Carne pura – Fleischpulver, Volksnahrungsmittel, Fehlschlag

Carne pura, reines Fleisch… Dieser Markenname der 1880er Jahre steht für die Nöte und Visionen dieser Zeit, für Forschungsdrang, Geschäftsinteressen und einen veritablen Bankrott. Wissenschaft und eine global ausgreifende Wirtschaft waren, so die Botschaft, Garanten für die Minderung der sozialen Spannungen, strebten nach gesunder und kräftiger Ernährung auch und gerade der Ärmeren. Carne pura war neu, materialisierte die Schaffenskraft starker Männer und die Verheißungen der Moderne. 140 Jahre ist das her; und das Spiel wiederholt sich auch heute tagtäglich, wenngleich in anderem Gewande, mit anderen Marken und Begründungen.

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Der Carne pura-Pavillon auf der Berliner Ausstellung für Hygiene und Rettungswesen 1883 (Die weite Welt 8, 1883, 504)

Vergegenwärtigen wir uns einmal Berlin im Sommer 1883: „Jeder Fremde muß in die ‚Hygienische!‘“, hieß es damals. „Jeder, dem ein Bädeker unter dem Arme und die Lust, Neues und Interessantes zu sehen, in der Brust saß, pilgerte nach den Anlagen und Räumen der hygienischen Ausstellung, wo das große Buch ‚von der gesunden und kranken Menschheit‘ aufgeschlagen war“ (Friedrich Schwab, Reiseplaudereien II., Prager Tagblatt 1883, Nr. 291 v. 20. Oktober, 1-3, hier 1). Berliner und Fremde blickten auf die wissenschaftlichen Errungenschaften, staunten ob der Fortschritte, freudig, da die Wissenschaft „immer weiter vorschreiten und gegen Gefahren aller Art Schutz bieten wird“ (Allgemeine deutsche Ausstellung für Hygiene und Rettungswesen zu Berlin 1882/83, Die weite Welt 8, 1883, 515-516, hier 516). Teil dessen war der glänzende Carne pura-Pavillon, ein Muss auf der Hygienischen. Dort wurde man kundig aufgeklärt, konnte kosten von einem neuen Fleischpulver, von zahllosen damit bereiteten Speisen. Kräftig, ja würzig im Geschmack, wurde es als unbegrenzt haltbar gepriesen, war zudem billiger als Frischfleisch. War man im Pavillon Zeuge eines anbrechenden neuen Zeitalters preiswerter Ernährung, allseitiger Verfügbarkeit der teuren und begehrten Essenz des Rindfleisches? Die Macher, allesamt veritable Männer, waren davon überzeugt. Sie waren seriöse Mitglieder der bürgerlichen Klassen. Gegen die massiven Überschwemmungen im Rheinland hatten sie schon im Winter 10.000 Portionen Carne pura gespendet und in eigens errichteten Suppenanstalten den Flutopfern Beistand geleistet (Carne pura, Wiener Presse 1882, Nr. 1 v. 17. Dezember, 5). Die Welt würde besser werden – und Carne pura Teil davon.

Fleischgier und der Ausgriff nach Südamerika

Ja, die Welt. Die Besucher kosteten in Berlin tatsächlich das Endprodukt eines weltweiten Ausgriffs auf die Fleischreserven der Welt. Wissen, können, haben. Neue Maschinen, vor allem aber die immer größeren Segelschiffe, die immer mächtigeren Dampfer machten sie verfügbar: „Die Bisonheerden der nordamerikanischen Prairien, die halbwilden Rinder der Pampas in Südamerika, der Falklandsinseln, die Millionen der Antilopen, Gazellen, Gnu’s, Springböcke etc., welche Südafrika durchwandern, die podolischen Rindviehheerden der südrussischen und asiatischen Steppen, die Schafe Australiens etc. geben noch auf Jahrhunderte Material genug her, um die Menschheit mit hinreichender Fleischnahrung zu versehen“ (Wilhelm Hamm, Nationalökonomische Zeitfragen. Zur Ernährung des Volkes: Billiges Fleisch. (Fortsetzung.), Allgemeine Rundschau 1865, Nr. 37 v. 10. September, 304).

Dieser Ausgriff auf die naturalen Ressourcen hatte viele Väter, Handelstreibende, vor allem aber Wissenschaftler. Deutsche standen hintan gegenüber Briten, Franzosen, Niederländern, doch ihre Zugriffe erfolgten trotz fehlender in den Boden gerammter Flaggen. Der im 18. Jahrhundert massiv ausgeweitete, im 19. Jahrhundert dann in große Kolonialreiche mündende Blick über die Grenzen Europas machte den Blick frei für die massiven Unterschiede zwischen den Weltregionen – und das betraf weniger Kulturen, sondern vorrangig Rohstoffe und Preise. Fleisch war in Übersee billig zu haben. Und Fleisch war knapp und teuer in den immer dichter bevölkerten Staaten Europas. Doch es war Frischware, also verderblich. Transport war erforderlich und eine Mechanik der Bewahrung.

Die dazu hierzulande bekannteste Idee der Mitte des 19. Jahrhunderts stammte vom Münchener Chemiker Justus Liebig (1803-1873). Er wusste von den großen, noch vielfach wild lebenden Rinderherden der südamerikanischen La-Plata-Regionen, die zwar zunehmend eingefangen und getötet wurden, von denen man aber lediglich die Felle zur Lederproduktion nutzte. In den 1870er Jahren schätzte man die Zahl der Rinder in den Pampas auf etwa 30 Millionen (Linzer Volksblatt 1878, Nr. 250 v. 29. Oktober, 1). Dort bestanden unabhängige Siedlerkolonien, bürgerliche Republiken, der spanischen Herrschaft entronnen. Kühltechnik war jedoch noch nicht entwickelt; Pökeln und Trocknen veränderten den Geschmack des Fleisches gravierend. Liebig empfahl daher ein zuvor in Frankreich entwickeltes Verfahren des Auskochens und Filtrierens: Am Ende würde die Essenz des Fleisches stehen, die wertvollen Inhaltsstoffe eingedickt. Von Wasser und Ballast befreit würde dieser Fleischextrakt erlauben, den Überfluss Südamerikas zumindest teilweise in Deutschlands Küchen zu lenken. Erfolgreiche multinationale Konzerne entstanden seit Mitte der 1860er Jahre, mochte Liebigs Idee vom nährenden Extrakt auch trügen. Er enthielt kein Eiweiß, keine Nährstoffe – und die mit dem Extrakt verbundenen Ideen billigen Fleisches für die minderbemittelte Bevölkerung erforderten offenkundig andere Technologien.

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Der Gaucho, die Rinder und das Markenprodukt: Nachklang des Ausgriffs auf die naturalen Ressourcen Südamerikas (Fliegende Blätter 115, 1901, Nr. 2920, Beibl., 2)

Anregungen dazu kamen aus der sog. Münchener Schule der Ernährungsphysiologie, einem Kreis von Kollegen und Schülern Liebigs, die nicht nur die Grundlagen der modernen Stoffwechsellehre etablierten, sondern die auch Wissenschaft in liberaler Verantwortung für das Gemeinwesen betrieben (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 37-42). Die trotz auskömmlicher Grundversorgung stetig gefährdete Eiweißversorgung der Bevölkerung sollte mittels Expertenwissens gesichert werden. Der Physiologe Carl Voit (1831-1908) forderte 1869, dass man über den Import von Fleischextrakt und die als Dünger und Futtermittel dienenden ausgelaugten Fleischreste hinausgehen müsse, um „das ganze Fleisch trocken oder frisch auszuführen“ (zit. n. Marie Ernst, Das Buch der richtigen Ernährung Gesunder und Kranker. Ein Kochbuch, Bd. 1, Leipzig 1886, 515). Mangels leistungsfähiger Kühltechnik war die Fleischtrocknung offenbar der Königsweg. Das Verbrennen des nicht zu verwertenden Fleisches schien ihm, aber auch dem Agrarchemiker Julius Lehmann (1825-1894), eine Sünde wider die Natur und den menschlichen Geist zu sein (Julius Lehmann, Untersuchungen über die chemische Zusammensetzung der Fleischextract-Rückstände und über den Nährwerth derselben bei Schweinen, Zeitschrift des landwirthschaftlichen Vereins in Bayern 63, 1873, 3-16, hier 5-6). Fleischextrakt, die hier nicht zu behandelnden Fleischpeptone und das nun wieder in den Blick tretende Carne pura waren wissenschaftliche Geisteswaren, die auf Technik und Chemie gründeten. Sie waren zugleich Ausdruck eines informellen Kolonialismus, der überseeische Länder nicht direkt in Besitz nehmen musste, um einvernehmlich zugreifen zu können. Wissen, können, haben.

Ein neuartiges Fleischprodukt: Forschungen zu getrocknetem Fleischmehl

Auch Franz Adolf Hofmann (1843-1920) entstammte der Münchener Schule (C[arl] Flügge, Franz Hofmann †, Deutsche Medizinische Wochenschrift 46, 1920, 1173). Er hatte dort bei Max Pettenkofer (1818-1901) studiert. Der ist gemeinhin als Vater der modernen Hygiene bekannt, optimierte aber zwischen 1850 und 1852 auch die Herstellung des Fleischextraktes. Ab 1872 institutionalisierte Hofmann in Leipzig das neue Fach der praktischen Hygiene, wurde 1878 dann auf den dort neu eingerichteten Lehrstuhl für Hygiene berufen. Hofmann war ein liberaler Streiter für eine moderne öffentliche Gesundheitsfürsorge, engagierte sich für eine leistungsfähige Wasserversorgung, für Kläranlagen, Großmarkthallen und einen städtischen Schlachthof. Zugleich aber entwickelte er ab Mitte der 1870er Jahre ein neues Produktionsverfahren für Trockenfleisch, für Fleischmehl (Franz Hofmann, Die Bedeutung von Fleischnahrung und Fleischconserven mit Bezug auf Preisverhältnisse, Leipzig 1880, 108-118; daraus auch die folgenden Zitate).

Franz Hofmann war ein „Ritter des Fleisches“, so die Sektenklage vieler Vegetarier. Wie für alle Mitglieder der Münchener Schule war für ihn die Welt ein steter Stoffwechsel. Ernährung verstand er als rationales Unterfangen, die besten Speisen schienen die, „welche für den niedrigsten Preis das dem Menschen nöthige Nahrungsquantum in schmackhafter Form gewähren.“ Die „Körpermaschine“ verdaute aber animalische Nahrung deutlich effizienter als pflanzliche. Die Armenkost der breiten Mehrzahl sei daher defizitär, das Siechtum in den Gefängnissen und Armenhäusern belege dies hinlänglich. Animalische Kost schmecke zugleich besser. Allein die hohen Kosten schnitten die Mehrzahl vom Kauf ab. Technik könne helfen, das billige südamerikanische Fleisch auf die deutsche Tafel zu setzen.

Die Trocknung von Fleisch wurde in deutschen Landen schon seit langem praktiziert – häuslich und gewerblich (Johann Carl Leuchs, Die Kunst zu trocknen, Nürnberg 1829). Die Münchener Schule führte viele ihrer Stoffwechselversuche an Hunden durch, die in Respirationsapparaten Wasser und getrocknetes Fleischmehl erhielten. Es gab zahllose Patente (Ch[ristian] Heinzerling (Hg.), Die Conservirung der Nahrungs- und Genussmittel, Halle a.S. 1884, 147-148). Doch das Trockenfleisch war Notbehelf, sein Geschmack wurde mit wachsender Eiweiß- und Fettzersetzung zunehmend muffig, schlug schließlich ins Ekelige um. Fortschritte gab es, parallel zum verbesserten Wissen um Eiweißchemie und Sensorik. Kein geringerer als der britische Hygieniker Arthur Hill Hassall (1817-1894) hatte Mitte der 1860er Jahre mit seinem Produktionsverfahren einen neuen Standard gesetzt. Sein Fleischmehl entstand durch eine langsame Trocknung bei relativ niedrigen Temperaturen. Dies verhinderte nicht nur die Gerinnung des Eiweißes, sondern nutzte auch die Diffusionswirkung des Fleischsaftes selbst. Das Hassallsche Fleischmehl zielte vor allem auf die Schiffs- und Militärverpflegung, doch es diente auch der Fortifizierung anderer Lebensmittel. Vermengt mit Kakao oder aber Zwieback stärkte es Kranke und Rekonvaleszente (Conserviren von Nahrungsmitteln, Deutsche Industrie-Zeitung 1, 1867, 396-397).

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Trocknungsapparat zur Produktion von Fleischpulvers (Dingler’s polytechnisches Journal 247, 1883, 336)

Hofmann nahm die Grundgedanken Hassalls auf, führte sie weiter: „Das einzig richtige Verfahren des Fleischtrocknens kann somit nur darin bestehen, die Austrocknung anfangs bei niederer Temperatur einzuleiten um einen Theil des Wassers zu entfernen und am Fleisch eine äussere undurchlässigere Trocknungsschicht zu bilden, dann die Temperatur zu steigern um die vollkommene Gerinnung und Austrocknung ohne jeden Verlust zu erzielen“ (Hoffmann, 1880, 110). Während Hassall sein Fleischmehl rasch öffentlich vermarktete, setzte Hofmann allerdings auf langwierige Tests, die spätestens 1876 einsetzen und auch 1880 noch nicht beendet waren. Gleichwohl war er damals überzeugt, dass das nach seinem Verfahren hergestellte Fleischmehl, „wegen seines Geschmackswerthes sowie des Nährwerthes das geeignetste Zusatzmittel zur Pflanzenkost“ sei (Ebd., 115).

Hofmann war der Ideengeber von Carne pura – doch zum Taktgeber und Propagandisten mutierte ein Geschäftsmann ganz anderen Kalibers: Carl Alphons Meinert, 1843 in Leipzig geboren, 1888 in seinem südlich davon liegenden Gut verstorben. Hofmann war Wissenschaftler, Meinert wollte dies gerne sein. Hoffmann gestaltete, auch als Stadtverordneter, die Konturen seiner neuen Heimatstadt, Meinert wollte dagegen als Geschäftsmann die Konturen des neuen Deutschlands verändern. Hoffmann regte an, überließ die Patentierung seines Verfahrens anderen. Meinert dagegen sah eine Geschäftschance, eine Möglichkeit, einen Abdruck in der Welt zu hinterlassen.

