21 Sep

Hegel und die Notwendigkeit des Zufalls

Würfel am Tisch

Von Achim Wamßler (Berlin)


Wer die gemeine Hegelianerin fragt, was das Erste ist, was ihr zum Zufall bei Hegel einfällt, wird wohl in den allermeisten Fällen hören: Hegels Rede von der Notwendigkeit des Zufalls. Doch abgesehen von der Griffigkeit dieser Wendung, mit der Hegel andeutet, dass er ein durchaus guter Twitternutzer gewesen wäre, ist es alles andere als klar, was er damit eigentlich meint. Das Ziel dieses Beitrags ist, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Dafür möchte ich zuerst drei Formen von Zufall definieren, um ein Vorverständnis für das Thema zu gewinnen. Zweitens möchte ich zeigen, dass sich Hegel mit der spezifischen Art des Zufalls, die bei dem Ausdruck »Notwendigkeit des Zufalls« zentral ist, Probleme hinsichtlich Letztbegründungsfragen der Welt einhandelt, die alles andere als einfach zu beantworten sind. Und schließlich werde ich erläutern, wie Hegel diese Probleme aus dem Weg zu schaffen glaubt, womit sich dann auch zeigt, was Hegel meint, wenn er von der Notwendigkeit des Zufalls spricht.

Drei unterschiedliche Bedeutungen von Zufall

Bevor ich anfange, möchte ich noch zwei Anmerkungen machen. Erstens werde ich in diesem Text die Begriffe »Zufall« und »Kontingenz« synonym verwenden bzw. letzteren erst gar nicht nutzen. Denn nicht nur kommt dem Begriff »Kontingenz« keine Bedeutung bei Hegel zu. Auch existieren unabhängig von Hegel im Deutschen zwar Vorschläge, aber es existiert kein Konsens hinsichtlich einer sinnvollen Unterscheidung beider Begriffe.

Die zweite Anmerkung ist eine Unterscheidung von drei allgemeinen Formen von Zufall. Zugegebenermaßen handelt es sich dabei um eine etwas grobe Differenzierung, die das Thema natürlich nicht vollständig fasst, die uns aber im Folgenden eine erste Orientierung bieten kann, in welchem Rahmen Hegel von Zufall spricht. Am Allgemeinsten lässt sich Zufall als eine Form von Unter- oder Unbestimmtheit von Phänomenen und Sachverhalten hinsichtlich ihrer Ursachen und Gründe verstehen. (Das soll nicht bedeuten, dass jegliche Form der Unterbestimmtheit eine Form des Zufalls ist, aber zumindest so viel, dass jeder Zufall eine Form der mangelnden Bestimmung eines Sachverhaltes darstellt.) Vor diesem Hintergrund möchte ich folgende Zufallskonzeptionen unterscheiden:

  • Ein epistemischer Zufall ist eine Unterbestimmtheit an Wissen, welche Gründe oder Ursachen für ein Phänomen verantwortlich sind.
  • Bei einem ontologischen Zufall handelt es sich hingegen um eine Unterbestimmtheit an Gründen und Ursachen, die dem Sachverhalt selbst zukommt und nicht nur dem menschlichen Wissen um dieses.
  • Darauf aufbauend lässt sich ein absoluter Zufall als starke Form des ontologischen Zufalls definieren, wenn man ihn als das Fehlen von jeglichen Gründen und Ursachen für einen Sachverhalt versteht.

