Meine Heimat Odenwald: Dieses Stück Hölle +++ www.Odenwaldhoelle.de #FAZ

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22.11.2018

Meine Heimat: Dieses Stück Germany - Feuilleton - FAZ

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Supermarkt, Tankstelle, nichts, Neubau, wieder Tankstelle, Autohaus, altes Haus, totale Geisteswüste Bild: Rainer Wohlfahrt Das Niemandsland zwischen Birkenau und Rimbach ist der scheußlichste Ort der Welt. Wie die Odenwaldhölle junge Menschen zurichtet - und wie ich aus ihr entkommen bin. Ich bin auf diesen Odenwald, genauer auf die Gegend zwischen Birkenau und Rimbach, im Alter von sechs Jahren einfach draufgeworfen worden, ohne zu wissen warum und ohne je verstanden zu haben, was wir, meine Familie und ich, eigentlich dort machen. Es war entsetzlich, vom Anfang bis zum Ende, und ich kann also überhaupt nicht behaupten, dass ich eine Heimat habe, und ich kann auch nicht verstehen, wie man in diesem pervers verkleisterten und kopflos verbauten Nachkriegs-, Nachwende- und Attrappendeutschland überhaupt Heimatgefühle entwickeln kann, und das ist mein Ernst. Zwischen diesen Häusern stimmt überhaupt nichts, ist alles eine Wand, gegen die man im Kopf den ganzen Tag dagegenrennt. Ich bin in meinen Kleidern zu Hause, in meinen Büchern, in Serien, mit meinen Menschen und zuallererst in meinem Bett, und ich behaupte, dass die Abwesenheit jeder Art von Heimatgefühlen (allein dieses Wort, ich kann nicht anders, ich muss sofort an Trachtenlederhosen, den NSU, Bier und Dummheit denken) damit zu tun hat, dass meine Eltern Kinder von Menschen sind, die wegen des Krieges jede Beziehung, jedes Vertrauen zu einem Ort verloren haben und eben da hingegangen sind, wo sie hingehen konnten oder mussten. Und so sind wir aus Berufsgründen, die mein Vater hatte, in dem für den Kopf lebensgefährlichen Odenwald, genauer dem Stück zwischen Birkenau und Rimbach, gelandet, das an Hässlichkeit und Traurigkeit eigentlich nicht zu überbieten ist, wäre es nicht so, dass es in Deutschland viele Orte gibt, die mühelos genauso hässlich und egal sind, wie ebendieses Stück Germany.

Helmut im Herzen http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/meine-heimat-dieses-stueck-germany-12729846.html

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Als heranwachsender Mensch war es ein Todesurteil. Es blieb einem nichts übrig, als im Alter von elf Jahren das Rauchen anzufangen, zu kiffen, bis man nichts mehr sah, und zu klauen, um sich irgendwie zu unterhalten. Unterhalten, weil es dort einfach nichts gab, das unterhielt. Ich klaute dann im Supermarkt immer Schminke von L’Oréal, weil die Werbung für diese Schminke so viel besser aussah als der Odenwald, der alleine für sich genommen wirklich wunderschön war, hätten nicht diese kleinen, gedrungenen, eternitvernagelten Häuser und die Neubauten, bei deren Anblick man sofort anfangen musste zu weinen, in ihm herumgestanden. Verantwortlich für die Häuser und Neubauten waren schätzungsweise Bauprojektführer, Geschäftsmänner, Architekten, Odenwaldverantwortliche und Familienoberhäupter, deren Köpfe aus unterschiedlichsten Gründen entweder vernagelt oder gleichgültig gegenüber dem Odenwald gewesen sein müssen. Es ist ein Rätsel, warum in dem an sich so schönen Odenwald fast ausnahmslos hässliche Häuser stehen, und wann immer ich dort bin, frage ich mich das aufs Neue: Wie konnte das passieren? Heute könnte man dem Odenwald nur helfen, indem man alle Menschen und Häuser aus ihm rausnähme und ihn allein ließe. Das wäre seine einzige Chance. Die Familienoberhäupter waren Männer, die Frauen meistens zu Hause, die Männer schrien die Frauen an, wenn sie selbst versagt hatten, die Frauen ließen sich von ihren Männern anschreien, und beide, Männer wie Frauen, wollten in der Nachbarschaft einen gepflegten Eindruck machen. Es gab dekorative Vasen und Glasfiguren, modische Sitzgarnituren, Helmut-Kohl- Biographien und Mädchen, die Schlampen waren, wenn sie im Alter von fünfzehn Jahren häufiger den Freund wechselten.

