Die ethologische Bindungstheorie gilt derzeit als das Konzept, das die sozial-emotionale bzw. Selbst- und Persönlichkeitsentwicklung am umfänglichsten beschreibt und erforscht. Kern ist die zentrale Bedeutung stabiler Bindungsbeziehungen für eine gelingende Entwicklung von kleinen Kindern bzw. die massiven psychischen Belastungen, wie sie mit einer Trennung von der Bindungsperson einhergehen.

1 Entwicklungspsychobiologische Grundlagen

Bindung ist abgesichert in der Stammesgeschichte und sichert das Überleben des menschlichen Säuglings. Säuglinge binden sich an diejenigen Menschen, bei denen das Kind Schutz sucht, wenn es verunsichert ist, Angst hat oder belastet ist, und an die es sich wendet, um getröstet zu werden. Ein „mitgebrachtes“ intuitives Verhaltensrepertoire stellt sicher, dass das Kind aktiv über Signale von Hilflosigkeit und tiefem Vertrauen Fürsorgeverhalten bei Bezugspersonen auslöst. Es handelt sich um einen psychobiologischen Mechanismus, der mit innerer Erregung einhergeht, die erst im Kontakt mit einer Bindungsperson wieder abklingt. Dies lässt sich an der Stressreaktivität etwa des neuroendokrinen Systems (HPA-Achse) oder des autonomen Nervensystems (ANS) ablesen (Anstieg Cortisol/Anstieg Herzrate/Absinken parasympathischer Aktivität). Erst im Kontakt mit einer Bindungsperson klingt diese innere Erregung wieder ab (Absinken Cortisol/Absinken Herzrate/Anstieg parasympathischer Aktivität). Psychologisch interpretiert bedeutet dies, dass Bindung bzw. Nähe zur Bindungsperson Angst reduziert. Im Verlauf entwickeln kleine Kinder in dieser psychobiologischen Bindungsbeziehung zunehmend Kompetenzen, die Intensität ihrer Gefühle und Impulse zu regulieren.

Wichtig festzuhalten ist, dass diese psychobiologische Regulation daran geknüpft ist, dass das Kind eine Bindung mit einer engen Bezugsperson etabliert hat. Fremde bzw. nicht vertraute Menschen können ein Kind in seiner Stressregulation nicht unterstützen, auch wenn sie es trösten.

Säuglinge und Kleinkinder binden sich im Verlauf des ersten Lebensjahres an diejenigen Menschen, die sich um sie kümmern und die sie versorgen. Dies sind gewöhnlich die Eltern, aber auch Großeltern, Pflegeeltern oder gegebenenfalls auch Erzieheinnen oder Erzieher. Es ist mittlerweile gut belegt, dass Kinder enge Bindungen zu mehr als einer Bezugsperson eingehen und dass diese Bindungen unabhängig davon entstehen, ob die Bindungspersonen die leibliche Mutter bzw. der leibliche Vater sind. Das Bedürfnis, sich zu binden, ist sehr stark. Dies und die psychobiologisch bedingte Angewiesenheit auf Nähe und Kontakt zu einer Bindungsperson bedeutet umgekehrt, dass Trennungen von der Bindungsperson mit massiven psychischen Belastungen einhergehen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn eine Trennung abrupt stattfindet und/oder keine alternative Bindungsperson zur Verfügung steht. Bereits Bowlby beschrieb in den Anfängen der Bindungstheorie zusammen mit James und Joyce Robertson die Reaktionen von Furcht, heftigem und ärgerlichem Protest sowie folgenden Reaktionen von Trauer und Verzweiflung, die kleine Kinder insbesondere bei abrupten Trennungen zeigten, und interpretierte sie als Phasen der Ablösung von der Bindungsperson. Er konzipierte solche Kummer- und Trauerreaktionen aufgrund ihrer biologischen bzw. evolutionären Verankerung als universell und bei allen Kindern als „unausweichlich“.