Carl Alphons Meinert entstammte einer wohlhabenden Leipziger Kaufmannsfamilie. Er ehelichte eine Adelige, Anna Margaretha von Bünau (1843-1919), mit der er zwei Kinder, Reinhold (*1870) und Edith Pauline (*1872) hatte. Auch seine Schwester Margarethe heiratete später einen Rittergutsbesitzer (Leipziger Tageblatt 1876 v. 163 v. 11. Juni, 3355). Schon im Alter von 22 Jahren firmierte Meinert als Doktor der Rechtswissenschaften (Ebd. 1868, Nr. 94 v. 3. April, 2507), doch Zeitgenossen stellten dessen Echtheit in Frage (Ebd. 1881, Nr. 218 v. 6. August, 3451) – und einen Nachweis für die Promotion habe auch ich nicht finden können.

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Carl Alphons Meinerts Wirkungsfeld väterliches Geschäft: Anzeigen für Fischguano und Fleischextrakt (Der sächsische Erzähler 1873, Nr. 20 v. 8. März, 4 (l.); Lübeckische Anzeigen 1874, Nr. 23 v. 28. Januar, 4)

Der junge Kaufmann trat früh in das Geschäft seines Vaters Emil Meinert ein. Dieser war im Düngemittelhandel tätig, gleichsam auf den Spuren der Liebigschen Agrikulturchemie. Seit 1860 konzentrierte er sich auf den Import von norwegischem Fischguano (Grünberger Wochenblatt 37, 1861, Nr. 53 v. 4. Juli, 2). Dies war Fischkot, ein natürlicher Dünger, dessen Wirksamkeit er in agrarwissenschaftlichen Versuchen in Möckern und Proskau wissenschaftlich erproben ließ – in letzterer Versuchsanstalt war Julius Lehmann aus München Professor (Der Landwirth 9, 1873, Nr. 18 v. 3. März, 76; ebd. 11, 1875, Nr. 94 v. 23. November, 488). Trotz dieser Spezialisierung war das Meinertsche Handelsgeschäft breit aufgestellt. Kontakte nach Südamerika gab es nicht zuletzt durch den Vertrieb von üblichem Peru-Guano sowie von Chili-Salpeter (Leipziger Tageblatt 1869, Nr. 160 v. 9. Juni, 5317). Emil Meinert war zugleich ein Tüftler, aktiv in der Leipziger Polytechnischen Gesellschaft. Ab 1869 übernahm er zudem die Generalagentur für Buschenthals Fleischextrakt (E[duard] Reichardt, Ueber die chemische Untersuchung von Fleischextract, Dingler’s polytechnisches Journal 194, 1869, 505-507, hier 505). Während des russisch-osmanischen Krieges versorgte sie die russische Regierung mit dem fleischhaltigen Suppenpräparat (Leipziger Tageblatt 1877, Nr. 17 v. 17. Januar, 322). Carl Alphons Meinert lernte im väterlichen Geschäft also viel über internationalen Handel, über Agrarwirtschaft und Maschinentechnik – und auch über Werbung für neue wissensbasierte Kunstprodukte.

Dennoch musste Emil Meinerts derweil auch auf Zement- und Kommissionsgeschäfte ausgeweitete Firma im Juni 1877 ihre Zahlungen einstellen (Leipziger Tageblatt 1877, Nr. 174 v. 23. Juni, 3693). Die Firma erlosch im Juli, und der nachfolgende Konkurs betraf nicht nur sein Vermögen, sondern auch das seiner beiden Söhne Carl Emil und Carl Alphons (Ebd., Nr. 198 v. 17. Juli, 4185; ebd., Nr. 236 v. 24. August, 4905). Für letztere war dies ein gravierender Einschnitt, doch sie machten weiter. Bereits im September 1877 wurde in Leipzig die Firma M. Meinert gegründet. Carl Alphons Ehefrau fungierte als Inhaberin, sein Bruder Carl Emil als Prokurist (Ebd., Nr. 254 v. 11. September, 5268). Parallel aber intensivierte Carl Alphons Meinert seine praktische Arbeit am Hofmannschen Fleischmehl. Er etablierte eine „Versuchsstation“, in der bis 1880 mehrere Tonnen Fleisch auf unterschiedliche Arten getrocknet wurden (J[ulius] Stinde, Special Catalog für den Pavillon Carne pura […], Berlin 1882, 5). Dieses Trockenfleisch wurde nach Argentinien verschifft, dort die Auswirkungen des Transportes untersucht. Wichtiger waren Tests, ob eine derartige Verarbeitung auch in Übersee möglich war. In Deutschland führte Meinert parallel physiologische Versuche an Arbeitern durch – und konnte auf diese Weise auch den Geschmack des Fleischpulvers erproben. Ende 1880 legte er seine Ergebnisse in einem zweibändigen Werk vor (Armee- und Volksernährung. Ein Versuch Professor C. von Voit’s Ernährungstheorie für die Praxis zu verwerthen, 2 T., Berlin 1880). Der Widerhall war wohlwollend.

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Werbung für Meinerts frühe Werbeschriften für Carne pura (Allgemeine Zeitung 1881, Nr. 333 v. 29. November, Beil., 4904 (l.); Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 1882, Nr. 244 v. 20. Oktober, 4540)

Etablierung einer leistungsfähigen Firma

Zu diesem Zeitpunkt war das Produktionsverfahren des neuartigen Fleischmehls bereits patentiert worden. Rechts- und Urheberschutz wurde Ende 1878 von der neu gegründeten Firma M. Meinert und dem Hamburger Kaufmann Johann Conrad Warnecke jr. (1817-1893) beantragt und am 2. Dezember 1879 gewährt (Deutscher Reichsanzeiger 1879, Nr. 283 v. 2. Dezember, 6). Die „Combination verschiedener Verfahren zur Herstellung einer neuen Sorte Fleischmehl“ war Ergebnis des jahrelangen Pröbelns Hofmanns und Meinerts: Frischfleisch wurde vom sichtbaren Fett befreit, dann mit 2-3 Prozent Salz bestreut, anschließend bei variablen Temperaturen zwischen 50 und 60 °C vorgetrocknet, bei 100 °C völlig getrocknet und schließlich vermahlen. Auch an die Fleischhygiene war gedacht: „Um Insekten abzuhalten, sollen die Räume, in denen das Fleisch bearbeitet wird, so stark mit Schwefelkohlenstoffdampf erfüllt werden, als die Arbeiter vertragen können“ (Herstellung von Fleischmehl, Dingler’s polytechnisches Journal 236, 1880, 85). Die Patentierung zeigte Meinert als treibende Kraft, Warnecke war vornehmlich Finanzier. Sein Handelshaus importierte Kolonialwaren und skandinavische Güter, später wurde er Mitglied der Hamburger Bürgerschaft. Die Firma Conrad Warnecke musste im September 1882 allerdings aufgrund beträchtlicher Verluste im Importhandel die Zahlungen einstellen (Chemiker-Zeitung 6, 1882, 1007).

Meinert und Warnecke standen nun vor der Aufgabe Wagniskapital für die Produktion und den Vertrieb des „Patentfleischpulvers“ einzuwerben – und es sollten fast zwei Jahre zwischen der Patenterteilung und der Firmengründung vergehen. Das dürfte zum einen an der komplexen Aufgabe gelegen haben, ein multinationales Unternehmen aufzubauen. Während die verschiedenen Fleischextrakte in uruguayischen oder argentinischen Hafenstädten produziert und in Europa lediglich kontrolliert wurden, sollte die Wertschöpfung des neuen Fleischmehls nicht primär in der überseeischen Peripherie, sondern vorrangig im europäischen Zentrum erfolgen. In Südamerika sollte lediglich das Fleisch getrocknet und versandfertig gemacht werden, weitere Produktionsschritte inklusive der Vermahlung und der Verarbeitung zu Carne pura-Produkten für den Letztkonsumenten dagegen im Deutschen Reich erfolgen. Zum anderen wusste man um den nur begrenzten ökonomischen Erfolg des Hassallschen Fleischmehls – auch wenn es sich bei dem Patentfleischpulver natürlich um eine verbesserte Variante handelte.

Die „Carne Pura, Patent-Fleischpulver-Fabrik, Actiengesellschaft“ wurde schließlich am 15. September 1881 in Hamburg gegründet (Hamburgische Börsen-Halle 1881, Nr. 240 v. 10. Oktober, 7). Ziel war die Produktion und der Vertrieb von Fleischpulver und Conserven. Das Kapital betrug stattliche 600.000 M (Deutscher Reichsanzeiger 1881, Nr. 239 v. 12. Oktober, 8). Carl Adolph Meinert war technischer Beirat und zuständig für Produktion und – in unserer Sprache – Marketing. Der Vorstand bestand aus Hamburger Kaufleuten. Neben Warnecke und Ferdinand Kob stand Julius Richter (1836-1909), ein Bankier und Investor, der zwei Drittel der Aktien zur Subskription hielt, der dafür also weitere Investoren suchte. Auch die genaue Firmenstruktur war noch unklar: Als Produktionsländer waren anfangs Argentinien, Uruguay und Brasilien im Rennen (Carne Pura. Patent Fleischpulver-Fabrik, Hamburgische Börsen-Halle 1881, Nr. 187 v. 4. August, 2).

Der hohe Kapitalbedarf resultierte auch daraus, dass die Aktiengesellschaft erst einmal das Fleischmehlpatent für 75.000 M in bar und 25.000 M in Aktien erwerben musste. Dies sollte die bisherigen Auslagen decken. Zudem forderten M. Meinert und Warnecke eine „Rente“ von 20 Pfennig je Kilogramm Fleischpulver. Für eine Billigware war dies eine denkbar schwere Hypothek. Und doch, Venture-Capital ist immer eine Frage des in Aussicht gestellten Ertrages. 18,5% seien pro Jahr zu erwarten, die Produktion dürfte bei jährlich etwa 300,000 Kilogramm liegen. Die Aktionäre hatten 20% der Aktiensumme unmittelbar einzuzahlen, der Rest würde dann peu á peu abgerufen werden (Leipziger Tageblatt 1881, Nr. 218 v. 6. August, 3451). Franz Hofmann war zu diesem Zeitpunkt längst mit anderen Dingen beschäftigt, war an der Firma nicht beteiligt und hatte von den Plänen und Statuten erst aus der Zeitung erfahren (Ebd., Nr. 222 v. 10. August, 3506). Sein Name war jedoch Teil des werbenden Statuts – ebenso wie die Carl Voits, Max Pettenkofers und vieler anderer Gelehrten und Militärs. Ja, Militärs, denn Carne pura sollte zwar mit höchstens 4 M pro Kilogramm deutlich günstiger als Fleisch verkauft werden, doch die stehenden Armeen Preußens, Bayerns und Württembergs waren finanzstarke Interessenten. Wichtig auch: Die Gewinne würden vorrangig in das Unternehmen und an die Investoren fließen, erst danach müsse die „Rente“ an die ursprünglichen Patentinhaber gezahlt werden. Die Journalisten waren dennoch zwiegespalten. Doch ein Jahr vor Gründung des Deutschen Kolonialvereins war die Carne pura AG auch ein nationales Unterfangen, ein „Segen für unser deutsches Volk und unsere deutsche Armee“ (Leipziger Tageblatt 1881, Nr. 224 v. 12. August, 3536). Das Argument billigen Fleisches zog ebenfalls – schließlich war es erklärtes Ziel der Regierungspolitik, das Deutsche Reich zu einem mustergültigen Sozialstaat auszubauen, in dem Sozialdemokraten überflüssig waren. Entsprechend erfreuten sich die meisten Journalisten an dem noch virtuellen Produkt, sei man doch „endlich im Besitz einer Conserve, die auch dem Unbemittelten zugänglich ist.“ Und der Geschmack sei gut: „Selbst der zweite Aufguß überragt noch manche Fleischsuppe, wie sie auf dem Mittagstisch in manchen Familien erscheint“ (Zur Volksernährung, Leipziger Tageblatt 1881, Nr. 233 v. 21. August, 3665-3666, hier 3665).

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Verlegung von Hamburg nach Bremen (Hamburgische Börsen-Halle 1881, Nr. 286 v. 2. Dezember, 8)

Geld macht sinnlich – und die neu gegründete Firma bewegte sich: Schon im Dezember 1881 verlegte sie ihren Sitz nach Bremen, folgte damit der sich nun herauskristallisierenden Gruppe der Investoren (Deutscher Reichsanzeiger 1882, Nr. 90 v. 17. April, 8). Mit dem knapp 50-Jährigen Heinrich Hollmann hatte man einen aus Bremen stammenden Direktor für die in Buenos Aires angesiedelten Trocknungsanlagen gefunden. Am 15. März 1882 wurde ein neuer Aufsichtsrat gewählt, der die Investorenstruktur widerspiegelte (Hamburgische Börsen-Halle 1882, Nr. 53 v. 5. März, 8). An der Spitze stand mit Ludwig Gottfried Dyes (1831-1903) ein renommierter Bremer Kaufmann, Mitbegründer der dortigen Deutschen Nationalbank. George A. Albrecht (1834-1898) war Inhaber des Bremer Baumwoll-Handelshaus Joh. Lange Sohn Wwe. & Co., Carl August Franzius (1835-1913) Versicherungskaufmann in der Hansestadt. Franz Eduard Lax stammte dagegen aus Minden, wo sein gleichnamiger Vater ein veritables Bauunternehmen etabliert hatte. Als Inhaber einer Knochen- und Düngerfabrik (Handbuch der Leistungsfähigkeit der gesammten Industrie, Bd. 1, Leipzig 1873, 43) war er schon länger im Südamerikahandel aktiv. Er gewann später aufgrund der wohl 1885 einsetzenden Bestechung von Marineangehörigen notorische Bekanntheit (Altonaer Nachrichten 1890, Nr. 99 v. 29. April, 4). Der Berliner Kaufmann Arthur von Genschow schloss den Reigen ab (Leonhard Volkmar, Geschichte der „Ersten Fabrik condensirter Suppen von Rudolf Scheller Hildburghausen /Thüringen“ 1871-1947, Hildburghausen 1995, 101).

