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Eine praktische Disziplin?

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Unpraktische Pädagogik

Part of the book series: Rekonstruktive Bildungsforschung ((REKONBILD,volume 34))

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Zusammenfassung

Dieses Kapitel widmet sich dem erziehungswissenschaftlichen Theorie-Praxis-Problem. Dieses wird eng geführt, indem die Untersuchung sich auf das Theorie-Praxis-Problem des erziehungswissenschaftlichen Lehramtsstudiums beschränkt. Zunächst werden dazu einige allgemeine bildungssoziologische Überlegungen zu Sinn und Funktion des Studiums in der modernen Gesellschaft vorgestellt. Diese Darstellung mündet in der These, dass Praxisansprüche ein allgemeines Syndrom des Studierens sind und als eine Art gesellschaftlicher „Gegendruck“ verstanden werden können, der sich gegen die gesellschaftliche Aufwertung der durch das Studium und den Studienabschluss gewährten Privilegien richtet. Typischerweise wird dieser Gegendruck bearbeitet, indem er mit „Imagerien“ (Wernet im Anschluss an Adorno) besänftigt wird. Die Spezifik der Erziehungswissenschaft liegt darin, dass auf ihr vielleicht ein besonders schwerer Praxisdruck lastet und dass sie die „Imagerien“ seiner positiven Bearbeitung tief in ihr disziplinäres Selbstbild und ihre disziplinäre Praxis eingelassen sind. Drei dominante Muster dieser Bearbeitung werden am Ende des Kapitels im Sinne einer Typologie vorgestellt.

Bei den Geistes- und Naturwissenschaften sind die üblichen Berufsmöglichkeiten – Lehrtätigkeit, Forschung und einige unbestimmte Karrieren – anderer Art. Der Student, der sie wählt, sagt der kindlichen Welt nicht Lebewohl: er ist vielmehr bestrebt, in ihr zu verharren. Ist das Lehramt nicht das einzige Mittel, das es den Erwachsenen erlaubt, in der Schule zu bleiben? Der Student der Geistes- oder Naturwissenschaften zeichnet sich durch eine Art Weigerung gegenüber den Anforderungen der Gruppe aus. Eine fast klösterliche Reaktion drängt ihn, sich kürzere oder längere Zeit in das Studium […] zu versenken […].

(Lévi-Strauss 1955, S. 47)

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Notes

  1. 1.

    Ecarius et al. 2010, S. 96–105, Fend selbst hat zumindest seine erste „Theorie“ der Schule noch explizit auch als Theorie der „Hochschule“ verstanden.

  2. 2.

    In den 50er Jahren studierten noch etwa 5 % einer Kohorte. Seit den 2010er Jahren hat das stetige Wachstum der Studienanfängerquote in Deutschland stark abgenommen. Seitdem scheint sich eine Studienanfängerquote zwischen 50 und 60 % zu stabilisieren. Die USA liegen heute immer noch deutlich (ca. 20 %) vor Deutschland, wenn ein „sauberer“ Vergleich auch aufgrund der unterschiedlichen Bildungssysteme nicht möglich ist. Es geht mir hier nur um Tendenzen, dass die reinen Quoten für das Deutungsmuster der „Vermassung“ nicht entscheidend sind, werden wir später noch thematisieren. (vgl. auch Kollmer 2019, 44–47)

  3. 3.

    Vgl. Bildungsbericht 2018.

  4. 4.

    Betrachtet man etwa den in der deutschen Hochschulsozialisationsforschung dominanten Ansatz der Fachkulturforschung (vgl. zusammenfassend Kreitz 2000) werden diese Aspekte des Studiums hier weitestgehend ausgeblendet.

  5. 5.

    Matthies und Stock (2020) heben hervor, dass das Konzept eines Abschließens des Studiums in Form eines Bildungszertifikats in der vormodernen Universität nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat. Es ging, so die Autoren, einfach darum, eine möglichst lange Zeit an der Universität zu verbringen. Je länger man dort zubrachte, umso größer war der persönliche Statusgewinn.

  6. 6.

