Unknown 35 (White Label) Träumen androide Schafscherer von Miami Bitches? Wenn ja, welche Moves machen die dann an ihrem Fließband? Fragen über Fragen, die diese Platte nicht lösen kann, da sie damit beschäftigt ist, das frisch gekaufte Plug-In von seiner besten Seiten vorzuzeigen. bleed Unknown - Unknown 36 (White Label) Ich höre diese Platte jetzt zum 10. Mal und habe immer noch nicht so wirklich verstanden, wie dieser Groove eigentlich funktioniert. Ich hab ihn mir aufgemalt, nachgerechnet, nach geheimen Botschaften oder Algorithmen gesucht, kleine Passagen versucht nachzutanzen, mir das betörend verwirrende Ballett dazu vorgestellt, das traumwandlerisch diese Schritte umsetzen könnte, zwischenzeitlich ein paar Mal davon geträumt, diese Platte aufzulegen, im genau richtigen Moment, der hier noch erschütternd flüchtiger ist, als Momente eh schon gewohnheitsmässig zu sein pflegen, und nein, ich komme einfach nicht dahinter, aber ich bin bereit glücklich zu erklären, dass genau das diesen Track auch Morgen noch so gespenstisch gut macht. bleed Unknown - Unknown 37 (White Label) Techno. Wir reden viel zu selten über Techno. Das ist nicht unsere Schuld. Techno kann aber nun wirklich nichts dafür, wie uns hier vom ersten Moment an in so spröde wahnsinniger Konsequenz ins Hirn gehämmert wird. Wie oft kann man noch Wände zum Einstürzen bringen und das so frisch und unbefangen formellos klingen lassen wie es hier geschieht? Sagen wir es mal so, hätte jemand solche Tracks zielgenau in dem Moment erfunden, als Techno noch die große Wumpe auf Raves war und die Hallen vor Strobos nur so blitzten, dann hätten wir Szenen gesehen, wie folgende: eine ganze Halle druffer Raver geht vor Gnade auf die Knie, der Floor öffnet sich und verschlingt für einen Moment, von dem man später nicht mehr wissen wird, ob er wirklich geschah, oder all das nur Massenhysterie war, alles, restlos, zurück bleibt die Stille und der letzte verhallende Sinuston. bleed Unknown - Unknown 38 (White Label) Wir wünschten diese Platte könnte sich entscheiden zwischen dem puren knuffig kantig krabbelnd wirren Sound früher Chicago-Erdnuss-Orgien und dem rabiaten Tottreten schmerzhaft blinkender Transistoren auf Überdosis. Andererseits, was hätten wir alles verpasst, und obendrein, unsere Ohren mussten dringendst wieder freigepustet werden. bleed Unknown - Unknown 39 (White Label) Es gibt zwei Möglichkeiten mit den Verlockungen, die PreacherVocals nun ein Mal sind, umzugehen. Die erste, bei weitem häufigere, wäre, nimm' das ernst was da gesagt wird, gibt dir mit der Musik all die Mühe, dich an dieses harte Thema heranzuwagen, ihm gerecht zu werden und führe so die Gerechtigkeit dieser Stimme noch näher zu sich selbst, als sie es vielleicht je war. Die zweite erwähnen wir hier nicht weiter. Die dritte allerdings ist es, die uns wirklich interessiert und die hier perfekt durchexerziert wird. Zerpflücke die Stimme wie es dir passt, werf' noch ein paar mehr ein, die müssen nicht unbedingt passen, die dürfen sich auch beißen, und vollführe dann trotzdem das Kunststück, dass am Ende selbst bei genaustem Hinhören alles klingt wie die Weisheit selbst, die trotzdem über sich selbst noch lachen kann. Kirche kann so funky, man muss nicht mal dran glauben. bleed Unknown - Unknown 40 (White Label) Und was, wenn dies das letzte Stück wäre, dass du auflegst. Am letzten Abend deines letzten DJ-Sets, vor - schon wieder - den letzten Leuten. Müsste es dann nicht genau diese achselzuckende Lässigkeit haben, diese nebensächlichen Plattitüden, dieses grundgut Belanglose, so einen echt läppischen Gesang, den vermutlich irgendjemand aus anderen zusammenkopiert hat und diese Wandergitarre, die aber unbedingt? Nein, nein, nein. Wir können gar nicht oft genug Nein sagen. Das muss nicht, das braucht selbst dann keiner, wenn dich keiner mehr braucht. bleed Unknown - Unknown 41 (White Label) Ich will das auch, was der genommen hat. Ich will auch von dem geritten werden, was den geritten hat. Ich will das ganze Album am liebsten gleichzeitig hören, alle Tracks auf einmal. Nur zwei Ohren, eine der unakzeptabelsten Frechheiten der menschlichen Allzumenschlichkeit, deren Grundblödheit auf den Prüfstand gehört. Und wo wir dabei sind, das mit der linearen Zeit, war auch nicht so der beste Einfall. Können wir das bald mal regeln? Ihr dürft auch gerne vorher dieses Album ein paar tausend Mal hören. Währenddessen von mir aus. bleed

M ...

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84 —

181 — FÜR EIN BESSERES MORGEN

Geahnt, gerochen und doch nicht kommen gesehen.


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