Nach Klärung der Finanz- und Personalfragen nahm der Betrieb an Fahrt auf. Die getrocknete Rohware wurde von Buenos Aires nach Bremen verschifft, dort zu Fleischmehl vermahlen. Dieses konnte direkt abgesetzt werden, wurde in der Regel jedoch zu Suppentafeln bzw. Suppenpatronen weiterverarbeitet (Stinde, 1882, 6). Dazu errichtete man in Berlin eine Konserven-Fabrik, die im April 1882 ihren Betrieb aufnahm (Deutsche Bauzeitung 1882, v. 31. Mai, 254). Um dies zu finanzieren, mussten die Aktionäre ihre Einzahlungen im April und Oktober 1882 komplettieren (Hamburgische Börsen-Halle 1882, Nr. 110, v. 10. Mai, 8; Hamburger Nachrichten 1882, Nr. 254 v. 26. Oktober, 3). All diese Maßnahmen zielten auf eine spektakuläre Präsentation des Carne pura auf der im Sommer 1882 geplanten Hygiene-Ausstellung in Berlin. Den Pavillon konnten Sie schon sehen, eine illustrierte Prachtbroschüre war bei dem aufstrebenden Schriftsteller Julius Stinde (1841-1905) in Auftrag gegeben worden, den ich auch deshalb erwähnen muss, weil er in meinem Geburtsort verstarb.

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Warenzeichen der Carne pura AG (J[ulius] Stinde, Special Catalog für den Pavillon Carne pura […], Berlin 1882, IV)

Und doch, ein Brand machte Mitte Mai 1882 diese Pläne zunichte (Allgemeine Zeitung 1882, Nr. 135 v. 15. Mai, Beilage, 1981). Obwohl der Carne pura-Pavillon nicht betroffen war, sollte die Ausstellung erst 1883 öffnen. Für das Bremer Startup-Unternehmen war dies ein schwerer Schlag. Der Markteintritt musste verschoben werden, doch die Fixkosten blieben. Immerhin besaß man ab September ein offiziell eingetragenes Warenzeichen (Deutscher Reichsanzeiger 1882, Nr. 211 v. 8. September, 6), das neben die Marke Carne pura trat – und den eher technischen Begriff des Patentfleischpulvers in den Hintergrund treten ließ.

Amerikanische Werbung: Probeessen und Vortragsveranstaltungen

Carne pura wurde schließlich mit einem Knall eingeführt, mit einer großen Sause „in echt amerikanischer Weise“ (Leipziger Tageblatt 1882, Nr. 311 v. 7. November, 5192). Am Sonntag, den 5. November 1882 waren nicht weniger als 3.000 Berliner geladen worden, im Wintergarten an einem Probeessen teilzunehmen. Nun, das gleichnamige Varieté wurde erst 1887 erbaut, doch es handelte sich um formidable Räumlichkeiten des größten Hotels der Reichshauptstadt, ein wenig unterhalb des Bahnhofs Friedrichstraße gelegen: „Wer sollte einer so aparten Einladung wiederstehen? Nachher bei dem schönen Wetter einen Spaziergang, dann den Kaffee bei Bauer nehmen, wie reizend! An die Herrscherin am häuslichen Herde erging also die Weisung: Wir kommen erst Abends nach Hause! Um 12 herum fand nach dem Centralhotel eine förmliche Völkerwanderung statt. Wer dorthin wallfahrtete, ist schwerer zu sagen, als wer nicht: Officiere aller Gradem sämmtlich im Helm, die Aerzte Berlins in großer Zahl, hervorragende Beamte, Professoren, Afrikareisende, Redacteure, Kaufleute, Industrielle – kurz, binnen einer halben Stunde war der Wintergarten des Centralhotels überfüllt“ (Berliner Börsen-Zeitung 1882, Nr. 521 v. 7. November, 6). 2.000 waren gekommen, allesamt erwartungsfroh, allesamt hungrig – darunter auch mehr als 200 Arbeiter, die in einem Nebensaal ein Carne pura-Mahl erhielten. Die wohlgewandete Menge erfreute sich an den Klängen der Hauskapelle, besichtigte die ausgestellten Präparate, durchblätterte Prospekte und Drucksachen, doch Sitzplätze waren rar. Kleine Büffets mit Proben von Carne pura-Schokolade, -Bisquits und Fleischzwieback gähnten abgegessen leer. Um 13 Uhr schließlich trat Carl Adolph Meinert auf. Er sprach über die Ernährung allgemein, deren Unzulänglichkeit im Besonderen, lobte das Fleisch und kritisierte die Kartoffel, ließ den Blick gen Südamerika schweifen, sprach von deutscher Wissenschaft und endete mit dem Ideal der Zukunft, der Carne pura-Ernährung (Carne pura, Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1882, Nr. 520 v. 6. November, 2).

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Werbung im Vorfeld des großen Berliner Probeessens (Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1882, Nr. 519 v. 5. November, 8)

Das dauerte mehr als eine Dreiviertelstunde. Doch dann lenkte Meinert den Blick der zunehmend hungrigen Menge auf das reiche Angebot: „Fleischbrühe in Tassen, Julienne-Suppe aus Carne pura, Patentfleischbohnensuppe mit geröstetem Brod, Patentfleischerbsensuppe, Patentfleischbrodsuppe, Patentfleischgemüse mit Kartoffeln und Erbsen oder Linsen, Sauerkohl mit Kartoffeln in Carne pura gekocht, Carne pura-Graupen mit Kohlrabi und Kartoffeln, gekochtes Rindfleisch in Fleischbrühe etc., ferner Croquettes, Auflauf, Bisquits und Zwieback aus Carne pura“ (Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1882, Nr. 519 v. 6. November, 2). All das gab es, gewiss, doch nur für die Recken, die sich auf dem alimentären Schlachtfeld durchsetzen, die sich im furchtbaren Gedränge behaupten konnten. Erst Besteck und Teller erobern, dann etwas Essbares, so die Devise; und manch Kompromiss musste geschlossen werden, mit Sitte und mit Tischetikette. Wer jedoch irgend in die Nähe der nach der Rede Meinerts hereingetragenen großen Kupferkessel gelangen konnte, „der kostete von der Bouillon, den Erbsen- und Linsensuppen und den sonstigen carne-pura-Genüssen“ (Berliner Tageblatt 1882, Nr. 520 v. 6. November, 3). Diejenigen aber, die leer ausgingen, standen nicht nur vor den Damen bedröppelt da, sondern sannen auf Ersatz. So stürmten Wagemutige den dekorativen „Gabentempel“, entnahmen die dort aufgestellten Verpackungen, öffneten sie erwartungsfroh, um festzustellen, dass sie mit Sand, mit märkischem, gefüllt waren. Und doch – das Resümee der Journalisten war so schlecht nicht: Carne pura war essbar, nichts für Gourmets, doch ganz in Ordnung. Man war sich allerdings nicht sicher, ob es sich als Volksnahrungsmittel würde durchsetzen können. Die große Sause hatte Spuren, die „amerikanische Reklame“ (Dresdner Nachrichten 1882, Nr. 313 v. 9. November, 2) durchaus Eindruck hinterlassen: „Wenn die Absicht der Gesellschaft dahin ging, die Einführung ihrer Fabricate mit Eclat zu bewerkstelligen, so dürfte sie ihren Zweck erreicht haben“ (Allgemeine Zeitung 1882, Nr. 313 v. 9. November, Beil., 4607). Famoses Chaos, durch den „der Zweck einer blitzschnellen Verbreitung des Carne pura-Renommées vollständig“ (Leipziger Tageblatt 1883, Nr. 33 v. 2. Februar, 15) erreicht worden sei.

Werbung dieser Art war modern, brach mit tradierten Formen. Dr. Meinert war eben kein Nachfolger der Marktschreier, sondern präsentierte ein modernes, ein deutsches Wissensprodukt auf der Höhe der Zeit. Das Probeessen wandte sich vorrangig an die höheren Kreise, an Multiplikatoren wie die geladenen, vornehmlich in Wohltätigkeitseinrichtungen aktiven Damen. Die gespeisten Arbeiterhundertschaften boten gleichsam ein Abbild ihres Appetits, ihrer Bedeutung. Sie standen kräftig malmend aber auch für die Dankbarkeit der Massen gegenüber dem Einsatz der bürgerlichen und militärischen Spitzen der Gesellschaft. Die parallel verhalten einsetzende Anzeigenwerbung verwies explizit auf die Autorität der kontrollierenden Wissenschaftler. Mit Joseph König (1843-1930) hatte man den damals wichtigsten Nahrungsmittelchemiker Norddeutschlands gewinnen können, mit Paul Jeserich (1854-1927) nicht nur Meinerts Kompagnon bei der Kreation neuer Nahrungsmittel, sondern auch einen der später wichtigsten Gerichtsmediziner des Kaiserreichs. Ihre Namen unterstützten die wissenschaftliche und soziale Aura des Carne pura.

09_Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger_1883_02_24_Nr055_p08_Meinert_Fleischpulver_Carne-Pura_Probekochen

Wissenschaftliche Werbung für Carne pura (Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger 1883, Nr. 55 v. 24. Februar, 8)

Meinert selbst agierte im Winter 1882/83 als Vortragsreisender in eigener Sache. Seine Publikationen boten die Versatzstücke für Carne pura-Vorträge im ganzen Land. Nach der Berliner Großveranstaltung konzentrierte er sich nun aber auf kleinere Probeessen mit teils handverlesenem Publikum. In Leipzig lud man nur 20 Personen, meist Journalisten, zu einem Mahle, bei dem das Patentfleischmehl im Mittelpunkt stand, es aber doch von Weinen, Rinderfilet, Geflügel und Kompotten umkränzt wurde (Leipziger Tageblatt 1883, Nr. 33 v. 2. Februar, 15). Zuvor in der Presse geäußerte Kritik griff die Firma auf, denn der nicht unbeträchtlichen Unsicherheit über Herkunft und Qualität des in fernen Ländern verarbeiteten Fleisches begegnete sie mit Verweis auf strenge Regierungsbeamte und schließlich der Anstellung eines deutschen Veterinärmediziners. Die Frage des Geschmacks ging Meinert in seinen Vorträgen offensiv an, kokettierte gar mit Vorwürfen, Carne pura würde nach Seife, Teer oder gar nach eingestampften Indianern schmecken (Der Vortrag des Herrn Dr. Meinert aus Berlin über das neue Nahrungsmittel Carne pura, Badischer Beobachter 1883, Nr. 75 v. 6. April, 3). Die Geladenen sollten selber kosten, wurden als urteilsfähig angesehen, das fleischige Gut würde für sich selbst zeugen. Die Vorträge dienten zugleich aber Vertriebszwecken allgemeiner Art, nämlich erstens der Werbung für neu eingerichtete Niederlagen, also Großhandels- und Einkaufsstätten, zum anderen aber dem Kontakt mit lokalen Militärs bzw. Vertretern der Wohlfahrtspflege (Carne pura, Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger 1883, Nr. 58 v. 27. Februar, 1-2, hier 1). Die Firma konzentrierte ihre Direktwerbung auf die Ober- und gehobene Mittelschicht, vergaß aber nicht die soziale Agenda des Volksnahrungsmittels. In München waren unter den dort speisenden dreihundert Personen auch zehn Arbeitervertreter aus Augsburg (Carne pura, Allgemeine Zeitung 1883, Nr. 59 v. 28. Februar, 865).

Die Direktwerbung für Carne pura erreichte im Sommer 1883 ihren Höhepunkt, denn nun fand nach einem Jahr Aufschub endlich die internationale Hygieneausstellung in Berlin statt, „aus der Asche prächtiger entstanden“ (Deutscher Reichsanzeiger 1883, Nr. 115 v. 19. Mai, 3) denn zuvor. Der mit zwölf elektrischen Glühlichtlampen illuminierte Carne pura-Pavillon (Elektrotechnische Zeitschrift 1883, 372-374, hier 373) lag längs der Invalidenstraße, nahe der Kochschule des Berliner Hausfrauenvereins und dem Gebäude mit dem Siemens-Verbrennungsapparat, der sich bei Stahl- und Glasfabrikation bestens bewährt hatte und nun seine lechzenden Flammen auch auf Leichen warf, menschliche und tierische. Der Pavillon war Informationsplattform und Küche zugleich: Die Resonanz war beträchtlich, die Speisen wurden neugierig gekostet und durchweg als „ganz schmackhaft befunden, wenn auch Einzelne sich nicht mit dem Gedanken vertraut machen konnten, dass man aus getrocknetem Fleischpulver wohlschmeckende Bouillon und Speisen zu bereiten im Stande ist“ (J[oseph] König und [Eugen] Sell, Ernährung und Diätetik, Lebensmittel und Kost, in: Paul Boerner (Hg.), Bericht über die Allgemeine deutsche Ausstellung auf dem Gebiete der Hygiene und des Rettungswesens, Bd. 1, Breslau 1883, 141-226, hier 172). Wie sehr das neue Fleischprodukt lockte, sah man insbesondere am Auflauf der hohen, ja höchsten Häupter: Kaiser Wilhelm I. und Kaiserin Augusta besuchten ihn am 5. Juni 1883 (Deutscher Reichsanzeiger 1883, Nr. 129 v. 5. Juni, 3). Zuvor verbeugte man sich brav vor der Großherzogin von Baden und der Erbprinzessin Charlotte von Meiningen (Berliner Börsen-Zeitung 1883, Nr. 211 v. 8. Mai, 2), dem König von Sachsen und seiner Gattin mit Kronprinz Wilhelm (dem späteren Kaiser Wilhelm II.) im Schlepptau (Deutscher Reichsanzeiger 1883, Nr. 114 v. 18. Mai, 3). Auch der chinesische Gesandte Li Fong Pao „machte zahlreiche Einkäufe und Bestellungen, so im Carne pura-Häuschen“ (Berliner Tageblatt 1883, Nr. 230 v. 21. Mai, 3). All das und mehr wurde huldvoll berichtet – und war eine stete Werbung für das Neue.