Mit der Stärke des Bindungsbedürfnisses lässt sich schließlich auch begründen, dass sich Kinder selbst an diejenigen Menschen binden, die sie misshandeln oder vernachlässigen. Umgekehrt bedeutet dies, dass ein extrem deprivierender Beziehungskontext vorliegen muss, wenn es Kindern nicht gelingt, sich an eine Bezugsperson zu binden. Dies kann etwa bei häufigem Wechsel von Bezugspersonen der Fall sein, etwa nach einer Herausnahme des Kindes und wiederholtem Wechsel der Unterbringung oder wenn Säuglingen und Kleinkindern in Einrichtungen keine exklusive Bezugsperson zur Verfügung steht.

2 Individuelle Unterschiede in der Qualität von Bindung

Wichtig ist, das universell biologisch angelegte Bedürfnis, sich zu binden, von der Qualität von Bindungen zu unterscheiden, wie sie sich bei Kindern individuell unterschiedlich in verschiedenen Beziehungs- und Lebenskontexten von Familien entwickeln. Dabei gehört sogenanntes feinfühliges elterliches Verhalten zum wesentlichen Kern von Kompetenzen und Betreuungsanforderungen, die für eine gelingende Entwicklung von Kindern unentbehrlich sind. Es geht darum, den Schutz eines Kindes sicherzustellen. Hinzu kommt die zuverlässige und kontinuierliche Unterstützung seiner physiologischen, emotionalen und seiner Verhaltensregulation im Alltag. Dies bezieht insbesondere emotionale Wärme im Umgang mit dem Kind ein. So verstandenes feinfühliges Verhalten bedeutet, dass die Bindungsperson intuitiv in der Lage ist, die Bedürfnisse und Signale des Kindes wahrzunehmen und zu „lesen“ sowie adäquat und prompt darauf zu reagieren. Im alltäglichen Umgang unterstützt feinfühliges Verhalten Säuglinge und Kleinkinder bei der Regulation von negativen physiologischen und emotionalen Zuständen. Eine so verstandene (emotional) verlässliche und kontinuierliche regulative Unterstützung geht gewöhnlich mit der Entwicklung einer sogenannten sicheren Bindung einher.

Die Entwicklungsvorteile sicherer Bindung sind hinlänglich und umfassend belegt. Demgegenüber stehen die beiden Typen unsicherer Bindung (unsicher-vermeidende und unsicher-ambivalente Bindung) in empirischem Zusammenhang mit eingeschränktem feinfühligem Verhalten von Eltern. Dabei lässt sich unsicher-vermeidende Bindung überwiegend in einem emotional zurückweisenden Beziehungskontext finden und unsicher-ambivalente Bindung im Zusammenhang mit einem emotional inkonsistenten, für das Kind situativ nicht vorhersehbaren Beziehungskontext.

Unsichere Bindung wird häufig missverständlich klinisch interpretiert. Dies entspricht nicht der Befundlage. Vielmehr sind unsichere Bindungen ebenso wie auch sichere Bindungen (Anpassungs-) Strategien von kleinen Kindern, wie sie sich im Umgang mit Belastung und emotionaler Verunsicherung in organisierter Weise auf mehr oder weniger zuverlässige und feinfühlige Bindungspersonen beziehen (können). Sie sind normale Entwicklungsvarianten und nicht entwicklungspsychopathologisch interpretierbar. Sie lassen sich vielmehr als Dysregulationen in der Balance zwischen Sicherheits- und Explorationsbedürfnissen charakterisieren (siehe Abb. 13.1).

