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4.1 Einleitung

Geleitet von der Hypothese, dass die am europäischen ‚Wissen‘ über den zu kolonisierenden ‚Anderen‘ ausgerichtete spanische KolonialpolitikFootnote 1 die Praktiken der Translation zwischen dem Spanischen und den indigenen Sprachen zu einem großen Teil bestimmte, ist es das Ziel dieses Beitrags, Translationspolitik als Teil der Kolonialpolitik Neu-Spaniens aus missionarischen und notariellen Translaten herauszuarbeiten. Für eine Diskussion kolonialer Translationspolitik folgen wir damit nicht dem legalistisch ausgerichteten Ansatz einer top-down Analyse von Gesetzen, die sich direkt auf Translation beziehen, und deren Umsetzung in Translationspraktiken.Footnote 2 Vielmehr ist es die Intention dieser Studie, spezifische Translationsverfahren, die sich anhand sprachlicher Aspekte in missionarischen und notariellen Textkonstellationen rekonstruieren lassen, unter Rückgriff auf eine Kolonialpolitik zu analysieren und zu erklären, die sich als Konsequenz in Europa geführter Diskussionen um die soziale Kategorisierung der in der Neuen Welt angetroffenen Bevölkerung herausbildete. Es handelt sich dabei um die soziale Einordnung und Bezeichnung als personas miserables (‚bemitleidenswerte Personen‘) und den rechtlichen Sonderstatus, der damit einherging. Dieser eröffnete der indigenen Bevölkerung zum einen Handlungsspielräume, zum anderen wurde mit dieser Kategorie das Bild einer aus europäischer Perspektive als bedauernswert und nicht ebenbürtig abgewerteten sozialen Gruppe reproduziert, die eben solcher Rechte bedurfte.

Der vorliegende Beitrag argumentiert, dass dieser zweideutige Status ein entscheidender Wegbereiter für die Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen und die Wahrung eigener Interessen dieser sozialen Gruppe war und dass das diskursiv erzeugte ‚Bild der Indigenen‘, das sich durch den Status abzeichnete, auch die in Neu-Spanien etablierten Translationspraktiken beeinflusste. Missionarische, indoktrinierende Texte, die vom Spanischen in indigene Sprachen übersetzt wurden, sicherten die Etablierung des diskursiven Bildes der Indigenen sowie insbesondere dessen Übernahme durch eben diese Bevölkerungsgruppe. Die sprachlichen Merkmale der zapotekischen Translate zeigen, dass die Translationsstrategien an diesem Bild ausgerichtet waren. Aufgrund dieses Einflusses wird der Diskurs dann auch in der Übersetzung juristisch-notarieller Texte – sowohl vom Zapotekischen ins Spanische als auch umgekehrt – reproduziert. Dieser Beitrag zeigt nun, dass das Bild der Indigenen als personas miserables von der so bezeichneten Bevölkerungsgruppe nicht nur übernommen, sondern kreativ und strategisch im Rahmen von Translation verwendet wurde, um Einfluss auf rechtliche Sachverhalte zu nehmen.

Zur Veranschaulichung unserer Hypothesen wird in den beiden folgenden Kapiteln zunächst der historische Kontext der Untersuchung rekonstruiert. Dies geschieht im Hinblick auf ein geeignetes theoretisches Konzept von (Sprach- und) Translationspolitik (4.2), nachfolgend wird ein kurzer Überblick über die Sprach- und Translationspolitik in Neu-Spanien gegeben (4.3). Der Hintergrund des europäischen Diskurses der miserables vervollständigt die historische Kontextualisierung der Analysen (4.4). Ein Kapitel, das die Auswahl der Texte und die Analysemethode thematisiert, leitet zum Analyseteil über (4.5). In diesem (4.6) stehen zunächst Texte, die die Translationspolitik der Missionare zeigen, im Zentrum. Im siebten Kapitel dieser Studie werden Texte präsentiert, die den Einfluss des ‚miserables-Diskurses‘ auf die Übersetzungspraktiken vom Spanischen ins Zapotekische im notariellen Bereich (4.7.1) und schließlich, als besonderen Fall, auf die Niederschrift vom Zapotekischen ins Spanische verdolmetschter Zeugenaussagen zeigen (4.7.2). In einer Konklusion (4.8) werden die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst.

4.2 Translationspolitik und Glottopolitik der Translation

Der Begriff der Translationspolitik verweist auf die Einbettung von Translation in politische Machtbeziehungen, die sich in mehrsprachigen Gesellschaften in asymmetrischen Beziehungen zwischen Sprachen und deren Sprecher*innen niederschlagen:

The pure and simple notion of translation as a transportation of meaning from one semiotic system to another is always embedded in a history defining the political relations between the two systems.Footnote 3

Translation findet also – folgt man diesem Zitat – niemals im politikfreien Raum statt. Insbesondere für die hier im Fokus stehende Kolonialzeit und die Beziehung zwischen dem Spanischen als Sprache der Kolonialmacht und den indigenen Sprachen kann dies geradezu als Prämisse gelten. Damit ist Translationspolitik auch Teil von Sprach(en)politik, die bislang intensiver als Translationspolitik erforscht und auch für die Kolonialzeit rekonstruiert wurde.Footnote 4 Erst rezent und im Kontext von Sprachenrechten wird die enge Beziehung zwischen Translationspolitik und Sprach(en)politik, fokussiert – „[y]et, there is no language policy without a translation policy“.Footnote 5 Publikationen zu Translationspolitik sind in der Regel auf aktuelle Sprachenkonstellationen bezogen und nehmen insbesondere deren Einbettung in Gesetzgebungen plurilingualer Nationalstaaten mit Konstellationen aus Majoritäten- und Minoritätensprachen in den Fokus.Footnote 6 Theoretische Modellierungen konzipieren Sprachpolitik jedoch als vielschichtiges Phänomen und setzen die Figur des sprachpolitischen Akteurs (auch) bottom-up und damit hierarchisch ‚unterhalb‘ des Gesetzgebers an. Analog zu ihnen kann Translationspolitik ähnlich vielschichtig aufgefasst werden. Ein sehr weitgefasstes sprachpolitisches Konzept ist der von Guespin und Marcellesi (1986) in die theoretische Diskussion eingeführte Begriff der ‚Glottopolitik‘, der für den hier gewählten Kontext fruchtbar gemacht werden kann. Mit dem Begriff sollen die Konsequenzen von Sprachpolitik für das Handeln der Sprecher im Sinne der „Reproduktion oder Transformation von Machtverhältnissen“Footnote 7 theoretisch gefasst werden. Auch wenn die Autoren keinen expliziten Bezug zu Translationspolitik herleiten, gehen wir im Sinne von Meylaerts (2011) davon aus, dass diese sprachlichen Praktiken Translation einschließen, und verstehen unter ‚Glottopolitik‘ die Verwendung von Sprachen und die damit einhergehende Translation in kommunikativen Räumen zum Zwecke sozialer und sozio-politischer Intervention. Dies schließt die konkreten, auf der Mikroebene zu analysierenden sprachlichen Verfahren der Translation als glottopolitische Praxis ein. Wie durch die folgenden Analysen gezeigt werden soll, geschieht dies im Sinne einer impliziten sozialen und sozio-politischen Kategorisierung der Zielgruppe der Translation. Als ‚Glottopolitik‘ bezeichnen wir z. B. die Aneignung von Räumen kommunikativen Handelns durch Sprecher, um an gesellschaftspolitischen Prozessen und damit an der sozialen Konstruktion von Machtverhältnissen teilzunehmen. Translationspolitik als Teil von Glottopolitik ermöglicht verbale Handlungen auf verschiedenen Ebenen des sozialen und politischen Kontextes, mit denen Menschen sich selbst als Kollektiv oder Einzelperson repräsentieren und ihre Interessen verfolgen.