Die Berichterstattung über Carne pura auf der Hygiene-Ausstellung erlaubt es, Werbung, Sortiment und Anspruch der Firma genauer aufzufächern. Vier Punkte sind hervorzuheben: Erstens setzten die Fleischpulverhersteller ihre Direktwerbung auch andernorts fort, luden sie doch Multiplikatoren zu einer persönlichen Führung in ihre am Küstriner Platz gelegene Konservenfabrik. Diese stellte nicht nur Carne pura-Produkte her, sondern auch gängige Fleisch- und Gemüsepräserven für Haushalte und Armeebedarf. Nun aber standen die mit Carne pura vermengten Suppenpräparate im Mittelpunkt: Das in Bremen vermahlene Fleischpulver wurde in Berlin mit getrockneten, neuerlich erhitzten und dann fein vermahlenen Hülsenfrüchten vermischt. In weiteren Mischapparaten fügten die Arbeiter geschmolzenes Fett, Salz und verschiedene Gemüse hinzu. Porree, Zwiebeln, Sellerie und andere Bodenfrüchte gaben dem Mehl zusätzlichen Geschmack. Die so zusammengefügte Masse wurde anschließend abgewogen und in Patronen von je 125 Gramm gepresst. Dieses Komprimat war zylindrisch, etwa vier Zentimeter hoch und mit einem Durchmesser von sechs Zentimetern. Die vorportionierte Patrone konnte mit Wasser in einen Topf gegeben werden und sollte nach zehn bis fünfzehn Minuten Kochen eine fleischig-schmackhafte Suppe ergeben. Die äußere Aufmachung entsprach dem wissenschaftlichen Anspruch, denn lange, lange vor einschlägigen Kennzeichnungsverordnungen enthielt die Verpackung bereits genaue Angaben zu den Nährwertgehalten, bei denen der hohe Eiweißgehalt besonders hervorstieß (Theodor Scheller, Ueber Fleischconservirungsmethoden und deren Verwendung für Heereszwecke, Med. Diss. Berlin 1883, 11). Die Modernität der Angebote wies zugleich über den Gehalt hinaus, galt es doch, „den Hausfrauen die Aufgabe des Ankaufes der einzelnen Nahrungsmittel dadurch zu ersparen, daß man ihnen die letztern entweder bereits zu Kostrationen gemischt oder in einer derartig verbreiteten Form bietet, daß es nur einer kurzen Arbeit bedarf, um daraus preiswürdige Kostrationen zu bereiten“ (H[ugo] Fleck, Hygienische Wanderungen durch die Berliner Ausstellung. IV, Berliner Tageblatt 1883, Nr. 280 v. 19. Juni, 1-2, hier 1). Doch diese für viele Neuerungen der Zeit stehende Aussage rief zugleich Puristen hervor, die Carne pura allein als Fleischpulver, nicht aber als Bestandteil moderner Convenienceprodukte verstanden (Die allgemeine Deutsche Ausstellung auf dem Gebiete der Hygiene und des Rettungswesens. II., Centralblatt für allgemeine Gesundheitspflege 2, 1883, 275-289, hier 285).

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Produktionspalette der Carne Pura Aktiengesellschaft 1882 (Stinde, 1882, IV)

Zweitens: Die Firmenvertreter, zumal aber Carl Adolph Meinert, waren keine Puristen. Sie präsentierten in ihrem Pavillon eben nicht nur ein neuartiges Fleischpulver, sondern verstanden dieses als Teil einer tiefergreifenden Verwissenschaftlichung der Nahrungsmittelproduktion. Im Pavillon konnten die Gäste gängige Fleisch- und Suppengerichte verzehren, wurden aber auch an Neuerungen wie Patent-Fleisch-Schokolade, Patent-Fleisch-Maccaroni und -Graupen sowie Patent-Fleischbiscuits und Patent-Fleisch-Zwieback herangeführt (Stinde, 1882, 30-31). Sie sollten Alltagsspeisen werden, Volksnahrungsmittel. Das unterstrich auch die Ausstellung des Pavillons durch den Leipziger Maler und Graphiker Gustav Sundblad (1835-1891), der durch seine zahlreichen Abbildungen in der Familienzeitschrift „Die Gartenlaube“ einem Millionenpublikum gut bekannt war. Carne pura war gewiss die wichtigste Innovation, pur oder aber vermischt. Es wurde jedoch ergänzt durch einen neuen, von Meinert entwickelten süßen Kaffee-Extrakt, ein neuartiges Dauerbrot sowie eine neue Margarine namens India-Butter, die Meinert zusammen mit Jeserich entwickelt hatte und im April 1882 patentiert bekam. Sie bestand aus Kokos- und Palmkernmehl, während die meisten Kunstbuttersorten noch aus tierischen Fetten bestanden (König und Sell, 1883, 177). Auch neuartiges Büchsenfleisch war erhältlich. Diese Angebotspalette wurde ergänzt durch Auftragsproduktion anderer Firmen für das Bremer Startup-Unternehmen. Die weltweit präsente Amsterdamer Firma J. & C. Blooker lieferte einen Patent-Fleisch-Kakao, die Kölner Teigwarenproduzenten C.A. Guilleaume & Söhne mit Carne pura versetzte Patent-Fleisch-Maccaroni und -Graupen. Auch die Wurzener Bisquitfabrik F. Kreitsch verarbeitete das Fleischpulver und lieferte Patent-Fleischbiscuits, Patent-Fleisch-Zwieback und Patent-Fleisch-Schiffbrot (Ludwig Krieger, Carne pura, Rundschau für die Interessen der Pharmacie, Chemie und der verwandten Fächer 1883, 159-161, hier 160). Wissenschaftliches und unternehmerisches Ziel war die Schaffung einer um das eiweißhaltige Carne pura herum gruppierten Palette haltbarer und gehaltvoller Nahrungsmittel.

Drittens kreiste die öffentliche Diskussion immer um den Geschmack des neuen Fleischpulvers. Die im Pavillon gereichten Näpfe wurden als nährend und appetitlich beschrieben (Paul von Schönthan, Die Hygiene-Ausstellung in Berlin. II., Die Presse 1883, Nr. 147 v. 31. Mai, 1-3, hier 3), insgesamt lag die Wertung bei ordentlich bis akzeptabel. Selbst Lohnschreiber der Firma konzedierten allerdings, dass Carne pura nicht wie Frischfleisch schmecke, ja, einen „etwas eigenthümlichen Beigeschmack und Geruch“ (König und Sell, 1883, 174) besäße. Ein führender Militärarzt sprach von einem „gewissen fremdartigen Beigeschmack“ (W[ilhelm] Roth, Allgemeine Deutsche Ausstellung auf dem Gebiete der Hygiene und des Rettungswesens zu Berlin im Sommer 1883. (Fortsetzung), Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 16, 1884, 161-269, hier 171). Andere Besucher erinnerten sich der famosen Erbswurst von 1870/71, die anfangs gerne genommen, mit der Zeit aber aufgrund ihres immer gleichen Geschmackes (und der langsamen Fettzersetzung) immer stärkeren Widerwillen hervorgerufen hatte (Lohmann, 1883, 361). Für die Firma waren dies Aufforderungen für technische Veränderungen und verbesserte Rezepturen ihrer Produkte.

Viertens schließlich diskutierten die Besucher des Carne pura-Pavillons die Zukunftsfähigkeit des Produktes, vorrangig also seine Marktgängigkeit. Das Marktpotenzial schien beträchtlich, doch darüber würde der zukünftige „Verbrauch im Kleinen“ (Scheller, 1883, 11) entscheiden. Zentral dafür war der Preis. Ohne eine weitere Preisreduktion sei Carne pura für den Massenmarkt schlicht zu teuer, könne daher einzig in die Truppen- oder Massenverpflegung Eingang finden (Fußnote bei Lohmann, 1883, 361). Dies galt, obwohl die meisten Besucher die Meinertschen Angaben von dem gegenüber Frischfleisch vermeintlich billigeren Fleischpulver durchaus wiedergaben. Chemiker und Physiologen stimmten ihnen auf Grundlage der Stoffbilanzen zu – und Carne pura besaß einen Eiweißgehalt von knapp 70 % (J[oseph] König, Chemie der menschlichen Nahrungs- und Genussmittel, T. 1, 2. sehr verm. u. verb. Aufl., Berlin 1883, 72). Im Alltag aber kämen auch andere Faktoren zur Geltung. Sie würden über die Zukunft des Carne pura entscheiden.

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Eine breite Produktpalette (Hamburger Nachrichten 1883, Nr. 42 v. 18. Februar, 12)

Der steinige Weg in den Massenmarkt

Das Marketing der Carne pura Aktiengesellschaft war für die 1880er Jahre ungewöhnlich, hinterfragt gängige Erzählungen von einer vermeintlich völlig rückständigen Werbung dieser Zeit (so etwa das Zerrbild von Dirk Reinhardt, Von der Reklame zum Marketing. Geschichte der Wirtschaftswerbung in Deutschland, Berlin 1993, 432-435). Doch Präsenz im Massenmarkt war mit einer reichsweit beachteten Direktwerbung nicht erreicht. Dazu musste ein Vertriebsnetz aufgebaut werden – und das war schwieriger zu erhalten als Gutachten von Multiplikatoren, die Care pura „eine grosse Zukunft“ vorhersagten (Carl Rüger, Attest v. 30. August 1883, Bundesarchiv R 86 Nr. 3442).

12_Allgemeine Zeitung_1883_02_28_Nr059_Beilage_p862_Carne-Pura_Fleischpulver_Suppenpraeparate_Muenchen

Neue Nahrungsmittel und bewährte Absatzstrukturen (Allgemeine Zeitung 1883, Nr. 59 v. 28. Februar, Beil., 862)

Der damalige Lebensmittelhandel war noch entlang gestufter Absatzketten organisiert. Produzenten lieferten an Großhändler, diese an Agenturen und Kolonialwarenläden. Genaue Zahlen fehlen, doch kann man 1882 von ca. 200.000 Nahrungsmittelgeschäften ausgehen (Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850-1914, München 1999, 704). Markenartikel waren selten, nationale Märkte gab es nur für wenige Artikel, die Läden führten ein aus heutiger Sicht sehr kleines Sortiment gangbarer Waren. Carne pura war haltbar, gewiss, doch es war ein neuartiges Produkt, das tradierte Ernährungsweisen in Frage stellte. Investoren waren gewonnen worden, die Produktionsstruktur war etabliert. Ende 1882 begann zudem Überzeugungsarbeit in den wichtigsten Städten des Deutschen Reichs: Großhändler und Agenturen mussten gewonnen werden, diese dann die Kleinhändler beliefern. Die Carne pura Aktiengesellschaft bot Flankenschutz, informierte das Publikum mittels Anzeigen über die lokalen Verkaufsstätten.

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Aufbau eines Vertriebsnetzes (Karlsruher Zeitung 1883, Nr. 6 v. 7. Januar, 4)

In München konnte man beispielsweise in knapp zwei Dutzend Niederlagen Carne pura-Produkte kaufen. Dabei handelte es sich durchweg um teils seit langem etablierte Kolonialwarenhandlungen. Das Netzwerk wuchs im Frühjahr auf 22 Niederlagen an, blieb auf dieser Höhe, wenngleich mit leicht sinkender Tendenz (Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger 1883, Nr. 73 v. 14. März, 8; ebd. 1883, Nr. 238/239 v. 26. August, 12). In der Provinz waren die Verhältnisse begrenzter. Im oberfränkischen Coburg benannten die Anzeigen lediglich einen lokalen Händler (Coburger Zeitung 1883, Nr. 123 v. 29. Mai, 541).

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Etablierung im Feinkosthandel (Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger 1883, Nr. 171 v. 20. Juni, 5 (l.), Ebd., Nr. 119/120 v. 29. April, 4)

Dieses Vertriebsnetz ermöglichte einen allgemeinen Absatz, begrenzte ihn aber zugleich auf eine bürgerliche Käuferschicht. Während die Werbung der Bremer Firma ihre Produktpalette als solche präsentierte, banden die einzelnen Läden das neue Fleischmehl in ein anderes Umfeld ein, nämlich das von Kolonialwaren, Genussmitteln und Feinkost, das der gehobenen bürgerlichen Tafel. Angesichts der damals (und gewiss bis heute) üblichen sozialen Segregation der Einkaufsstätten kann von einem wirklichen Massenangebot daher nicht die Rede gewesen sein.

15_Rosenheimer Anzeiger_1883_12_19_Nr289_p3_Carne-pura_Fleischpulver_Fleischkonserven_Suppenpraeparate.

Fehlende graphische Durchdringung (Rosenheimer Anzeiger 1883, Nr. 289 v. 19. Dezember, 3)

Vor Ort wurden Anzeigen durchaus in Einklang mit den Grundinformationen der Carne pura AG ausgestaltet. Doch dies betraf nur den Inhalt, die Worte: „Fleischnahrungsmittel, billig, nahrhaft, schmackhaft, haltbar. Garantie für Reinheit, Güte, Gehalt und Haltbarkeit. Amtliche und tierärztliche Controle der Fabriken in Buenos Aires und Berlin. […] Bedeutende Ersparnis an Brennmaterial und Zeit“ (Düsseldorfer Volksblatt 1883, Nr. 261 v. 29. September, 4) – das waren die Kernbotschaften abseits der Nennung von Produkt und Sortiment. Das neue Präparat wurde präsentiert, nicht aber genauer vorgestellt, nicht wirklich erklärt. Zugleich gelang es der Firma nicht, einheitliche graphische Anzeigenstandards durchzusetzen. Das mag auch an den begrenzten technischen Möglichkeiten vieler Zeitungen gelegen haben, doch Klischeewerbung war damals durchaus üblich. Carne pura war zwar Markenartikel, doch eine stringente Markenführung überforderte die Bremer Vertriebsabteilung. Überraschend ist auch, dass man parallel kein Versandgeschäft aufbaute. Dabei konnte man in dieser Zeit nicht nur bei Textilversendern wie etwa Rudolph Hertzog ordern, sondern auch Weine, Zigarren, Butter, Konserven oder aber Baumkuchen per Post und Nachnahme bestellen. Gewiss, dies wäre ein Bruch mit dem vielfach gängigen Borgwesen der Mittel- und Unterschichten gewesen. Doch Carne Pura war haltbar und gut verpackt, wäre also einfach zu versenden gewesen. Stattdessen begann schon die internationale Expansion des Produktes: In Österreich wurde Carne pura im September 1883 als Marke registriert (Wiener Zeitung 1883, Nr. 213 v. 16. September, 7). Auch im westlichen Ausland, etwa den Niederlanden, wollte man den Markt erobern.

Die Carne pura AG wählte allerdings andere Wege, durchaus in Einklang mit der Direktwerbung seit November 1882. Die Anzeigen mochten keine genaueren Informationen darüber enthalten, wie das neue Fleischmehl in der Küche zu verwenden war, doch die Firma schuf Hilfsmittel für die Hauswirtschaft. So wurde erst für die Kochkunstausstellung in Leipzig, dann auch für die Berliner hygienische Ausstellung die Leiterin der hannoverschen Kochschule Lina Kux engagiert, die nicht nur vor Ort kochte, sondern die Zubereitung auch (den bürgerlichen Besuchern) erklärte (Carne pura, Industrieller Anzeiger 1883, Nr. 5 v. 18. April, 34). Ihre Mutter, eine der nicht wenigen erfolgreichen Kochbuch- und Haushaltsschriftstellerinnen, offerierte ab Mai 1883 ein spezialisiertes Kochbuch mit nicht weniger als 187 Rezepten (Auguste Kux, Carne pura-Kochbuch. Erste populäre Anleitung, naturhafte, schmackhafte und billige Speisen aus den Carne pura-Nahrungsmitteln zu bereiten, 5. Aufl., Berlin 1883). Für 50 Pfennig billig zu haben, unterstützte das Büchlein den lokalen Absatz der Produkte (Elbeblatt und Anzeiger 1883, Nr. 62 v. 29. Mai, 6). Ab 1884 war es auch in niederländischer Übersetzung erhältlich.

