Vierter Abschnitt Toleranz und Ähnliches

Melanchthon, wegen seiner Milde bekannt, rühmte Kalvin ausdrücklich wegen der Verbrennung des Servet und verlangt „die Verhängung bürgerlicher Strafen bis zur Todesstrafe gegen die Katholiken[83]. Das war noch ganz der Geist der Bamberger Halsgerichtsordnung von 1507, die bestimmte: „Wer durch die ordentlichen geistlichen Richter für einen Ketzer erkannt und dafür dem weltlichen Richter überantwortet wurde, der soll auf dem Feuer vom Leben zum Tode bestraft werden“.

Die Exkommunikationsformel gegen den Rat der Stadt Magdeburg lautete: „Er scheide sie (die Katholiken) als faule, stinkende Glieder ab von der Gemeinde Christi, er schließe ihnen den Himmel zu und die Hölle weit auf, er übergebe sie dem leidigen Teufel, sie am Leibe zu martern, zu quälen und zu plagen,... er gebiete auch von Amts wegen, daß andere Christen sich solcher verbannten Menschen gänzlich enthalten, mit ihnen nicht essen oder trinken, sie zur Hochzeit oder ehrlicher Gesellschaft nicht laden,... sie auf der Straße nicht grüßen und in Summa für Heiden oder Unchristen halten sollen mit allen ihren Sünden teilhaftigen Anhängern, bis sie ihre Sünden bekennen und Kirchenbuße tun“[84].

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Über die von den Protestanten unter Karl II. in England unternommene große Katholikenverfolgung schreibt Macaulay: „Inzwischen waren die Gerichtshöfe, welche inmitten politischer Bewegungen sichere Zufluchtsstätten für die Unschuldigen jeder Partei sein sollen, durch wildere Leidenschaften und schmutzigere Bestechungen beschimpft, als selbst bei den Wahlbühnen zu finden waren... Bald strömten aus allen Bordellen, Spielhäusern und Bierkneipen Londons falsche Zungen hervor, um Römisch-Katholische um ihr Leben zu schwören.“ Damals fielen Tausende und Abertausende den Protestanten zum Opfer[85].

Wie Felix Platter berichtet, wurden im Jahre 1554 Protestanten in Frankreich mit dem Tode bestraft, ein Vornehmer aber an die Galeere geschmiedet. Im gleichen Jahre sah er in Avignon oben am Palast Reformierte im eisernen Käfig zu Tode eingesperrt.

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Das lutherische Sachsen war ängstlich darauf bedacht, jeglichen kalvinistischen „Irrglauben“ fern zu halten. Da der Kanzler Christians I., Dr. Krell, einer weitherzigeren Ansicht huldigte, wurde er am Tage der Beerdigung seines Herrn (1591) verhaftet und ihm der Prozeß als Kryptokalvinisten gemacht. Zehn Jahre lang mußte er Sommer und Winter in einem fast überall offenen Kerker sitzen, wo er „in dem Stank und Unflat ganz verderben“ mußte. Als älterer, von der Gicht schwer heimgesuchter Mann, mußte er im Krankenstuhl aufs Schafott getragen werden [86]. Hinsichtlich der Toleranz haben sich die verschiedenen christlichen Konfessionen gegenseitig nichts vorzuwerfen; sie alle befolgen gewissenhaft das Bibelwort: „So jemand zu euch kommt und bringet diese Lehre nicht, den nehmet nicht (auf) zu Hause und grüßet ihn auch nicht. Denn wer ihn grüßet, der machet sich teilhaftig seiner bösen Werke!“ (II. Joh. 10) und „Wer glaubet und sich taufen läßt, wird selig werden; wer aber nicht glaubet, wird verdammet werden.“ (Mark. 16, 16).

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Erst im Laufe des 17. Jahrhunderts läßt man in der Praxis den Grundsatz cuius regio, eius religio ganzen Völkern gegenüber fallen und versucht nicht mehr, ihnen die Konfession des Landesherren aufzuzwingen, wenn etwa der Landesherr konvertiert, oder durch Erbschaft in den Besitz von Landesteilen mit anderer Konfession kommt[87]. Früher wurde in rücksichtsloser Weise auch in solchen Fällen zum Glaubenswechsel gezwungen. Man denke etwa an die Pfalz! Natürlich erwartete man, daß die Untertanen nun auch aus Überzeugung der neuen Konfession anhingen.

Im Jahre 1634 tat der Hofprediger des Herzogs Johann Georg I. von Sachsen den Ausspruch: „Den Kalvinisten zu ihrer Religionsübung helfen ist wider Gott und Gewissen und nichts anderes, als dem Urheber der kalvinistischen Greuel, dem Teufel, einen Ritterdienst leisten.“

In Kassel, einer reformierten Stadt, durften die Lutheraner noch in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts in ihrer Kirche keine Orgel haben, auch war ihnen das Taufen und Kopulieren verboten, das beides von reformierten Geistlichen vollzogen werden mußte.

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Als im Jahre 1747 ein im Brückenturm zu Frankfurt a. M. befindliches Spottgemälde auf die Juden nächtlicherweile zerstört worden war, ließ der Magistrat es wieder erneuern.