    Das eindrücklichste Beispiel hiervon gibt vielleicht der Fall des Privatdozenten, der als Opfer des „akademischen Hasards“ (Weber) nicht auf eine Professur berufen wird.

  7. 7.

    So zeigen Stock und Reisz (2013) eindrücklich, dass allen Schreckensszenarien von einer drohenden „Akademikerarbeitslosigkeit“ zum Trotz, etwas Derartiges in der Bundesrepublik statistisch nie eingetreten ist. Vielmehr habe der Arbeitsmarkt die gestiegenen Absolventenzahlen durch eine entsprechende Akademisierung vormals nicht-akademischer beruflicher Tätigkeitsfelder absorbiert.

  8. 8.

    Wahrscheinlich macht die Studierendenquote selbst gar keinen so großen Unterschied, da sie, wie Stock (2014) zeigt, auch schon zu Zeiten, als sie noch bei 5 % lag, von den Hochschulangehörigen gern skandalisiert und kulturpessimistisch zum Untergang des Abendlandes erklärt wurde. So klagt etwa Spranger: „Das ganze Elend kommt daher, dass wir den Elitegedanken verleugnet haben. Die Masse überflutet die Reiche des Geistes“ (zit. n. Stock 2014, S. 23).

  9. 9.

    Parsons selbst weist in diesem Zusammenhang auf Kafka, Lawrence und Proust hin, die diese Erfahrung literarisch verarbeitet haben.

  10. 10.

    Gerade in der Naturwissenschaft scheint es nicht unverbreitet, dass bestimmte Spezialisten weltweit nur mit einer Handvoll Experten überhaupt in einen sinnvollen Dialog über ihre Forschung treten können. Diese Spezialisten zwingt das Prinzip der Disziplinarität – so sie überhaupt an normalen Universitäten tätig sind –, Lehre in ihrem Fach anzubieten, die inhaltlich sehr weit entfernt von den Problemen ist, mit denen sie sich als Forscher beschäftigen.

  11. 11.

    Ein ähnliches Psychogramm des „enttäuschten Studenten“ skizziert auch schon Jaspers (1946): „Der Student kommt zur Universität, um Wissenschaften zu studieren und sich für einen Beruf vorzubereiten. Trotzdem Aufgabe und Situation scheinbar klar sind, ist der Student oft ratlos. […] Zwar studiert er ein Fach und denkt an einen Beruf, jedoch die Universität, ihm in ihrem ererbten Glanz erscheinend, repräsentiert das Ganze der Wissenschaften, und er hat Ehrfurcht vor diesem Ganzen; er erwartet von diesem etwas zu spüren und durch dieses Ganze eine begründete Weltanschauung zu finden. […] Die Erwartungen werden an der Universität selten erfüllt. Der erste Enthusiasmus hält nicht stand. Vielleicht war sich der Student nie recht klar, was er wollte und was er tat. Jedenfalls gerät er in Enttäuschung und dann in Verwirrung. Er gibt das eigentliche Streben auf und verrennt sich in Sackgassen: er lernt zum Examen und beurteilt alles nur danach, was es für das Examen bedeutet; die Studienzeit empfindet er als peinliche Übergangszeit zur Praxis, von der er nunmehr das Heil erwartet; er erklärt, er sei wohl zu dumm, verstehe das Wesentliche doch nicht und resigniere für einen Fachberuf; oder er übersteigert seinen früheren Enthusiasmus zu bloßer Schwärmerei, wird in der Arbeit fauler, will die Idee, das Ganze, das Tiefste direkt erfassen ohne die ihm widerwärtige Mühe, in der er nur Unwichtiges zu ergreifen meint; er hält das Lesen einiger schöner Bücher für wissenschaftliche Arbeit, und er verkehrt das Streben schließlich so sehr, daß er Erbaulichkeit statt Wissenschaftlichkeit sucht und das Katheder als Kanzel ansehen möchte.“ (Jaspers 1946, S. 38 ff.) Jaspers hat hierfür übrigens trotz des geradezu religiösen Optimismus‘, der sein Denken prägt, bemerkenswerterweise keinerlei „Lösungsstrategie“ bei der Hand. Er schließt die Ausführungen zur normalen Enttäuschung des Studenten mit der ernüchternden Bemerkung, dass „einzelne“ einen Weg aus dieser Krise fänden: „Den Einzelnen führt in glücklichen Fällen sein persönlicher Genius den rechten Weg, d. h. einen Weg, der in sich Entwicklung und Zielhaftigkeit hat.“ (Jaspers 1946, S. 40) Von den anderen, die dieser einzelne nicht sind, lesen wir weiter nichts.