4.3 Koloniale Sprach- und Translationspolitik an der Peripherie Neuspaniens

Die Analysen in diesem Beitrag nehmen Bezug auf die koloniale Translationspolitik im heutigen mexikanischen Bundesstaat Oaxaca mit besonderem Schwerpunkt auf die Region des Distrikts Villa Alta in der aufgrund der geographischen Lage als Peripherie geltenden Region Sierra Norte. Die Region ist von großer sprachlicher Diversität gekennzeichnet und war aus diesem Grunde – wie z. B. die große Anzahl mehrsprachiger Gerichtsakten zeigt – Raum reger glottopolitischer Aktivitäten. Translation, also sowohl mündliche als auch schriftliche Übersetzungspraktiken und -verfahren, war gleichzeitig Bedingung und Konsequenz des Gebrauchs der indigenen Sprachen sowohl im Zuge der Evangelisierung durch den Dominikanerorden als auch der indigenen Rechtsprechung. Sie sicherte die Verständigung zwischen der hispanophonen und der indigenen Bevölkerung vor Ort. An der Peripherie des durch eine stets als inkohärent dargestellte Sprachpolitik geprägten spanischen Kolonialreichs lässt sich also die lokale Sprach- und Translationspolitik sowohl der Kirche als auch im Kontext der Rechtsprechung aus den Texten, die das Korpus für diese Untersuchung bilden, selbst erschließen.Footnote 8 Die hier fokussierte Region steht damit als ein Beispiel für die Rolle der Translation sowohl als notwendiges Mittel zur Kolonisierung als auch insbesondere als Kontrollinstrument für die Administration der kolonisierten Gebiete.Footnote 9

Das Amt der sogenannten intérpretes (‚Dolmetscher‘) wurde bereits sehr früh im Rahmen der spanischen Kolonialverwaltung institutionalisiert und reguliert. Dies zeigen die ältesten das Amt betreffenden Gesetze, die, ausgehend von der Recopilación de Leyes de los Reynos de las Indias (‚Sammlung der Gesetze der Königreiche der Indias‘) aus dem Jahr 1681, auf die 20er Jahre des 16. Jahrhunderts datiert werden.Footnote 10 Die gesetzliche Regulierung des Amts der intérpretes bezog sich in der Hauptsache auf die Arbeitsbedingungen und das Verhalten der Amtsinhaber. Einschlägige Gesetze nehmen etwa Bezug auf deren Arbeitsort und ArbeitszeitFootnote 11 oder bestimmen die Höhe der Besoldung der Tätigkeit;Footnote 12 besonders prominent ist außerdem die gesetzliche Bekämpfung von Korruption, in deren Zuge den intérpretes durch drei unterschiedliche Erlasse die Annahme von Sach- oder Geldgeschenken sowie Dienstleistungen verboten und bei Zuwiderhandlung eine Bestrafung durch Entziehung des Amts in Aussicht gestellt wird.Footnote 13 Die Translationspraxis wird dagegen lediglich in einem Gesetz explizit thematisiert, in dem folgende Erwartungen an die intérpretes expliziert werden:

[…] que usarán su oficio bien y fielmente, declarando, é interpretando el negocio y pleyto, que les fuere cometido, clara y abiertamente, sin encubrir, ni añadir cosa alguna, diciendo simplemente el hecho, delito ó negocio, y testigos, que se examinaren, sin ser parciales á ninguna de las partes, ni favorecer mas á uno, que á otro, y que por ello no llevarán interes alguno, mas del salario, que les fuere tasado.Footnote 14

[…] dass sie ihr Amt gut und treu ausüben werden, indem sie die Angelegenheit oder den Streitfall, der ihnen anvertraut wird, klar und offen vortragen und übersetzen, ohne irgendeine Sache zu verbergen oder hinzuzufügen, indem sie einfach sagen, was die Tatsache, das Delikt oder die Angelegenheit ist, und die Zeugen, die befragt werden, ohne irgendeiner Seite parteiisch zu sein, auch nicht eine Seite der anderen vorzuziehen, und dass sie dafür kein Geld verlangen außer dem Sold, der ihnen zugeschrieben ist. (Übers. u. Herv. M.K.)

Diese Formulierungen beinhalten eine Forderung nach inhaltlicher Invarianz zwischen der jeweils ausgangs- und zielsprachlichen Äußerung (d. h. zwischen Ausgangs- und Zieltext), implizieren also die Ansicht, dass sprachliche Botschaften direkt und unverändert aus einer Sprache in eine andere übertragen werden können.Footnote 15 Keines der die intérpretes betreffenden Gesetze aus der recopilación von 1681 nimmt Bezug auf notwendige Sprachkompetenzen der Amtsinhaber.Footnote 16

Insbesondere Angehörige indigener Eliten fungierten als intérpretes, da sie aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung in Kontakt zur spanischen Kolonialverwaltung standen und somit Zugang zur Kultur und Sprache der Kolonialmacht hatten.Footnote 17 Im Zuge dieses Kontakts eigneten sich viele Angehörige der gehobenen indigenen Bevölkerungsschicht Kenntnisse des Spanischen an, adaptierten jedoch auch Bestandteile der Kultur der Kolonisatoren, was bspw. im Tragen spanischer Kleidung Ausdruck fand.Footnote 18 Während diese Anpassung der indigenen Eliten durch die spanische Kolonialmacht als ein Indiz für Annäherung und Subordination unter die spanische Krone interpretiert werden konnte, zeigen die Gerichtsakten, die das Korpus dieser Untersuchung bilden, dass die indigenen Eliten ihre Vermittlerposition zwischen den zwei Kulturen innerhalb des zugrunde liegenden, asymmetrischen kolonialen Machtverhältnisses zur Verfolgung eigener, auch machtpolitischer Interessen nutzten.Footnote 19 Dabei stellten die kulturelle Anpassung und die Sprachkenntnisse eine Schlüsselkomponente dar und sicherten einen Platz „in between“.Footnote 20

4.4 Diskurs und der rechtliche Status der Indigenen als miserables

Der unserer Hypothese zugrunde liegende Diskurs über den außereuropäischen ‚Anderen‘ lässt sich – bevor er in kolonialen Sonderrechten verstetigt wurde – auf diejenigen wechselnden Diskurse zurückführen, die als Versuche gelten können, das Fremde – Indigene, in diesem Falle – in iberische Denk- und Wissensmuster einzuordnen. Unsere Hypothese setzt in dem Moment dieses sich ändernden Diskurses an, in dem man begann, die indigene Bevölkerung aufgrund des kursierenden konstruierten ‚Wissens‘ über ihre Lebensgrundlagen und Eigenschaften als besonders schutzbedürftig, als miserables, einzuschätzen. Als miserables galten in Spanien im weitesten Sinne sozial benachteiligte Personen, die „Mitleid erregten“.Footnote 21 Zu diesen gehörten Witwen, Waisen, Häftlinge, Schüler*innen sowie insbesondere Neophyten, also zum Christentum konvertierte Personen. Schon aus dieser Aufzählung ergibt sich die Kategorie der miserables als heterogene soziale Gruppe,Footnote 22 deren Schutz als gesamtgesellschaftlich verbindliche christliche Pflicht angesehen wurde. In der Rechtsprechung findet sich die Kategorie zunächst als „eher untechnische Verwendung des Terminus“.Footnote 23 Miserables galten aufgrund ihrer benachteiligten Lebensumstände oder ihres körperlichen bzw. geistigen Zustandes als besonders schutzbedürftig und nicht in der Lage zu eigenständigem Handeln – auch aufgrund der Vorstellung mangelnder oder nicht ausgereifter kognitiver Fähigkeiten. Aus diesem Grund ging mit ihrem Status auch eine ständige rechtliche Unmündigkeit einher.Footnote 24