16_Davidis-Rosendorf_1885_p638_Kartoffelsuppe_Carne-pura_Rezept

Suppenrezept mit Carne pura (Henriette Davidis, Praktisches Kochbuch für die gewöhnliche und feinere Küche, fortgeführt v. Luise Rosendorf, 27. Aufl., Bielefeld und Leipzig 1885, 638)

Wie bei den Probeessen und den Ausstellungen setzte die Carne pura AG auf eine Art Rieseleffekt. Das gute Produkt würde sich durchsetzen, sobald vernünftige Menschen darüber in Kenntnis gesetzt wären. Weitere Kochbücher berichteten nach Honorarzahlungen über das neue Fleischmehl, präsentierten einschlägige Rezepte, „wenn auch die damit gemachten Versuche und Erfahrungen noch nicht abgeschlossen sein können“ (Henriette Davidis, Praktisches Kochbuch für die gewöhnliche und feinere Küche, fortgeführt v. Luise Rosendorf, 27. Aufl., Bielefeld und Leipzig 1885, III). Die redaktionelle Reklame für das neue „Nahrungsmittel von großem Werte“ (ebd., 639) war zugleich ein doppelter Appell an das Bürgertum. Auf der einen Seite ging es um den Konsum von Carne pura, zumal als Grundstoff einer Fleischbrühe. Auf der anderen Seite war dessen Verbreitung eine soziale Mission: „Die alte Erfahrung, daß fast alles Neue mit Vorurtheilen zu kämpfen hat, muß bei der Einführung des Patent-Fleischpulvers ins Auge gefaßt werden und Jeder, der ein Herz für die Nothlage des Mitmenschen besitzt, möge sich an der planmäßigen belehrenden Einwirkung auf das Volk, sei es in weiteren oder engeren Kreisen betheiligen“ (Ernst, 1886, 522).

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Das Idealbild der Arbeiterfamilie (Stinde, 1882, 11)

Neben den Ausbau der Vertriebsstruktur und der hauswirtschaftlichen Fortbildung trat ab Anfang 1883 die Preisgestaltung. Dies schien vielen Beobachtern essenziell: „Wenn es Meinert wirklich gelingt, seine Präparate um die angegebenen billigen Preise zu liefern […], dann glaube ich nicht zu viel zu sagen, dass er damit bald alle Welt sich erobern wird“ (Vogel, Rez. v. Meinert, Armee- und Volksernährung, 1880, Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 13, 1881, 462-464, hier 463).

18_Der oberschlesische Wanderer_1883_05_17_Nr111_p4_Carne-pura_Fleischpulver

Preissenkung zur Marktdurchdringung (Der oberschlesische Wanderer 1883, Nr. 111 v. 17. Mai, 4)

Entsprechend begann die Carne pura AG nach Etablierung des Vertriebsnetzes die Preise erheblich zu senken: Eine 30-prozentige Preisreduktion sollte den offenbar stockenden Absatz beleben, sollte nun auch der Arbeiterbevölkerung den Kauf ermöglichen (Der Wendelstein 1883, Nr. 100 v. 31. August, 4). An bezahlter Begleitpublizistik fehlte es jedenfalls nicht: „Die Präparate der Carne pura-Aktiengesellschaft in Bremen, […] sind bei ihrer Güte und erstaunlich billigen Preisen so recht berufen, ein Volksnahrungsmittel zu sein“ (Heinrich Boehnke-Reich, Künstliche Nahrungsmittel für Kinder und Erwachsene, Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft 2, 1884, 441-453, hier 452).

19_Karlsruher Tagblatt_1883_04_28_Nr115_p1218_Carne-Pura_Fleischpulver_Suppenpraeparate_Sortiment_Preise

Das Carne pura-Sortiment und seine Preise (Karlsruher Tagblatt 1883, Nr. 115 v. 28. April, 1218)

Carne pura für den Arbeiter? Grenzen des Sozialpaternalismus

Ein eiweißhaltiges Fleischprodukt, billig und einfach zuzubereiten, in Verwendung auch bei höheren Klassen – wie sollte der deutsche Arbeiter sich da verweigern? Eine Antwort darauf gab vielleicht die implizite Abwertung ihrer täglichen Kost durch bürgerliche Wissenschaftler und Haushaltslehrerinnen. Gewiss, die Arbeiterernährung war objektiv vielfach unausgewogen, teils unzureichend, hätte vielfältig verbessert werden können (Uwe Spiekermann, Die Ernährung badischer Arbeiter an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 32, 1996, 453-483). Sie war monoton, Frauen und Kinder hatten gegenüber dem männlichen Familienoberhaupt oft das Nachsehen. Doch die bürgerlicher Reformer achteten nicht die kulturelle und ökonomische Logik der Kost der Unterschichten, wollten diese vielmehr zivilisieren und der ihren angleichen: Es „wird Mühe kosten, die an Massen von Kartoffeln gewöhnten Personen auf ein kleineres Maß von kräftiger Nahrung zu beschränken“ (Stinde, 1882, 36). Der Arbeiter wurde als Arbeitsmaschine verstanden, billiges Eiweiß war daher unverzichtbar. Bezeichnenderweise hieß es von liberaler Seite: Carne pura „könnte zur Erleichterung des ‚Kampfes ums Daseins‘ der unteren Volksklassen viel beitragen und die Schwierigkeiten der Lösung der socialen Frage erheblich verringern“ (Berliner Börsen-Zeitung 1882, Nr. 529 v. 11. November, 5). Zugleich sollte es als Fleischbrühe das Grundübel der Arbeiterexistenz beseitigen, den überbürdenden Alkoholkonsum – der damals etwa bei der Hälfte des heutigen Durchschnittskonsums lag.

20_Karlsruher Tagblatt_1883_02_10_Nr040_p0337_Carne-Pura_Fleischpulver_Suppenpraeparate_Preise_Arbeiterernaehrung

Vermarktung als Billignahrungsmittel (Karlsruher Tagblatt 1883, Nr. 40 v. 10. Februar, 337)

Gewiss, es ist leicht, die fürsorgliche Belagerung der Arbeiter zu kritisieren, ihren bis heute nachwirkenden, in der Ernährungsbildung weiterhin üblichen Sozialpaternalismus zu beklagen. Die bürgerliche Sozialreform war ein wichtiger Anreger moderner Sozialpolitik. Doch sie war brachial, wollte nicht nur den physischen, sondern auch den moralischen Zustand der Sorgeträger nach eigenem Ideal verbessern (Das Carne pura, Hamburgische Börsen-Halle 1883, Nr. 16 v. 18. Januar, 5). Während Agrarökonomen Flurbereinigungen vorantrieben, in den Städten erste Zonenbebauungen festgeschrieben wurden, schien Carne pura „eine vorläufig in ihrer Ausdehnung und ihren Folgen noch garnicht [sic!] zu übersehende Veränderung und Verbesserung der Ernährungsverhältnisse des deutschen Arbeiters, des ländlichen wie des industriellen“ bewirken zu können (Carne Pura, Die Grenzboten 42, 1883, 559-564, hier 562). Arbeiter waren zwar beseelte Wesen, doch das Fleischmehl sollte ihnen wie Hunden Eiweiß „in einer für die Ausnutzung im Darmkanal günstigen Form“ zusetzen (Ueber Volksernährung, Social-Correspondenz 7, 1883, 36-37, hier 36). Dass dies gelingen würde, daran hatten auch bürgerliche Beobachter allerdings ihre Zweifel (Demuth, Zur Cur der Fettleibigkeit, Medizinisch-chirurgische Rundschau NF 14, 1883, 867-875, hier 870).

21_Concordia_05_1883_620_Carne-pura_Fleischpulver_Kakao_Gebaeck

Repräsentative Anzeige für bürgerliche Arbeiterwohltäter (Concordia 5, 1883, 620)

Und in der Tat, der Arbeiter, der böse Lümmel, verweigerte sich. Auf Seiten der damals staatlich massiv bekämpften Sozialdemokratie war das erwartbar, denn die „Verwohlfeilung der Nahrungsmittel“ (Arbeiterfreundlichkeit auf Irrwegen, Der Sozialdemokrat 1886, Nr. 36 v. 1. September, 1-2, hier 1) könne die Lage der Arbeiter nicht verbessern, da aufgrund des ehernen Lohngesetzes jede Preisreduktion zu niedrigeren Löhnen führen würde. Meinerts Broschüre „Wie ernährt man sich gut und billig?“ stand daher nicht für eine bessere Ernährung durch billiges Fleisch, sondern für vermehrte soziale Kontrolle: Ein rheinischer Fabrikant, der davon mehrere hundert Exemplare kaufte und seinen Arbeitern schenkte, erhielt zur Antwort: „‚Will der Kerl uns auch noch vorschreiben, was wir kochen sollen?‘“ (Dresdner Nachrichten 1889, Nr. 156 v. 5. Juni, 1). Die vom sozialreformerischen Verein „Concordia“ ausgezeichnete Broschüre hatte daher kaum praktische Resonanz (Dresdner Nachrichten 1888, Nr. 331 v. 16. November, 2). Trotz anderslautender Beschwörungen klangen bei Carne pura Vorstellungen von Armensuppe und Armenhaus mit (Julius Stinde, Naturwissenschaftliche Plaudereien, Indiana Tribüne 1883, Ausg. v. 10. Dezember, 4). Der Geschmack des Fleischmehls war gewöhnungsbedürftig, konnte die tradierte Ernährungsweise nicht ersetzen. Hinzu kamen die Defizite im Vertrieb, die in übertriebenen Aussagen gipfelten, dass Carne pura „niemals in nennenswerther Menge in den Handel gekommen“ sei (Socialpolitisches Centralblatt 3, 1893/94, 498, FN 1). Carne pura war Teil eines weit verbreiteten Sozialpaternalismus, der den Eigensinn und die Selbstbestimmtheit körperlich arbeitender Mitbürger nicht ernst nahm und der durch machtbewusste Konsumgenossenschaften, Gewerkschaften und die schließlich größte Partei des Kaiserreichs langsam beiseite gedrängt wurde. Ein Volksnahrungsmittel konnte nicht gegen das Volk durchgesetzt werden.

Befohlenes Fleisch: Carne pura in der Militärverpflegung

Arbeitern konnte der Verzehr von Carne pura nicht befohlen werden, Soldaten schon. Daher ist es nicht verwunderlich, dass abseits der vielbeschworenen Volksernährung auch um eine Umgestaltung der Militärverpflegung gerungen wurde. Care pura stand dabei in einer lang zurückreichenden historischen Reihe, gab es doch zahlreiche frühere Versuche, Fleischmehl erst in Kriegs-, dann auch in Friedenszeiten einzusetzen. Die logistischen Probleme der Viehtrosse der damaligen Heere waren offenkundig, lange Haltbarkeit wurde von den Herstellern versprochen. Bereits während des Krimkrieges (1853-1856) errichteten die französischen Interventionsstreitkräfte einsatznah eine Fleischmehlfabrik, doch das Ergebnis war ernüchternd: „Das in Packeten mitgeführte Fleischpulver fand wenig Beifall. Es hat einen widerlichen Geschmack, und man muß, da sich leicht verfälschen läßt, immer fürchten, daß es von allen möglichen Thieren bereitet sei. Der Soldat empfand auch bald großen Ekel davor“ (Die sanitätischen Verhältnisse in der Krim, Allgemeine Militär-Zeitung 33, 1858, Sp. 415-418, hier Sp. 417). Fleischmehl wurde von den führenden Armeen getestet, doch das Ergebnis war durchweg negativ (Die Verpflegung im Kriege, Militär-Zeitung 12, 1859, 596-597, hier 597; Die Conservation des Mannes. (Fortsetzung.) III., Allgemeine Militär-Zeitung 38, 1863, 319-321, hier 320; Michaelis, Die Conservation des Mannes. II., Österreichische militärische Zeitschrift 3, 1862, 177-189, hier 186).

Dennoch blieb das Interesse an einer nahrhaften, billigen, schmackhaften und haltbaren Fleischration weiter hoch. Dies lockte Tüftler und Wissenschaftler. In deutschen Landen breit diskutiert wurde etwa das zuerst als Krankenkost entwickelte „Fleischbrod“ des Württembergischen Arztes Koch, das von 1867 bis 1869 vom württembergischen Kriegsministerium getestet wurde (A. Koch, Fleischbrod für den Soldaten, Algovia 1870, Nr. 31, 1-2). Trotz wiederholter Verbesserungen gab die Armee es nur selten als Teil der eisernen Portion aus (Militair-Wochenblatt 53, 1868, Nr. 102, 831-832). Auch die Vermarktung als „Universalnahrungsmittel“ scheiterte (Deutsche Klinik 21, 1869, 24). Dennoch folgten weitere Angebote, weitere Tests – in Bayern etwa durch Carl Voit (Anhaltspunkte zur Beurtheilung des sogenannten eisernen Bestandes für den Soldaten, München 1876, 14-16). Der Einsatz von Carne pura in der Militärverpflegung stand daher am Ende einer langen Reihe von Fehlschlägen. Nun aber, mit all den Verbesserungen, würde es gewiss gelingen.

22_Stinde_1882_p09_Fleischpulver_Carne-Pura_Militaerverpflegung_Soldaten

Carne pura als Militärverpflegung (Stinde, 1882, 9)

In der Tat waren zahlreiche Militärs an Carne pura interessiert, zumal Franz Hofmann und Carl Alphons Meinert ihre Innovation vernehmlich propagierten (Rez. v. C.A. Meinert, Armee- und Volks-Ernährung, 2 Bde., Berlin 1880, Neue Militärische Blätter 24, 1884, 565-566, hier 565). Ab 1880 liefen Vorgespräche mit den Kriegsministerien, ab 1882 folgten zahlreiche Tests (Zur Konservenfrage, Deutsche Militärärztliche Zeitschrift 11, 1882, 645-649). Die Direktwerbung 1882/83 zielte immer auch auf Sanitätsoffiziere. Das Interesse reichte weit über das Deutsche Reich hinaus: Französische Offiziere besuchten in Begleitung des Hygienikers Jules Arnould (1830-1894) den Berliner Carne pura-Pavillon und die Konservenfabrik (Berliner Tageblatt 1883, Nr. 375 v. 14. August, 3). Russische Marineärzte begannen 1883 mit ihren Tests, kurz darauf auch das österreichische Militär-Comité sowie die schwedische Marine.

