Was wäre gewesen, wenn...? Diese Frage stellen Historiker in der Regel eher nicht. Sie fragen vielmehr: Was war? Einige Historiker wenden dennoch den Konjunktiv II bzw. den Irrealis in ihrer Forschung an. So wie der Mainzer Nachwuchshistoriker Heiko Brendel vom Arbeitsbereich Osteuropäische Geschichte der Johannes-Gutenberg-Universität. Wir wollten von ihm wissen, was ihn an der kontrafaktischen Geschichte interessiert und zu welchen Erkenntnissen er möglicherweise dabei kommt.
"Unmöglichkeit ist der Ansatzpunkt für Kontrafaktische Geschichte"
L.I.S.A.: Herr Brendel, Sie beschäftigen sich mit Kontrafaktischer Geschichte. Was ist das eigentlich genau - Geschichte gegen alle Fakten?
Brendel: Geschichtswissenschaft wurde von Ged Martin in seinem Buch „Past Futures“ im Jahre 2004 als „unmögliche Notwendigkeit“ beschrieben: Ihre Notwendigkeit ergibt sich aus dem individuellen und gesellschaftlichen Interesse an der Erforschung und Beschreibung der Vergangenheit. Anhand von Quellen – historische Zeugnisse und Überlieferungen – ist eine kausale Beweisführung in den meisten Fällen jedoch nicht möglich, der Untersuchungsgegenstand der Geschichtswissenschaft ist schlicht zu komplex für diese Herangehensweise. Zudem können keine Experimente durchgeführt werden, und eine Modellierung historischer Prozesse ist nur sehr eingeschränkt sinnvoll. Daher kann man, wie Martin, argumentieren, dass Geschichtswissenschaft eigentlich „unmöglich“ ist.
Genau diese „Unmöglichkeit“ ist der Ansatzpunkt für Kontrafaktische Geschichte. Bei dieser wird auf Grundlage der vorhandenen Quellen kontrolliert spekuliert, was geschehen wäre, wenn bestimmte historische Ereignisse und Entwicklungen anders verlaufen wären, als dies unserer Kenntnis der Vergangenheit nach geschah. Der Startpunkt einer kontrafaktischen Darstellung wird Divergenz- oder Wendepunkt genannt, von diesem Zeitpunkt an weicht die alternative Geschichte vom überlieferten Geschichtsverlauf ab. Je lückenhafter die Quellenlage ist und je länger vom Divergenzpunkt ausgehend in eine hypothetische Zukunft geschaut werden soll, desto spekulativer das Unterfangen des Fortschreibens der kontrafaktischen Geschichte. Und je spekulativer es wird, desto geringer wird üblicherweise der geschichtswissenschaftliche Wert. Während nur wenige Historiker explizit kontrafaktische Überlegungen heranziehen, geschieht dies implizit recht häufig, wenn es um die Wertung von Ereignissen oder die Bedeutung von Personen für den Geschichtsverlauf geht.
Belletristische Alternativgeschichtstexte sind als Vorläufer der Kontrafaktischen Geschichtsschreibung zu sehen, wobei es sich um ein Kontinuum handelt, bei dem die Zuordnung einzelner Texte durchaus schwerfallen kann. Sowohl bei belletristischen als auch bei wissenschaftlichen Alternativtexten wählen die Autoren bevorzugt militär- und politikgeschichtlich relevante Divergenzpunkte.
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