Realer Zufall und hypothetische Notwendigkeit bei Hegel

Wendet man sich nun Hegels Notwendigkeit des Zufalls zu, zeigt sich, dass in erster Linie die letzten beiden Formen dafür relevant sind. In der Wissenschaft der Logik ist eine zentrale Form von Zufall der »reale Zufall«, den Hegel gelegentlich auch »relativer Zufall« nennt und den man auch als hypothetischen Zufall bezeichnen könnte. Er gehört der oben genannten zweiten Form des Zufalls an, dem ontologischen Zufall, und ist dann gegeben, wenn Sachverhalte zwar Ursachen oder Gründe haben, diese Ursachen oder Gründe aber selbst unterbestimmt sind, weil unklar ist, ob oder inwiefern sie existieren. Ein gutes Beispiel hierfür sind Kausalbeziehungen. Nimmt man nur ein einzelnes Ursache-Wirkungsverhältnis in den Blick, etwa den Stoß, den eine schwarze Billardkugel durch eine rote erfährt, ist das Verhältnis ein notwendiges. Gerade diese Notwendigkeit macht es zur Kausalbeziehung. Ob die rote Kugel selbst nun aber von einer weißen oder einer andersfarbigen, vom Wind oder meiner Hand ihre ursprüngliche Bewegung erfahren hat, bleibt dabei offen, das heißt unterbestimmt. Dabei muss es sich nicht nur um einen epistemischen Zufall handeln, insofern bei einem real erfolgten Stoß die ursprüngliche Bewegung der roten Kugel eine Ursache haben muss, diese aber nicht bekannt ist. Wenn man das Szenario als ein hypothetisches betrachtet, lässt sich die Unterbestimmtheit auch als Frage formulieren, ob die rote Kugel überhaupt in Bewegung gerät.

Letztbegründung und Determinismus

Was hat nun die hypothetische Notwendigkeit mit Hegels Notwendigkeit des Zufalls zu tun? Um diese Frage zu beantworten, muss man wissen, dass von der Notwendigkeit des Zufalls in einer Textpassage spricht, in der es ihm nicht mehr im engeren Sinn um die gerade beschriebene hypothetische Notwendigkeit geht, sondern um die absolute. Das meint, dass sich Hegel in diesem Textteil die folgende Frage stellt: Wenn jedes einzelne wirkliche Ding in der Welt eine Ursache oder einen Grund hat, der es notwendig macht (hypothetische Notwendigkeit), gibt es dann einen Grund oder eine Ursache, die das Ganze der Welt notwendig macht (absolute Notwendigkeit)? Auf diese klassische Frage der metaphysischen Letztbegründung aller Wirklichkeit gibt es mehrere Arten zu antworten. Leibniz etwa beantwortet sie mit Verweis auf einen personifizierten Gott, der die Welt als ganze schöpft. Demgegenüber geht Spinoza (neben Leibniz der zweite wichtige Gesprächspartner für Hegel bei diesem Thema) davon aus, dass Gott eine unpersönliche Substanz ist, die nicht nur die Ursache aller Dinge ist, sondern letztlich auch identisch mit diesen Dingen – es also streng genommen nur eine einzige große Entität gibt: Gott.

Bevor ich mich nun Hegels eigener Position hierzu und damit der Verbindung von hypothetischer Notwendigkeit und Hegels Notwendigkeit des Zufalls zuwende, ist es hilfreich, sich einer Schwierigkeit bewusst zu sein, die sich sowohl bei Leibniz als auch bei Spinoza findet. Die Antworten beider auf die Letztbegründungsfrage gehen mit dem Merkmal einher, dass es keine Lücken im Gesamtgefüge der Wirklichkeit gibt. Wenn jede einzelne Sache in der Welt eine Ursache oder einen Grund hat, der diese Sache notwendig macht und die Welt die Summe aller einzelnen Dinge ist (Spinoza) oder von Gott notwendig so geschaffen wurden (Leibniz), dann ist letztlich alles notwendig, das heißt, es gibt schlichtweg keinen ontologischen Zufall, wie ich ihn oben definiert habe. Hegel lehnt diese Konsequenz jedoch aus verschiedenen Gründen ab. Ein wichtiger Grund ist der, dass es auf diese Weise unklar bleibt (wenn nicht sogar unmöglich ist), inwiefern Menschen frei und spontan handeln können, wenn alles in der Wirklichkeit, also auch menschliche Handlungen notwendig sind. Unter anderem aus diesem Grund möchte Hegel einem Determinismus oder gar Nezessitarismus aus dem Weg gehen (letzterer kann so verstanden werden, dass nicht nur alles nach Gesetzen notwendig ist, sondern diese Gesetze selbst notwendig sind).