Noch 1756 war den Juden verboten, die sogenannte Allee, den jetzigen Goetheplatz, in Frankfurt zu betreten. Erst im Jahre 1806 wurde allen Einwohnern ohne Ausnahme der Gebrauch der öffentlichen Spaziergänge gestattet.

Bekanntlich trugen die Juden im Mittelalter zum Unterschied von den Christen gewisse Abzeichen, spitze Hüte, gelbe Ringe usw. Noch im Jahre 1786 wurde den Juden in Frankfurt eingeschärft, sie müßten schwarze Mäntel als Abzeichen tragen, zugleich wurde ihnen untersagt, Spazierstöcke zu führen. Bis zum Schluß des 18. Jahrhunderts durften sie ihre Gasse an Sonn- und Feiertagen erst nach Beendigung des Nachmittagsgottesdienstes verlassen.

Im Jahre 1800 hielt ein Doktor der Medizin, der in Frankfurt ein öffentliches Badhaus besaß, es für nötig, folgende Bekanntmachung zu erlassen: Es laufe das Gerücht um, die Juden könnten sich eines jeden seiner Bäder bedienen; er zeige daher an, daß nur zwei der letzteren zur Benutzung durch Juden bestimmt seien, also kein Christ in ein Juden- und kein Jude in ein Christenbad eingelassen werde, sowie daß auch das Weißzeug für beide Teile besonders gezeichnet sei.

Noch im Jahre 1807 ließ man die Juden in den Kaffeehäusern Frankfurts nicht zu, und doch war damals bereits ein toleranter und aufgeklärter Fürst Gebieter der Stadt.

Im Jahre 1817 brach in Frankfurt, wie in vielen anderen deutschen Städten, eine Judenverfolgung aus. Erst 1832 wurde ihnen das Recht gewährt, mehr als ein Haus und einen Garten besitzen zu dürfen. Bis 1834 bestand eine Vorschrift, nach der jedes Jahr nur eine bestimmte Anzahl jüdischer Ehen geschlossen werden durfte. Vollständige Gleichberechtigung mit den Christen wurde den Juden erst 1864 in Frankfurt eingeräumt!

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In Italien ging es den Juden nicht besser. Keyßler erzählt in seinen „Reisen“ (Hannover 1776, S. 177) im Jahre 1730 von strengen Judengesetzen. Z. B. wurde jede auch noch so geringe Lästerung gegen Maria, Heilige oder deren Bilder mit dem Tode bestraft. „Manns- und Frauenpersonen der jüdischen Nation müssen, sobald sie über 14 Jahre alt sind, auf der rechten Brust ein gelbes Zeichen von Wolle oder Seide, ein Drittel Ellen lang, tragen, damit man sie von Christen unterscheiden könne. Die jüdischen Eltern müssen ihren Kindern, welche sich zum Christentum wenden, alles das hinterlassen, was diese bekommen hätten, wenn ihre Aeltern ohne Testament gestorben wären. Zu solchem Ende wird gleich bei der Bekehrung des Sohnes ein Inventarium über das Vermögen des Vaters errichtet. Die Kinder bekommen auch den Genuß der Güter, welchen sonst ihre Väter würden gezogen haben, so lange sie unter der väterlichen Gewalt geblieben wären. In der Charwoche dürfen die Juden von Mittwochen an bis daß Sonnabends die Glocken geläutet werden, nicht aus ihren Häusern gehen, und müssen ihre Thüren und Fenster, bey Strafe eines dreytägigen Gefängnisses mit Wasser und Brodten, zu halten. Sie dürfen auch diese Zeit über auf keinem musikalischen Instrument in ihrem Hause spielen oder singen, wo sie nicht den öffentlichen Staupenschlag zur Vergeltung haben wollen.“

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Frankfurt war eine protestantische Stadt, und deshalb nahm man in echt christlicher Milde und Nächstenliebe seit 1591 keinen katholischen Mitbürger mehr in den Rat auf.

Noch am 2. Juli 1781 sprach ein Schöffendekret in betreff des Sporerhandwerks aus: einen Katholiken oder Reformierten als Lehrling anzunehmen sei allerdings erlaubt, nicht aber ihm das Meisterrecht zu gewähren.

Der im Jahre 1796 zugelassene Dr. med. Lejeune aus Verviers war der erste als Arzt rezipierte katholische Bürger von Frankfurt. Seit 1624 hatte in Frankfurt kein Katholik den ärztlichen Beruf ausüben dürfen.

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Im 18. Jahrhundert gestattete man den jüdischen und katholischen Verbrechern in Frankfurt weder den Besuch ihrer Geistlichen im Gefängnis noch deren Begleitung bei der Hinrichtung, was beides im 17. Jahrhundert mehrmals zugelassen worden war. Statt dessen drang man den Delinquenten lutherische Geistliche auf. Als im Jahre 1750 ein Katholik hingerichtet wurde und ein Dechant ihn im Vorbeigehen aus dem Fenster heraus absolvierte, wurde das Volk aufs höchste erbittert und hätte ihn fast gesteinigt. Der Rat aber faßte ein Memorandum ab, das eine Protestation und den Ausspruch des Vertrauens enthielt, daß der Dechant und die übrige katholische Geistlichkeit künftig in ähnlichen Fällen nicht wieder derartige Neuerungen sich anmaßen würde, da andernfalls die rechtliche Ahndung folgen würde.