Abb. 13.1
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Individuell unterschiedliche Qualitäten von Bindung

3 Hochunsichere Bindung und Bindungsstörungen

Demgegenüber lässt sich die sogenannte hochunsicher-desorganisierte Bindung entwicklungspsychopathologisch interpretieren. Hochunsichere Bindung steht häufig im Zusammenhang mit beziehungsbezogenen Problemen und Störungen bei Kindern. Insbesondere kleine Kinder können sich unter Belastung nicht an ihre Bindungspersonen wenden und können nicht auf eine organisierte (sichere oder unsichere) Strategie im Umgang mit ihrer Bindungsperson zurückgreifen. Sie zeigen bizarres Konfliktverhalten gegenüber der Bindungsperson. Dies zeigt sich in Verhaltensweisen wie starke Gehemmtheit, körperliches Erstarren über mehrere Sekunden oder Furchtreaktionen („Freezing“). Ältere Kinder zeigen etwa übertrieben fürsorgliches Verhalten bis hin zur Rollenumkehr (Parentifizierung) oder auch bestrafendes oder beschämendes Verhalten ihr gegenüber.

Kinder mit hochunsicherer Bindung finden sich gehäuft im Kontext von Vernachlässigung und/oder Misshandlung bzw. mit psychischer und/oder Suchterkrankung von Eltern (vgl. Lyons-Ruth & Jacobvitz 2016). Studien über den Zusammenhang zwischen elterlichem Verhalten und hochunsicher-desorganisierter Bindung beim Kind zeigten statistisch bedeutsam vermehrt sogenanntes „dysfunktionales“ Verhalten von Eltern (Metanalyse mit 12 Studien und 851 Mutter-Kind-Dyaden; Madigan et al. 2006). Dysfunktionales Verhalten beschreibt Verhaltensweisen, die qualitativ anders anzusiedeln sind als „nur“ fehlende Feinfühligkeit. Insbesondere lassen sich damit Eltern beschreiben, die ihr Kind in belastenden Situationen nicht trösten können, die sich übermäßig harsch, aggressiv oder bestrafend verhalten und vermehrt negativ übergriffig sind (nachäffen des Kindes oder sich über das Kind lustig machen). Dazu gehören auch sogenannte Rollenkonfusion („Abgeben“ der Elternrolle), emotional ausgeprägt zurückgezogenes Verhalten oder auch Kommunikationen, die ein Kind widersprüchlich erleben muss (z. B. verbal einladen [„komm doch zu mir“] und sich gleichzeitig körperlich abwenden). Schließlich gehört dazu sogenanntes dissoziatives oder desorientiertes Verhalten, z. B. dann, wenn Eltern verwirrt wirken, sich zögernd oder furchtsam gegenüber dem Kind verhalten (mit Stimme, Mimik, Körperhaltung oder plötzlichen Bewegungen) oder „Einfrieren“ bzw. sich „wie in Trance“ (trance-like) bewegen. Die letztgenannten Verhaltensweisen werden klinisch mit traumatischen Vorerfahrungen assoziiert.

Interpretiert werden die Erlebens- und Verarbeitungsweisen der Kinder dahingehend, dass sie häufig Episoden von Angst erleben bzw. dass sie Angst gar als chronischen Bestandteil ihrer Beziehungserfahrungen erleben. Bindungstheoretisch betrachtet befinden sich gerade kleine Kinder in einem unlösbaren emotionalen Konflikt: Angst aktiviert, biologisch vorprogrammiert, das kindliche Bindungssystem. Das Kleinkind muss daher unweigerlich Nähe und Kontakt zur Bindungsperson suchen. Ist aber die Bindungsperson, bei der das Kind Schutz sucht, gleichzeitig in Personalunion diejenige, die seine Angst verursacht, dann kollabieren seine Verhaltensstrategien und seine Aufmerksamkeit. Sind solche konflikthaften Erfahrungen nachhaltig und/oder stark angstauslösend, beeinträchtigen sie offenbar seine Bewältigungskompetenzen und seine Fähigkeiten, seine Gefühle flexibel zu regulieren. In extremer Ausprägung geht es um (emotionale und/oder körperliche) Misshandlung oder Vernachlässigung.