  12. 12.

    Dass diese „Sehnsucht nach der Praxis“ durchaus nicht nur ein studentisches Phänomen darstellt, zeigt Kaldewey (2016), der das Narrativ als Bestandteil der „Identitätsarbeit der Sozialwissenschaften“ interpretiert.

  13. 13.

    “We are not suggesting mere improved ability to perform in labor terms rather improved performance within a pluralized societal community where action is structured in institutionalized individualistic terms” (Parsons/Platt 1973, S. 196).

  14. 14.

    Lepsius definiert den intellektuellen als inkompetenten, aber legitimen Kritiker. (vgl. Lepsius 1964)

  15. 15.

    Vgl. hierzu Durkheims Kritik des amerikanischen Pragmatismus. (Durkheim 1914, S. 121–152)

  16. 16.

    „Für das ausgehende 18. und 19. Jahrhundert ist es charakteristisch, daß das Gelehrtentum noch nicht auf einzelne Laufbahnen festgelegt war. Dieser Zustand ist nicht zuletzt für die Personalverhältnisse der Universitäten wichtig gewesen. Denn daraus ergab sich die Möglichkeit, zwischen Amt und freiem Beruf, Beamtenstellung und Professur etc. zu wechseln. Universitätslehrer, … aber auch Geistlicher, Jurist oder Arzt war man gewissermaßen erst in zweiter Linie. Im Vordergrund stand die Eigenschaft, Gelehrter zu sein, der sein Brot in verschiedenen Berufen fand und nicht der Tätigkeit intra muros der Universität bedurfte, um als solcher ausgewiesen zu sein. Der Status des Gelehrten war die Voraussetzung, um auf das Angebot der höheren Laufbahnen einzugehen, die der absolute Staat verfügbar gemacht hatte.“ (Busch 1959, S. 7 nach Schelsky 1963, S. 205)

  17. 17.

    Viele Untergangspredigten, die diese Realität für abgeschafft erklären, aktuell etwa von Stichweh (2008), Kühl (2010) und anderen in Bezug auf Bologna, aber auch schon von Schelsky (1963) und (teilweise) von Scheler (1926), haben insofern selbst einen ambivalenten Charakter: Sie negieren, dass es der nachwachsenden Generation noch möglich sei, jene Bildungserfahrung zu machen, die sie noch ausschöpfen konnten. Wenn auch im Modus des mitleidigen Bedauerns, schließen sie damit gewissermaßen der neuen Generation eine Tür und erklären sich selbst zu exklusiven Statthaltern der wahren Humboldt’schen Bildung.

  18. 18.

    So heißt es bei Stichweh: „Solange nur 1–5 % der Mitglieder eines Altersjahrgangs ein Universitätsstudium absolvieren (das trifft bis in das 20. Jahrhundert hinein zu), leuchtet es ein, dass man diese kleine Gruppe für einige Jahre aus dem gesellschaftlichen Normalleben herausnehmen kann. Es handelt sich sowieso um Studierende aus relativ privilegierten Familien, um deren Zukunft man sich vielleicht weniger Sorgen machen muss. Haben wir aber mit 20–70 % eines Altersjahrgangs zu tun, verändert sich die gesellschaftliche Einbettung der Universität drastisch.“ (Stichweh 2016, S. 1) Damit wird die These einerseits gestützt, insofern auch Stichweh das Bild vom Studium als Refugium zeichnet. Andererseits bestätigt er die Ambivalenz der gesellschaftlichen Umwelt. Ob dies so viel mit den quantitativen Verhältnissen zu tun hat, scheint nach Stock/Lenhardt (2009) fraglich. Vielmehr scheint diese „Paradoxie“ abermals auf einer Perspektivendifferenz zu beruhen: Interessiert man sich für humane Ressourcen und globalen Wettbewerb, ist die hohe Studierendenquote vielleicht bedenklicher als die niedrigere (,wenn man die Universität für marktwirtschaftlich nicht so ertragreich hält, was sie laut OECD ist), interessiert man sich für die gesellschaftlich ambivalente Haltung zum Studium, wird es sekundär, ob das gesellschaftliche Unbehagen sich auf eine kleine oder eine große Gruppe richtet.