In Frankfurt, einer gleich Hamburg streng lutherischen Stadt, durften die Reformierten ihre Ehen und Taufen nur von lutherischen Geistlichen vollziehen lassen. Diese Vorschrift blieb auch dann noch bestehen, als 1781 den Reformierten erlaubt worden war, für ihre beiden Teile, die Wallonen und die Deutschen, zwei Bethäuser in der Stadt selbst zu errichten, und als 1792 und 1793 der Gottesdienst in diesen neuen Räumen eröffnet worden war. Bisher hatten die Frankfurter Reformierten selbst in ihren Privathäusern keinen Gottesdienst halten dürfen. Erst im Jahre 1806 wurde die Gleichberechtigung aller christlichen Konfessionen dort proklamiert.

Fast alle Handwerksinnungen nahmen Reformierte nicht als Meister auf. Noch 1774 versagte man in Frankfurt einem Schneider, 1779 einem Kürschner das Meisterrecht für ihre reformierten Ehefrauen. Der erste mit einem bezahlten städtischen Amt bedachte Reformierte war – vom Physikus Peter de Spina, der 1640 angestellt wurde, abgesehen – ein 1780 angenommener Lazarettchirurg und der 1783 zum Fähnrich ernannte Hassel. Also auch in Goethes Zeit noch war es eine große Ausnahme, wenn die lutherische Stadt einen Reformierten anstellte, was einem Katholiken gegenüber überhaupt ausgeschlossen war[88].

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Im Jahre 1855 fällte das Konsistorium zu Speier wegen einer Mischehe zwischen einem Christen und einer Jüdin folgende Entscheidung: „Daraufhin (auf die Mischehe) hat das kgl. Konsistorium unterm 29. September 1855 im Namen des dreieinigen Gottes und kraft des Befehles Jesu Christi die definitive Exkommunikation über den besagten M. ausgesprochen und ihn hierdurch aus der christlichen Gemeinde ausgeschlossen“[89].

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In dem Buche von Gottfried Thomasius „Grundlinien zum Religionsunterricht an den oberen Klassen gelehrter Schulen“, 8. Aufl., bearbeitet von Karl Christ. Burger, Oberkonsistorialrat, Erlangen 1893, einem an bayerischen Gymnasien eingeführten Lehrbuch, findet sich auf S. 97 folgende Stelle: „Daß.. die Einheit des Glaubens vielfach gebrochen ist, daß verschiedene und in wesentlichen Glaubensartikeln einander widersprechende Konfessionen bestehen, das ist ein schweres Übel und ein bitterer Schmerz für alle Christen.“ – Da entsteht die Frage, welche Kirche die wahre sei? Und darauf ist die Antwort A(ugsburgische) K(onfession) VII: Diejenige, die sich in ihrem Bekenntnis und in der Verwaltung der Gnadenmittel der Heiligen Schrift gemäß hält. „Die evangelisch-lutherische Kirche hat dieses Zeugnis und will daher mit der menschlich-gemachten Union unverworren bleiben.“ Der glaubensstarke Autor möchte augenscheinlich am liebsten heute noch Zustände, wie sie oben geschildert sind. Gottlob kümmern sich gegenwärtig die wenigsten Menschen um solche Finessen. Für sie dürfte kaum noch jemand Zeit haben, es sei denn ein versöhnlicher Prediger des Evangeliums. Ist es unter diesen Umständen ein Wunder, wenn oft gerade die Besten, vom konfessionellen Gezänk angewidert, der Kirche den Rücken kehren?

Im gleichen Werkchen S. 51 ist der eben nicht leichte Versuch gemacht zu beweisen, daß die bei Horaz (Ep. I, 16, 52) im Satze Oderunt peccare boni virtutis amore aufgestellte Moral weniger erhaben ist als die christliche. Dort guttun um der Sache willen, hier für Lohn, wenn auch erst im Jenseits. Die Entscheidung dürfte nicht schwer sein.

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Der erste Fürst, der seinen Untertanen völlige Religionsfreiheit, zwar nicht de jure, aber de facto gewährte, war Friedrich der Große von Preußen. Im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 wurde diese Freiheit erst kodifiziert, aber nicht etwa als Geschenk des Fürsten, sondern als angeborenes Recht des Bürgers [90]. Wie sich doch die Zeiten ändern!