Die rechtliche Subsumierung der indigenen Bevölkerung unter die miserables ist in Neu-Spanien erstmals schriftlich durch eine real ordenanza (‚königliche Anordnung‘) aus dem Jahr 1563 festgelegt.Footnote 25 Zu den Gründen der Zuerkennung dieses Status zählen die sozial benachteiligte Position der Indigenen in der kolonialen spanischen Gesellschaft, die sich etwa in Form von fehlender Wirtschaftskraft und einer (vermeintlich) fehlenden Rechtskultur äußerte.Footnote 26 Hinzu kommen ihre Position als ‚neue Christen‘ bzw. NeophytenFootnote 27 sowie die Einschätzung der Indigenen durch die spanischen Machthaber als im weitesten Sinne kognitiv unterlegene Menschen. Die Einteilung in sogenannte repúblicas de españoles (‚Spanier-Republiken‘) und repúblicas de indios (‚Indigenen-Republiken‘), die als Konsequenz dieser Einschätzung angesehen werden kann, erlaubte der indigenen Bevölkerung eine relativ autonome Selbstverwaltung. Auch die Erlaubnis der Verwendung indigener Sprachen ergibt sich hieraus, wenngleich sie nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Status als miserables stand.

Dies steht im Gegensatz zum diskursiven Bild, das mit Inhabern des rechtlichen Status der miserables und somit auch mit der indigenen Bevölkerung Neu-Spaniens assoziiert wurde, und demzufolge ihnen Eigenschaften wie soziale Benachteiligung und insbesondere auch Unmündigkeit sowie mangelnde kognitive Fähigkeiten zugeschrieben wurden, die ihre Schutzbedürftigkeit begründeten. Vielmehr kann argumentiert werden, dass dieses Bild von derselben Bevölkerungsgruppe zur Gestaltung der Beziehung zu den spanischen Machthabern strategisch genutzt wurde und somit wiederum ein Instrument zur Schaffung von politischer Teilhabe für die indigene Bevölkerung darstellte.Footnote 28

Diese Teilnahme und somit auch der sie gestattende rechtliche Sonderstatus ist eng verbunden mit Translationsprozessen zwischen indigenen Sprachen und dem Spanischen, die die Kommunikation zwischen den beiden sozialen Gruppen erst ermöglichten.

4.5 Datenbasis und methodisches Vorgehen

Entsprechend der Ziele dieses Artikels, zum einen Fragmente des Diskurses der miserables in missionarischen Texten zu analysieren und zum anderen Translationspolitik bzw. Glottopolitik, die laut unserer Hypothese aus diesem Diskurs erfolgt, anhand von Translationsprozeduren in Translaten sowohl des missionarischen als auch des notariellen Bereichs zu analysieren, konstituiert sich die Datenbasis für die folgenden Analysen 1. aus Texten missionarischer Herkunft und 2. aus notariellen Texten. Für die exemplarischen Analysen der missionarischen Texte wurden folgende Textfragmente ausgewählt:

1a)

In spanischer Sprache verfasste Paratexte aus den Katechismen von Francisco Pacheco de Silva (1687) und Leonardo Levanto (1732).

1b)

Als spanischer Ausgangs- und zapotekischer Zieltext vorliegende Textfragmente katechetischer Texte für das Sprachenpaar Spanisch-Zapotekisch aus Pedro de Feria (1567) und Francisco Pacheco de Silva (1687).

Für die Analysen des notariellen Bereichs wurden folgende Textfragmente ausgewählt:

2a)

Ein Ausschnitt aus einem im Zuge einer Währungsreform in spanischer Sprache verfassten Textes und seine zapotekische Übersetzung.

2b)

Vier Ausschnitte aus Protokollen von Zeugenvernehmungen, deren Aussagen aus dem Zapotekischen verdolmetscht und in spanischer Sprache niedergeschrieben wurden.

Methodisch wird für die Analysen der kolonialen Translationspraktiken – d. h. das translatorische Handeln – den Prinzipien einer textpaarbezogenen kontrastiven Analyse gefolgt, um die lokalen Translationsverfahren, d. h. die translatorischen Entscheidungen, aus sprachwissenschaftlicher Perspektive zu rekonstruieren.

4.6 Der Diskurs der miserables in der Evangelisierung der indigenen Bevölkerung

4.6.1 Die Zuschreibung von Eigenschaften der indigenen miserables in der Katechese

In den folgenden Analysen der in (4.5) genannten Textstellen aus Katechismen manifestieren sich Aspekte des Bildes der indigenen Bevölkerung als miserables in je unterschiedlicher Weise. Die Textsorten, aus welchen sich ein Katechismus zusammensetzt, besitzen unterschiedliche Funktionen, haben unterschiedliche Adressaten und beeinflussen daher auch die Modalitäten der Reproduktion des Diskurses in unterschiedlicher Weise. Um diese Variation zu berücksichtigen, sollen im Folgenden exemplarisch zum einen in zwei Katechismen veröffentlichte Paratexte, die in spanischer Sprache verfasst wurden und ein hispanophones Publikum adressieren, und zum anderen Ausschnitte aus den artículos de fé, den ‚Glaubensartikeln‘, analysiert werden, die von der indigenen Bevölkerung auswendig gelernt und mündlich wiederholt wurden.

In den Paratexten der Doctrina cristiana, traducida de la lengua castellana en lengua zapoteca nexitza (1687) von Francisco Pacheco de Silva und des Cathecismo de la doctrina christiana, en lengua zaapoteca (1732) von Leonardo LevantoFootnote 29 finden sich im Vorwort des Verfassers und in einem Gutachten für die Druckerlaubnis Verweise auf den ‚miserables-Diskurs‘ (s. Tab. 4.1).

Tab. 4.1 Pacheco de Silva (1882 [1687]), S. IV; Levanto (1776 [1732]), o. S. (dt. Übers. Y.K.)

In diesen Textausschnitten manifestiert sich der Diskurs in spanischer Sprache und ohne Übersetzung ins Zapotekische als ein ‚Sprechen-über‘ die indigene Bevölkerung. Der Status als miserables wird mit den Zuschreibungen des ‚wenig Scharfsinnigen‘ und von ‚geringer Befähigung‘ sowie insbesondere des ‚Kindseins‘ der indigenen Bevölkerung verknüpft. Das heißt auch, dass es sich um eine ‚unschuldige‘ Unfähigkeit handelt, die Dinge des Christentums zu durchschauen; die Zuschreibung des Kindlichen evoziert gleichzeitig die Schutzbedürftigkeit, sodass dieser zwiespältige Diskurs in seiner vermeintlichen Güte der indigenen Bevölkerung gegenüber gleichzeitig soziale Asymmetrie erzeugt.

In den Glaubensartikeln und deren Übersetzung in die zapotekische Sprache wird nun dieser Diskurs im Handlungsrahmen der christlichen Indoktrinierung aktualisiert. Bereits im ältesten Katechismus in zapotekischer Sprache, der von Pedro de Feria veröffentlichten Doctrina Christiana en lengua Castellana y Çapoteca (1567), finden sich mehrere Textstellen, die auf den genannten Diskurs verweisen und – aufgrund der besonderen Bedingungen der Katechese – zeigen, dass er der indigenen Bevölkerung zur Verinnerlichung aufgezwungen wurde. Die in Tab. 4.2 dargestellte und im Folgenden analysierte Passage findet sich im Werk Ferias im Rahmen der Erklärungen der articulos que pertenescen a la divinidad (‚Artikel, die zur Göttlichkeit gehören‘).

Tab. 4.2 Feria (1567), S. 21 (dt. Übers. Y.K.)