  19. 19.

    Schelsky findet für diese merkwürdige Ambivalenz im Verhältnis von Bildung und Gesellschaft eine imposante sprachliche Ausdrucksform, indem er den Typus der geforderten „Gebildetheit“ in seiner Zwiegespaltenheit charakterisiert: „Es geht darum, einen hochrationalen, entemotionalisierten, seiner Gegenwart hingegebenen und zugleich Kräfte der Distanzierung in sich entwickelnden Menschentyp zu bilden, jene Mischung von rationaler Exaktheit und intuitiver Phantasie zu pflegen, die alle wesentliche geistige Produktion heute bestimmt, jene Grenzen der Erkenntnisweisen aufzuzeigen, denen gegenüber den Erkenntniswillen zu behaupten, heute ein Akt der Bildung ist, jene kritische Verhaftetheit und Verantwortung gegenüber der politischen und sozialen Welt zu erzeugen, die sich doch immer wieder in Kontemplation von den Handlungszwängen der sozialen Welt befreit. Es geht darum, einen Menschen zu bilden, der das Leiden der Bewußtheit an der Zeit auf sich nimmt.“ (Schelsky 1961, S. 80)

  20. 20.

    So auch Max Webers harscher Vergleich des amerikanischen Dozenten (den Weber als Vorbild für einen Dozententypus denkt, der sich lediglich an außerwissenschaftlichen Ausbildungszwecken orientiert) mit einer „Gemüseverkäuferin“.

  21. 21.

    Kaldewey bezeichnet die Praxisorientierung der Sozialwissenschaft zustimmend als „wesentliche Selbstbefriedigung.“ (2016, S 145)

  22. 22.

    Entsprechend empfiehlt auch Stichweh Zurückhaltung, wenn er auch selbst nicht von dem Narrativ lassen kann, dass es die Position, von der aus er spricht, eigentlich gar nicht mehr geben könne: „Die Universität wird zwangsläufig zum Dienstleistungsbetrieb, in den die Lernenden das Interesse an der Aufstufung ihres Humankapitals einbringen und in welchem sie die Lehrenden kritisch beobachten, ob diese dazu etwas beizutragen imstande sind. Auf der Seite der Lehrenden kann dies Rollendistanz, Ambivalenz gegenüber den Studierenden, Rückzug in die Wissenschaft und vergleichbare Reaktionsmuster erzeugen. Und gleichzeitig bilden sich all die Kontrollmechanismen heraus, die kaum einen Sinn machen würden, wenn wir nicht das „Ende der Gemeinschaft“ unterstellen würden: Qualitätskontrollen, Lernziele oder „learning outcomes“, didaktische Schulungen und vielfältige Evaluationen. Man muss an alle diese Dinge nicht glauben; aber als Wissenschaftler ist man vermutlich weiser, wenn man sie als Teil des immensen Laboratoriums der Moderne zu sehen lernt, in dem man selbst ein Teil der Versuchsanordnung ist, und wenn man zugleich für sich die Fähigkeit reklamiert, diese Umbrüche nicht nur von innen zu erleben, sondern sie auch von aussen zu beobachten.“ (Stichweh 2008, S. 3 f.)

  23. 23.

    Das statistische Bundesamt gibt diesen Wert bemerkenswerterweise selbst direkt mit an; in allen Fachrichtungen, in denen es relevant ist, wird unterschieden zwischen eingeschriebenen Studierenden insgesamt und denjenigen darunter mit Lehramtsbezug.

  24. 24.

    Terhart spricht bezogen auf die Bildungswissenschaften etwa vom „schmalsten Element der universitären Lehrerinnen- und Lehrerbildung“ (2012, S. 51), bezogen auf den erziehungswissenschaftlichen Anteil am bildungswissenschaftlichen Studium aber vom „allergrößten Teil der Lehr- und Prüfungsbelastung“ (Terhart 2018, S. 120).