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Früher schon hatte der edle Kaiser Joseph II. seine Völker von Glaubens- und Gewissenszwang befreien wollen, aber das Resultat war recht dürftig. Das Zirkular Josephs II. vom 30. April 1783 bestimmt z. B.:

Personen, die aus der katholischen Kirche austreten wollen, „sollen sechs Wochen lang in Klöstern oder von ihrem Pfarrer unterrichtet werden, wobei die Pfarrer angewiesen sind, alles mögliche zu versuchen, sie von ihrem Irrtum zurückzuführen.“ Zu den tolerierten Kirchen wurden, trotz Josephs persönlicher Weitherzigkeit, nur die „augsburgischen und helvetischen Religionsverwandten“, „Lutheraner und Reformierte“ und die „nichtuniierten Griechen“ gezählt, denen „Privatexerzition“ ihrer Religionen eingeräumt wurde. „Sollten aber einige Untertanen zu einem anderen, in dem Toleranzgesetz nicht begriffenen Religion oder Sekte sich erklären wollen, so seien diese mit ihrer Erklärung auf der Stelle abzuweisen und ihnen zu bedeuten, daß eine derlei Religion nicht bestehe und je werde geduldet werden.“ Trotzdem empfand man das Gesetz als Erlösung!

Den drei Konfessionen wurden „Bethäuser“ ohne Glocken, ohne Türme, ohne Eingang von der Straße, beileibe keine „Kirchen“ eingeräumt. Erst jetzt brauchten sie bei der Verheiratung keinen Rekurs mehr zu unterschreiben, daß die Kinder katholisch würden. Das Kleiderverbot bzw. die Vorschrift, sich bestimmter Abzeichen zu bedienen, war bei den Juden durch Edikt vom 13. Oktober 1781 aufgehoben worden. Wie jung ist doch unsere Kultur, daß man dieses so beschränkte Entgegenkommen noch heute als Großtat feiert!

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In Frankreich gestattete erst kurz vor der großen Revolution Ludwig XVI. im Jahre 1787 den Protestanten, rechtmäßig Mann und Frau und legitime Eltern zu sein!

In England hob erst 1828 der Staat die letzten Reste der intoleranten Gesetzgebung mit der Annullierung der Testakte und mit der Katholikenemanzipation von 1829 auf.

Zuerst war es die französische Revolution und das freie amerikanische Bürgertum, die vollste Gewissensfreiheit gewährten und durchführten. Im ersten Amendement zur Verfassung der Vereinigten Staaten vom 13. Dezember 1791 heißt es: „Der Kongreß soll nie ein Gesetz geben, wodurch eine Religion zur herrschenden erklärt oder die freie Ausübung einer andren verboten würde.“

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Damit waren zum ersten Male ganz moderne Anschauungen verwirklicht. Doch wohl jedenfalls eine Folge der durch anderthalb Jahrtausende der christlichen Herrschaft erzielten Milde? Oder sollte schon früher jemand diese Toleranz gehandhabt haben?

Dem Mohammedanismus genügte die politische Herrschaft. Bekehrung lag ihm völlig fern. Er ließ den Christen auch in der Erobererzeit volle Glaubensfreiheit. Selbst ihre Kirchen und Klöster durften sie in der Regel behalten, und die kirchliche Verfassung wurde nicht angetastet. Sie durften glauben oder sich zanken, wie sie wollten[91].

Die Mongolen, die größten Menschenschlächter, die die Weltgeschichte kennt, gewährten völlige Glaubensfreiheit, wie sie seit je die Chinesen gestattet hatten. Der franziskanische Missionar Andreas aus Perugia schreibt aus dem Reiche des Kubilai im Jahre 1326: „In diesem Reiche gibt es Menschen von allen Nationen, die unter dem Himmel sind und von allen Religionen, und man gestattet allen und jedem, nach seiner zu leben. Denn sie hegen die Meinung oder vielmehr den Irrtum, daß jeder in seiner Religion selig werde. Wir können frei und sicher predigen[92].“

Kaiser Akbar von Indien (1556–1605) war von solchem religiösem Wahrheitsstreben erfüllt, daß er, während Europa von Religionskriegen und Verfolgungen um des Glaubens willen heimgesucht wurde, jedermann freie Übung der Religion gestattete. Dieser Mohammedaner brach die Übermacht der mohammedanischen Geistlichkeit und versammelte an seinem Hofe Brahmanen, Buddhisten, Parsen, Jesuiten und Juden zu ständigen Disputierabenden. Nie vorher oder später hat Hindostan eine gleiche wirtschaftliche und kulturelle Blüte erlebt[93].

Der verständige Wedel hält in seinem „Hausbuch“ (S. 341) Einigkeit in der Religion für „unabwendlich nöthig, denn nichts ist, das die Gemüter mehr von ander bindet oder verhaßt machet, als disparitas religionis“, erkennt aber die Toleranz der Türken an: „Denn obwol die Türcken steiff und fest über ihrer Religion halten und nicht viel Krummes oder Disputirens davon gemacht wissen wollen, zwingen sie doch inmittelst durch öffentliche Gewalt niemand dazu, weniger stellen sie gegen Feinde oder Freunde desfals Verfolgungen, Plagen oder Marter an, sondern lassen einem jeden, auch den Überwundenen, ihre Religion und Gewissen frei. Eben das giebt vielen Ursach, sich unter das türckische Reich zu geben, daher es auch mercklich erweitert wird. Denn mit keinem Dinge die Gewissen mögen bezwungen oder begütiget werden, ja es verlassen die Leute darumb Leib, Gut, Vaterland und Freunde, lassen sich palen und braten.“

Während das altgriechische „Heidentum“ sehr, wenn auch nicht absolut tolerant war, in Glaubenssachen nicht folterte, sich durch Widerruf in der Regel zufriedenstellen ließ und ein äußerst selten gefälltes Todesurteil – wie durch den Fall Sokrates hinlänglich bekannt – durch den milden Schirlingsbecher vollstreckte, loderten noch fast anderthalb Jahrtausende, nachdem das Christentum Staatsreligion geworden war, überall Scheiterhaufen!

