2019 SoSe – Seminarstunde 08

Struktur und Invarianz

Struktur eines Modells und einer Modellklasse

Struktur der Modelle einer Theorie

Die Struktur der Modelle einer Theorie enthält zwei Teile, nämlich erstens drei natürliche Zah­len κ, μ und ν und zweitens für jede Zahl i ≤ ν eine Typisierung τi. κ ist die Anzahl der Grund­mengen, μ die Anzahl der Hilfsbasismengen und ν die Anzahl der Relationen aus Mo­dellen einer Theorie. Dabei sind κ und ν positive Zahlen, während μ auch Null sein kann.

Eine Typisierung τi ist eine kodierte Regel, welche angibt, wie Relationen der Art Nummer i aus Grundmengen und aus Hilfsbasismengen des Modells zusammengesetzt werden. Der Be­griff der Typisierung nimmt in der Wissenschaftstheorie einen zentralen Platz ein.

Eine Theorie T hat immer auch eine Struktur STR. Die Struktur STR wird durch die Zahlen κ, μ, ν und die ν Typisierungen τ1, …, τν beschrieben: STR = 〈 κ, μ, ν, τ1, …, τν 〉.

Der Begriff der Struktur bezieht sich in erster Linie auf die Theorie, erst in zweiter Linie auf bestimmte Modelle. Eine Typisierung τi in einer Theorie gilt für alle Relationen, die als ( κ + μ + i )-te Komponente der Modelle zu finden sind.

Typisierte Potenzmenge

Das Verfahren der Typisierung führt zu einer großen Menge (der Potenzmenge) von Möglichkeiten, es wird aber kein bestimmtes Element aus diesen Möglichkeiten ausgewählt. Die Auswahl eines bestimmten Elements aus der typisierten Potenzmenge, bleibt an die­ser Stelle völlig offen. Es hätte auch eine andere Relation aus der Potenzmenge entnom­men werden können.

Somit kann man sagen, dass sich aus einem Modell dessen Struktur eindeutig ergibt, aber umgekehrt aus einer Struktur nicht das Modell, welches über diese Struktur verfügt. Ausgehend von gegebenen Grundmengen und Typisierungen legt die Struktur nur fest, in welcher Potenzmenge die Relation Ri liegt, aber nicht wie sie im Detail aussieht.

Mehr lässt sich nur sagen, wenn die Hypothesen für das Modell genauer spezifiziert werden. Fest steht, dass eine gegebene Modellklasse eine eindeutig bestimmte Struktur hat. Alle Modelle der Klasse haben dieselbe Struktur.

Kartesisches Produkt und Potenzmenge

Anwendungsbereiche für den Strukturbegriff

Der so beschriebene Begriff der Struktur wird in der Wissenschaftstheorie für drei verschie­dene Bereiche von Untersuchungen eingesetzt:

  • In einem ersten Bereich werden verschiedene Transformationen von Modellen untersucht. Ein bestimmter Aspekt, ein Teil des Modells, bleibt bei einer Transformation gleich; eine Eigen­schaft eines Modells bleibt invariant.
  • In einem zweiten Anwendungsbereich der Wissenschaftstheorie wird der Strukturbegriff ein­gesetzt, wenn eine Struktur in mehreren Disziplinen verwendet wird. Es gibt einige Fälle, in denen zwei Modelle aus verschiedenen Theorien dieselbe Struktur haben. Es gibt auch Fälle, in denen zwei Modelle beider Theorien zwar nicht die gleiche Struktur haben, aber Teilmo­delle aus beiden Theorien dieselbe (Teil-) Struktur besitzen.
  • Eine weitere Anwendung des Strukturbegriffs betrifft die Übertragung der Struktur von Mo­del­len und der Modellklassen auf die gesamte Theorie. Dieser Punkt ist wissenschaftstheore­tisch interessant, weil er verschiedene Unterscheidungen und Klassifizierungen ermöglicht.

2019 SoSe – Seminarstunde 07

Wissenschaftstheorie und Wahrscheinlichkeit

Statistische Bestimmung

Einführung

Die bisher erörterten Bestimmungsmethoden kommen ohne den Begriff der Wahrscheinlich­keit aus. Es gibt aber viele Bereiche, in denen diese Bestimmungsmethoden nicht funktionie­ren:

  • Es kann zu wenig Fakten geben, um eine Bestimmung durch­zuführen oder die Hypothesen können zu vage formuliert sein.
  • Es kann aber auch sein, dass eine sichere Vorhersage grundsätzlich nicht möglich ist. Dies liegt an der Welt der Ereignisse. Eine Ursache – ein Ereignis – kann mehrere, sich ausschließende Wirkungen haben. Nur eine Wirkung tritt ein, aber andere Wirkungen hätten ebenfalls real eintreten können. Diese Wir­kungen können nur als wahrscheinlich angesehen werden, so lange keine davon tatsächlich eingetreten ist. Bei der Formulierung, dass etwas eine bestimmte Wahrscheinlichkeit hat, muss erstens einigerma­ßen klar sein, welcher Entität die Wahrscheinlichkeit zugeschrieben wird und zweitens in wel­chem Bereich die Entität liegt.

