Zum Teufel mit der Realität – Die fernen Orte des Versagens

Wer Witzel liest, muss bereit sein, sich auf ein Abenteuer einzulassen. In diesem Erzählband sind es gleich mehrere. Wie immer taumelt man von einem Abgrund zum nächsten um, kaum glaubt man sich in ruhigeren Gewässern, von der nächsten aberwitzigen Wendung überrascht zu werden.

Bei einer Lesung im Rahmen von LiteraTour Nord sagte Frank Witzel vor einigen Wochen, seine Texte seien surreal und zwar in dem Sinne, dass man beim Lesen noch gar nicht groß stutzig wird, dann aber das Buch zuschlägt und denkt, das sei doch alles gerade Quatsch gewesen. Tatsächlich ist das eine recht akkurate Beschreibung dessen, was Witzels Texte ausmacht, und auch dieses Buch ist keine Ausnahme. Und ich meine das ausschließlich positiv!

Mit Die fernen Orte des Versagens ist ein Erzählband erschienen, der damit beginnt, dass man eigentlich gar nicht mehr erzählen kann. Ein Autor lässt sich einem Freund gegenüber bitterböse über den Literaturbetrieb aus. Seine Weigerung zu schreiben wurde jüngst ausgelöst durch eine Bemerkung zu einem Buch von Thomas Bernhard, das er gedankenlos aus dem Regal zog und auf dessen Rücken er die Kritikermeinung las, es sei das „vielleicht schönste“, was Bernhard jemals geschrieben habe. An dieser unschuldig wirkenden Bemerkung entzündet sich sein ganzer Zorn. „Schön“ sei als ästhetisches Urteil eine Bankrott-Erklärung, die dann auch noch feige im gleichen Moment durch ein „vielleicht“ entkräftet wird. Für solche Menschen, für solch einen Betrieb will der Autor nicht mehr schreiben.

„Der Plot, die Handlung, das alles dient nur dazu, die Leser zu übertölpeln. Sie sollen nicht länger an die Millionen und Abermillionen Geschichten denken, die nie erzählt wurden und werden, sondern sich von einer mühsam zusammengepressten Erzähllogik blenden lassen.“

S. 78

Dennoch präsentiert er im folgenden dreizehn Erzählungen, die in ihrer Länge sehr variieren, ebenso in ihrer Thematik. Meistens beginnen die Texte recht harmlos, kommen dann aber bald vom Weg ab und bohren sich, Abschweifung um Abschweifung, immer tiefer ins Surreale, immer tiefer in die Abgründe des Menschseins. Vermeintlich gesetzte Charaktere offenbaren teils verstörende Phantasien, es gibt einen kurzen Ausflug in die Rechtsphilosophie, einen echten Höllenhund und eine verfluchte Frau, die nur durch ein Huhn und einen Strohbesen erlöst werden kann.

Jede einzelne dieser Erzählungen ist ein großes Vergnügen für sich. Manchmal wünscht man sich, es ginge jetzt mal voran mit dem Erzählen, aber dann verheddert der Erzähler sich nochmal in einem Seitenstrang, stolpert über eine weitere Erinnerung und dann ist man schon wieder ganz woanders, der eigentlich Ausgangspunkt schon lange vergessen. Erzählungen dieser Art nennt man gerade mit großer Begeisterung ein „Möbiusband“ und ich glaube, der Literaturbetrieb ist einfach froh, endlich ein griffiges Wort gefunden zu haben für „wie diese Treppe bei Hundertwasser, Sie wissen schon…“ Sie wissen schon. Wo es aufhört, wo es endet, ob man gerade hoch oder runter geht – wen kümmert das? Am Ende, stellt der Erzähler schon recht früh fest, ist es ohnehin absurd zu erzählen und diene nur dazu, von all dem abzulenken, was nicht erzählt wird. Wer will das schon entscheiden können, was erzählenswert ist und was nicht?

Mühsam ringt der Autor sich durch, doch noch das zu präsentieren, was er als „Erzählstümpfe“ empfindet, nachdem er zu dem Schluss gekommen ist, dass das „Erzählen der Unterhaltung und ausschließlich ihr zu dienen hat.“ Es lebe also die Unterhaltung!

Frank Witzel: Die fernen Orte des Versagens.
Matthes & Seitz 2023, 346 Seiten.
978-3-7518-0937-5

2 Gedanken zu “Zum Teufel mit der Realität – Die fernen Orte des Versagens”

  1. Frank Witzel weiß wie man (nicht?) Werbung für seine Bücher macht. Oder eben neugierig. Wandert auf jeden Fall auf die Leseliste.

    BTW hast du offenbar die Lösung für das alte Problem der Buchblogger:innen gefunden wie man das Buch aufhält, damit man ein Foto machen kann. 😉 Schöne Lösung.

    Gefällt 1 Person

    1. Ja, Frank Witzel war auch im Buchhandel immer mein Verkaufs-Sorgenkind 🙂 Aber ich lese ihn wirklich gerne. Und er sagt, seit dem Buchpreis 2015 kann er vom Schreiben leben. Das freut mich natürlich sehr.

      Und danke! Das Aufhalt-Problem ist gelöst, als nächstes arbeite ich daran, wie man labberig gebundene Taschenbücher auf dem Schnitt ausbalanciert. Aber zum Glück les ich oft Bücher aus der Bib, da ist ja immer noch eine Lage Folie drum.

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