Die Kopfstimme im Song benutzen

Immer wieder bemerke ich bei neuen Gesangsschülern, dass die Kopfstimme im Song Unsicherheit hervorruft. Sollst du sie einsetzen? Sollst du nicht? Welche Vorteile bringt sie dir? Darum geht es in diesem Artikel.

 


Die Kopfstimme ist eine grundlegende Funktion in deinem Kehlkopf. Sie deckt den oberen Bereich deines Stimmumfangs ab und ermöglicht dir, diese Töne überhaupt nutzen zu können.

Gleichzeitig ist sie nicht auf die oberen Töne beschränkt. Du könntest, wenn du willst, alle Töne deiner Range in der Kopfstimmfunktion singen – von den höchsten bis zu den tiefsten. In Kombination mit der Bruststimmfunktion kannst du den Mix herstellen, mit dem die Töne in der Mittellage kräftig und wohlklingend zugleich klingen. Um ihn zu entwickeln, brauchst du beide Funktionen.

Außerdem macht die Kopfstimme deine Stimme flexibel. Wo die Bruststimme deiner Stimme Kraft gibt, sorgt die Kopfstimme für Geschmeidigkeit und die richtige Menge Durchsetzungsfähigkeit.

 

So kling ich doch gar nicht!

Erwachsene Sänger, die wenig Erfahrung mit ihrer Kopfstimme haben, sind meiner Erfahrung nach oft von ihr irritiert. Sie sind es gewöhnt, stark, kräftig und laut zu klingen – wie beim Sprechen. Der Klang der Kopfstimme ruft dagegen ganz andere Assoziationen hervor: zart, kindlich, naiv, leise, schwach. So wollen sie nicht klingen und sind deshalb verunsichert von dieser “anderen Stimme” in ihrem Kehlkopf.

Und stehen ihrer stimmlichen Entwicklung damit leider im Weg.

 

Um deine Stimme zu ihrem vollen Potential zu entfalten, ist es nötig, dass du dich mit deiner Kopfstimme anfreundest. Im Wesentlichen findest das in 3 Bereichen statt:

  • Erforsche sie. Wenn du bisher nur sehr wenig mit diener Kopfstimme in Kontakt gekommen bist, solltest du sie zunächst einmal kennenlernen. Das kannst du prima von Zuhause aus machen.
  • Trainiere sie. Das sollte in der direkten Arbeit mit einem Gesangslehrer stattfinden, der individuell auf dich, deine Aufgaben und deine Bedenken eingehen kann.
  • Benutze sie in Songs. Eine individuelle Betreuung durch einen Vocal Coach ist auch hier angemessen. Das wesentliche „Warum?“ sollte dir hingegen auch klar sein. Darum geht es in den nächsten Abschnitten.

 

Benutz die Kopfstimme im Song, wenn es gar nicht mehr anders geht

Das ist der erste Zeitpunkt, wann du die Kopfstimme im Song benutzen solltest.

Es ist eine Übergangslösung für Sänger, die ihre Gesangstechnik noch entwickeln. Bevor du die hohen Töne in einem Song herausschreist, bevor du die Melodie abwandeln musst, bevor deine Intonation unter dem “Ich sing alles mit roher Kraft in der Bruststimme”-Syndrom leidet, tu deiner Stimme den Gefallen und wechsle in die Kopfstimme.

Forciere nichts. Drücke nicht. Schiebe nicht. Kurzum, zwing die Stimme nicht. Auf der Autobahn fährst du auch nicht im 2. Gang, sondern schaltest in den 5. Gang.

Erlaube deiner Stimme stattdessen, diesen anderen Klangcharakter zu nutzen.

 

Es ist nur eine Übergangslösung. So lange, bis deine Kopfstimme ausgebaut ist und du die Bruststimmfunktion und die Kopfstimmfunktion mischen kannst.

 

Lass uns noch einmal einen Blick auf den Mix werfen. Die Bruststimme unterliegt anatomisch-physikalischen Grenzen. Das liegt an ihrer Entstehungsart im Kehlkopf. Irgendwann ist der Punkt erreicht, wo sich die volle Masse der Stimmlippen nicht weiter verlängern kann, weil der Kehlkopf zu klein ist.