Drei Typen von Verursachung bei Hegel

Die Gefahr eines Determinismus oder des stärkeren Nezessitarismus stellt sich für Hegel auch vor dem Hintergrund, dass er, grob gesagt, nur drei unterschiedliche Arten von Verursachung bzw. Begründung kann (Verursachung und Begründung geht bei ihm Hand in Hand). Die erste ist die formal-logische Begründungsart, die beispielsweise in Gestalt verschiedener Urteilsformen daherkommt, etwa »A ist B, C oder D«. Die Eigenheit dieses Begründungstypus ist, dass er Sachverhalte beschreibt, indem er von so vielen Details wie irgend nur möglich abstrahiert. Aus diesem Grund ist seine Aussagekraft, was reale Dinge anbelangt, beschränkt. So lässt sich zwar sagen, dass alles, was existieren muss, keinen internen Widerspruch aufweisen darf, aber ob es tatsächlich existiert, hängt an viel mehr Faktoren ab. Ebenso das Urteil »Dies ist ein Nashorn«. Es sagt zwar etwas über den Gegenstand aus, der erkannt wird, nämlich dass er die Merkmale hat, die Nashörnern wesentlich zukommen. Jedoch ist die Aussagekraft begrenzt, zum Beispiel weil aus dem Urteil nicht einmal hervorgeht, um welche Nashorn-Unterart es sich handelt. Kausalität hingegen, der zweite Verursachungs-/Begründungstypus bei Hegel, ist dafür schon geeigneter. Denn kausale Erklärungen sind Erklärungen, die Ursachen für einzelne Gegenstände im Raum zu einem spezifischen Zeitpunkt angeben. Nichtsdestotrotz hat auch diese Art von Verursachung eine Schwachstelle. Sie führt zu einem unendlichen Regress: Zwar hat jede Wirkung notwendig eine Ursache. Aber dies führt zu einer kausalen Kette von Ursache-Wirkungsbeziehungen, die, wenn nicht mit anderen Mittel begründet, prinzipiell ohne Anfang ist. Aus diesem Grund sind für Hegel Kausalverursachungen, anders als häufig für moderne Wissenschaften, mangelhaft, weil mit ihnen keine Letztbegründung möglich ist, um die es Hegel aber in seiner Philosophie unter anderem geht. Anders formuliert: Hat man nur das Kausalitätsparadigma an der Hand, muss die Frage, ob die Welt einen Anfang hat und wie dieser ggf. aussieht, verneint werden oder kann im besten Fall nicht beantwortet werden.

Das entscheidende Moment in Hegels Philosophie ist nun die zweckhafte Verursachung. Aufgrund des Problems, das mit der Kausalität einhergeht, ist Hegel nämlich der Ansicht, dass zielgerichtete Verursachung (zum Beispiel menschliches Handeln) nicht auf kausale Ursachen reduziert werden kann, wie dies heutzutage in der naturwissenschaftlichen Praxis üblich ist. Für ihn ist zielgerichtete Verursachung eine eigenständige Form der Wirkung in der Welt. Dabei gibt es Finalursachen für Hegel nicht nur im Rahmen von subjektivem Handeln, insofern sich Menschen Ziele setzen und diese unter Rückgriff auf mehr oder weniger geeignete Mittel zu verwirklichen versuchen. Zwecke gibt es auch in der objektiven Welt in Form von Prozessen, die ohne eine menschlich subjektive Komponente einhergehen. Eines der wichtigsten Beispiele hierfür sind biologische Organismen. Wichtig für meine Argumentation ist dabei, dass diese Form von Verursachung auch eine Alternative zum Determinismus bereit hält: Zwar ist es auch bei zweckhafter Verursachung so, dass es keine Erklärungs- oder Verursachungslücken im Sinn eines absoluten Zufalls gibt, da jeder verwirklichte Zweck einen Grund in Form eines ihm vorhergehenden oder immanenten Zieles besitzt. Jedoch zeichnen sich zweckhafte Prozesse durch vor allem zwei relevante Formen von ontologischer Unterbestimmtheit aus. Erstens durch ein spontanes Moment. Paradigmatisch hierfür (aber nicht darauf begrenzt) ist für Hegel Akteurskausalität, das heißt, die menschliche Fähigkeit zu wählen und auf diese Weise Kausalketten zu unterbrechen oder neu zu beginnen. Und zweitens sind Zweckprozesse immer auch von einer Form von Zufall bedroht, die man zweckhaften Zufall nennen könnte: Aus Sicht eines Handlungsziels können alle Umstände, die nicht zu diesem Ziel führen, als zufällig bezeichnet werden. Dies geschieht beispielsweise, wenn ich »zufällig« jemanden auf der Straße treffe. Der Zufall, von dem dabei die Rede ist, ist keine absolute Unterbestimmtheit an Ursachen und Gründen. Meinerseits und seitens der Person, die ich zufällig auf der Straße antreffe, gibt es durchaus Gründe, warum jeder von uns genau zum gegebenen Zeitpunkt diese Straße entlangläuft. Nur haben diese Gründe nichts mit dem Zusammentreffen selbst zu tun. Niemand von uns hat dies intendiert. Unser Treffen ist also dem Handlungsziel äußerlich.