Statistische Grundbegriffe

Um eine be­stimmte Wahrscheinlichkeit zu untersuchen, wird ein satzartiger Ausdruck mit einer Variab­len verwendet, der eine Menge von Ereignissen bezeichnet. Wenn die Variable durch einen «Namen» ersetzt wird, erhalten wir einen variablenfreien Ausdruck, welcher ein «echtes» Er­eignis be­schreibt. In der Wahrscheinlichkeitstheorie bilden Ereignisse und Ereignismengen die Grunde­lemente, aus denen die Modelle der Wahrscheinlichkeitstheorie konstruiert werden können. Diese Modelle werden Wahrscheinlichkeitsräume oder kurz W-Räume genannt.

Inzwischen gibt es zwei verschiedene Formulierungen der Wahrscheinlichkeitstheorie. Im «klassischen» Originalansatz, den wir hier verwenden, wird einer Entität, ei­nem so genannten Zufallsereignis (random event), eine Wahrscheinlichkeit zu­gesprochen. Ein Zufallsereignis ist mengentheoretisch gesprochen eine Menge von konkre­ten, realen oder nur möglichen Ereignissen. All die Ereignisse aus einer solchen Menge sind sich ähnlich; sie sind durch dieselbe Formel beschrieben. Diese Ereignisse unterscheiden sich bei einer Beschreibung nur in einer einzigen Eigenschaft. Auf Sprachebene kann ein Ereignis durch einen deutschen, grammatisch korrekten Satz ausgedrückt werden. Dagegen wird ein Zufalls­ereignis durch eine Formel beschrieben, die eine freie Variable enthält.

Die Elemente aus einem Zufallsereignis nennen wir Elementarereignisse. Um hier drohenden Mehrdeutigkeiten zuvorzukommen, vermeiden wir in wahrscheinlichkeitsthe­o­retischen Kontexten das Wort «Ereignis» und verwenden in solchen Zusammenhängen im­mer das Wort «Elementarereignis». Ein «normales» Ereignis wird also bei der Diskussion von Wahrscheinlichkeiten ein Elementarereignis und ein Zu­fallsereig­nis wird als eine Menge von Elementarereignissen betrachtet.

Im Allgemeinen wird eine Funktion eingeführt, die jedem Elementarereignis eine reelle Zahl zuordnet. Diese Funktion spielt in der Wahrscheinlichkeitstheorie eine Schlüsselrolle; sie wird Zufallsvariable genannt. Dass es sich um eine Variable handelt, sieht man daran, dass sich die Elementarereignisse in einer Menge von möglichen, zufällig stattfindenden Ereignis­sen befin­den. So lange keines der erwarteten Elementarereignisse stattgefunden hat, werden sie variabel behandelt und untersucht. Auf der Beschreibungsebene wird eine Variable verwendet, die über die verschiedenen möglichen Elementarereignisse läuft.

Beispiel: Demokratische Wahl des Präsidenten der USA

Randbedingungen:

  • Bei dieser Wahl gibt es meist nur zwei Kandidaten aus den beiden großen Politiklagern, die wir A und B nennen.
  • Ein Wähler hat genau eine Stimme und die Stimmab­gabe ist geheim.
  • Aus Einfachheitsgründen wird das für Nicht-US Bürger etwas merkwürdige System der Wahlmänner unberücksichtigt gelassen und zusätzlich gefordert, dass jeder Wähler seine Stimme abgeben muss und dass er genau einen der beiden Kandidaten wählen muss.

Bei einer solchen Wahl gibt es eine feste Anzahl n von Wählern. Bei einer Stimmabgabe gibt es also nur zwei Möglichkeiten: ein Wähler w wählt Kandidat A oder w wählt Kandidat B. Die Wahrscheinlichkeitstheorie lässt sich dabei auf verschiedene Weise ins Spiel bringen. Dies hängt unter anderem von den Ereignisarten ab, die man bei einer Beschreibung einer Wahl ver­wendet. Man könnte zum Beispiel fragen:

(a)     Wählen k Wähler den Kandidaten A?

(b)     Gewinnt A mit einer Mehrheit von Wahlstimmen?

(c)     Stimmt Wähler w für Kandidat A?