Die christliche Vorstellung eines einzigen Gottes, die hier thematisiert wird, gehörte zu den wichtigsten Unterschieden zwischen Christentum und der Glaubenswelt der Zapoteken, deren Anhänger von den Missionaren der idolatría (‚Götzendienst‘) beschuldigt wurden. Feria verweist ausdrücklich auf diese Schwierigkeit: „ser este dios uno solo: tiene una poca de difficultad“, ‚dass dieser Gott ein einziger ist, hat eine kleine Schwierigkeit‘. Der Gebrauch der Pluralform „nuestros entendimientos“, ‚unsere Auffassungsgabe‘, mit dem sich der Autor des Katechismus in die Aussage einzubeziehen scheint, wirft nun Fragen auf, zu deren Klärung auf den Katechismus als Textsorte zwischen medialer und konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit und seine Funktion verwiesen werden muss – ein Katechismus wurde schriftlich verfasst, um von den zu Bekehrenden auswendig gelernt und mündlich wiederholt zu werden.Footnote 30 Aus translatorischer Perspektive bedeutet dies, dass der spanische Text, der für das Textpaar die Funktion des ‚Ausgangstextes‘ hat, bereits als Text mit dieser Funktion verfasst wurde; entsprechend wurde er ins Zapotekische übersetzt, die Sprache, in der die Neophyten ihn verinnerlichen sollten. Die kontinuierliche mündliche Wiederholung des Diskurses, für die der hier zitierte Textausschnitt beispielhaft steht, galt als wirksame Methode der Indoktrinierung. Die Übersetzung des spanischen Textes in die zapotekische Sprache soll hier anhand eines Aspekts analysiert werden, der in Bezug zu unserer Annahme steht, dass die Evangelisierung einen entscheidenden Beitrag zur Verinnerlichung des europäischen Diskurses über die indigene Bevölkerung durch diese selbst geleistet hat. Es handelt sich um die Übersetzung des spanischen Begriffs entendimiento, ‚Verständnis‘, der mit dem Konzept lachi, ‚Seele‘, auch ‚Herz‘, übersetzt wird. Dieser ist im Zapotekischen Basis einer reichen Metaphorik, die auf Charakter, Wesen und ‚Innerlichkeit‘ des Menschen bezogen ist, und durchaus eine sozial wertende Funktion annehmen kann. Im Gegensatz zu dem auf Rationalität zielenden Begriff des entendimiento wird damit im Zapotekischen eine emotionale Komponente aufgerufen, um so – im wahrsten Sinne des Wortes – die „Seelen der Heiden zu erreichen und ihre Herzen zu erobern“.Footnote 31

4.6.2 Der ‚miserables-Diskurs‘ als Hintergrund ‚expandierender‘ Translationsprozeduren

Im Folgenden sollen die für unsere Argumentation relevanten Textfragmente aus der Doctrina cristiana von Francisco Pacheco de Silva hinsichtlich der in ihnen rekonstruierbaren Translationsprozeduren analysiert werden. Die Analysen setzen an der Frage nach der Motivation und Funktion von Translationsprozeduren an, die dazu führen, dass die jeweiligen Zieltexte erheblich umfangreicher als die Ausgangstexte erscheinen; ein Phänomen, dessen materielle Ausprägung sich zunächst auf der Textoberfläche zeigt (s. Abb. 4.1).

Abb. 4.1
figure 1

Pacheco de Silva: Doctrina Cristiana, S. 14–15. Gedruckt in Oaxaca 1882 [1687]. John Carter Brown Library, b3904335

Ausgehend von dieser Beobachtung soll die Analyse mit dem ‚miserables-Diskurs‘ in Beziehung gesetzt werden. Dazu wurde der dritte Glaubensartikel aus der Doctrina gewählt (s. Tab. 4.3).

Tab. 4.3 Pacheco de Silva (1882 [1687]), S. 15 (dt. Übers. Y.K.)

Die Textstelle steht exemplarisch für die auch in Abb. 4.1 ersichtliche Diskrepanz zwischen der ‚materiellen‘ Länge des Ausgangstextes und der des Zieltextes, die sich in den ins Zapotekische übersetzen Katechismen, insbesondere auch im Werk Pachecos, sehr häufig findet und – bedingt durch deren Zwei-Spalten-Präsentation – als visuell wahrnehmbarer Unterschied manifestiert. Konkret bedeutet dies, dass z. B. ein auf zwei Zeilen begrenzter spanischer Textteil auf der zapotekischen Seite beträchtlich mehr Raum in Form von mehr Wörtern und Zeilen einnimmt. Der auf diese Weise produzierte Eindruck von Unausgewogenheit der Textmenge wirft natürlich hinsichtlich der Rekonstruktion der angewendeten Translationsprozeduren Fragen auf. Wir schlagen für dieses Phänomen den Begriff ‚expandierende Translation‘ vorFootnote 32 und analysieren diese, gemäß unserer Ausgangshypothese, bezogen auf die Einschätzung über die indigene Bevölkerung, die wir weiter oben als ‚miserables-Diskurs‘ diskutiert haben. Zwar muss berücksichtigt werden, dass insbesondere die christlichen Konzepte aus der spanischen Sprache nicht immer ohne Erklärungen und Paraphrasierungen ins Zapotekische übersetzt werden können, doch wird in der ausgewählten Passage deutlich, dass die ‚Expansionen‘ oftmals nicht allein mit sprachbezogenen Unterschieden erklärbar sind. Ein Beispiel, für das ein Zusammenhang mit Problemen der Begriffsfindung angenommen werden kann, ist die paraphrasierende Übersetzung des christlichen Konzepts der pecadores (‚Sünder‘) mit der zapotekischen Bildung tolla huexihui, das im Deutschen ebenfalls weiter paraphrasiert als ‚Schuld aufgrund von Falschen/Schlechtem‘ wiedergegeben werden kann.Footnote 33

Viel ausführlicher wird nun z. B. der im Ausgangstext durch die 3. Person Singular „-ó“ in „recibió muerte y pasion“, ‚er erfuhr Tod und Leiden‘ ausgedrückte Verweis auf Jesus im Zapotekischen wiedergegeben: „Cuina Xana reheo Jesucristo Xijni Dios balij Betaao“, ‚unser (aller) [inkl.]Footnote 34 Herr Jesus Christus selbst, Sohn Gottes, wahrhaftige Gottheit‘. Hier wird nicht mittels Pronomen auf ‚Jesus‘ verwiesen, sondern die Figur wird mit dem Gebrauch der inklusiven Form der 1. Person Plural, reheo ‚unser aller‘, und einer Entlehnung explizit benannt. Dieser Benennung sind nun die beiden zapotekischen Partikel cuina, ‚er selbst‘ und xana, ‚Herr‘, als Respekt markierend vorangestellt. Die auf diese Weise benannte Figur wird ausführlich erklärt: xijni Dios, ‚der Sohn Gottes‘ und balij Betaao, ‚wahrhaftige Gottheit‘. Insbesondere der Gebrauch des zapotekischen Wortes betaao, ‚Gottheit‘ – hier in seiner Bedeutung betont durch den Gebrauch einer Majuskel – hat eine die vorangegangene Entlehnung Dios erklärende Funktion. Sie nimmt ein den zum christlichen Glauben Bekehrten und zu Bekehrenden vertrautes Konzept auf, um ihnen den christlichen Gott nahezubringen. Mit ihren insistierend-erklärenden und formelhaft-repetitiven Elementen drückt diese Übersetzung eine Haltung zum ‚Anderen‘, dem Adressaten des Textes, aus, der diese Dinge gemäß seiner Klassifizierung als persona miserable nicht ohne Weiteres verstehen kann.