Hochunsicher-desorganisierte Bindung ist einer der wenigen Prädiktoren, der spätere Psychopathologie aus der frühen Kindheit in normalen Populationen voraussagt (Lyons-Ruth & Jacobvitz 2016). Die hochunsicher-desorganisierte Bindung ist insbesondere mit aggressiven und externalisierenden Verhaltensproblemen bei Vorschul- und jungen Schulkindern sowie einem erhöhten Risiko für internalisierende Verhaltensprobleme während Kindheit und Jugendalter, aber auch mit dissoziativer Symptomatik im Jugendalter assoziiert.

Hochunsichere Bindung weist klinische Nähe zu Bindungsstörungen auf. Während aber die Klassifikation einer Bindungsstörung eine voll ausgebildete psychische Störung des Kindesalters beschreibt, beschreibt hochunsichere Bindung ein Kontinuum, das die Intensität und den Ausprägungsgrad von Belastungen abbildet. Danach lassen sich Hinweise desorganisierten Verhaltens bei kleinen Kindern als vorübergehendes bzw. „flüchtiges“ Phänomen (z. B. Geburt eines Geschwisterkindes, familiäre Krisen etc.) genauso beobachten wie als chronisches Verhalten im Kontext von Familien mit vielfältigen und schwerwiegenden Belastungen. Im Falle der letztgenannten Gruppe von zahlenmäßig wenigen hochunsicher gebundenen Kindern dürfte es klinisch durchaus Überlappungen mit bindungsgestörten Kindern geben. Es geht dann sowohl bei hochunsicher gebundenen als auch bei bindungsgestörten Kindern um eine massive Abweichung des beschriebenen biologisch erwartbaren Verhaltens, in Situationen von Verunsicherung und Belastung Nähe und Kontakt zur Bindungsperson zu suchen. Die Kinder verfügen über keine organisierte Strategie (selbst wenn sie unsicher ist), mit der sie ihre innere Belastung einigermaßen regulieren können.

4 Missverständliche Auffassungen von hochunsicherer Bindung und Bindungsstörungen

In der Praxis lassen sich häufig missverständliche Auffassungen des Bindungsbegriffes beobachten. Danach wird die Qualität hochunsicherer Bindung, wie sie eben gehäuft bei vernachlässigten oder misshandelten Kindern auftritt, mit „fehlender“ bzw. nicht etablierter Bindung gleichgesetzt. Tatsächlich lässt sich bei diesen Kindern, ebenso wie bei sicher und unsicher gebundenen Kindern, davon ausgehen, dass eine Bindungsbeziehung etabliert wurde. Allerdings lässt sich im Falle von hochunsicherer Bindung dann von einer destruktiven Entgleisung der regulativen Entwicklung im Beziehungskontext sprechen. Die Eltern selber sind die Quelle von Stress und Belastung und verursachen und verstärken damit bindungsbezogene Ängste beim Kind.

In diesem Zusammenhang missverständlich interpretiert werden auch Verhaltensweisen von Kindern, die je nach gezeigtem Intensitätsausdruck mit „fehlender“ oder „starker“ Bindung verwechselt werden. Danach wirken vernachlässigte und misshandelte Kinder vordergründig häufig emotional wenig belastet (z. B. fehlender Emotionsausdruck). Dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Kinder dennoch physiologisch hoch erregt sind (Dysregulationen in der Stressreaktivität). Ein solches vordergründig unbelastetes Verhalten lässt sich keinesfalls als „fehlende“ Bindung interpretieren. Umgekehrt lassen sich heftige oder gar panische Reaktionen, wie z. B. starkes Klammern, das sich häufig bei misshandelten Kindern beobachten lässt, nicht als Ausdruck „starker“ Bindung interpretieren. Dieses Verhalten ist vielmehr teilweise sogar auch als pathologisches Phänomen einzuordnen (vgl. Ziegenhain 2014).