Mögliche Wahlresultate und eine Stichprobe

Mögliche Wahlresultate und Elementarereignisse

Verteilung von Elementarereignissen

Gleichverteilte, zufällige, binomiale und stetige Verteilungen

Gleich und diskret verteilt

 

Binomial verteilt

Zufällig und diskret verteilt

 

Stetig verteilt

 

2019 SoSe – Seminarstunde 06

Messung – fundamental und modellgeleitet

Einführung

Messung und Messmodell

Messung ist ein unverzichtbarer Bestandteil der Wissenschaft. Eine konkrete, wirklich statt­fin­dende Messung lässt sich immer durch ein «dazugehöriges» Modell, ein Messmodell dar­stellen. Messmodelle sind im Vergleich zu Modellen in drei Aspekten spezieller:

  • Erstens be­schreibt ein Messmodell immer ein System, in das Wissenschaftler – in welcher Form auch immer – eingrei­fen. Das reale System wird durch Experimentatoren verändert. Das System kann marginal oder in Maßen verändert werden, es kann aber auch zerstört werden. Eine Raumsonde verändert den Planeten kaum, in einem Stoßexperiment wird in die Bahnen von Teilchen eingegriffen und bei einer chemischen Verpuffung wird eine Substanz zerstört.
  • Zweitens enthält ein Messmodell die spezielle Bedingung der Eindeutigkeit. Ein hervorgehobener Bestandteil, wel­cher im Modell vorhanden sein muss, wird durch Hypothesen und durch einige andere gege­bene Teile des Modells, eindeutig bestimmt.
  • Drittens enthält ein Messmodell immer – implizit oder explizit – eine oder mehrere Maßeinhei­ten, ohne die eine praktische Durchführung der Messung nicht möglich ist.

Fundamentale Messung

Messung der Größe einer Fläche

 

Flächen in verschiedenen Formen

  

 

Mit Kreisen bedeckte Flächen

 

 

Ein Zählvorgang

 

Mit kleinen Kreisen bedeckte Flächen

  

Abstandsmessung mit Metermaß

Zeitmessung eines Ereignisse mit Atomuhr

Die Theorie der fundamentalen Messung

Ein Modell der fundamentalen Messung enthält

  • eine Menge G von Objekten,
  • eine 2-stellige Relation < («echt kleiner») und
  • eine 3-stellige Relation o (eine Funktion), die zwei Objekte x, y zu einem Objekt z «zusammenfügt» (konkateniert): o(x, y) = z.

Eine Hypothese für diese Modelle könnte z.B. sein:

  • Für alle x, y und z aus G: wenn x < y, dann ist o(z, x) < o(z, y).

Modellgeleitete Bestimmung

Beispiel: Geometrische Triangulation

Messmodell

Ein Messmodell x hat dieselbe Form wie ein Modell. Zusätzlich werden bei ei­nem Messmodell zwei spezielle Teile des Modells hervorgehoben, die wir den vorausgesetz­ten Teil und den zu bestimmenden Teil des Messmodells nennen:

  • Der vorausgesetzte Teil ent­hält Fak­ten, die implizit im Messmodell vorhanden sind und bei der Bestimmung verwendet werden müs­sen.
  • Der zu bestimmende Teil des Messmodells soll dagegen erst bestimmt oder gemessen werden.

Gegenüber einem Modell erfüllt ein Messmodell darüber hinaus weitere Bedingungen:

  • Erstens sind der vorausgesetzte und der zu bestimmende Teil des Messmodells disjunkt.
  • Zweitens und zentral ist der zu bestimmende Teil eindeutig durch den vorausgesetz­ten Teil und durch die Hypothesen des Messmodells bestimmt.

Mit diesen allgemeinen For­mulie­run­gen können die vielen verschiedenen Messmethoden in einheitlicher Form be­schreiben werden.

Messmethode, Messtheorie, Messkette

Aus einem Messmodell lässt sich durch Abstraktion eine Menge von Messmodellen bilden, die als eine Messmethode bezeichnet wird. Eine Messmethode ist eine Menge von Modellen einer Theorie. Oft ist eine Messmethode eine echte Teilmenge einer Modellmenge einer The­orie. In solchen Fällen ist ein Messmodell ein Modell einer Theorie, aber die Messmethode beschreibt nur einen kleinen Teil der Gesamtmenge von Modellen der Theorie. Es gibt aber auch Mess­methoden, die keinen Teil einer «größeren» Theorie bilden. Eine solche Messme­thode kann als eine eigenständige Theorie angesehen werden. Wir nennen solche Messmethoden auch Mess­theorien.

Fügt man mehrere Messmodelle zusammen führt dies zu Messketten. Eine Messkette ist eine Folge x1, …, xn von Messmodellen, so dass der zu bestimmende Teil bti des Messmodells xi in den vorausgesetzten Teil vti+1 des „nächsten” Messmodells xi+1 aus der Messkette eingebettet wird.
Bei einem Messmodell aus einer Messkette wird der zu bestimmende Teil des Messmodells genommen und im darauf folgenden Messmodell der Kette im vorausgesetzten Teil verwen­det.