Auch Jesu Tod und Passion werden mit Übersetzungen im Zapotekischen wiedergegeben, die zeigen, wie versucht wurde, dem ‚Anderen‘, von dem angenommen wird, dass jegliches Vorstellungsvermögen für christliche Konzepte und Begebenheiten fehlt, diese nahezubringen. Der Tod und das Leiden Jesu werden im Zieltext nicht als geteiltes Wissen vorausgesetzt, wie das im Ausgangstext der Fall ist, sondern mit dem Ausdruck „gottie lao iaga Cruz“, ‚er starb am Stock Kreuz‘ vergegenwärtigt. Dabei wird das Wort für den christlichen Begriff des Kreuzes aus dem Spanischen ins Zapotekische entlehnt und dem zapotekischen Wort iaga ‚Stock‘ nachgestellt, sodass es eine adjektivische, ‚Stock‘ näher bestimmende Funktion erhält. Auch die für den christlichen Glauben zentralen Informationen, dass „Jesu Seele überdauert“, da er lediglich als Mensch starb und nicht als Gott, sowie dass er sich bereitwillig geopfert hat, werden im Zapotekischen ausformuliert, während sie im Ausgangstext als vorausgesetztes Wissen unerwähnt bleiben. Im zapotekischen Zieltext wird also die Bedeutung, die im spanischen Text mit dem Begriff ‚Tod‘ im Zusammenhang mit Jesus Christus für Christen assoziativ abrufbar ist, erläutert und erklärt. Die Translationsprozedur ist also eine ‚erklärende und erläuternde Expansion‘.

Auch im Kontext der Erklärung der Zehn Gebote finden sich bei Pacheco de Silva Textstellen, bei denen sich die Länge von Ausgangs- und Zieltext deutlich unterscheidet. Die in Tab. 4.4 präsentierten Ausführungen folgen auf die Frage, wer gegen den Glauben sündige.

Tab. 4.4 Pacheco de Silva (1882) [1687], S. 67 (dt. Übers. Y.K.)

Der spanische Ausgangstext unterscheidet allgemein zwischen den Dingen, die man nicht glauben soll und die hier verallgemeinernd mit dem als ‚Fachbegriff‘ zu bezeichnenden Adjektiv supersticiosas, ‚abergläubisch‘, bezeichnet werden, und solchen, die man glauben soll. Der wesentlich umfangreichere zapotekische Text orientiert sich an dieser Einteilung, besteht jedoch aus drei Sätzen und unterstützt die inhaltliche Gliederung somit auf Ebene der Interpunktion. Der erste Satz thematisiert den aus Sicht der Missionare fehlgeleiteten Glauben und bezieht sich auf den auch im Ausgangstext zuerst genannten Inhalt. Pacheco untergliedert diesen in zwei Einzelaspekte und ergänzt ihn zusätzlich um weitere Merkmale: Einerseits nimmt er Bezug auf den zapotekischen Ausdruck Xitijza ieela, hier mit ‚Worte des Irrglaubens‘ übersetzt, und personifiziert das Böse mit dem Begriff bezeellaao, dem ursprünglichen Namen des zapotekischen Unterweltgottes, der im Zuge der Evangelisierung aber als Synonym für den Teufel etabliert wurde.Footnote 35 Andererseits wird die im Ausgangstext formulierte Aussage erweitert, indem in die Gruppe derer, die gegen den Glauben sündigen, explizit solche Personen eingeschlossen werden, die nur vorgeblich gläubig sind, also bewusste Täuschungen vornehmen. Die ‚Expansion‘ beinhaltet an dieser Stelle also nicht nur eine zum Verständnis des Inhalts notwendige Erklärung, die u. a. durch die Bezugnahme auf ein den Adressaten bekanntes Konzept erreicht wird (bezeellaao), sondern auch die Ergänzung von Inhalten, die über den semantischen Gehalt des im Ausgangstext geäußerten Wortes supersticiosas hinausgehen. Durch diese Form der Ergänzung unterscheidet sich diese expandierende Übersetzung teilweise von der in Tab. 4.3 abgebildeten, ‚erklärenden und erläuternden Expansion‘, die auf implizit in den Konzepten des Ausgangstextes enthaltenen Informationen beruht.

Diese Art des ‚erweiternden expandierenden Übersetzens‘ lässt sich auch innerhalb des zweiten Teilaspekts feststellen, dem die beiden übrigen Sätze gewidmet sind. Das im Spanischen durch ignora, ‚kennt nicht‘, ausgedrückte Unwissen findet sich im zapotekischen Ausdruck „Benne acca neezani etto nozee tzeaglij lachie“, ‚der Mensch, der nicht weiß, was er glauben soll‘, wieder, wird anschließend aber noch um eine Facette erweitert: Der Teilsatz wird wiederholt, und die konjugierte Verbform neezani, ‚weiß‘, wird durch die Form riccaabi, ‚antwortet‘, ersetzt. Damit geht die Aussage über den ursprünglichen Inhalt hinaus. Unsere Hypothese ist, dass hier auf die von Auswendiglernen und mündlichem Wiederholen geprägte Kommunikationssituation der Katechese der indigenen Bevölkerung Bezug genommen wird. Ebenso wie die Äußerung zum ‚vorgetäuschten Glauben‘ ist diese Textstelle explizit auf eine Wiederholung durch die Adressaten zugeschnitten und antizipiert die Wiedergabe deren eigener Einschätzung hinsichtlich dieser Antworten als unerwünschte Antworten. Die damit suggerierten bzw. in Konsequenz selbst eingestandenen Wiedergabeschwierigkeiten und der Widerstand gegenüber der christlichen Lehre beeinflussen nach dieser Analyse auch die Translationsprozeduren, jedoch auf ergänzende und damit andere Weise als es Schlüsselbegriffe des Christentums und Eigennamen wie Passion, Jesus oder Sünder tun.

Die durch den ‚miserables-Diskurs‘ ausgelöste ‚erklärende Expansion‘ ist im dritten hier präsentierten Satz feststellbar, der inhaltlich „niega ó duda“, ‚er leugnet oder zweifelt an‘, aufgreift und insbesondere den zweiten Bestandteil ausführlicher beschreibt. Hier finden sich zwei zapotekische Ausdrücke für ‚Zweifel‘: „roni thioppa lachi“, wörtlich, ‚er agiert mit zwei Seelen‘, und „rohoa (thioppa) lachi“, hier übersetzt als ‚er trägt zwei Seelen in sich‘. Diese ergänzen sich gegenseitig und erklären das unerwünschte Verhalten in seiner Gänze – also einerseits als eher punktuelle Handlung und andererseits als Zustand. Wie gezeigt werden konnte, ist die für das Verständnis als notwendig erachtete Erklärung ebenso wie repetitive Elemente, die u. a. auch die Funktion hatten, das Memorisieren zu erleichtern – hier repräsentiert durch benne ‚Mensch‘, das insgesamt neun Mal verwendet wird – typisch für die ‚expandierende Übersetzung‘, bildet allerdings nicht die gesamte Bandbreite an Translationsverfahren ab, die unter diesem Konzept greifbar gemacht werden können: Auch weiterführende, nicht in den Ausgangstexten enthaltene Ergänzungen lassen sich als Konsequenz auf das bei Missionaren vorherrschende Bild von der aufgrund der Verständnisprobleme der christlichen Lehre nur schwer bekehrbaren indigenen Bevölkerung verstehen.Footnote 36

4.7 Der ‚miserables-Diskurs‘ in juristischen Übersetzungen

4.7.1 Didaktische Überarbeitungen des Zieltextes in der spanisch-zapotekischen Übersetzung

Als Beispiel schriftlicher Translationsprozesse im juristisch-notariellen Bereich dient für diese Analyse eine ‚übergeordnete Verfügung‘ (Superior Despacho) des neu-spanischen Vizekönigs Don Francisco de Güemes y Horcasitas. Die auf den 16. Oktober 1752 datierte Verfügung entstand im Zuge einer Währungsreform in Neu-Spanien, die zum Ziel hatte, die im Umlauf befindliche Münzwährung zu vereinheitlichen und Falschmünzerei entgegenzuwirken. Zu diesem Zweck sollte sämtliches Geld, das sich im Vizekönigreich im Umlauf befand, durch offizielle Stellen eingesammelt und durch neu geprägte Münzen ersetzt werden. Grundlage für dieses Vorgehen war ein Erlass des spanischen Königs vom 20. Mai 1752:

[…] que […] se recoxa […] la Moneda del Cuño antiguo, por su valor extrinseco. dando la corriente de la Circular, para que por este medio se eviten los perjuicios, y daños, que dexan considerarse, y que los Pobres, è Yndios […] no padezan el quebranto.Footnote 37

[…] dass […] man die Währung alter Prägung für ihren Materialwert einsammle und die aktuelle, kreisförmige ausgebe, damit auf diese Weise die denkbaren Nachteile und Schäden vermieden werden, und damit die Armen, und indios […] nicht den Bankrott erleiden. (dt. Übers. M.K.)