5 Abweichende Auffassungen des Bindungsbegriffs in der Jurisprudenz

Im Familienrecht finden „Bindungen“ insbesondere im Zusammenhang mit Entscheidungen zum Kindeswohl Erwähnung. Dabei ist die Bedeutung von Bindungen in der Rechtsprechung grundsätzlich im Sinne einer rhetorischen Plädierformel etabliert. Bindungsbezogene Aspekte werden gewöhnlich unter dem Aspekt der sogenannten „Bindungstoleranz“ erwogen. Danach werden (Herkunfts-) Beziehungen mit engen Bindungen gleichgesetzt und „Bindungstoleranz“ wird auf das natürliche Grundrecht jedes Kindes und jedes Menschen auf Bindungen bezogen. Konkret wird darunter die Toleranz gegenüber Kontakten mit dem umgangsberechtigten Elternteil verstanden. Es geht um die Kooperation und das Aufrechterhalten von Beziehungen und Bindungen des Kindes mit dem anderen Elternteil und allen anderen für das Kind bedeutsamen Personen. „Bindungstoleranz“ stellt mittlerweile quasi ein Sorgerechtskriterium dar. Das Vorliegen von „Bindungstoleranz“ deute auf eine verantwortete Elternschaft hin, so die Argumentation. Für die gerichtliche Beurteilung spielt eine Rolle, welcher Elternteil die beste Gewähr bietet, dass dem Kind der andere Elternteil und alle anderen bedeutsamen Personen als Bezugspersonen erhalten bleiben und ob dieser Elternteil zudem bereit ist, die Kontakte aktiv zu unterstützen. Unterstellte fehlende „Bindungstoleranz“ kann den Entzug des Sorgerechts oder den Wechsel von Betreuungsverhältnissen begründen (eingehend zur Bindungstoleranz in Rechtsprechung und juristischer Literatur Fegert & Kliemann 2014).

Diese Auffassung von Bindung ist nicht vereinbar mit dem bindungstheoretischen Konzept und den darauf aufbauenden, gut abgesicherten Befunden, die die Qualität sozialer Beziehungen als entscheidend für die kindliche Entwicklung betonen. Die Realität tatsächlicher Bindungserfahrungen tritt im Einzelfall in den Hintergrund, wenn die kategorischen Prinzipien angewendet werden, die der Auffassung von Bindungstoleranz unterliegen. Hinzu kommen gegebenenfalls Missverständnisse und Zirkelschlüsse, die dazu führen, dass teilweise über die Begrifflichkeit der Bindungen scheinbar Elemente des Blutrechts und biologische Determinanten wie die genetische Vaterschaft als Wert an sich gewertet werden (vgl. Fegert & Kliemann 2014; Ziegenhain 2014).

6 Implikationen für die Praxis

Zusammenfassend sind Trennungserfahrungen im Kontext von Bindung in zweierlei Hinsicht relevant: (1) bei körperlicher Abwesenheit und Trennung des Kindes von der Bindungsperson, besonders dann, wenn diese Trennung unvermittelt stattfindet, und/oder (2) bei psychologischer Abwesenheit bzw. bei gestörter Kommunikation in der Beziehung des Kindes mit seiner Bindungsperson, etwa bei fehlender emotionaler Ansprechbarkeit der Bindungsperson oder aufgrund ihrer Unfähigkeit, das Kind in belastenden Situationen zu trösten bzw. aufgrund dysfunktionalen und gegebenenfalls gefährdenden Verhaltens.

Auf dem Stand des derzeitigen Wissens lässt sich davon ausgehen, dass kleine Kinder bei abrupten Trennungen physiologisch und emotional hoch belastet sind und dass diese Belastung erst im Kontakt mit einer Bindungsperson wieder abklingt. Ebenso aber können Kinder sich im Kontakt mit ihren Eltern nicht regulieren, wenn diese sich inadäquat und dysfunktional verhalten und sie schlimmstenfalls vernachlässigen und/oder misshandeln. Diese Eltern aktivieren das Bindungssystem des Kindes nachhaltig und versetzen es chronisch in Furcht. Es sind häufig Kinder mit hochunsicherer Bindung bzw. mit Bindungsstörungen. Sie wirken vordergründig meist unauffällig bzw. wenig belastet, dürften aber gemäß der vorliegenden Befundlage starke Dysregulationen in ihrer Stressreagibilität aufweisen. In den Fällen dieser hoch belasteten Kinder und ihrer Familien kommt es nicht selten vor, dass körperliche Trennungserfahrungen und das Erleben gestörter Kommunikation in der Bindungsbeziehung gewöhnlich konfundiert sind.