In Deutschland gab es einschlägigen Untersuchungen in den preußischen, bayerischen, sächsischen und württembergischen Armeen (Wochenblatt für Zschopau und Umgegend 1883, Nr. 83 v. 17. Juli, 3; Militärzeitung 36, 1883, Nr. 69 v. 31. August, 547). Wie Chemiker und Physiologen waren auch die ersten Militärärzte voller Lob: „Carne pura empfiehlt sich durch einige hervorragende Eigenschaften von durchschlagender militärischer Wichtigkeit: Haltbarkeit, geringes Volumen und Billigkeit“ (Rönnberg, Versuche über den Nährwerth des Fleischmehls „Carne pura“, Deutsche Militärärztliche Zeitschrift 12, 1883, 442-449, hier 449). Wie von Meinert angeregt, sollte das neue Fleischmehl schon während des Friedensdienstes in Menagen verabreicht werden, während im Felde die Brot- und Suppenpatronen gereicht werden könnten. Auch die ersten französischen Untersuchungen im Pariser Hospital Bicètre – nicht nur Foucault-Lesern sicher bestens bekannt – kamen zu dem Fazit, „es ist vielmehr die Verwendbarkeit desselben für die Armeeverpflegung im Felde nur noch eine Frage des Geschmacks und der Fabrication passender Zusammensetzungen“ (Rönnberg, Nachtrag zu der Arbeit über die Verwendbarkeit von Carne pura als Armee-Nahrungsmittel, Deutsche Militärärztliche Zeitschrift 12, 1883, 501-503, hier 501). Ähnlich positiv urteilten die russischen Militärärzte (Jahresbericht über die Leistungen und Fortschritte auf dem Gebiete des Militärsanitätswesens 9, 1884, 41; Petersburger Medicinische Wochenschrift NF 1, 1884, 43). Die Liste ließe sich einfach verlängern ([Salomon] Kirchenberger, Carne pura. Eine neue Fleisch-Konserve und ihre Verwendbarkeit im Felde, Neue militärische Blätter 25, 1885, 224-233).

23_Stinde_1882_pXIV_Brot_Gebaeck_Carne-pura_Militaerverpflegung_Schiffsverpflegung_Krietsch_Wurzen

Fortifizierte Kompaktnahrung vom Vertragspartner F. Krietsch in Wurzen (Stinde, 1882, XIV)

Dennoch blieb der seitens der Carne pura AG erhoffte Strom von Bestellungen aus. Das hatte erst einmal strukturelle Gründe: Das aus Argentinien stammende Fleischmehl war nicht blockadefest, der Nachschub konnte im Kriegsfalle relativ leicht gestört, ja unterbunden werden (St. Petersburger Medicinische Wochenschrift NF 1, 1884, 42). Zudem gab es keine ausreichenden Kontrollen vor Ort, fehlte doch eine amtliche und militärischen Kriterien genügende Fleischkontrolle (Ref. v. M. Hassler, De l’emploi des poudres de viande dans l’alimentation du soldat, Deutsche Militärärztliche Zeitschrift 13, 1884, 523-524, hier 523). Den Hauptkritikpunkt brachte jedoch die österreichische Stellungnahme auf den Punkt. Sie lautete, „dass die Carne pura-Präparate für die Heeres-Verpflegung völlig unbrauchbar sind und dass alle bisher versuchten Fleischmehl-Conserven die Geruchs- und Geschmacksnerven der Versuchenden in einer Weise alterirten, dass kaum von einer Geniessbarkeit derselben zu sprechen ist“ (zit. n. Jahresbericht über die Leistungen und Fortschritte auf dem Gebiete des Militärsanitätswesens 10, 1885, 66).

24_Meinert_1882_p01_Militarverpflegung_Massenverpflegung_Herd_Kochkessel_Carne-pura

Carne pura als Teil eines Komplettangebots: Mobile Herd-Kochkessel-Kombination ([Carl Alphons] Meinert, Fliegende Volks- und Arbeiterküche. Eine Denkschrift, Berlin 1882, 1)

Die konzeptionellen Vorteile des Carne pura wurden in der militärischen Fachliteratur weiter diskutiert (Albert Eulenburg (Hg.), Real-Encyclopädie der gesammten Heilkunde, 2. umgearb. u. verm. Aufl., Bd. 13, Wien und Leipzig 1888, 158). Doch die zentralen Probleme von Haltbarkeit und Geschmack, also die Folgen ranzigen Fettes und zersetzten Eiweißes konnten nicht beseitigt werden (L[udwig] Bernegau, Chemische Streifzüge durch das Konservengebiet unter besonderer Berücksichtigung von Konserven für Massenverpflegung, Apotheker-Zeitung 10, 1895, passim, hier 509). Das Fleischmehl Carne pura war der letzte Versuch, die Fleischtrocknung für die allgemeine Militärverpflegung nutzbar zu machen. Stattdessen setzte sich die Hitzesterilisierung von Fleischpräserven und dann -konserven durch.

Nur versuchsweise: Carne pura in Gefängnissen

Das relative Scheitern Carne puras in der Militärverpflegung war Ende 1883 absehbar. Für Carl Alphons Meinert war dies jedoch zusätzlicher Anreiz, sein Fleischpulver auch in anderen Einrichtungen der Massenverpflegung einzubürgern. Er konzentrierte sich insbesondere auf die Ernährung in Gefängnissen, die damals völlig unzureichend war, zu vielfältigen Krankheiten und einer hohen Sterblichkeit führte (Ulrike Thoms, Anstaltskost im Rationalisierungsprozeß. Die Ernährung in Krankenhäusern und Gefängnissen im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 2005).

25_Boersenblatt für den deutschen Buchhandel_1885_11_16_Nr265_p5738_Meinert_Gefangenenernaehrung_Jeserich_Ploetzensee_Carne-pura

Kontinuierliche Untersuchungen zwischen Markt und Wissenschaften (Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 1885, Nr. 265 v. 16. November, 5738)

Anfang 1883 begann Meinert mit chemischen Analysen der in der Strafanstalt Plötzensee üblichen Speisen, erweiterte diese dann durch Stoffwechselversuche an Gefängnisinsassen. Seine Versuche wurden großenteils von Carne pura AG finanziert, so dass die Ergebnisse teils abgelehnt wurden, da man es „mit einem Producte der im Dienste einer rührigen Reclame stehenden Wissenschaft zu thun“ habe (Rez. v. Meinert, 1885, Über Massenernährung, Organ der Militärwissenschaftlichen Vereine 33, 1886, XLIV-XLV, hier XLV). Hinzu kamen methodische Probleme (K[arl] B[ernhard] Lehmann, Rez. v. C[arl] v. Voit, Ueber die Verköstigung der Gefangenen in dem Arbeitshause Rebdorf, MMW 1885, Nr. 1-4, Centralblatt für allgemeine Gesundheitspflege 5, 1886, 255-258, hier 258). In der Tat handelte es sich bei den Untersuchungen um Forschung im Rahmen der Fleischpulvermission. Das zeigte sich bereits 1884, als Meinert ein preiswertes dreiteiliges Kochbuch für Massenverpflegungsinstitutionen vorlegte, das Rezepte für Standardgerichte unter Nutzung von Carne pura enthielt (Internationales Kochbuch für Gefängnißanstalten, Militärmenagen, Kranken- und Irrenhäusern, T. 1: Küche für Gefängnisanstalten, Hamburg 1884, T. 2: Küche für Militärmenagen, T. 3: Küche für Kranken- und Irrenhäuser (Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 1884, Nr. 239 v. 13. Oktober, 4740).

Meinerts 1885 publizierte Ergebnisse waren nicht wirklich überraschend, forderte er doch höhere Eiweiß- und Fettrationen und empfahl als Gegenmittel Carne pura, Magerkäse und Hering (Ueber die Beköstigung der Gefangenen, Berliner Volksblatt 1886, Nr. 6 v. 8. Januar, 3). Fleischpulver sei ideal, da es einen hohen Eiweißgehalt habe, vollständig resorbiert würde, sich mit anderen Speisen mischen ließe und deutlich billiger als Frischfleisch sei. Carne pura würde ermöglichen, den physiologischen Mindestbedarf zu decken und zugleich dem Vorwurf zu entgehen, „»daß der Verbrecher frisches Fleisch erhält, während der ehrliche, freie Arbeiter sich solches kaum Sonntags verschaffen kann«“ (C[arl] A[lphons] Meinert, Ueber Massenernährung, Berlin 1885, 93). Im Einklang mit einer wachsenden Zahl von Gefängnisärzten und Physiologen empfahl er zudem eine strukturelle Reform der Gefängniskost: Die immer gleiche Suppenkost aus Hülsenfrüchten müsse durch gekochte feste Mehrkomponentenspeisen durchbrochen und insbesondere mehr Wert auf Würzung und Geschmack gelegt werden. Die Ernährung sollte nicht Teil der Strafe sein, sondern vielmehr die Gefangenen zu nützlicher Arbeit befähigen ([Abraham] Baer, [Ohne Titel] Blätter für Gefängniskunde 22, 1887, 10-21; Paul Jeserich, Bericht über ausgedehnte Ernährungs-Versuche in der kgl. Strafanstalt Plötzensee auf Veranlassung der Act.-Ges. Carne pura ausgeführt und bearb., Berlin s.a.). Diese Forderungen waren zukunftsweisend, wurden aber erst in der Weimarer Republik in breiterem Maße umgesetzt. Carne pura wurde in deutschen Gefängnissen jedoch nicht eingeführt, wegen des zu hohen Preises, „dem Anhaften eines unangenehmen Beigeschmacks“ und mangelhafter Haltbarkeit (A[rthur] Leppmann, Ueber zweckmässige Gefangenenbeköstigung, Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 23, 1891, 413-432, hier 431).

Ein Unternehmen im Niedergang: Finanzielle Probleme und Gegenmaßnahmen

Es wird Zeit, den Blick vom Wollen der Carne pura AG zurück auf die reale Unternehmensgeschichte zu lenken. Die „ganz bedeutende Preisermäßigung“ (Teltower Kreisblatt 1883, Nr. 52 v. 30. Juni, 5) vom Mai 1883 hatte nicht die gewünschten Effekte, der Absatz der Carne pura-Präparate blieb weit hinter den Erwartungen zurück (ist aber mangels Zahlen leider nicht zu quantifizieren). Die modernen Formen der Direktwerbung machten Carne pura zwar zu einem populären Begriff, der sich auch als Synonym für nackte (weibliche) Haut sogar für einige Zeit etablierte (Berliner Börsen-Zeitung 1883, Nr. 470 v. 10. Juni, 6; Edmund Rothe, Stoss- und Trostseufzer eines praktischen Arztes. (In folschen Reimen), in: Korb (Hg.), Liederbuch für Deutsche Aerzte und Naturforscher, Abschnitt 2, Hamburg 1892, 234-236, hier 235) – doch dies schlug nicht auf den Absatz durch. Die Konkurrenz frohlockte, dass Fleischpulverpräparate „gründlich zurückgewiesen“ (Leonhard, 1995, 121) wurden.

Die Auszehrung der Carne pura AG begann Mitte 1883, kurz nach Ende der Berliner Hygiene-Ausstellung. Carl Alphons Meinert und Arthur von Gerschow schieden im Juli aus dem Vorstand und der Gesellschaft aus (Berliner Börsen-Zeitung 1883, Nr. 335 v. 20. Juli, 13; Deutscher Reichsanzeiger 1883, Nr. 171 v. 24. Juli, 6). Der Vorstand wurde nicht wieder erweitert (Deutscher Reichsanzeiger 1883, Nr. 233 v. 4. Oktober, 8).

26_Hamburgische Boersen-Halle_1884_05_07_Nr109_p6_Carne-pura_Bremen_Bilanz

Tief in den roten Zahlen: Bilanz Ende 1883 (Hamburgische Börsen-Halle 1884, Nr. 109 v. 7. Mai, 6)

Die Bilanz wies Ende 1883 tiefrote Zahlen aus: Verluste von knapp 300.000 M waren aufgelaufen, Warenvorräte und Ausstände lagen gar noch höher. Anders ausgedrückt: In Berlin stapelte sich nicht absetzbare Ware, und die Zahlungsmoral der Großhändler und Agenturen war gering. Seit der Gründung hatte die Firma „stetig“ Verluste geschrieben (Hamburger Nachrichten 1886, Nr. 154 v. 1. Juli, 11). Bei einem Startup-Unternehmen war dies nicht ungewöhnlich, doch auch die Ergebnisse des Jahres 1884 waren mehr als ernüchternd.

27_Deutscher Reichsanzeiger_1885_07_10_Nr159_p05_Carne-Pura_Bremen_Bilanz

Rote Zahlen. Bilanz der AG Carne pura Ende 1884 (Deutscher Reichsanzeiger 1885, Nr. 159 v. 10. Juli, 5)

Die Verluste waren am Jahresende auf mehr als 420.000 M angewachsen, die Warenvorräte und Ausstände konnten nur moderat vermindert werden. Wohl und Wehe der Gesellschaft hingen von den Gläubigern ab. Beunruhigend waren auch erste Wertberichtigungen, denn die Investoren hatten eben nicht – wie in der Bilanz von 1883 noch ausgewiesen – die gesamte Aktiensumme einbezahlt, sondern 80 der 600 Aktien keine Abnehmer gefunden, drei Aktien wurden nicht vollständig bedient. Dies führte Mitte 1885 zu weiteren personellen Schnitten: Dyes, Albrecht und Lax schieden aus dem Vorstand aus, Carl August Franzius blieb alleiniger Aufsichtsrat (Deutscher Reichsanzeiger 1885, Nr. 239 v. 12. Oktober, 10; Berliner Börsen-Zeitung 1885, Nr. 476 v. 12. Oktober, 9). Zuvor war das Statut geändert worden und die Gesellschaft von Bremen nach Berlin umgezogen (Deutscher Reichsanzeiger 1885, Nr. 181 v. 5. August, 7).

28_Neueste Nachrichten und Muenchener Anzeiger_1885_11_03_Nr307_p05_Fleischpulver_Carne-Pura_Verpackung_Berlin

Verbessertes Carne pura (Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger 1885, Nr. 307 v. 3. November, 5)

Weitere unternehmerische Maßnahmen kann man nur indirekt erschließen. Sicher ist, dass das Unternehmen einerseits die Rezepturen veränderte, um dadurch den Geschmack der Fleischpulverpräparate zu verbessern (Deutsche Medicinische Wochenschrift 12, 1886, 156). Anderseits senkte es im Herbst 1885 abermals die Preise – wobei unklar ist, ob dies nur erfolgte, um die vorhandene Ware abzusetzen.