Nach der Publikation der Verfügung wurde ein Zeitraum von sechs Monaten gewährt, um die Umsetzung der Bestimmungen in der Kolonialverwaltung vorzubereiten und die Bevölkerung Neu-Spaniens über diese Modalitäten zu informieren. Hierfür wurden Kopien der Verfügung an die obersten Richter der neu-spanischen Gerichtsbezirke versendet; das in der Prozessakte vorliegende Exemplar war für den obersten Richter Villa Altas bestimmt (s. Abb. 4.2a). Im Begleitschreiben wurde die unverzügliche Bekanntmachung des Inhalts der Verfügung befohlen, was auch die mündliche Verkündigung in sämtlichen Gemeinden des Gerichtsbezirks beinhaltete. Zudem sollte diese Verkündigung in indigenen Gemeinden in den autochthonen Sprachen erfolgen, was wie folgt begründet wurde:

[…] se pregone […] en los Pueblos de Naturales, traducido a su Ydioma materno por el Ynterprete, para que la Real benignidad de su Magestad sea notoria, y constante a todo Vasallo, pues la intencion es, que el beneficio de ella alcanze hasta el mas minimo individuo.Footnote 38

[…] man verlautbare [die Verfügung] in den Dörfern der Einheimischen, übersetzt in ihre Muttersprache durch den Übersetzer, damit das königliche Wohlwollen seiner Majestät jedem Untertan bekannt sei und bestätigt werde, denn die Absicht ist, dass sein Nutzen selbst das kleinste Individuum erreicht. (Übers. u. Herv. M.K.)

Dieser Anordnung wurde in Villa Alta durch den obersten Richter Folge geleistet, indem er am 2. Januar 1753 zwei intérpretes de juzgado, also offiziellen Gerichtsdolmetschern, den Auftrag gab, die Verfügung des Vizekönigs in die indigenen Sprachen Zapotekisch und Mixe zu übersetzen und anschließend zu veröffentlichen. Diese handschriftlichen Übersetzungen sind ebenfalls in der Akte enthalten (s. Abb. 4.2b).

Abb. 4.2
figure 2

a Gedruckter spanischer Ausgangstext. AHJO, Villa Alta, Civil, Leg. 0014 Exp. 0005 (1752), Fol. 3 b Handschriftlicher zapotekischer Zieltext. AHJO, Villa Alta, Civil, Leg. 0014 Exp. 0005 (1752), Fol. 9

Die Relevanz dieser Texte für diese Studie liegt in der Tatsache begründet, dass ein offizielles Dokument der Kolonialverwaltung aus dem Spanischen ins Zapotekische und weitere indigene Sprachen übersetzt wurde – denn dieser Sachverhalt gibt Aufschluss über die Perspektive der kolonialen Machthaber auf die indigene Bevölkerung Neu-Spaniens im 18. Jahrhundert und die Sprach- und Translationspolitik, die in diesem Falle mit der Informationspolitik der Krone einherging. Gleichzeitig aber zeigt sich hier das dieser Politik zugrunde liegende diskursive Bild, das diese Bevölkerungsgruppe als ‚kleinstes Individuum‘ im kolonialen Machtgetriebe sah. Es liegt nahe, mit dieser Kategorisierung die der Schutzbefohlenen und der ‚Kinder‘ in Verbindung zu bringen. Neben der im Folgenden zu analysierenden sprachlichen Gestalt und dem Inhalt dieser Zieltexte (im Vergleich zum Ausgangstext der übergeordneten Verfügung) sind somit auch die Frage nach der Begründung der Anfertigung der Übersetzungen und, in diesem Zusammenhang, der situative Kontext sowie die konkrete Funktion der Texte relevant.

Zur Analyse sollen zunächst die einleitenden Passagen aus dem Ausgangs- und Zieltext dienen, in denen einige zentrale Erkenntnisse bereits deutlich werden (s. Tab. 4.5).

Tab. 4.5 AHJO, Villa Alta, Civil, Leg. 0014 Exp. 0005 (1752), Fol. 3, 10 (dt. Übers. u. Herv. M.K.)

Der Zieltext gibt die Inhalte des Ausgangstexts nicht nur in einer anderen Sprache wieder. Hervorzuheben ist, dass er zudem in eine andere Kommunikationssituation in einem spezifischen situativen Kontext eingebunden ist und eine spezifische Funktion erfüllt: Richtete sich der Ausgangstext als übergeordnete Verfügung des neu-spanischen Vizekönigs an spanische Kolonialbeamte, die den darin enthaltenen Befehl publik machen und zu diesem Zweck übersetzen sollten, so ist der Adressat des zapotekischen Zieltexts die indigene Bevölkerung des Gerichtsbezirks Villa Alta, die den königlichen Befehl verstehen und entsprechend handeln sollte. Hier findet ein Medienwechsel statt, da der Zieltext nicht (nur) gelesen, sondern vor allem gehört werden sollte. Damit lassen sich bestimmte inhaltliche sowie lexikalische Veränderungen im Vergleich zum Ausgangstext erklären.

Während der spanische Ausgangstext durch eine intertextuelle Beziehung zum königlichen Erlass charakterisiert ist, auf dem die vorliegende Verordnung basiert, verweist dessen Übersetzung ins Zapotekische deutlich auf sich selbst, ‚in den hier zu zeichnen befohlenen Worten‘. Es kann angenommen werden, dass dies auf die genannte veränderte Rezeptionssituation des Zieltexts zurückgeführt werden kann: Durch die Formulierung wird deutlich, dass es sich um eine Reproduktion von Äußerungen handelt, deren Quelle eine höhere Autorität ist. Diese Strategie lässt sich an weiteren Stellen des zapotekischen Zieltextes anhand des Verweises „etto ribaquia lao guichi nigaa“, ‚was in diesem Papier hier steht‘, erkennen.Footnote 39 Im Zieltext wird somit die hierarchisch überlegene Stellung der spanischen Kolonialmacht gegenüber der indigenen Bevölkerung hervorgehoben. Da nun die Urheber des zapotekischen Zieltexts selbst dieser Bevölkerungsgruppe angehörten, muss angenommen werden, dass sie dieses Bild – entweder unbewusst oder intentional – im zapotekischen Zieltext reproduzierten.

