Was die Corona-Todeszahlen aussagen – und was nicht

© Foto: martin-dm | Diagramm: Coronastats

Psyche und Gesundheit

Was die Corona-Todeszahlen aussagen – und was nicht

Bestatter und Robert Koch-Institut sagen: Die Todeszahlen stimmen nicht. Trotzdem scheint das ganze Land quasi minütlich diese Statistiken zu prüfen. Dabei geht es bei dieser Pandemie nicht nur darum, wie tödlich Covid-19 selbst ist.

Profilbild von Silke Jäger
Reporterin für Kopf und Körper

Der Zustand Deutschlands, nein, der ganzen Welt, lässt sich in dieser Gesundheitskrise an Balkendiagrammen, Kurven und Zahlenkolonnen zur Corona-Pandemie ablesen. Im Internet kann man in Echtzeit mitverfolgen, wie es uns gerade geht. Oder?

So einfach ist es nicht. Denn Zahlen sprechen eine andere Sprache, als die, die wir gewohnt sind. Deshalb wollen Expert:innen der Virologie, Epidemiologie und Medizin uns helfen, sie richtig zu lesen. Sie sitzen in Talkshows und werden in Nachrichtensendungen interviewt. Doch je länger diese Krise dauert, desto unübersichtlicher und verwirrender erscheinen die Zahlen.

Um das Problem besser zu verstehen, hilft ein Beispiel: die Zahl der Todesfälle. Ist die Zahl der Menschen, die an Covid-19 sterben, besorgniserregend? Oder ist die Aufregung über die Corona-Krise übertrieben, weil nicht mehr Menschen sterben als in so manchem Jahr mit grassierender Grippe? Diese Fragen werden sehr oft gestellt. Vordergründig lassen sich die Antworten leicht finden. Aber sie lassen sich auch leicht falsch verstehen. Denn um zu begreifen, was eine Zahl bedeutet, muss man zwei Dinge tun: sie mit anderen in Beziehung setzen und sich fragen, wie sie zustande kommt.

Wir zählen die Grippetoten weder so akribisch noch so medienwirksam wie die Corona-Toten

Beim Statistischen Bundesamt kann man sich eine Kurve zur Sterblichkeit der vergangenen drei Jahre anschauen. Sie zeigt, dass 2018, während der heftigen Grippewelle, an manchen Tagen über 3.000 Menschen gestorben sind. Ungewöhnlich viele im Vergleich zum Vorjahr im Monat März 2017. Im statistischen Durchschnitt versterben in Deutschland pro Jahr circa 900.000 Menschen, also 2.465,753 pro Tag. In Wirklichkeit schwankt die Zahl aber im Jahresverlauf.

Quelle: Destatis

Quelle: Destatis

Diese Kurve zeigt jeweils im späten Winter sehr unterschiedliche Sterberaten an, anders als in den anderen Monaten. Ab April schwanken die Sterbezahlen weniger stark. Wenn es in diesen Monaten Ausreißer gibt, kann man das viel leichter einer bestimmten Ursache zuordnen. Die Spitze im Juli und August 2018 lässt sich zum Beispiel mit besonders heißen Temperaturen in Verbindung bringen.

Die Grippesaison dauert circa 15 Wochen. An der Kurve kann man ablesen, dass 2018 eine zeitlang fast 1.000 Menschen mehr starben als außerhalb der Grippesaison, und 500 mehr im Vergleich zum Jahr 2017, in dem die Spitze der Grippewelle etwas früher lag als 2018 (interaktiver Monitor zur Grippe).

Das Robert Koch-Institut schreibt im Influenza-Wochenbericht (PDF) für Kalenderwoche 19: „Seit der 40. MW 2019 wurden nach Infektionsschutzgesetz insgesamt 186.626 labordiagnostisch bestätigte Influenzafälle an das RKI übermittelt. Bei 16 Prozent der Fälle wurde angegeben, dass die Patienten hospitalisiert waren. Es wurden bisher 506 Influenza-Ausbrüche mit mehr als fünf Fällen an das RKI übermittelt, darunter 87 Ausbrüche in Krankenhäusern. Seit der 40. KW 2019 wurden insgesamt 509 Todesfälle mit Influenzavirusinfektion übermittelt.“

Allerdings ist 509 nicht die Zahl der tatsächlich an der Grippe (Influenza) verstorbenen Menschen. Denn oft wird bei einem Grippe-Verdacht kein Test gemacht. Deshalb schätzt das Robert Koch-Institut die Zahl der Grippetoten nur. Für die Saison 2019/2020 liegt diese Schätzung noch nicht vor.