Hegels Lösung des Determinismusproblems

Mit diesen Vorarbeiten können wir nun zu unseren Ausgangspunkten zurückkehren: erstens zu Hegels eigener Letztbegründungsstrategie, zweitens seiner Alternative zu einem Determinismus sowie drittens der Bedeutung der Notwendigkeit des Zufalls. Was Ersteres anbelangt, ist zu sagen, dass Hegel seine Position mit und gegen Leibniz und Spinoza entwickelt. Einerseits kritisiert er Spinoza dafür, dass in dessen Konzeption Gott eine unpersönliche Substanz ist. Spinoza erklärt gemäß Hegel zwar, dass alles eine Substanz ist und aus dieser Substanz heraus alles mit Notwendigkeit entsteht und erklärt werden kann. Er führt aber nicht aus, wie das genau der Fall sein soll und verweist auf eine bloß logisch notwendige Entwicklung der einzelnen Momente der Welt. An Leibniz kritisiert er hingegen, dass dieser zwar diese logische Notwendigkeit überkommt, aber nur dadurch, dass er einen der Welt externen und wählenden Gott annimmt, der am Anfang von allem steht. Etwas salopp gesagt, nimmt Hegel nun von Spinoza die Idee einer Totalität der Wirklichkeit, die ohne personifizierten Gott auskommt und von Leibniz nimmt er die Idee, dass es ein subjektives Moment gibt, dass diese Totalität zu dem macht, was sie ist. Dieses Moment ist nun aber gerade kein personifizierter Gott, der der Wirklichkeit äußerlich ist, sondern ein zweckmäßiges, das heißt auf ein Ziel hinauslaufendes Prinzip, das den einzelnen Momenten der Wirklichkeit immanent ist. Das heißt, die konkreten raumzeitlichen Dinge instanziieren dieses Prinzip, das nicht unabhängig von diesen Dingen existiert.

Hiervon ausgehend lässt sich nun zweitens zeigen, inwiefern Hegel eine Alternative zu einem Determinismus anbieten kann. Denn dadurch das Hegel das subjektive Moment als zweckmäßig konzipiert und sich zweckmäßige Prozesse nicht auf kausale reduzieren lassen, halten auch die beiden Formen von Zufall Einzug in seine Konzeption von Wirklichkeit, die ich oben erwähnt habe: Spontaneität (unter anderem in Form von Wahlfreiheit) und der zweckhafte Zufall, der aufgrund von Äußerlichkeiten entsteht.

Schlussendlich und drittens können wir auch zu der Ausgangsfrage dieses Textes zurückkommen: der Bedeutung von Hegels Rede von der Notwendigkeit des Zufalls. Indem Hegel dafür argumentiert, dass sich notwendig aufzeigen lässt, dass die Letztbegründung der Welt auf ein zweckhaftes Prinzip verweist, und dadurch, dass es zweckhafte Prozesse für Hegel wirklich gibt, die nicht auf kausale reduzierbar sind – dadurch behauptet er gleichzeitig, dass der gerade erwähnte zweckhafte Zufall und der Zufall im Sinn von Spontaneität ein notwendiger Teil der Wirklichkeit ist.


Achim Wamßler ist Mitglied der praefaktisch-Redaktion und promoviert an der Freien Universität Berlin zum Zufallsbegriff bei Hegel.

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