29_Stinde_1882_p13_Carne-Pura_Reiseverpflegung_Suppenpraeparate_Touristen_Alpen

Carne pura als Suppengrundstoff für Touristen (Stinde, 1882, 13)

Werblich scheint es zu einer weiteren Ausdifferenzierung von Zielgruppen gekommen zu sein. Touristen und Reisende wurden speziell angesprochen, Carne pura als schnell und unkompliziert zuzubereitender Fleischbrühgrundstoff empfohlen (Berliner Tageblatt 1883, Nr. 301 v. 1. Juli, 11).

30_Berliner Tageblatt_1883_08_01_Nr353_p09_Krankenkost_Gebaeck_Biscuit_Carne-purna

Carne pura als Teil der Krankenkost (Berliner Tageblatt 1883, Nr. 353 v. 1. August, 9)

Wachsende Bedeutung gewann auch die Krankenkost – wobei in diesem Marktsegment ab Herbst 1884 Kemmerichs breit beworbene Fleischpeptone rasch den Ton angaben. Dabei warb man vor allem für die in Kommission fabrizierten Gebäcke, für Kakao und Schokolade. Eine ganze Reihe von Kranken hatte einen Widerwillen gegen den zur Stärkung gereichten frisch zubereiteten Fleischsaft. Carne pura-Präparate boten eine schmackhaftere Alternative.

31_Deutsche Medizinal-Zeitung_1882_Nr47_Medizinal-Anzeiger_p4_Carne-pura_Krankenernaehrung_Fleischpulver_Eiweiß

Carne pura als Kräftigungsmittel (Deutsche Medizinal-Zeitung 1882, Nr. 47, Medizinal-Anzeiger, 4)

So nachvollziehbar derartige Maßnahmen auch waren, so zeigen sie doch zugleich, dass die ursprüngliche Idee, ein billiges Fleischpulver als Volksnahrungsmittel und als neuartiges Element der Massenverpflegung einzuführen, unrealistisch war. Zentrifugalkräfte gewannen die Oberhand, das Unternehmen war am eigenen Anspruch gescheitert.

Ein Ende mit Schrecken: Der Konkurs der Carne pura AG

Am 29. Juni 1886 wurde der Konkurs über das Vermögen der Berliner Carne pura Patent-Fleischpulver-Fabrik eröffnet (Berliner Börsen-Zeitung 1886, Nr. 2272 v. 15. Juni, 16). Auf der Gläubigerversammlung wurde deutlich, dass sich die Verluste von 200.000 M 1882 auf über 450.000 M 1886 erhöht hatten. Eine nachvollziehbare Buchführung hatte es bis 1883 offenbar nicht gegeben. Aktiva von knapp 250.000 M standen Forderungen von mehr als 500.000 M gegenüber. Noch aber schien es möglich, die Firma nach Einigung mit den Gläubigern fortzuführen (Berliner Börsen-Zeitung 1886, Nr. 298 v. 30. Juni, 14). Dieser Schwebezustand währte bis Oktober 1886, vielleicht etwas länger (Berliner Börsen-Zeitung 1886, Nr. 476 v. 12. Oktober, 16).

Die Gläubiger zogen jedoch ein Ende mit Schrecken vor, sie sahen keine Chancen auf einen profitablen Geschäftsbetrieb nach einem notwendigen Schuldenschnitt. Man begann daher mit der Realisierung der verbliebenen Vermögensbestände. Alles was übrig blieb, kam dann im September 1887 in einer Konkursauktion unter den Hammer. Ein letztes Mal strömten Zuschauer und Händler zu einem Care pura-Ereignis zusammen: „Da sah man den ‚stilvollen Pavillon‘ wieder, der einst, mit den verschiedensten Carne-pura-Erzeugnissen ausgestattet, in der Hygieine-Ausstellung prangte; er wurde für 60 M einem Händler zugeschlagen. Dann gabs Proben der aus Conserven bereiteten Erbsensuppe in kleinen Tassen, die sich die anwesenden Käufer und Nichtkäufer gar wohl schmecken ließen. 600 Kisten von solchen Conserven wurden versteigert, immer in Posten von 5 Kisten, die je 10 bis 15 M erzielten. Im Vergleich zu der sonstigen Bewerthung der Waaren waren es geradezu Schleuderpreise, zu denen hier losgeschlagen wurde. Und dabei mußten sich die anwesenden Gesellschafter noch manchen Spott über die Conserven gefallen lassen. Auch ein großer Kochapparat, vollständig aus Messing, wurde verkauft und brachte 70 M. Alles ging fast ausschließlich in den Besitz der Händler, die nun ihrerseits einen flotten Handel mit den erworbenen 30,000 Kilogr. Carne-pura veranstalten können“ (Carne-pura-Gesellschaft, Leipziger Tageblatt 1887, Nr. 255 v. 12. September, 15). Die in Aussicht gestellte Reform der Ernährung endete in einer Farce.

32_Mittheilungen über Landwirthschaft_1887_01_14_Nr02_p12_Berliner Tageblatt_1887_09_07_Nr451_p04_Carne-pura_Konkurs_Viehfutter_Fleischmehl

Restverwertung des Fleischpulvers als Viehfutter (Mittheilungen über Landwirthschaft, Gartenbau und Hauswirtschaft nebst industrieller Anzeiger 1887, Nr. 2 v. 14. Januar, 12 (l.); Berliner Tageblatt 1887, Nr. 451 v. 7. September, 4)

Die endgültige Abwicklung zog sich noch länger hin. Im November 1889 hatte der Konkursverwalter – nach Abzug seiner Aufwendungen – 33.000 Mark erlöst, mit denen nun anteilig die Forderungen bedient werden sollten (Berliner Börsen-Zeitung 1889, Nr. 542 v. 19. November, 17). Die Schlussrechnung wurde kurz vor Weihnachten 1889 präsentiert, das Konkursverfahren anschließend beendet (Deutscher Reichsanzeiger 1889, Nr. 283 v. 26. November, 12; ebd. 1890, Nr. 11 v. 10. Januar, 10). Es folgten noch einige Nachwehen, darunter eine Nachtragsverteilung im März 1892 (Berliner Börsen-Zeitung 1892, Nr. 110 v. 5. März, 15). Die Marke der Carne pura-Gesellschaft wurde am 21. September 1892 gelöscht (Deutscher Reichsanzeiger 1892, Nr. 225 v. 23. September, 9) – und zu schlechter Letzt das General-Depot der Carne pura Nahrungsmittel, M. Meinert, Leipzig am 21. Januar 1895 gelöscht (Deutscher Reichsanzeiger 1895, Nr. 27 v. 30. Januar, 13).

Das kurze Nachleben des Carne pura

Mit dem Konkurs der Carne Pura AG war das Kapitel Fleischpulver keineswegs geschlossen. Nach wie vor reizte die Idee einer haltbaren und billigen Fleischkonserve Tüftler und Wissenschaftler. Gewiss, Carne pura war zu teuer gewesen, der Geschmack nicht ideal. Doch dies konnte mit Technik und Wissen verändert, verbessert werden (F. Strohmer, Fleischextract und Fleischconserven, Wiener Landwirthschaftliche Zeitung 35, 1885, 211; Die Nahrung der Zukunft, Prager Tagblatt 1893, Nr. 197 v. 18. Juli, 2-4, hier 4).

33_Karlsruher Tagblatt_1888_10_04_Nr272_p3673_General-Anzeiger fuer Hamburg-Altona_1890_09_11_Nr213_p08_Fleischpulver_Schnurr-Gross_Liebig_Krankenkost_Albuminatpulver_Dr-Jervell

Neue Fleischmehl- und Fleischeiweißprodukte (Karlsruher Tagblatt 1888, Nr. 272 v. 4. Oktober, 3673 (l.); General-Anzeiger für Hamburg-Altona 1890, Nr. 213 v. 11. September, 8)

Das Carne pura-Patent wurde 1887 von der Karlsruher Firma Schnurr & Gross erworben, die ihr Fleischpulver bis mindestens 1890 reichsweit als Krankenkost vermarktete (Münchener Neueste Nachrichten 1890, Nr. 492 v. 26. Oktober, 7; Hamburger Nachrichten 1890, Nr. 267 v. 9. November, 10). Es wurde abgelöst durch neue Präparate aus Schlachthofresten, wie etwa das Albuminatpulver von Dr. Jervell. Mitte der 1890er Jahre dominierte dann vor allem das US-amerikanische Mosquera‘s Fleischmehl (E[rnst] v. Leyden (Hg.), Handbuch der Ernährungstherapie und Diätetik, Bd. 1, Leipzig 1897, 290), ehe mit dem Eiweißpräparat Tropon ein neuerlicher Versuch unternommen wurde, die Alltagskost mittels eines wissenschaftlichen Geniestreiches umzustürzen. Nun aber stand nicht mehr das billige Fleisch der südamerikanischen Pampas zur Diskussion, sondern die Vision einer Eiweißsynthese aus billigen Rest- und Abfallstoffen. Auch dieser Versuch, sie ahnen es, scheiterte – nach der teuersten Werbekampagne des Kaiserreichs (Uwe Spiekermann, Die gescheiterte Neugestaltung der Alltagskost. Nähr- und Eiweißpräparate im späten Kaiserreich, Technikgeschichte 78, 2011, 187-209, hier 198-204).

34_Leipziger Tageblatt_1894_01_22_Nr039_p518_Vossische Zeitung_1899_12_24_Nr603_p20_Fleischmehl_Mosquera_Trockenfleisch_Tropon_Eiweißpraeparate

Substitute des Carne pura: Mosquera’s Fleischmehl und Tropon (Leipziger Tageblatt 1894, Nr. 39 v. 22. Januar, 518 (l.); Vossische Zeitung 1899, Nr. 603 v. 24. Dezember, 20)

In der Fachliteratur wurde der Carne pura-Präparate auch aufgrund dieser Nachgänger immer wieder respektvoll gedacht, mochte es sich als Volksnahrungsmittel auch nicht bewährt haben (Carl Flügge, Grundriss der Hygiene, Leipzig 1889, 309; Max Heim, Die künstlichen Nährpräparate und Anregungsmittel, Berlin 1901, 33-34). Nur wenige Wissenschaftler verstanden ihr Tun als Hybris. „Fleisch als Genussmittel zu ersetzen“ (Felix Hirschfeld, Nahrungsmittel und Ernährung der Gesunden und Kranken, 1900, 49) war mit derartigen Ersatzmitteln schlicht nicht möglich.

Was blieb vom Carne pura?

Die Geschichte von Carne pura zeugt von gescheiterten Träumen, zerplatzten wissenschaftlichen und ökonomischen Utopien. Der Ausgriff auf die naturalen Fleischressourcen der Welt endete als Fehlschlag. Respekt davor mag bleiben. Doch die Geschichte von Carne pura ist auch eine Geschichte unserer Zeit.

Carne pura steht für den Sozialpaternalismus des späten 19. Jahrhunderts, für eine bürgerliche Erziehungsmission, für eine scheinbar nur so denkbare Teilhabe der arbeitenden Massen an den Erträgen dieser dynamischen Zeit der Innovationen und Entdeckungen. Carne pura steht für die Differenz zwischen Wissenden und Nicht-Wissenden, für den Versuch, letzteren hierarchisch und ohne Mitsprache einen Platz in der Welt, an der bürgerlichen Tafel zuzuweisen. Teilhabe dieser Art ist an Bedingungen geknüpft, an die Moral eines rational geführten Lebens, eines Haushaltens mit dem wenigen, was man besitzt. Das häusliche Glück in Selbstbescheidung und Dankbarkeit.

Carne pura steht für die Kraft und die Schwäche gedanklicher Engführungen, für Röhrenblicke und ihre Folgen. Die Investoren hatten die Folgen ihrer Fehleinschätzungen immerhin direkt zu tragen, doch die konzeptionellen Ideen von Hofmann und Meinert wurden weitergesponnen, ebenso eng, wenngleich mit anderen Produkten und Rohwaren. Die dargebotene Geschichte ist damit ein Appell für historisches Lernen. Das Scheitern der Carne pura-Präparate war aufgrund des konzeptionellen Scheiterns des Liebigschen Fleischextraktes und des faktischen Scheiterns der vielen Fleischmehlarten bis hin zu Hassall vorhersagbar – so wie etwa das relative Scheitern vieler neuartiger Fleischsubstitute heutzutage. Doch zugleich ist gewiss, dass enggeführtes Agieren und vorhersehbares Scheitern auch weiterhin den üblichen (Fleisch-)Konsum begleiten werden. Der Mensch ist ein gläubiges Wesen, vor allem, wenn dieser Glaube auf wenigen einfachen Wahrheiten gründet.

Die Geschichte von Carne pura ist schließlich eine Geschichte auch des Eigensinns der Menschen. Der großen Mehrzahl schmeckte es nicht, mochten die Produzenten und viele Wissenschaftler auch anderes verkünden. Für die große Mehrzahl war es zu teuer – auch wenn die Präparate auf Grundlage komplexer Stoffäquivalenzberechnungen „objektiv“ billiger waren als gängiges Frischfleisch. Das Scheitern von Carne pura unterstreicht die Herrschaft von gesundem Menschenverstand bei der breiten Mehrzahl, von Selbstbehauptung trotz prekärer Rahmenbedingungen. Gilt das, so erzählt die Geschichte von Carne pura auch von Behauptungsmöglichkeiten in allseits moralisierten und kommodifizierten Lebenszuschnitten. Geschichte ist eben nicht nur eine analysierte, gezähmte, gelenkte und geglättete Dosis Vergangenheit. Sie ist vielmehr Ausgangspunkt selbstbestimmten Denkens und Handelns.

Uwe Spiekermann, 14. August 2021

Kochende Soldaten? Verpflegung in der kaiserlichen Armee zwischen Fremd- und Selbstversorgung

Im frühen 19. Jahrhundert lösten moderne, auf der allgemeinen Wehrpflicht beruhende Massenheere die zuvor üblichen Söldner- oder Kabinettsarmeen ab. Die Ausbildung in dieser neuen „Schule der Nation“ konzentrierte sich auf wehrfähige Männer, vermittelte ihnen das Kriegshandwerk sowie Hierarchie und Unterordnung. Parallel entstanden einheitliche Uniformen, wurden die Truppen kaserniert. Die Sorge für die Verpflegung aber blieb bis Mitte des 19. Jahrhundert Privatsache, wenngleich – etwa in Preußen – erst eine Brotportion, dann eine Beköstigungsportion eine gewisse Grundverpflegung garantierten. Beide entstanden aus Marschverpflegungen, prägten dann jedoch vorrangig den Truppenalltag.