Bei Covid-19 erfahren wir täglich, wie viele Menschen daran verstorben sind. An manchen Tagen sind es fast 180, an anderen waren es „nur“ 50. Wir zählen die Grippetoten weder so akribisch noch so medienwirksam. Und auch die Toten durch das Norovirus nicht, das jedes Jahr ebenfalls durch Pflegeheime und über Krankenhausstationen fegt. Die Zahl derer, die an Krebs versterben, an Herzinfarkten, Schlaganfällen und Verletzungen auch nicht. All diese Zahlen nehmen wir stillschweigend hin. Sie sind keine Nachricht wert. Warum ist das bei Covid-19 anders?

Die Bestatterinnung Nordrhein-Westfalen schätzt, dass zwischen 1.000 und 2.000 Menschen bis Ende März an der Lungenerkrankung Covid-19 verstorben sind. Das sind nach Einschätzung der Innung bis zu diesem Zeitpunkt nicht ungewöhnlich viele Tote, verglichen mit dem, was man an Sterblichkeit erwarten könnte. Das Robert Koch-Institut gibt die Zahl der Todesfälle, Stand 13. Mai, 0 Uhr mit 7.723 an. Das Durchschnittsalter der Verstorbenen beträgt 82 Jahre. Die Altersverteilung der Verstorbenen ist in dieser Grafik gut zu sehen.

Das Statistische Bundesamt gab am 8. Mai bekannt, dass seit der letzten Märzwoche jedoch mehr Menschen sterben als zu erwarten war. Im Vergleich zu den letzten vier Jahren waren es zum Beispiel in der zweiten Aprilwoche im Schnitt 11 Prozent mehr. In der Pressemitteilung steht: “Die aktuelle Entwicklung ist auffällig, weil die Sterbefallzahlen in dieser Jahreszeit aufgrund der ausklingenden Grippewelle üblicherweise von Woche zu Woche abnehmen. Dies deutet auf eine Übersterblichkeit im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie hin.”

Die Dunkelziffer der Corona-Infizierten ist hoch, wie hoch ist noch unklar

Im Moment versuchen wir, eine Pandemie so zu messen, wie das nie zuvor bei einer Pandemie geschah. Das folgt einer Logik, die von der Weltgesundheitsorganisation WHO ausgerufen wird: Es geht darum, das Virus zu jagen. Um einschätzen zu können, wie erfolgreich wir dabei sind, muss viel getestet werden. Deutschland steht dabei im internationalen Vergleich an der Spitze. Kaum ein anderes Land hat ähnlich große Testkapazitäten. In der vergangenen Woche wurde nach Angaben des Robert-Koch-Instituts 380.000-mal nach dem Coronavirus gesucht.

Doch alle, die diesen Krautreporter-Text gelesen oder selbst Erfahrungen mit einem Verdachtsfall gemacht haben, wissen, dass die reine Zahl an durchgeführten Tests nicht viel darüber aussagt, wie gut das Testen organisiert ist. Deshalb verrät diese Zahl auch wenig darüber, wie nah die Zahl der bestätigten Infektionen den tatsächlich Infizierten kommt. Unzählige Menschen haben in den vergangenen Wochen vergeblich versucht, sich testen zu lassen, auch medizinisches Personal übrigens. Die Dunkelziffer der Corona-Infizierten ist hoch, wie hoch ist noch unklar. Das gibt Anlass zur Kritik. Deutschland solle die Testungen anders organisieren und vor allem mehr testen. Forschungsprojekte zum Beispiel im Kreis Heinsberg und in München sind angelaufen, um die Dunkelziffer besser eingrenzen zu können. Und auch die Weltgesundheitsorganisation sucht nach Antworten. Für mehr Klarheit fehlt uns derzeit noch das passende Messinstrument: ein Antikörper-Test.

Zur Zählweise der Todesfälle gibt es ebenfalls viele Fragen, denn jedes Land zählt augenscheinlich anders. Das schürt die Skepsis. In Italien werden Verstorbene nachträglich auf Covid-19 getestet, in Deutschland nicht. In Frankreich mahnen Altenheime an, dass die bei ihnen an Covid-19 verstorbenen Bewohner:innen auch in die Todesfallstatistik aufgenommen werden müssen. Und auch in den USA zweifeln die Menschen an der Todesstatistik.

In Deutschland gehen wir bisher davon aus, dass alle an Covid-19 Verstorbenen gezählt werden. Aber die Einschätzung der Bestatter-Innung deutete es schon an: So ganz genau stimmen die Zahlen auch hier nicht.