Verstärkt wird dieser Eindruck durch lexikalische Veränderungen im selben Abschnitt des Zieltexts. So wird der Begriff su majestad, ‚seine Majestät‘, durch die Paraphrase goquie tao rey, ‚großer Herrscher König‘, übersetzt. Diese Formulierung, welche das spanische Lehnwort rey, ‚König‘, enthält, findet sich auch in anderen aus Villa Alta stammenden Texten; sie verbindet das spanische Lehnwort, gewissermaßen als Eigenname, mit der genuin zapotekischen Bezeichnung goquie, was einen männlichen Herrscher, genauer einen Stand des lokalen indigenen Adels beschreibt.Footnote 40 Die Machtstellung des spanischen Königs wird an dieser Stelle unter Rückgriff auf indigene soziale Konzepte ‚erklärt‘. Als Grund hierfür ist eine Art didaktischer Aufbereitung von Information für die Rezipienten des Texts plausibel.

Von Interesse für die hier vertretene Hypothese ist auch die Übersetzung der Passage, die die ‚väterliche Liebe‘ des spanischen Königs als Motivation für seinen Erlass thematisiert. Diese Liebe, die im Ausgangstext ‚allen Vasallen‘ gilt, wird im Zieltext erweitert und als ‚Liebe, die er allen seinen Kindern und Vasallen zuteilwerden lässt‘ beschrieben. Auch wenn nicht explizit gemacht wird, wer unter diesen ‚Kindern‘ zu verstehen ist, ist angesichts dessen, dass der Zieltext sich explizit an die indigene Bevölkerung richtet (der Ausgangstext richtet sich an alle Einwohner*innen Neu-Spaniens) davon auszugehen, dass ebendiese mit dieser Bezeichnung angesprochen werden sollen.Footnote 41 Hierfür spricht auch, dass sich die obersten Richter von Villa Alta in Briefen mit einer ähnlichen Anrede an indigene Inhaber politisch-administrativer Ämter in den Gemeinden des Gerichtsbezirks wendeten: Darin werden die Indigenen als ‚Söhne‘ angesprochen, während der oberste Richter sich ihnen gegenüber selbst als ‚euer‘ Vater bezeichnet.Footnote 42 Das durch die Verwendung dieser Lexeme evozierte Bild eines hierarchischen Familienverhältnisses spiegelt eine Hierarchie zwischen Herrschenden und Beherrschten wider, die ein generelles Grundprinzip europäischer vormoderner Herrschaftsgefüge darstellt. Dieses impliziert nicht nur Macht, sondern auch Wohlwollen und Fürsorge, also Aspekte, die sich – bezogen auf die spanische Kolonialherrschaft – auch im missionarischen Kontext beobachten lassen.

Der in Tab. 4.6 präsentierte Auszug aus Ausgangs- und Zieltext verdeutlicht den Einfluss des diskursiven Bildes der Indigenen auf den Translationsprozess auf eine andere Weise. Es handelt sich hierbei um den Inhalt des Befehls aus der übergeordneten Verordnung.

Tab. 4.6 AHJO, Villa Alta, Civil, Leg. 0014 Exp. 0005 (1752), Fol. 3, 10 (dt. Übers. u. Herv. M.K.)

Der Befehl aus dem Ausgangstext erscheint im zapotekischen Zieltext in einer ‚didaktisch überarbeiteten‘ Form, die in der Verfügung enthaltene Handlungsanweisungen explizit macht. Hierzu wurden neue Inhalte in den Zieltext eingefügt, wie die konkrete Nennung von MünzzahlenFootnote 43 und auch zerschnittener Münzen. Die Enumeration dieser Beispiele hat einen repetitiven Charakter, der die dargestellte Information für die Rezipienten eindringlicher macht, jedoch auch vereinfacht. Beides kann wiederum einerseits auf die mutmaßlich mündliche Kommunikationssituation, jedoch andererseits auch auf die Antizipation von Verständnisschwierigkeiten zurückgeführt werden.

Andererseits werden im zapotekischen Text bestimmte Inhalte des spanischsprachigen Ausgangstexts nicht reproduziert, wie z. B. die Möglichkeit das Geld in Mexiko-Stadt umzutauschen. Ihre Nicht-Übersetzung lässt sich durch die Irrelevanz dieser Inhalte in ihrem situativen Kontext erklären: Für die Bevölkerung des peripheren Distrikts Villa Alta war es weder praktikabel noch sinnvoll, zum Geldtausch nach Mexiko-Stadt zu reisen. Die Auslassung von Inhalten des Ausgangstexts kann somit als eine Art Lokalisierungsstrategie eingeordnet werden. Gleichzeitig widerspricht sie jedoch deutlich dem in Kap. 3 beschriebenen Gesetz, das ‚ohne irgendeine Sache zu verbergen oder hinzuzufügen‘ zu übersetzen gebot.

4.7.2 Subversion durch Translation gesprochener Sprache

Der Begriff der Translation umfasst schriftliche und mündliche Übersetzungsprozesse. Diese letztgenannten können in historischen Studien lediglich indirekt rekonstruiert werden. Im Korpus der hier präsentierten Forschung können mündliche Translationsprozesse z. B. anhand der zahlreichen Protokolle von Zeugenaussagen nachvollzogen werden, die mittels Dolmetscher vor dem Obersten Richter getätigt, verdolmetscht und sodann niedergeschrieben wurden. Für diese Texte muss von einer Modifikation der mündlichen Aussagen durch die Verschriftung ausgegangen werden, wie z. B. die Anpassung an zeitgenössische Konventionen der Schriftsprache, der Wechsel von direkter zu indirekter Redewiedergabe sowie die juristische Überformung der Protokolle. Gleichzeitig jedoch mussten sie die von den Zeugen getätigten Aussagen so getreu wie möglich wiedergeben. Merkmale konzeptioneller sprachlicher Mündlichkeit lassen sich also durchaus anhand dieser schriftlichen Texte rekonstruieren:

Pero la tensión entre este esquema firmemente mantenido […] y la forma primigenia se manifiesta en determinados indicios que parecen remitir a ese discurso efectivamente pronunciado; […] Esos indicios nos llevan a lo efectivamente dicho, a lo hablado, y de esta forma podemos entrever formas del discurso oral, y formas de una determinada época.Footnote 44

Aber die Spannung zwischen diesem streng eingehaltenen Schema […] und der ursprünglichen Form manifestiert sich in bestimmten Merkmalen, die auf diese tatsächlich geäußerte Rede rückzuverweisen scheinen; […] Diese Merkmale führen uns zum tatsächlich Gesagten, zum Gesprochenen, und so können wir Formen der mündlichen Rede erahnen, und Formen einer bestimmten Epoche. (dt. Übers. M.K.)

Diese Möglichkeit, aus den Texten Rückschlüsse über die verschriftete, ursprünglich gesprochene Äußerung zu ziehen, erlaubt es auch, Überlegungen zu den verdolmetschten Ausgangsaussagen anzustellen, aus denen sie entstanden sind. Interessant sind in diesem Zusammenhang vier ProtokolleFootnote 45 von confeçiones (‚Geständnisse‘), d. h. im hier vorliegenden Falle Befragungen bereits inhaftierter Personen, für deren widerrechtliches Handeln in Form von Herstellung von Zuckerrohrschnaps Indizien vorlagen und deren Schuldigkeit nun bestätigt werden sollte. Die durch den obersten Richter in Anwesenheit eines Dolmetschers gestellten Fragen ähneln sich trotz geringer Unterschiede im Wortlaut, und lassen auf einen normierten Fragenkatalog schließen. Von Relevanz für die vorliegende Analyse sind die Antworten der vier Inhaftierten auf die Frage, ob sie von der Verkündung des königlichen Erlasses wussten, der die Herstellung und den Konsum von Zuckerrohrschnaps verbot, sich also der Rechtswidrigkeit ihrer Handlungen bewusst waren (s. Tab. 4.7).

Tab. 4.7 Zeugenaussagen, AHJO, Villa Alta, Criminal, Leg. 0010 Exp. 0025 (1716), Fol. 16v., 18, 23, 23v. (dt. Übers. u. Herv. M.K.)

