Hallo, ich bin niemand.
Mein Name: vergessen. (Man hat mich schon lange nicht mehr bei meinem Namen gerufen.)
Meine Identität: unauffindbar. (Wer ich mal war, bin ich nicht mehr.)
Mein Besitz: überschaubar. (Eine zerknitterte Plastiktasche voll gesammelter Kleinigkeiten, ein Stück Pappe als Matratze, eine leere Flasche.)
Ächzend verlagere ich mein Gewicht von einem geschundenen Knie auf das andere und hebe leicht den bettelnden Blick. Sie sehen mich nicht—nein!—sie übersehen mich. Ich bin unsichtbar für sie. Manchmal zweifle ich selbst daran, ob es mich überhaupt noch gibt. Keiner redet mit mir, keiner hilft mir, keiner gibt mir etwas ab. Meine ausgestreckten rauen Hände bleiben leer. Müde betrachte ich die Schorfwunden und Flohbisse.
Ungeachtet meiner Existenz stolzieren sie an mir vorbei. Sie alle sind jemand. Manche schauen entschuldigend in meine Richtung, doch von mitleidvollen Blicken werde ich nicht satt. Graue Tage ziehen sich schmerzvoll in die Länge.
Ich könnte hier sterben und sie würden nur naserümpfend über meine Leiche hinweg steigen. Ich bin der Dreck unter ihren Schuhsohlen. Nur ein ausgespuckter Kaugummi auf Asphalt. Trete bloß nicht drauf! Doch ich hinterlasse nur selten Spuren. Ein wütender Ladenbesitzer kommt mit wedelnden Handbewegungen näher, verscheucht mich unter wüsten Beschimpfungen.
Ich husche in den dunklen Gassen an lauter Jemands vorbei. Bin nur ein Schatten mit strengen Geruch. Alkohol ist ein falscher Freund. Dennoch bleibe ich ihm treu. Enttäuscht drehe ich die leere Flasche zwischen meinen Händen und kehre zurück an meinen Stammplatz, lege die Pappe auf den schmutzigen Bürgersteig und setze mich im Schneidersitz hin.
Ein kleines Mädchen blickt in meine Richtung. Ohne Abscheu, Ekel oder Mitleid; reine Neugierde liegt in ihren strahlenden Augen. Ich hebe überrascht die Hand und winke ihr zu, deute sogar ein Lächeln an. Ihre Mutter zerrt sie verärgert weiter und wirft mir den gewohnten missbehaglichen Blick zu. Beschämt blicke ich zu Boden und verkrieche mich in der leeren Hülle meiner Selbst. Ich bin niemand und werde es wohl auch bleiben. Für einen kurzen Moment hat mir das Mädchen Hoffnung gemacht, ich könnte doch jemand sein.
Geschrieben für @blitzgeschichten
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