Nicht ungern wird auf den Tod Christi als Zeugnis für die römische Intoleranz hingewiesen. Aber die Tatsächlichkeit dieses welthistorischen Ereignisses vorausgesetzt, wären die Hauptschuldigen nicht die Römer, sondern die Juden gewesen, die als Erzväter der Intoleranz zu gelten haben[94]. Nun hat aber Giovanni Rosardi nachgewiesen, daß auf alle Fälle nach dem damals geltenden römischen Recht die Kreuzigung Christi einer der größten Justizmorde aller Zeiten war! Also nicht der römische Geist der Intoleranz ist schuld an dieser unerhörten Tat, sondern lediglich die Unvollkommenheit einzelner Menschen, die auch durch die besten Gesetze nicht beseitigt werden kann[95].

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Gottlob sind diese barbarischen Zeiten der Intoleranz, in denen jemand wegen seines Glaubens, seiner Überzeugung verfolgt wurde, wo man Gefahr lief, getötet oder ein Heuchler zu werden, endgültig vorbei. Es läßt sich ja wohl nicht leugnen, daß die Rücksichtslosigkeit, mit der die Kirchen gegen Andersgläubige oder auch nur Verdächtige verfuhren, bei einer Religion der Liebe befremdend wirkt, um so mehr, als sie selbst gegen jeden Angriff, mag er sich auch in die mildesten Formen gehüllt haben, sehr empfindlich waren. Doch auch das ist vorbei, wenigstens in einem Kulturstaate wie Deutschland. Die Verfassung verbürgt jedermann Glaubensfreiheit, niemand leidet darunter, wenn er fortgeschrittener ist als die Konfessionen, niemand, wenn er der Rückständigsten einer ist, sofern er nur seine Pflichten als Mensch und Staatsbürger erfüllt. Mit einem Wort: Seit einem Jahrhundert leben wir als freie Bürger in einem freien Kulturstaat.

Oder etwa nicht? Gibt es wirklich im zivilisierten 20. Jahrhundert noch Leute und Parteien, die über ganz unbeweisbare religiöse und metaphysische Fragen sich in die Haare geraten, womöglich die Gesetze anrufen? Die den andern geringer schätzen, weil er Jude, Heide, Protestant, Katholik oder Mohammedaner ist? Die ihm irgendein Recht verkürzen? Wird Deutschland noch von Parteien zerrissen, von denen jede behauptet, allein den Schlüssel zum Himmelreich zu besitzen, dabei aber nicht in einen Wettkampf der Liebe, sondern in einen solchen des Hasses eintritt? Wird irgend jemand an der freien Äußerung seiner Ansichten und seines Glaubens gehindert? Gibt es noch Gewissenszwang?

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Im Jahre 1907 kandidierte der Pfarrer Korell im Wahlkreise Darmstadt-Großgerau als Kandidat der vereinigten Liberalen. Er fiel durch, und in die Stichwahl kamen ein Sozialdemokrat und ein Konservativer. Obwohl Pfarrer Korell an der Stichwahlparole seines Wahlausschusses, der die Wahl des Sozialdemokraten empfahl, ganz unbeteiligt war, auch bei der Stichwahl nicht mitstimmte, wurde er vom hessischen Oberkonsistorium mit einem Verweis bestraft, weil er die Interessen der evangelischen Kirche dadurch verletzt habe, daß durch sein Schweigen die Meinung entstehen konnte, ein Geistlicher halte die Sozialdemokratie für das kleinere Übel!

Im Jahre 1907 wurde der Pfarrer Cesar von der Reinoldigemeinde zu Dortmund einstimmig gewählt. Das Konsistorium hielt es aber für erforderlich, ihn einem Kolloquium zu unterwerfen, und versagte ihm dann die Bestätigung der Wahl wegen „Mangels an Übereinstimmung mit dem Bekenntnis der Kirche“. Der Protest der ganzen Gemeinde mit Ausschluß einer einzigen Stimme beim Oberkonsistorium führte zu keinem Resultat. Man erlaubt also trotz der vielgerühmten evangelischen Freiheit – canis a non canendo? – noch in der Gegenwart einer Gemeinde nicht die Wahl ihres Seelenhirten, bzw. zwingt sie, sich Gedanken vortragen zu lassen, mit denen die ganze Gemeinde nicht einverstanden ist. Und dann klagt man über die Gleichgültigkeit der Gebildeten der Kirche gegenüber und den geringen Besuch der Predigt!