Besonders auffällig ist dabei die jeweils auf die Antwort folgende Legitimation der rechtswidrigen Handlung, in der sich die Befragten als „dumm“ bezeichnen, Unmündigkeit bzw. Unreflektiertheit eingestehen und Besserung geloben. Hier fällt besonders die uniforme Lexik ins Auge, etwa in Form der Elemente tonto (‚dumm‘) oder no saben lo que (se) hacen (‚sie wissen nicht, was sie tun‘).

Die Formulierungen dienen zur Rechtfertigung des eigenen fehlerhaften Handelns und implizieren gleichzeitig eine verminderte Schuldfähigkeit, was nahelegt, dass sie letztendlich auf eine Milderung des Strafmaßes für das rechtswidrige Verhalten abzielen. Die Uniformität in der sprachlichen Gestalt dieser Aussagen wiederum kann auf zwei mögliche Ursachen zurückgeführt werden: Zum einen könnten die dem Protokoll zugrunde liegenden mündlichen Äußerungen lexikalisch ähnlich, wenn nicht gar gleichlautend gewesen sein, und wurden entsprechend verdolmetscht. Hierfür sprechen die Ausführungen von Cano Aguilar bezüglich des ‚Treueanspruchs‘ solcher Protokolle, jedoch kann die Vermutung nicht zweifelsfrei belegt werden, da die ausgangssprachliche zapotekische Äußerung nicht überliefert ist. Eine andere mögliche Erklärung ist, dass der die Befragung vermittelnde Dolmetscher die Antworten aufgrund ihrer inhaltlichen Ähnlichkeit in der Ausgangssprache Zapotekisch strukturell ähnlich, d. h. lexikalisch und syntaktisch gleichartig in die Zielsprache Spanisch übertrug. In diesem Fall stellte sich aufgrund der ‚Formelhaftigkeit‘ der Translate die Frage, an welcher Norm sich der Dolmetscher bei ihrer Erstellung anstatt der sprachlichen Gestalt der Ausgangstexte orientierte. In beiden Fällen kann der Diskurs der miserables als ein determinierender Faktor identifiziert werden, der – entweder durch die Befragten selbst oder aber durch den Dolmetscher – durchaus strategisch zur Beeinflussung der Rezeption der Zeugenaussagen und deren Konsequenzen eingesetzt wurde.

4.8 Konklusionen

Ausgehend von der Hypothese, dass sich die Translationspolitik in Neu-Spanien nur zu einem geringen Teil in Gesetzen niederschlägt, jedoch aus Translaten und in ihnen beobachtbaren Translationsprozeduren rekonstruieren lässt, wurde in diesem Beitrag zunächst das theoretische Konzept der Glottopolitik auf Translationspolitik übertragen. Zur sozio-politischen Einbettung der Analysen wurde auf den nicht spezifisch auf Translation bezogenen Aspekt europäischer Diskurse über die indigenen ‚Anderen‘ und damit verbundener spanischer Kolonialpolitik zurückgegriffen. In Analysen von Texten, die die Translationspraktiken und -prozeduren im Zuge der Evangelisierung zeigen, wurde zum einen herausgearbeitet, mit welchen Ideen dieser Diskurs in der Kirche geführt wurde, und zum anderen, inwiefern sich diese in den sprachlichen Verfahren der Translation christlicher Inhalte in die zapotekische Sprache niederschlagen. Hier war besonders interessant zu sehen, dass das diskursive Bild der Indigenen als Kinder, das Unmündigkeit und Unschuld einschließt, dazu führte, dass der spanische Ausgangstext durch zahlreiche und aufwändige Ergänzungen an ein Zielpublikum angepasst wurde, das sich als mit begrenzter Auffassungsgabe ausgestattet vorgestellt wurde. Es wurde der Begriff der ‚expandierenden Translation‘ vorgeschlagen; die Expansionen, die hier beobachtet wurden, sind insbesondere detaillierte Erklärungen und litaneiartige Wiederholungen für einzelne Teile des Ausgangstextes.

Ganz ähnliche Prozeduren zeigten sich in den Analysen der Translate im notariellen Bereich. Auch hier konnte anhand einer ins Zapotekische übersetzten königlichen Anordnung im Rahmen einer Währungsreform gezeigt werden, dass der ins Zapotekische übersetzte Text erhebliche Unterschiede zu der spanischen Vorlage aufweist. Diese Unterschiede manifestieren sich auf der sprachlichen Mikroebene, im lexikalischen Bereich, und dahingehend, dass Inhalte des Ausgangstexts im Translat ausgespart oder neue Inhalte eingefügt werden. Diese Unterschiede zwischen Ausgangs- und Zieltext verweisen auf die für den Zieltext neue situative Kontextualisierung und Funktion für die intendierten Textrezipienten. Umgekehrt zeigt sich in den juristisch-notariellen Texten jedoch auch, dass der Diskurs durch Indigene selbst sprachlich reproduziert wurde, was Protokolle verdolmetschter Zeugenaussagen verdeutlichen, die auffällige lexikalische sowie syntaktische Parallelen aufweisen und das Bild der unmündigen miserables, die ‚nicht wissen, was sie tun‘ hervorrufen. In solchen Fällen kann von einer strategischen Nutzung des Diskurses zum Zweck der Strafmilderung ausgegangen werden, die entweder bereits durch die indigenen Urheber*innen der verdolmetschten Äußerungen oder erst durch den Dolmetscher erfolgte.

Im kirchlichen wie auch im notariellen Kontext muss für die Analysen die Kategorie ‚Medienwechsel‘ einbezogen werden, die in jeweils unterschiedlicher Weise entscheidend für die Verinnerlichung der Inhalte durch die indigene Bevölkerung ist. Im Falle des Katechismus konnte für die Teile, die zwar schriftlich verfasst und übersetzt, jedoch mündlich von der indigenen Bevölkerung wiederholt wurden, festgestellt werden, dass sie deren Stimme übernehmen, die mündliche Wiederholung aus ihrem Mund quasi antizipieren, und ihnen damit den sie charakterisierenden Diskurs zur Übernahme und Selbstzuschreibung aufoktroyieren.

Für die Analyse der königlichen Anordnung zeigte sich der Medienwechsel darin, dass der schriftliche Text öffentlich verlautbart und damit als mündliche Kommunikationshandlung von der Bevölkerung gehört wurde. Hier wurde das aufgrund dieser Umstände bereits modifizierte Translat didaktisch überarbeitet, um die zu kommunizierenden Handlungsanweisungen für die indigene Bevölkerung verständlich zu machen. Der Diskurs der indios miserables nahm somit maßgeblichen Einfluss auf den Übersetzungsprozess der analysierten Dokumente; er kann sogar als ein Grund dafür angesehen werden, dass Translation überhaupt stattfand. Zuletzt besteht der Medienwechsel im Fall der Zeugenaussagen in der Übertragung gesprochener Sprache in einen schriftlichen Text, der zwar professionell überformt ist, jedoch die protokollierte Aussage möglichst getreu wiedergeben musste. Somit kann der Schrifttext weiterhin spezifische Merkmale der ursprünglichen mündlichen Äußerung beinhalten, die den Diskurs der Indigenen als miserables transportieren.

Es konnte gezeigt werden, dass Translation sowohl von der Seite der spanischen Kolonialmacht als auch der indigenen Bevölkerung praktiziert und verhandelt wurde. Für den sozio-politischen Kontext der kolonialen Gesellschaft, der durch eine asymmetrische Machtkonstellation gekennzeichnet war, ermöglichte Translation auch der in der sozio-politischen Hierarchie schlechter gestellten indigenen Bevölkerung Teilhabe an sozialen und politischen Aushandlungsprozessen und damit an der Konstruktion der kolonialen Gesellschaft.