In einem Artikel in der Neuen Rottweiler Zeitung steht: „Unter der Hand ist von Bestattern im Landkreis allerdings auch Kritik zu hören: Die Zahl der laut Totenschein an Lungenentzündung Verstorbenen sei stark angestiegen. Diese seien dann aber nicht auf Corona getestet worden, was für die Bestatter durchaus eine Gefahr bedeuten könnte.“

Der Präsident des Robert Koch-Instituts, Lothar Wieler, hält diese Zweifel offenbar auch für berechtigt. Bei einer Pressekonferenz am 3. April sagte er: „Die Todesfälle werden sogar unterschätzt. Es sterben wahrscheinlich sogar mehr Menschen an Covid, als gemeldet werden.“

Diese Unsicherheiten über die Todesursache sind in Deutschland schon länger Thema, nicht erst seit Covid-19.

Wie der Tod in Deutschland gezählt wird

Wenn ein Mensch stirbt, muss ein Arzt oder eine Ärztin den Tod feststellen. Das dokumentieren sie mit dem sogenannten Totenschein. Dabei müssen Ärzt:innen ankreuzen, ob der Tod eine natürliche Ursache hat und ob die Ursache ungeklärt ist. Für Ärzt:innen ist die Feststellung der Todesursache jedoch oft gar nicht leicht. Sie sind auf die Angaben der Angehörigen oder der Ersthelfer:innen angewiesen und auf Dokumente zur Krankengeschichte. Eigentlich müssten sie posthum eine Diagnostik vornehmen. Oft kommen auch mehrere Ursachen für den Tod in Frage – am Ende stimmt Herzstillstand immer. Im Wikipedia-Eintrag zu Totenschein steht: „… häufig unerkannt bleiben zum Beispiel Infektionskrankheiten.“

Die Wahrscheinlichkeit, dass nicht die „wahre“ Todesursache auf dem Totenschein steht, ist also gar nicht mal gering. Die Folgen von falsch diagnostizierten Todesursachen beschreibt dieser Text anschaulich.

Die Zahlen sollen uns helfen, die Pandemie besser zu verstehen

Trotzdem gibt es Zahlen, auf die wir uns nun mal verlassen müssen, weil wir keine anderen haben. Und wir brauchen sie auch für die Einschätzung, wie gefährlich die Krankheit Covid-19 wirklich ist.

Unterscheiden muss man zwischen der Sterberate bezogen auf die bestätigten Fälle und der Sterberate bezogen auf die Einwohnerzahl. Erstere wird uns ständig präsentiert, obwohl sie schlechter Vergleiche zwischen den Ländern zulässt. Denn die Zahl der Tests und die Methode der Testung führt dabei zu Verzerrungen, die einen Vergleich sehr schwer machen.

Diese Grafik zeigt, wie die Todesrate bei Covid-19 in Bezug auf die bestätigten Infektionen im Ländervergleich aussieht. Diese Zahlen lassen sich auch mit den Angaben zur Grippe vergleichen. Bei einer normalen saisonalen Grippe geht man in Deutschland von einer Sterberate von 0,1 bis 0,2 Prozent der Infizierten aus. Die Zahl der Infizierten und der Toten wird bei der saisonalen Grippe geschätzt. Vergleicht man diese Sterberate mit der von Covid-19, so ist Covid-19 in Deutschland im Moment circa 10- bis 18-mal tödlicher. Tendenz steigend, wie gehört.

Die Johns-Hopkins-Universität gibt dazu auch die Sterberate bezogen auf die Einwohnerzahl an – und zwar pro 100.000. Diese Sterberate gibt mehr Hinweise darauf, welchen Effekt zum Beispiel der Zustand des Gesundheitssystems auf die Sterberate hat. Oder wie sich Unterschiede in den Maßnahmen auf die Tödlichkeit des Virus auswirken. Das heißt aber auch, dass die Zahlen viel mehr Unsicherheiten enthalten, weil viele Faktoren Einfluss auf die Sterblichkeit nehmen. Bei dieser Darstellung lassen sich Sterberaten zwischen den Ländern besser vergleichen, weil die Verzerrung durch die unterschiedlichen Testregimes weniger stark ins Gewicht fällt. Demnach versterben im Moment von 100.000 Einwohnern fast zwei Menschen an Covid-19. An der Grippe versterben bei dieser Darstellung zum Vergleich circa 0,5 bis 1,5 Menschen (Zahlengrundlage 2016/2017, Quelle).