  25. 25.

    Exemplarisch (Die bundesweiten Zahlen sind über das statistische Bundesamt nicht direkt zugänglich, unter anderem weil dort die „Geisteswissenschaften“ nicht weiter ausdifferenziert werden): An der Universität Hannover studieren knapp 12 % der Lehramtsstudierenden Germanistik im Erst- oder Zweitfach (womit Germanistik das am häufigsten gewählte Studienfach unter den Lehramtsstudierenden ist). (vgl. Zahlenspiegel 2019) Dabei macht das Fachstudium für ein Fach ungefähr 40 % seiner Creditpoints aus. Insgesamt betrüge der Anteil der Germanistik am Gesamt-Credit-Point-Volumen des Lehramtsstudiums in Hannover also knapp 5 % und damit etwa die Hälfte des Anteils der Erziehungswissenschaft. Dabei ist zu beachten: Der Anteil erziehungswissenschaftlicher Lehre im Lehramtsstudium ist in Hannover im Vergleich zu anderen Universitäten sehr niedrig und die Germanistik stellt schon das präsenteste Fach im Lehramtsstudium dar. Sehr grob überschlagen hat Erziehungswissenschaft im Vergleich zu den einzelnen Fachwissenschaften einen doppelt bis fünfmal so großen Anteil an der Lehrkapazität im Lehramtsstudium (in Credit-Points).

  26. 26.

    Vgl. Schwenk 1977; Horn 2003, S. 16; für einen Überblick: Meseth/Proske 2018, S. 22–26 und die dort angegebenen Referenzen.

  27. 27.

    So auch Kaldewey: „Ein distanzierter Blick auf das Phänomen der Praxissehnsucht legt somit eine Perspektivverschiebung nahe: Anstatt die vielbeschworene Praxis vorschnell mit dem Außen der Wissenschaft gleichzusetzen, gilt es nun sie als wissenschaftsinternes semantisches Artefakt zu begreifen, als Moment disziplinärer Selbstbeschreibung, als die Konstruktion des Anderen, welche in dem Identitätsnarrativ eine zentrale Rolle spielt. Dass es darüber hinaus eine reale Umwelt […] gibt, die mit dem sozialwissenschaftlichen Wissen konfrontiert ist und mit diesem etwas anfangen kann oder auch nicht, ist damit nicht ausgeschlossen, aber diese Umwelt ist eben nicht identisch mit der von den Sozialwissenschaftler/-innen in ihren jeweiligen Forschungszusammenhängen konstruierten oder imaginierten Praxis.“ (Kaldewey 2016, S. 145 f.)

  28. 28.

    Fast identisch auch Tippelt (2002, S. 50) oder Rothland (2020); aber auch schon Reusser (1982, S. 9).

  29. 29.

    Vgl. etwa auch Terhart, der (2007) in kritischer Abgrenzung zu Thesen Hatties, die wiederum von der OECD emphatisch aufgegriffen wurden, von „desillusionierenden Ergebnissen der Wirkungsforschung“ (Terhart 2007, S. 197) spricht, wobei er sich ausschließlich auf die Wirkungen der universitären Lehramtsausbildung in Bezug auf die „Lernerfolge“ der Schüler bezieht. Dieser Befund wird von ihm 2018 nochmal aufgefrischt: „Hinsichtlich der berufsqualifizierenden Wirksamkeit von Lehrerbildung insgesamt bzw. ihrer einzelnen Elemente herrscht in der entsprechenden Forschung weiterhin große Unsicherheit.“ (Terhart 2018, S. 121) Bekanntlich hatte Weinert 1989 ebenfalls desillusionierende Ergebnisse bezüglich der Wirkungsforschung im Hinblick auf den schulischen Unterricht resümiert, denen zufolge man „zu der zynischen Schlußfolgerung verleite[t werden könnte], daß fast jede der berücksichtigten Variablen in gewisser Hinsicht sowohl bedeutsam als auch unwichtig ist.“ (Weinert 1989, S. 2010 zit. n. Radtke 2003, S. 127)

  30. 30.