Unterwegs nach Nirgendwo Beim Friseur wurde einem mit Sicherheit ein frecher Haarschnitt empfohlen. Es gab eine Straße, die an den Häusern mit den verschlossenen Gesichtern vorbei durch die Ortschaften von Birkenau (Birkenau! Das kann einfach nicht wahr sein!) bis Rimbach und noch weiter führte, und diese Straße war alles, was es gab. An den Seiten: Supermarktfilialen von Supermarktketten, ein Möbelhaus, Tankstellen, nichts, Neubau, wieder Tankstelle, Autohaus, altes Haus, Wüste, die totale Geisteswüste. Es machte und macht mich immer wieder fassungslos, wie wir dort überleben konnten. Nachts gab es nichts. Die leere Straße, dumme Bushaltestellen, an denen kein Bus mehr hielt, bellende Hunde. Einmal versuchten meine Freundin und ich, wir waren vielleicht dreizehn Jahre alt, über Nacht auszubüchsen, aber uns gelang nicht mal das, weil uns kein interessanter Ort einfiel, an den wir hätten ausbüchsen können, und Frankfurt war zu weit. Also rauchten wir weiter, guckten Talkshows, trampten, fuhren mit der Weschnitztalbahn an Orte, um dort weiter zu rauchen und vielleicht zu knutschen, aber es war zum einen so, dass man nicht ohne weiteres knutschen konnte, ohne sich mittelfristig Sorgen um seinen guten Ruf zu machen, und zum anderen waren die Jungs, mit denen man knutschen konnte, oft dumm, das konnte einem nicht entgehen, selbst wenn man darüber hinwegsehen wollte. Ich habe das Gefühl, meine gesamte Jugend in dieser Weschnitztalbahn verbracht zu haben, so einer DBMini-Regionalbahn.

Kaputt im Kopf Das Einzige, was mich immer wieder daran erinnert, hier und nicht sonst wo zu sein, ist der ICE, wovon einem nur schlecht werden kann, denn der ICE gehört allen, also niemandem, weswegen einem die grauenhafte ICE-Heimat nicht mal im Geist gehört und insofern doppelt schrecklich

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und abstoßend ist, zumal man da drinnen ja von morgens bis abends angerempelt, verdrängt und eingequetscht wird. Die Weschnitztalbahn bestand, glaube ich, aus insgesamt vier Abteilen und brachte uns morgens um kurz vor sieben in die Schule, was etwa zwanzig Minuten dauerte. Die zweite Klasse hatte rostfarbene Sitze, die erste Klasse blaue, und darauf saßen wir, legten die Füße auf die Polster und rauchten und benahmen uns schlecht. Die Jungs spuckten immer auf den Boden. Manchmal schmiss uns ein Schaffner raus, auf den wir dann gemeinsam unsere Wut richten konnten, aber mehr passierte einfach nicht. Mütter kochten, Väter arbeiteten, Kinder gingen zur Schule, die Weschnitztalbahn hielt in Birkenau, Reisen, Mörlenbach, Zotzenbach und Rimbach. Meine Familie sagt, ich übertreibe mit meiner Odenwaldwut, aber ich übertreibe natürlich überhaupt nicht, denn ich kenne einige ehemals junge Menschen, denen der Kopf vom Odenwaldinhalt derart verwüstet wurde, dass sie ihn vollends verwüsten mussten, indem sie so viele Drogen nahmen, dass er, der Kopf, leer und zu nichts mehr zu gebrauchen war.

Einfach raus Man denkt vielleicht, Städte seien gefährlicher für den Kopf von jungen Menschen als das Land, aber das stimmt nicht, das Land ist mindestens genauso gefährlich, wenn nicht gefährlicher, und das beweist der Odenwald, dem man als Kind hilflos ausgeliefert war, denn man kam ja nicht heraus, und so habe ich mich immer als Odenwaldinhaftierte betrachtet, als von der Weschnitztalbahn und den Odenwaldhäusern und den Odenwaldsupermarktfilialen und den Odenwaldtankstellen und der Odenwalddurchschnittlichkeit Inhaftierte und mit meiner Familie an diesem Ort total Deplazierte. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass ich, hätte es im Odenwald nicht einen vernünftigen Mann gegeben, meinen vom Odenwald ohnehin schon verwüsteten Kopf mutwillig vollends verwüstet hätte, vielleicht wäre ich jetzt tot oder Drogendealer, oder ich hätte aufgegeben, wäre im Odenwald geblieben und längst mehrfache Großmutter. Mehr zum Thema 1/3 Der Mann, der mich vor alldem bewahrt hat, war mein Deutschlehrer, und seinetwegen setzte ich mich an manchen Tagen gerne in die Weschnitztalbahn, um in die Schule zu fahren, wo er über Bücher sprach, in denen man, selbst im Odenwald, zumindest zeitweise, zu Hause sein konnte, die einem aber umso deutlicher machten, warum man da dringend weg muss, aus dem Odenwald, aus allem, raus.

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