Wie Kinder mit Trennungen zurechtkommen, hängt von den jeweiligen Umständen der Trennung ab. Dabei dürfte dieser biologische Mechanismus für Kinder dann besonders belastend sein, wenn Trennungen abrupt stattfinden. Wenn keine alternative Bindungsperson zur Verfügung steht, sind zumindest Kleinkinder ab ca. einem halben Jahr erhöhtem beziehungsbezogenen Stress ausgesetzt. Bereits sehr kurze Trennungen führen zu erhöhten Cortisolausschüttungen, die mit emotionalen Belastungen einhergehen. Bei längerfristigen Trennungen zeigen Kleinkinder deutliche Kummerreaktionen bzw. depressionsähnliche Zustände und gegebenenfalls auch einen Orientierungsverlust. Dabei ist es wichtig, dass insbesondere kleine Kinder Bindungspersonen regelmäßig und sehr konkret in alltäglichen Interaktionen erleben müssen, um sie als Bindungsperson „halten“ zu können. Kleinkinder binden sich an diejenigen Menschen, die im Alltag zuverlässig und kontinuierlich zur Verfügung stehen.

Umgekehrt waren etwa Belastungen und Trennungsreaktionen von Kindern in alternativen familiären Betreuungssettings mit Bezugspersonen, die zuverlässig verfügbar waren, deutlich abgeschwächter. In einer neueren Studie, die unter anderem Belastungen von misshandelten Kindern bei geplanten bzw. akuten nicht geplanten Herausnahmen aus der Familie verglich, zeigten Kinder mit einer geplanten Herausnahme nach einer Woche weniger Stressbelastung als Kinder, die akut aus der Familie herausgenommen wurden (Baugerud & Melinder 2012).

Bindungen sind soziale Beziehungen und Kleinkinder binden sich an diejenigen Menschen, die im Alltag zuverlässig und kontinuierlich zur Verfügung stehen. Daher besteht die Gefahr eines Bindungsabbruchs mit den Herkunftseltern, wenn keine regelmäßigen und engmaschigen Kontakte stattfinden. Die Gefahr eines Bindungsabbruchs besteht, wenn kleine Kinder keine regelmäßigen und engmaschigen Kontakte mit ihren Bindungspersonen haben. Dies ist bei Kindern der Fall, die aus ihrer Herkunftsfamilie herausgenommen und in eine Pflegefamilie und/oder eine Jugendhilfeeinrichtung wechseln. Das Kind leidet unter der Trennung von den leiblichen Eltern und bei etwaiger Rückkehr in die Herkunftsfamilie steht es vor der Entwicklungsaufgabe, mit den „fremden“ Eltern erneut eine Bindungsbeziehung zu etablieren.

