Neu im Kino/Filmkritik: „Gegen den Strom“, für die Umwelt

Dezember 16, 2018

Auf den ersten Blick ist Halla die freundliche, alleinstehende Nachbarin von nebenan. Eine Frau in den Fünfzigern, die sich in ihrem Leben eingerichtet hat und keine Wünsche hat. Einen vor Ewigkeiten ausgefüllten Adoptionsantrag hat sie schon lange vergessen. Dafür leitet sie den Chor mit unerschütterlichem Engagement und fast schon penetranter Fröhlichkeit.

Aber seitdem die lokale Aluminiumindustrie expandiert und ausländische Investoren zunehmend wichtiger werden, führt sie ein zweites Leben als Ökoterroristin. Als „Woman of the Mountain“ sabotiert sie mit gezielten Anschlägen das Stromnetz. So will sie die aus dem Ausland kommende Investition verhindern. Bei ihrem letzten Anschlag wäre sie im menschenleeren isländischen Hochland fast von der Polizei erwischt worden.

Danach intensiviert die Polizei ihre Fahndungsmaßnahmen und die Zahl der Verdächtigen ist in Island überschaubar.

Aber Halla denkt nicht daran aufzugeben.

Nachdem Benedikt Erlingsson über sein Spielfilmdebüt „Von Menschen und Pferden“ gesagt wurde, das sei ein richtiger Festivalfilm, also ein Film, der auf Festivals abgefeiert wird, gute Kritiken und Preise erhält und an der Kinokasse floppt, wollte er mit seinem neuen Film „Gegen den Strom“ einen richtigen Thriller drehen, der sich an ein breites Publikum richtet.

Das ist ihm gelungen.

Er erzählt eine richtige Thrillergeschichte, Halla muss auf der Flucht vor der Polizei durch die menschenleere Landschaft immer wieder improvisieren (auch weil ihre Fluchtpläne zwischen ‚extrem dilettantisch‘ und ’nicht vorhanden‘ schwanken) und es geht um den klassischen Kampf Davids gegen Goliath, wobei Goliath hier ein internationaler Konzern ist.

Gegen den Strom“ ist aber mehr. Nicht etwa, weil Island immer noch eine ziemlich unverbrauchter Kinolandschaft ist oder weil der Thriller auch das Porträt einer Mittfünfzigerin ist. Nichts spricht gegen schöne Landschaftsaufnahmen und alles spricht für klar gezeichneten, dreidimensionalen Charakter. Jeder Charakter in einer Geschichte sollte dreidimensional sein.

Erlingssons Erzählhaltung verleiht seinem Film die besondere Note, die aus einem realistischen Thriller auch ein mild surreales Stück machen. So sind die Musiker, die den Soundtrack abliefern, als ein für die handelnden Charaktere unsichtbarer Chor immer im Bild. Als Zuschauer akzeptiert man sie sofort als ein Teil des Bildes, ohne aus der Geschichte herausgerissen zu werden.

Als Running Gag gibt es einen Inselbesucher, der zuverlässig bei jeder Begegnung mit der Polizei von ihnen drangsaliert wird, während die Umweltterroristin, mit einigen Helfern, gut gelaunt ihre destruktive Tätigkeit gegen Sachen weiter verfolgt. Schließlich ist sie keine Predigerin, sondern eine Frau der Tat. Grandios verkörpert von Halldóra Geirharðsdóttir, die Halla und ihre Zwillingsschwester Asa spielt.

Gegen den Strom (Kona fer í stríð, Island/Frankreich/Ukraine 2018)

Regie: Benedikt Erlingsson

Drehbuch: Ólafur Egilsson, Benedikt Erlingsson

mit Halldóra Geirharðsdóttir, Jóhann Sigurðarson, Juan Camillo Roman Estrada, Jörundur Ragnarsson

Länge: 101 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Moviepilot über „Gegen den Strom“

Metacritic über „Gegen den Strom“

Rotten Tomatoes über „Gegen den Strom“

Wikipedia über „Gegen den Strom“ (deutsch, englisch)