Das ist wie ein Haushaltsgummi, was du bis zum Maximum auseinander gezogen hast. Würdest du jetzt weiter daran ziehen, reißt es.

 

Mit den Stimmlippen passiert etwas ähnliches. Sie halten dem Druck nicht mehr stand, deshalb kippt der Kehlkopf in eine vorwärtsgerichtete Haltung. Dann können sich die Stimmbänder, mit veränderter Masse, weiter verlängern. Herzlichen Glückwunsch, du bist in der Kopfstimme angekommen!

Je abrupter dies geschieht, desto eher entsteht der Klangeindruck eines Bruchs – wie bei Teenagern im Stimmbruch oder beim Jodeln.

 

Diese Grenze, bis zu der sich die Stimmlippen in der Bruststimmfunktion ausdehnen können, ist bei den meisten Sängerinnen und Sängern bei E4 / F4 (internationale Bezeichnung) erreicht. Tiefe Stimmen können auch früher an ihre Grenzen kommen. Bei hohen Stimmen, die wenig an Mix und Belting gearbeitet haben, ist F4 in der Regel die Grenze.

Mit Training wird diese Grenze zwar nicht verschwinden, aber du kannst sie weniger auffällig gestalten: Mit den Techniken der Registermischung und des Belting.

 

Bis du diese Techniken in deiner Gesangsausbildung gelernt und trainiert hast, musst du leider manchmal in einem Song auf die Kopfstimme zurückgreifen, obwohl du klanglich etwas ganz anderes willst. Atme tief durch und sag dir: “Es ist nur eine Übergangslösung.”

Aber eine Wichtige.

 

Benutz die Kopfstimme im Song, wenn der Song es verlangt

Letztlich will jeder Sänger mit seinen Zuhörern kommunizieren. Der Song ist das Medium dafür, und er verlangt manchmal einfach die Kopfstimme.

Mit dem Klang der Kopfstimme verbinden die Menschen Sanftheit, unverbrauchte Jugend oder Kindlichkeit, Zärtlichkeit und Intimität, persönliche oder räumliche Nähe, Verletzbarkeit, Weiblichkeit, aber auch eine hohe Emotionalität.

 

Wenn ein Sänger für ein paar Töne in die Kopfstimme ausweicht, frag dich „Warum?“. Was drückt er in diesem Moment aus? Zwei Beispiele:

  • Caleb Followill (Kings of Leon) benutzt sie in „Use Somebody“. Bei “use” in der Textzeile “You know that I could use somebody.” zeigt er Verletzlichkeit. Der Song handelt von der Einsamkeit und dem Gefühl, auch mal jemanden zu brauchen, an dessen Schulter man sich anlehnen kann.
  • Chris Martin (Coldplay) singt in „Clocks“: „You are home.“ Wie fühlt sich dieser Satz an? Er beschreibt ein Ankommen nach dem Chaos des Alltags (beschrieben in den Strophen), sich heimisch fühlen in der Gegenwart einer anderen Person, sich entspannen. Das erreicht er mit der leiseren, sanfteren Qualität der Kopfstimme.

Beide benutzen die Kopfstimme, weil der Text, der Ausdruck, die Gefühle es verlangen – aber auch, weil beide Sänge es technisch können.

 

Das ist das letztendliche Ziel von Gesangsunterricht und Vocal Coaching: Dir die Gesangstechnik zu vermitteln, damit deine Stimme ausdrücken kann, was deine Seele sagen möchte.

An solchen Stellen die Kopfstimme zu benutzen, ist deine Wahl. Es ist eine Frage des künstlerischen Ausdrucks.

 

Fazit

Die Kopfstimme ist ein essentieller Teil deiner Stimme. Freunde dich mit ihr an. Trainiere sie. Und benutze die Kopfstimme im Song als Übergangslösung, wenn es (noch) nicht anders geht, und als Ausdrucksmittel.

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