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Einem Schulamtskandidaten wurde, weil er konfessionslos ist, vom sächsischen Kultusminister nicht gestattet, an einem Leipziger Gymnasium sein Probejahr abzudienen. Da er sich darüber beim Landtag beschwerte, wurde in der Verhandlung vom 12. Januar 1909 von der Deputation beantragt, die Beschwerde der Regierung zur Erwägung zu überweisen, da es eine Rechtsbeugung sei, wollte der Landtag den Mann hindern, das Probejahr abzuleisten, um fertiger Lehrer zu werden. Der sächsische Kultusminister Dr. Beck bezeichnete dagegen das Vorgehen des Kandidaten als einen Vorstoß der religionslosen Kandidaten und Studenten, die Bresche in die bisherige Ordnung der Dinge legen wollten. Durch das Eintreten der konservativen Mehrheit für den Minister wurde die Beschwerde verworfen. Man scheint also in Sachsen zum Jugenderzieher lieber einen Heuchler zu wählen, der Mitläufer einer Konfession ist, als einen Mann mit dem Mute seiner Überzeugung. Ein analoger Fall kam im Frühjahr 1910 im bayerischen Landtag zur Sprache. Ein hoher Staatsbeamter hat dem Professor Sickenberger die allerdings bestrittene Äußerung gegenüber getan, Personen, die mit ihrer Kirche zerfallen seien, wären der Regierung „suspekt“. Sickenberger, früher Lyzeal-, also nach der offiziellen Version Hochschulprofessor, erhielt tatsächlich die nachgesuchte Anstellung als Gymnasialprofessor nicht. Da gegenwärtig überall in Deutschland das Bekenntnis zum christlichen, eventuell auch zum jüdischen Glauben, Voraussetzung zum Eintritt in den Staatsdienst ist, können allerdings die laut Konfessionsstatistik auf die einzelnen Kirchen entfallenden hohen Zahlen von „Gläubigen“ nicht Wunder nehmen.

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Am 26. März 1907 wurde von dem Prediger einer freien evangelischen Gemeinde in Hohensolms bei Wetzlar auf dem Friedhofe ein Mitglied der freien Gemeinde beerdigt. Die Ortspolizei belegte den Prediger Heck und den Schwiegersohn des Verstorbenen mit 15 Mark Strafe, die vom Schöffengericht in Wetzlar bestätigt wurde. Und zwar erfolgte die Verurteilung, weil die Beerdigung eine „außergewöhnliche“ gewesen sei, da noch kein Dissident bisher auf dem protestantischen Friedhof bestattet worden war[96]!

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Während in Preußen jeder Kegelklub anstandslos die Eintragung ins Vereinsregister und dadurch die Rechte einer juristischen Person erlangt, erhalten freireligiöse Gemeinden ausnahmslos diese Erlaubnis zur Eintragung nicht. Die Polizei macht in ihrer notorischen abgrundtiefen Weisheit stets Einwendungen. So kommt es, daß die Magdeburger freireligiöse Gemeinde ihren juristischen Sitz in – Offenbach in Hessen hat! Als sie nun auch ihre Grundstücke auf ihren Namen in das Grundbuch eintragen lassen wollte, verweigerte dies der Grundbuchrichter mit der Begründung, daß zur Übertragung und Annahme eines Vermögens von über 5000 Mark die landesherrliche Genehmigung nötig sei. Das entsprechende Gesuch an den König wurde rundweg ohne Angabe von Gründen abgelehnt. Somit ist die freireligiöse Gemeinde in Magdeburg nicht imstande, in den Besitz ihres Eigentumes zu gelangen! Es ist eine Wonne, in einem aufgeklärten, paritätischen Rechtsstaate zu leben[97]!

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Zwischen dem Lehrer und Küster Rehm und dem Pastor Hübener in Pampow bestanden seit dem Jahre 1898 Differenzen. Als ersterer beim Pastor das Abendmahl nehmen wollte, dieser aber die Bedingung daran knüpfte, ihm Abbitte zu leisten, ging er zum Abendmahl nach Schwerin. Darauf Anzeige des Pastors beim Konsistorium, das – in echt christlicher Milde und treu den Grundsätzen der evangelischen „Freiheit“ – Rehm zur Strafversetzung verurteilte, weil er die Parochialrechte seines Geistlichen verletzt hätte. Dazu hatte das Konsistorium nun gerade so wenig das Recht, wie der Pastor zur Abendmahlsverweigerung, weshalb das Obere Kirchengericht auf die eingelegte Berufung hin Rehm wegen Verletzung seiner Amtspflicht zu 30 Mark Strafe verurteilte! Er hatte nämlich gegen seine Amtspflicht dadurch verstoßen, daß er sich und die Seinen vom Gange nach Schwerin nicht zurückgehalten hätte! Als Rehms Rechtsbeistand dieses Urteil mit Rehms Einwilligung der „Mecklenburger Schulzeitung“ zum Abdruck übergab, verurteilte das Konsistorium den Lehrer zur Suspension von seiner Lehrerstelle auf die Dauer eines Jahres. Es mag ja zugegeben werden, daß es für das Konsistorium sehr peinlich war, urbi et orbi diesen nicht eben salomonischen Spruch zu unterbreiten, immerhin hatte es offenbar seine Befugnisse wieder überschritten, als es als geistliches Gericht einen Lehrer verurteilte. Das erkannte auch das Obere Kirchengericht an, indem es die Strafe dahin umänderte, daß Rehm nur auf ein Jahr vom Küsteramt suspendiert wurde. Aber die weltliche Behörde war päpstlicher als der Papst: die Unterrichtsabteilung des Ministeriums erklärte sich mit dem konsistorialen System solidarisch, indem sie – allerdings unter Belassung von Einkommen und Wohnung – auf die dienstliche Tätigkeit Rehms für die Dauer eines Jahres verzichtete.