Entwicklungspsychologisch lässt sich ableiten, dass Kontakte umso häufiger und zeitlich enger gestaltet werden sollten, je jünger ein Kind ist. Danach ist das Zeitfenster bei kleinen Kindern eng und dürfte bei wenigen Wochen liegen. Die Fähigkeit von Säuglingen und Kleinkindern, Menschen oder Gegenstände intern als Bild bzw. als innere Vorstellung zu „repräsentieren“, setzt ab etwa sieben bis acht Monaten ein und das Langzeitgedächtnis wird mit etwa neun Monaten aktiv. Schließlich dürfte erschwerend hinzukommen, dass kleine Kinder aufgrund ihrer Entwicklungskompetenzen noch nicht oder kaum in der Lage sind, das, was ihnen widerfährt, kognitiv einzuordnen. Sie können auch sprachlich noch unzureichend dabei unterstützt werden. Längerfristig zeigen sich die Folgen insbesondere von frühen Trennungen in negativen Veränderungen ihrer Stressreagibilität. Derzeit fehlen verbindliche Standards für Besuchskontakte. Gemäß den Praxiserfahrungen und den wenigen Befunden bestehen hohe Schwankungen in den Kontakten zu den Herkunftseltern nach einer Inpflegenahme. Danach sind monatliche Kontakte und seltener zweiwöchige Kontakte bzw. Wochenenden die am häufigsten gewählte Umgangsform und zwar unabhängig vom Entwicklungsalter des Kindes. Zumindest für Säuglinge und Kleinkinder können diese Zeitabstände einer Ablösung von den Herkunftseltern gleichkommen, zumal dann, wenn Pflegeeltern im Alltag als Bindungspersonen zur Verfügung stehen (vgl. Ziegenhain et al. 2014).

Unabhängig davon aber geht es darum, nach einer Herausnahme bzw. im Kontext von Gewalt sicherzustellen, dass das Kind vor weiterer Gewalt geschützt ist. Insofern können Besuchskontakte erst dann stattfinden, wenn der gewaltausübende Elternteil seine bzw. gegebenenfalls beide Eltern glaubhaft ihre Verantwortung einräumen, Gewalt gegenüber dem Kind ausgeübt zu haben. Des Weiteren ist es in einer solchen Konstellation überwiegend notwendig, dass der Umgang begleitet stattfindet. Leider noch zu wenig systematisch wird die Chance genutzt, begleitete Umgangskontakte auch zu nutzen, um Eltern dafür zu sensibilisieren, auch diskrete Belastungszeichen in ihrem Verhalten zu erkennen und feinfühlig darauf zu reagieren (Psychoedukation).

Für die Praxis bedeutet dies, dass im Falle einer Trennung und insbesondere bei jüngeren Kindern die Gestaltung von Übergängen wesentlich und eng mit dem Angebot einer konstanten Betreuungsperson verbunden ist. Wichtig ist, dass dies im Falle von hochbelasteten Kindern und gegebenenfalls (potenzieller) Kindeswohlgefährdung sowohl für die Trennung von den Herkunftseltern als auch von den Pflegeeltern gilt. Damit geht die Chance für das Kind einher, mit einer neuen – bzw. erneut – mit einer Bezugsperson vertraut zu werden, und zwar frühzeitig und vor einer Trennung von einer Bindungsperson. Im Falle von (potenzieller) Kindeswohlgefährdung und gegebenenfalls einer Herausnahme aus der Herkunftsfamilie setzt dies eine frühzeitige und verbindliche Perspektivenklärung voraus, die eine häufig eher reaktiv anmutende und zu späte Unterstützung von Familien bzw. Krisenintervention vielfach verhindern kann. Tatsächlich lässt sich aus Praxiserfahrungen und den wenig vorhandenen Studien ableiten, dass abrupte Trennungen bzw. Übergänge mit einhergehenden Belastungen besonders dann auftreten, wenn keine systematischen Entwicklungsprognosen und Hilfeplanungen vorlagen.

Zusammenfassend können sich also auch institutionell bedingte und „gut gemeinte“ Maßnahmen belastend oder gar schädigend auf die betroffenen Kinder auswirken. Auch wenn in der Praxis aus Kinderschutzgründen abrupte Herausnahmen von Kindern nicht immer zu vermeiden sind, lassen sich negative Trennungsfolgen von hochbelasteten kleinen Kindern verhindern oder zumindest abmildern, wenn bindungstheoretische Erkenntnisse über die Erlebens- und Verarbeitungsweisen von Kindern unterschiedlichen Alters in der Anbahnung und Gestaltung von Trennungen berücksichtigt und die jeweiligen strukturellen Rahmenbedingungen daran angepasst werden.