    So deutet sich schon bei W. Flitner durchaus an, dass es nicht nur darum gehen kann, die Handlungslehren der Praxis zu reproduzieren, sondern auf diese – in aller Vorsicht formuliert – zu „wirken“: „Das ist wesentlich für die ganze Methode der Erziehungswissenschaft. Die Quelle und die vorwissenschaftliche Gestalt ihrer Sätze sind die Erziehungslehren, die in den Praktiken gründen, und diese sind wieder bezogen auf die erziehenden Lebensformen, welche sich in den geschichtlichen Verhältnissen ausgebildet haben. Nur so lange kann diese Disziplin gedeihen, als ihr Erziehungslehren voraufgehen und sie darauf zurückwirkt.“ (W. Flitner 1958, S. 15)

  31. 31.

    E. Flitner zweifelt ebenfalls laut daran, ob „die überlieferte Entgegensetzung von „positiver Wissenschaft“ und „Pädagogik“ überhaupt in die systemtheoretische Unterscheidung von „Theorie“ und „Praxis“ übersetzbar sei. Vielleicht stelle sich heraus, daß „Pädagogik“ im Sinne der Geisteswissenschaft nicht die „Praxis“ ist, von der heutige Erziehungswissenschaftler sprechen und der sie ein Eigenrecht zugestehen […]. Wenn man „Pädagogik“ als Bezeichnung für Handlungslehren der Praxis von „Erziehungswissenschaft“ unterscheiden will, ist diese Pädagogik wohl nicht mehr dieselbe wie die Wissenschaft gleichen Namens der Geisteswissenschaftler.“ (E. Flitner 1991, S. 101) Dabei bezieht sie sich freilich auf die historischen Verhältnisse in der Weimarer Republik, nicht aussprechend, dass diese Deutung „vielleicht“ auch Relevanz für die gegenwärtigen Differenzierungen hätte.

  32. 32.

    So wie eine Lehrerin, die im informellen Gespräch über ihre Klasse sagt: „Manchmal könnte ich sie umbringen.“ nicht wirklich jemanden umbringen möchte.

  33. 33.

    Wobei das demjenigen, der so spricht, nicht abhalten wird, auch auf der universitären Bühne zu behaupten, er weise sich schon qua Sprache als „praxisrelevant“ aus.

  34. 34.

    Anders verhält es sich indes mit den klassischen Professionen: Ärzte, Juristen und Theologen können im Studium in eine Sprache eingeführt werden, die sie in ihrer späteren Berufspraxis tatsächlich sprechen werden.

  35. 35.

    Balzer und Bellmann bestätigen das Vorhandensein dieser Hierarchie-Problematik implizit, indem sie sie kritisieren. (vgl. dies. 2019)

  36. 36.

    So lauten die ersten Sätze der Einleitung: „Alle Welt redet von der notwendigen Qualitätssicherung im Unterricht – aber niemand sagt genau wie sie vonstatten gehen soll. Dabei sind wir seit knapp zehn Jahren nicht mehr auf bloße Mutmaßungen angewiesen. Die internationale und auch die deutschsprachige Unterrichtsforschung hat in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte gemacht. Wir können nun deutlich genauer als früher angeben, welche Merkmale von Unterrichtskultur das kognitiv-fachliche Lernen der Schülerinnen und Schüler fördern und umgekehrt, welche anderen Merkmale diese Lernprozesse stören.“ (Meyer 2004, S. 7)

  37. 37.

    Vgl. Rademacher/Wernet (2015), die ebenfalls eine (pseudo-)pädagogische Denkungsart rekonstruieren, für den sie das „Fehlen einer pädagogischen Ethik“ (S. 162) konstatieren.

  38. 38.

    Man erkennt an der pseudo-bescheidenen Selbstbezeichnung „Merkmale“ (wo „Kriterien“, „Prinzipien“, „Maximen“ stehen müsste) jenen Gestus der „heimlichen Normativität“, den wir bereits in der zweiten Fallrekonstruktion (Kapitel 6) thematisiert hatten. So kommt auch Vogels Anspielung auf die zehn Gebote nicht von ungefähr.