Aber es wurde noch besser: Im Kulturstaate Mecklenburg existiert nach § 486 L. G. G. E. V. der Beichtzwang!! Da Rehm – mit einigem Grunde – in Pastor Hübener seinen Feind erblickte, beantragte sein Rechtsbeistand für ihn Befreiung vom Beichtzwang, wurde aber abgewiesen. Denn: „eine Dispensation eines Küsters vom Parochialzwang kann nicht erfolgen, sie würde ein dauerndes Ärgernis für die Gemeinde sein“. Der Lehrer muß also nach wie vor bei seinem persönlichen Feinde beichten! Ein Kulturidyll aus dem Deutschland des 20. Jahrhunderts!

Doch in Mecklenburg beruhigte man sich damit keineswegs. Am 23. Oktober 1905 erschien der Entwurf einer Verordnung betr. die Dienstverhältnisse der seminaristischen Lehrer usw. Der § 61 dieses Kulturdokumentes lautet:

„Ist mit einem Schulamt ein Kirchenamt verbunden, so hat die Dienstentlassung aus dem Schulamte von Rechts wegen die Folge, daß der Lehrer auch aus dem Kirchenamt ausscheidet. Ist mit einem Kirchenamt ein Schulamt verbunden, so hat die Dienstentlassung aus dem Kirchenamt von Rechts wegen die Folge, daß der Lehrer auch aus dem Schulamte ausscheidet!“ Das nennt man evangelische Freiheit! Denn daß ein Gewissenszwang in Deutschland vom Staate ausgeübt wird, und zwar im 20. Jahrhundert, wird doch nicht wohl jemand zu behaupten wagen[98]!

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Der sozialdemokratische Redakteur Friedrich Westmeyer in Hannover hat in Anspielung auf den Königsberger Geheimbundprozeß, der die kgl. preußische Justiz in bengalischer Beleuchtung gezeigt hatte, in einer fingierten Gerichtsverhandlung darzulegen versucht, wie es Christus vor einem preußischen Gerichtshofe ergehen würde. Natürlich war die einzig mögliche Tendenz seiner Abhandlung, zu zeigen, daß selbst die Vollkommenheit Christi vor solchen Richtern und auf Grund solcher Gesetze nicht standhalten könnte. Das erkannten ohne weiteres zwei als Zeugen vernommene Pastoren vor Gericht an. Aber die zarte Seele eines kgl. Staatsanwaltes war bis in ihre Tiefen durch den Delinquenten, der noch dazu Redakteur, ja sogar sozialdemokratischer Redakteur war, verwundet und sein edler Glaubenseifer, sein glühendes Verlangen, wenn nicht nach der Märtyrerkrone, so doch nach dem Ruhme, Christi Ehre zu verteidigen, ruhte nicht, bis er zwei andere Pastoren glücklich aufgetrieben hatte, die eine gütige Vorsehung mit einer nicht minder zartfühligen Seele ausgerüstet hatte. Auf die Konstatierung dieser Männer Gottes hin, daß sie sich in ihrem christlichen Gewissen verletzt fühlten, wurde Westmeyer nach § 166 des Reichsstrafgesetzbuches (einen solchen gibt es noch heute!!!) auf drei Monate ins Gefängnis gesperrt. Gottlob war damit der am Seelenfrieden des Herren Staatsanwalts und seiner Eideshelfer angerichtete Schaden glücklich repariert, Christi Ehre gerettet.

Westmeyer wurde, nachdem sein Gesuch um Selbstbeschäftigung abgelehnt war, mit einem Sittlichkeitsverbrecher und einem Falschmünzer zusammen in ein bis zur halben Mauerhöhe feuchtes Kellerloch gesperrt, wo er mit Sägen und Spalten von Holz für seine Versündigung büßen mußte. Hier einige Notizen aus seinem Tagebuch: Sonntag, 1. Oktober 1906 (das Jahrhundert ist besonders zu beachten!). „Der Hunger ließ mich die Nacht nicht schlafen. Ich bin aufgestanden von meinem Strohsack und habe die Schublade nach Krümchen Brot durchsucht. Umsonst! Es wird mir nichts anderes übrig bleiben, als meine Eingabe vom 13. September um Bewilligung von Zusatznahrungsmitteln zu wiederholen. Nach der Hausordnung kann ich nämlich bei einwandfreier Führung die Hälfte meines Arbeitsverdienstes, 5 Pfennig pro Tag, für Zusatznahrungsmittel verwenden..“

