Die wundersame Wunderkammer.

6. Januar 2024

Wir gingen volle fünf Kilometer zu Fuß durch die Dunkelheit und den heftigen Sommerregen und trafen eine Stunde vor Mitternacht fast erschöpft von Ungemach, Strapazen und Schrecken im Wirtshaus “Zum Naturalisten” im Städtchen Hirschhorn ein. Die Nacht werde ich nie vergessen.

Der Wirt war reich und konnte es sich leisten, mürrisch und ungefällig zu sein; es passte ihm ganz und gar nicht, dass er aus seinem warmen Bett herausmusste, um uns sein Haus zu öffnen. Aber dann standen seine Leute doch auf und kochten uns rasch ein Abendessen, und wir selber brauten uns einen heißen Punsch, um die Schwindsucht auf Abstand zu halten.

Der mürrische und ungefällige Herr, das ist der Mann da oben im Bild, Carl Langbein. Beschrieben von Mark Twain, der sich offenbar einen etwas herzlicheren Empfang gewünscht hätte, als er durchnässt kurz vor Null Uhr im “Naturalisten” ankommt, irgendwann im Jahr 1878. Nach Abendessen und Punsch geht es dann endlich ins Bett, und es wird eine denkwürdige Nacht.

Das Gasthaus “Zum Naturalisten” trug seinen Namen mit gutem Grund: Alle Gänge und Zimmer wurden von großen Glasschränken gesäumt, die mit allen nur erdenklichen, geschickt ausgestopften und in der natürlichsten und beredetsten und dramatischsten Haltung aufgestellten, glasäugigen Vögeln und Tieren angefüllt waren. Kaum lagen wir zu Bett, verzog sich der Regen, und der Mond kam heraus. Ich schlief allmählich über der Betrachtung einer großen ausgestopften weißen Eule ein, die von hohem Ansitz angestrengt zu mir herunterblickte, und zwar mit der Miene eines Menschen, der mir schon einmal begegnet zu sein glaubt, aber nicht ganz sicher ist.

To cut a long story short: Mark Twain schläft extrem schlecht in dieser Nacht im Hirschhorner Hotel, seinem Begleiter geht es nicht anders, Aug in Auge mit einer ausgestopften Katze mit funkelnden Augen. Den Wirt Carl Langbein behalten sie in vergleichsweise schlechter Erinnerung. Nachlesen kann man das alles, äußerst vergnüglich, in Mark Twains “Bummel durch Europa”, er lässt da an der Region nur wenig gute Haare.

Carl Langbein mag mürrisch und ungefällig gewesen sein, zumindest in dieser Nacht, heute aber ist ihm ein ganzes Museum in Hirschhorn gewidmet. Oder besser gesagt: seiner Sammlung. Langbein hat gesammelt, was nicht niet- und nagelfest war, alles durcheinander, ohne irgendeine Systematik. Was nicht bei Drei auf den Bäumen war, wurde gesammelt und in Glasschränke gelegt, an die Wand gehängt oder irgendwo abgestellt. Antikes Zeugs, Steine, Waffen, Gemälde, Rüstungen, Möbel, Geweihe, Ankerketten, Schiffskram, Werkzeuge, Religiöses, Zeichnungen – einfach alles. Drölfzehnhundert Tiere hat er außerdem ausgestopft, er muß da ein gewisser Meister seines Fachs gewesen sein, und seine riesige Sammlung ausgestopfter Vögel mag Mark Twain um den Schlaf gebracht haben, macht aber, wie ich höre, selbst das berühmte Senckenberg-Museum in Frankfurt neidisch.

Die wundersame, skurrile und kuriose Sammlung ist zu bewundern im Carl-Langbein-Museum in Hirschhorn, und weil die Ausstellungsmacher selber nicht wirklich eine Systematik bei olle Carles Sammelleidenschaft entdecken konnten, auch nach monatelangen angestrengten Studien nicht, entschlossen sie sich, das Ganze als eine Art Wunderkammer zu präsentieren. So sind die Räume herrlich vollgestopft mit den verschiedensten Objekten, staunend schlendert man da durch, entdeckt ununterbrochen Neues, rätselt hier, staunt da, geht zurück, entdeckt wieder was Neues, und wieder und wieder. Nein!! Schau mal, hier!! und Ach, Du liebe Zeit, was ist DAS?? Ich wette, man könnte das Museum zehnmal hintereinander besuchen und würde immer noch Neues entdecken.

Wer es ganz genau wissen will (und mehrere Stunden Zeit hat), lässt sich vom Audio-Guide durch die Sammlung führen, es gibt auch eine Version, die Kinder eingesprochen haben. Überhaupt stelle ich mir vor, man ginge mit neugierigen Kindern in das Museum, vermutlich müsste man sie nach vier Stunden unter Androhung erziehungsberechtigter Gewalt da herauszerren, so viel gibt es zu entdecken.

So undurchschaubar wie die nicht vorhandene Systematik in Carl Langbeins Sammlerwut, so undurchschaubar leider auch die Öffnungszeiten des Museums. Wer hinwill, sollte vorher tunlichst bei der Hirschhorner Tourist-Information anrufen und sich die Zeiten sagen lassen. Es gibt gleich mehrere, verschiedene Angaben im Internet, die alle mal stimmen und dann doch wieder nicht. Nur, wenn Sie also die Abenteuerlust eines Mark Twain haben, fahren Sie einfach auf gut Glück los.

  • 2 Kommentare
  • Gabriela 6. Januar 2024

    …eine Wunderkammer in Hirschhorn – wer hätte das gedacht. Danke für den Tip!
    Schöne Grüße, Gabriela

  • C Stern 6. Januar 2024

    Es wäre mir im Gasthaus “Zum Naturalisten” wohl genau so ergangen wie dem bedauernswerten Mark Twain, ich fühle mich ganz und gar nicht gerne beobachtet – und schon gar nicht des Nachts.
    Sammlungen finde ich durchaus interessant – bevorzugt dokumentiert, wie dies eben in Museen der Fall ist. Insofern kann ich mir sehr gut vorstellen, dass die Wunderkammer ihre Aufmerksamkeit bekommt.
    Von eigenen Sammlungen löse ich mich mehr und mehr – nach dem Motto: Mehr Luft für meine Kästen und Regale. Wundersames befindet sich darunter ohnedies wohl kaum.
    Liebe Grüße!

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