  39. 39.

    Gruschka (2007) ist eine solche Verteidigung der pädagogischen Tradition bzw. des pädagogischen Wissens gegen die „10 Merkmale guten Unterrichts“ zu verdanken, in der er die „Merkmale“ im Einzelnen dekonstruiert.

  40. 40.

    Im dem dokumentarischen Film Zwischen den Stühlen kritisiert ein Seminarleiter eine Referendarin nach einer Vorführstunde scharf für den vor ihr gehaltenen Unterricht und empfiehlt ihr nochmal in Meyers 10 Merkmale zu schauen. In Gruschkas (2007) Kritik an Meyer kritisiert ersterer implizit „die Adressierung an Lehramtsstudierende, die der Sache [Meyers Thesen] weder auf den Grund gehen wollen, noch ein Problem damit haben dürften, es nicht zu können“ (ebd., S. 28), und ignoriert damit auf geradezu unfaire Weise den Aspekt der Macht, der eine solche Adressierung in praktischen Ausbildungskontexten bedingt.

  41. 41.

    „Der Intellektuelle, der nur in aufblickender Verehrung die Schöpferkraft des Proletariats verkündigt und sein Genüge darin findet, sich ihm anzupassen und es zu verklären, übersieht, dass jedes Ausweichen vor theoretischer Anstrengung, die er in der Passivität seines Denkens sich erspart, sowie vor einem zeitweiligen Gegensatz zu den Massen, in den eigenes Denken ihn bringen könnte, diese Massen blinder und schwächer macht, als sie sein müssen.“ (Horkheimer 1937, S. 260) Noch schärfer wird diesbezüglich Schelsky: „Eine klassenkämpferische Sprachpolitik hat also ein Herrschaftsinteresse daran, daß es zwei »Sprachklassen« gibt, oder deutlicher: daß es eine politische Sprache gibt, über die nur die herrschende Klasse verfügt und der sich derjenige einfügen muß, der mitherrschen will, und daß die »Beherrschten«, die breiten arbeitenden Schichten des Volkes, in ihrer politisch ohnmächtigen Sprache gehalten werden. Daß dies mit dem vermeintlich arbeiterfreundlichen Argument geschieht, man wolle und solle die unmittelbare volkstümliche Sprache der arbeitenden Menschen nicht vergewaltigen, sie in den Schulen zu ihrem Recht kommen lassen und begünstigen […], gehört zu dem Tarnungsprozeß der Herrschaftsabsicht vor den Beherrschten und den idealistisch-selbstbetrügerischen Mitläufern. Schon der Nationalsozialismus hat das»Volkstum« als Herrschaftsmittel zur Entmodernisierung und damit Entmündigung breiter Volksschichten benutzt.“ (Schelsky 1975, S. 237)

  42. 42.

    Dies war eben der Sinn von Webers Differenzierung in der empirischen sozialwissenschaftlichen Forschung auf Normen als „seiende“ oder als „gültige“ zu referieren. Erziehungswissenschaft muss diskursiv auf die normativen Aspekte der Lehrerbildung als „seiende“ zugreifen, sie „muss“ aber ebenso praktisch dieselben normativen Aspekte als „gültige“ anerkennen: Sie kann – banalerweise – nicht einfach die Lehramtsstudierenden von ihren Lehrveranstaltungen ausschließen.

  43. 43.

    Wo das Wissenschaftsverständnis eine Evaluation der untersuchten Praxis miteinschließt (oder sich sogar in dieser erschöpft(!)), folgt daraus auch, dass der Lehrerbildungsforscher den Lehrerbildungspraktiker evaluiert: „Um Schule und Unterricht zu verstehen, reicht es nicht aus, Schul- und Unterrichtsforschung zu betreiben – auch die Lehrerinnen und Lehrer und ihre Ausbildung müssen sich einer wissenschaftlichen Prüfung unterziehen.“ (Cramer 2012, S. 11)

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König, H. (2021). Eine praktische Disziplin?. In: Unpraktische Pädagogik. Rekonstruktive Bildungsforschung, vol 34. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-33217-4_7

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