Am 7. Oktober schreibt er: „Gestern abend spät brachte mir der Wärter noch einen Brief meiner Frau auf die Zelle. Mein vierjähriger Knabe, mein einziger, ist an Diphteritis erkrankt, mein fünfjähriges Mädchen, ebenfalls an Diphteritis erkrankt, soll sich auf dem Wege der Besserung befinden. Und meine Frau allein bei den todkranken Kindern! Der Vater eingesperrt, weil er den allerbarmherzigsten Christengott beleidigt haben soll. Derweil windet sich daheim mein Herzensjunge in Todesqual. Seine Augen suchen den Vater, an dem er mit abgöttischer Liebe hängt... Du, Nazarener, wenn ich dich wirklich beleidigt haben sollte, nun kannst du doch zufrieden sein! Du bist gerächt [99]!“

So pflanzt der kgl. preußische Staat, das Deutsche Reich, im 20. Jahrhundert Liebe zur Religion und zu Christus in die Herzen des Volkes! Sollte eine innere Stimme ihm nicht sagen, daß eine Religion „der Liebe“, falls sie wirklich nach 1½ Jahrtausenden der Herrschaft noch des Polizeiknüttels bedürfte, keine Existenzberechtigung hätte?

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Nach einer Statistik des Berliner Strafrechtslehrers Professor Kahl wurden in den Jahren 1881 bis 1903 wegen „Religionsvergehen“ nach § 166 des Reichsstrafgesetzbuches 6921 Personen verurteilt!! Alle natürlich zu Gefängnisstrafen. Und zwar in 22 Fällen von 2 Jahren und darüber, in 158 zwischen 1 und 2 Jahren, in 1551 Fällen zwischen drei Monaten und einem Jahr und in 5190 Fällen von einigen Tagen bis zu drei Monaten.

Was folgert der Gelehrte daraus? Daß der Paragraph beibehalten werden müsse, aber in einer Fassung, die auch die Parität der protestantischen Kirche wahrt. Denn da die katholische viel mehr Dogmen, Zeremonien und Gebräuche habe als die protestantische, daher auch viel mehr Angriffspunkte biete, sei sie bevorzugt [100]!

So argumentiert ein Professor des 20. Jahrhunderts und zwar in den Vorarbeiten zur deutschen Strafrechtsreform. Die kann gut werden! Rußland, das einzige Land Europas, das einen entsprechenden Paragraphen kennt, wird uns beneiden.

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In Hagen in Westfalen hatte der Verein für Feuerbestattung ein Krematorium erbaut, was im Jahre 1904 auch von der Polizei genehmigt worden war. Gleichzeitig war dem Verein aber mitgeteilt worden, daß die Benutzung des Krematoriums zur Einäscherung von Leichen nicht gestattet würde. Da aber der Verein zu der Verbrennung lebender Ketzer nicht fromm genug war, kam er um die Erlaubnis, Leichen durch Feuer zu bestatten, beim Ministerium ein. Dieses entschied 1907 auf Grund des preußischen Landrechtes vom Jahre 1794 (!) § 10, II, 17, daß die Benutzung des Krematoriums bis auf weiteres untersagt sei. Der Paragraph lautet: „Die nötigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung und zur Abwendung der dem Publico oder einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehenden Gefahren zu treffen, ist das Amt der Polizei [101].“

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Am 19. August 1907 verfügte der Regierungspräsident Dr. Stockmann in Gumbinnen gegen den Lehrer Leipacher die „Einleitung des Disziplinarverfahrens .. mit dem Ziel auf Entfernung aus dem Amt,“ gleichzeitig ordnete er sofortige Suspension an. Er bezog seitdem ein monatliches Gehalt von 39,50 Mark, von dem er mit seiner Frau leben mußte. Was war geschehen? Der Pfarrer Vierhuff in Grabowen, im Nebenamt Oberschulaufseher, hatte Leipacher bei der Regierung denunziert, wegen Mißbrauch der Lehrfreiheit. Er hatte den Geographie- und naturkundlichen Unterricht nicht im Einklang mit der evangelischen Kirchenlehre erteilt und dadurch das Glaubensleben (!) der Kinder gefährdet. Der Pfarrer hatte aus überfließender Nächstenliebe die Aufsätze, die Leipacher in Zeitschritten veröffentlicht hatte, gesammelt, um den Lehrer bei der Regierung zu verklagen. Daß die Regierung das zuließ, war ein eklatanter Verfassungsbruch, denn selbst in Preußen hat auf dem Papier jeder das Recht, seine Überzeugung auszusprechen. Leipacher wurde am 6. November 1907 in Gumbinnen seines Lehramtes verlustig erklärt. Allerdings hatte Leipacher den Kindern u. a. den biblischen Sündenfall als Sage bezeichnet. Hätte er doch nur die Schlange weiter reden, auf dem Bauch gehen und ihr Leben lang Erde essen lassen (Genesis 3, 14), dann wäre ja alles in schönster Ordnung gewesen. Ja, Ostelbien und Mecklenburg in der Welt voran[102]!

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