Wie schlimm eine Pandemie ist, lässt sich nicht allein mit der Zahl der Tödlichkeit des Virus definieren

Nicht zuletzt, weil uns die Kontakteinschränkungen viel abverlangen, sind eindeutige Zahlen zur Tödlichkeit des Virus gefragt. Die Einschränkungen belasten uns nicht nur psychisch und als Gesellschaft, sie treffen uns auch wirtschaftlich. Jetzt schon gehen Existenzen daran zugrunde, es werden noch mehr werden. Auch das kann Menschenleben kosten.

Wer beurteilen will, wie viele Menschenleben diese Epidemie wirklich kosten wird, steht vor einer unlösbaren Aufgabe. Denn streng genommen müssen Todesfälle berücksichtigt werden, die nicht direkt mit dem Coronavirus zusammenhängen: Alle Menschen, die jetzt nicht an einer Komplikation bei einer geplanten Operation sterben. Und alle Menschen, die jetzt sterben, weil ihre Operation verschoben wurde. Alle Menschen, die so sehr von Ängsten gequält werden, dass sie den Lebensmut verlieren und alle, die medizinisch nicht mehr so versorgt werden, wie es vor der Krise der Fall war. Jeder Schaden, der durch das Virus entsteht, gehört streng genommen dazu. Aber welchen Effekt die Umstrukturierung des Gesundheitswesens hat, um es auf den wahrscheinlichen Ansturm an Covid-Patient:innen vorzubereiten, werden wir wohl nie herausfinden.

Das Statistische Bundesamt schreibt in dem oben verlinkten Text: „In der Sterbefallstatistik wären die Auswirkungen der Corona-Krise vermutlich erst deutlich nach der saisonalen Grippe erkennbar. Das heißt: Falls ab Mitte April die Zahl der Corona-Toten zunimmt, kann man dies auch in der Sterbefallstatistik an den tagesgenauen Zahlen ablesen.“

Diese sogenannte Übersterblichkeit – die erhöhte Zahl an Sterbefällen also – lässt sich in Echtzeit gar nicht ermitteln. Sie ist deshalb auch kein guter Maßstab, um die Gefährlichkeit dieser Pandemie jetzt zu beurteilen.

Dafür müssen wir auf das zurückgreifen, was wir über Pandemien und ihre typischen Verläufe wissen. Pandemien verlaufen in Phasen. In Deutschland lässt sich schon länger nicht mehr jeder Ansteckungsweg nachverfolgen und die möglicherweise Infizierten isolieren. Den Satz „Flatten the Curve“ hat man jetzt schon zigmal gehört: Da bei einem ungebremsten Ansteckungsverlauf eine exponentielle Entwicklung zu erwarten ist, würde innerhalb kürzester Zeit das Gesundheitswesen zusammenbrechen. Allein deshalb würden viele Menschen sterben.

Wie schlimm eine Pandemie ist, lässt sich also nicht allein mit der Zahl der Tödlichkeit des Virus definieren, dafür muss auch der Grad an Überforderung des Gesundheitswesens mit einbezogen werden. Also, wie viel Personal, wie viele Betten, wie viel Material steht bereit für den Ansturm? Wir wissen: Je schlechter ein Gesundheitswesen mit all dem ausgestattet ist, desto mehr Menschen werden sterben, solange es keine Impfung oder heilende Therapie gibt. Wir lernen das auf die harte Tour durch das Beispiel Italiens.

Deshalb greift die Betrachtung der Todeszahlen allein zu kurz.

Die Wirtschaft nähme übrigens auch großen Schaden, wenn das Virus ungebremst durch die Bevölkerung raste. Denn wir wissen: Circa 15 Prozent der an Covid-19 Erkrankten müssen ins Krankenhaus. Und ein großer Prozentsatz der Erkrankten wird darüber hinaus so krank sein, dass wochenlang an normale Arbeitsabläufe nicht zu denken wäre, selbst wenn sie zu Hause bleiben können.

Bei dieser Pandemie geht es also nicht darum, den gesundheitlichen Schaden gegen den wirtschaftlichen aufzurechnen. Wir müssen beides zusammen denken.


Korrektur. In einer früheren Version stand: „Zum Vergleich: Für eine normale saisonale Grippe geht man von einer Sterberate von 0,1 bis 0,2 Prozent aus. Vergleicht man die Sterberaten miteinander, so ist Covid-19 im Moment fast 20 mal tödlicher. Tendenz steigend, wie gehört.“

Redaktion: Theresa Bäuerlein; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Martin Gommel