Seit der Mitte des Jahrhunderts geriet die Militärverpflegung zunehmend unter den Einfluss der Ernährungsphysiologie. Ärzte wie Wilhelm Hildesheim sowie Physiologen wie Carl Voit (1834-1908) schlugen nicht nur Kostsätze und Mahlzeiten für die einzelnen Soldaten vor, sondern sahen in der „Zusammensetzung der Leiber“ ([Carl] Voit, Anforderungen der Gesundheitspflege an die Kost in Waisenhäusern, Casernen, Gefangenen- und Altersversorgungsanstalten, sowie in Volksküchen, Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 8, 1876, 7-55, hier 20) eine vorrangige Ordnungsaufgabe des Staates. Nur wohlgenährte Soldaten konnten ihre Aufgaben plangemäß erfüllen.

Die Folgen waren zunehmend detaillierte Verpflegungssätze, die sich einerseits an den physiologischen Notwendigkeiten, anderseits an den Kosten für nahrhafte, möglichst eiweißhaltige Nahrungsmittel orientierten. Die sog. Einigungskriege 1864-1871 verdeutlichten die Defizite der Truppenverpflegung, bereiteten aber zugleich den Weg für neuartige Nahrungsmittelkonzentrate, Präserven oder aber Konserven – mit der Erbswurst als Leitprodukt. Diese neuen Kunstpräparate veränderten weniger die Alltagsverpflegung, stärker aber die sog. Eiserne Ration der Soldaten, also deren am Mann mitzuführende Marsch- und Kampfnahrung (umfassend hierzu Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 108-129). Das zunehmend professionalisierte Heeressanitätswesen begann spätestens seit den 1890er Jahren mit umfangreichen Forschungsarbeiten zur optimalen Beköstigung der Soldaten und entwickelte Nahrungsmittel für spezielle Kampferfordernisse, etwa den Einsatz in den Kolonien.

Die nicht zuletzt aufgrund von Kostengründen weiter bestehenden Defizite der Versorgung resultierten allerdings nicht allein aus der Menge und Art der verausgabten Nahrungsmittel, sondern stärker noch aus deren mangelhafter Zubereitung und ihrem Geschmack. Die nur während Manövern ausgegebenen Konserven blieben Ausnahmen. Derart vorgekochte Speisen, die kalt verzehrt werden konnten, vielfach nur erhitzt werden mussten, bildeten ein Ideal, waren nicht alltäglich. Im Kern veränderte sich die Militärkost trotz intensiver Diskussionen und auch Forschung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur wenig – weniger jedenfalls als die Alltagskost. Um 1900 hieß dies – natürlich gab es vielfältige Unterschiede – täglich 750 Gramm Brot (oder etwas weniger Zwieback), 375 Gramm Frischfleisch (oder weniger Räucherfleisch), 250 Gramm Hülsenfrüchte (oder geringere Mengen Gemüsekonserven bzw. Dörrgemüse), sowie Salz, Kaffee/Tee und Zucker ([Wilhelm] Balck, Taktik, Bd. 4, 3. verm. u. verb. Aufl., Berlin 1903, 264).

Gründe für diesen beträchtlichen Konservatismus waren die höheren Kosten vorgefertigter Speisen, aber auch die ungeregelte, von Region zur Region, von Standort zu Standort stark abweichende Art der Verpflegung. Der Verpflegungssatz wurde teilweise in Menagen durch Köchinnen zu Speisen weiterverarbeitet (Die Einführung der Mannschaftsmenagen im Großen, Der Kamerad 5, 1866, 61-62), doch vielfach war dies Aufgabe der Soldaten selbst resp. ihrer Frauen, Verlobten, Familienangehörigen oder aber von Gastwirten. Eine umfassende Modernisierung der Militärverpflegung war ohne einen grundlegenden Bruch mit diesen Zubereitungsweisen nicht möglich. Der Geschmack und die begrenzten Kochfertigkeiten standen im Hintergrund aller gelehrten Debatten über einzelne Lebensmittel, Produkte und Speisen. Das Militär gründete eben nicht nur hinsichtlich der öffentlich breit diskutierten körperlichen Fähigkeiten und den politischen Einstellungen der Soldaten auf vorgelagerten gesellschaftlichen Ressourcen, sondern auch auf der erlernten oder aber eben nicht erlernten Fähigkeit, zu kochen und damit Nährwerte verfügbar zu machen. Effizientes Kriegshandwerk bedurfte auch der Kochkunst.

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Gefahren schlechter Verpflegung am Beispiel der US-Streitkräfte im Krieg gegen Spanien (Lustige Blätter 14, 1899, Nr. 12, 8)

Die Zubereitungskompetenz der Männer aber war gering. Plädoyers für eine „gemeinschaftliche Küche“ zur Zubereitung einer Morgen- und Mittagssuppe wurden nicht nur mit Kostenargumenten begründet, sondern galten auch als „unschätzbare Vorschule für die Verpflegung im Felde […], indem dadurch jeder Soldat lernt, sich selber Speise zu bereiten, und mit allen Küchen-Vortheilen bekannt wird“ (W[ilhelm] Hildesheim, Die Normal-Diät, Berlin 1856, 90 bzw. 88 (vorheriges Zitat)). Während des deutsch-französischen Krieges machte sich „der Mangel an Kenntnissen in der Kochkunst ausserordentlich bemerklich“ (W[ilhelm] Roth, Beiträge zu den Fragen der Militär-Gesundheitspflege aus dem gegenwärtigen Feldzuge Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentlichen Gesundheitspflege 3, 1871, 62-72, hier 66), verminderte Motivation und Kampfkraft der Truppen. Es ging um die Kochkompetenz ansonsten stets bekochter Männer. Die Aufgabe, sich selbst ernähren zu können, stellte sich just in Hochzeiten patriarchalischer Arbeitsteilung und einer vermeintlich typisch männlichen Institution. Paradoxerweise fand sich auch innerhalb der Armee das empirisch nicht belegte zeitgenössische Lamento über den Niedergang der bürgerlichen Küche und der allgemeinen Kochfertigkeiten, das parallel zur Institutionalisierung hauswirtschaftlicher Bildung für Frauen führte: „Während die Kochkunst in den großen Küchen sich hebt, sinkt sie an den wichtigeren kleineren Herden bis zu gesundheitsgefährlicher Unkenntnis, während dort schwierige Probleme für Feinschmecker gelöst werden, verlernt man hier die einfachsten Regeln, und ein Wiederschein dieses Zustandes findet sich im Heer“ (C[arl] Koettschau, Irrtümer des Friedenssoldaten im Feld (1890), zit. n. Walter Berges, Die Grundsätze für die Ernährung des Soldaten vom Beginn des 19. Jahrhunderts ab, Med. Diss. Düsseldorf, Bochum-Langendreer 1937, 22). Auf der anderen Seite entwickelte sich gerade nach der Jahrhundertwende die Berichterstattung über große Manöver zu einem Genre in den vornehmlich von Frauen gelesenen Illustrierten, in dem nicht allein die Feldlagerromantik abseits des Wandervogels, sondern insbesondere das Kochspiel der Männer dargestellt wurde (Vgl. etwa Richard Schott, Das Ganze Halt!, Die Woche 2, 1902, 1687-1689; Karl August v.d. Pinnau, Besuch im Biwak, Ebd. 5, 1903, 1671-1675; Richard Schott, Die französischen Armeemanöver 1905, Ebd. 7, 1905, 1700-1704; A. Oskar Klaußmann, Soldatenkost, Ebd. 7, 1905, 1975-1978). Rustikales Scheitern hatte durchaus Unterhaltungswert.

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Biwak-Romantik als Spiegelbild männlicher Zubereitungsinkompetenz (Fliegende Blätter 82, 1885, 11)

Mochte die Frage der Kochkompetenz im Frieden daher auch heitere Momente haben, musste sich der Mann im Krieg jedoch gerade am Kochgeschirr bewähren, wollte er seine Kampfkraft erhalten und wiederherstellen. Männerwirtschaft im Krieg war weit entfernt vom Ideal des geordneten bürgerlichen Haushalts: „Das Grabenmachen, das Wasser- und Holzholen, das schmutzige Wasser, diese Gesichter und Hände, der Lärm, das Überkochen, das Umfallen und Umwerfen der Kochgeschirre – das Alles sind bekannte Dinge. Und endlich kommt jede Mahlzeit aus dem russigen, glühenden Feldkessel. Wer dann einen Gang über den Lagerplatz und beim Anblick der Massen von ausgeschüttetem Reis und der Menge von umherliegenden Brocken halbgekochten Fleisches oder schlecht benagten Knochen noch Freund dieses Systems bleiben kann, der stellt die Form über das Wesen“ (Die Heeresverpflegung im Krieg und Frieden, Allgemeine Militär-Zeitung 1879, zit. n. C[arl] A[lphons] Meinert, Armee- und Volksernährung, Th. 2, Berlin 1880, 318). Vorschriftgemäßes Abkochen sah das Ausheben eines 30×40 Zentimeter großen Kochgrabens vor, worin dann die Viktualienportion erhitzt wurde (Charles Lutz, Der Koch im Felde, Kochkunst 5, 1903, 222-223). Alternativ wurden die eisernen Portionen auch in einem gemeinsamen Kessel erhitzt, der in ein Kochloch von 0,8 Meter Tiefe, 1,5 Meter Länge und 0,5 Meter Breite gehängt wurde (Heinrich Heim, Kriegsmäßiges Abkochen, Kochkunst und Tafelwesen 10, 1908, 313-314). Militärkost wurde also fast durchweg gekocht, Suppen und Eintöpfe dominierten den Feldalltag. Aromatischere Arten der Zubereitung, insbesondere Braten und Backen, waren dagegen kaum möglich.

Gewürzte Nahrung

Wie nun diesem Dilemma begrenzter Zubereitungskompetenz entgehen, wie ihm zumindest produktiv begegnen? Vor dem Ersten Weltkrieg gab es vor allem drei Antworten: Die erste, der Einsatz von Würzen, war unmittelbar mit Konzepten künstlicher Kost verbunden, also dem Ersatz von mangelnden Kochfertigkeiten durch vorgefertigte, einfach zuzubereitende Produkte. Ziel des Gewürzzusatzes war eben nicht, die allgemeine Kochkompetenz zu erhöhen, sondern mangelhaft gekochte Nahrung genießbar zu halten. Wie wichtig derart akzeptabler Geschmack war, hatten schon in den 1860er und 1870er Jahren umfangreiche Untersuchungen in Gefängnissen gezeigt, wo aus Gründen von Kosten und Bestrafung eine sehr eintönige und wasserhaltige Kost verabreicht wurde, deren negative Folgen durch den Zusatz von preiswerten Gewürzen aber in Grenzen gehalten werden konnten (Oscar Liebreich, Über den Nutzen der Gewürze für die Ernährung, Therapeutische Monatshefte 18, 1904, 65-68). Die Überdeckung des Eigengeschmacks der gekochten Speise durch Würzen erfolgte nach der Jahrhundertwende vornehmlich durch Maggi-Würze oder ähnliche Präparate.

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Produktionsräume von Maggis Würze im Schweizerischen Kemptthal (Wiener Hausfrauen-Zeitung 31, 1905, Sondernr., 50)

Doch einschlägige „Gewürzextracte und Gewürzsalze“ wurden schon seit 1866 durch den Dresdener Chemiker und Unternehmer Louis Naumann (1843-1900) entwickelt und seit 1872 produziert. Die in Patronen und Kästen gelieferten Würzen – Bouillon- und Pfeffersalz im Grundpaket, mehr als zwei Dutzend Mischungen für die Truppenoffiziere und Kesselwagen – wurden seitens des sächsischen und preußischen Militärs getestet und in geringen Mengen geordert. Doch blieb die Vorstellung eine Chimäre „dass in späterer Zeit kein Mann der Armee zum Manöver oder in’s Feld ausrücken wird, ohne neben seiner Chargirung auch die Naumann’sche kleine Bouillon- und Pfeffersalzpatrone zu führen“ (Ueber die Dr. Naumann’schen Gewürzsalze und Gewürzextracte für den Armeegebrauch, Neue Militärische Blätter, in: L[ouis] Naumann, Der eiserne Bestand im Felde, Dresden 1877, 19-27, hier 27). Relativ hohe Preise und die Komplexität des Würzsystems verhinderten seine breitere Verwendung im Militär, während die Produkte im späten 19. Jahrhundert viele Käufer in Privathaushalten gewannen.

Professionalisierung und Technisierung des Küchenwesens in der Armee

Wesentlich wichtiger war zweitens die Ausbildung militärinterner Zubereitungskompetenz. Dabei gilt es zwei Ebenen zu unterscheiden, nämlich einerseits Humankapitalbildung durch Ausbildung von Kochpersonal, anderseits die Technisierung der Truppenküchen. Die deutschen Armeen besaßen im Gegensatz etwa zu England, wo es seit den 1860er Jahren in Aldershot eine Schule für Militärköche gab, keine einschlägigen Ausbildungsinstitutionen. Man nutzte die Ressourcen der Zivilgesellschaft. Der auch vor dem Ersten Weltkrieg nicht überall durchgesetzte Menagenbetrieb wurde vielfach von bediensteten Köchinnen bestritten, doch zunehmend wollte man im Kriegsfall auf die Kompetenz ausgebildeter Köche resp. Fleischer und Bäcker zurückgreifen – schließlich schien die fast durchweg männliche Hotel- und Gaststättenküche zu belegen, dass Männer Frauen auch in deren vermeintlich natürlichen Revier mindestens ebenbürtig waren, wenn sie denn nur wollten. Doch das war Ziel, nicht historische Realität. Auch in vielen rückwärtigen Diensten, etwa den Lazaretten, waren vor und auch während des Weltkrieges vorrangig Köchinnen beschäftigt (Felix Reinhard, Geschichte des Heeressanitätswesens, insbesondere Deutschlands, Jena 1917, 72-73). Ohne Frauen wäre die vermeintliche Männerinstitution Militär zusammengebrochen.

Diese Situation änderte sich erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg, als zunehmend Küchenunteroffiziere ernannt wurden, um einerseits den Menagenbetrieb zu organisieren, um andererseits aber die neu eingeführten mobilen Feldküchen zu bedienen (H[ans] Bischoff, Nahrungs- und Genussmittel, in: Ders., W[ilhelm] Hoffmann und H[einrich] Schwiening (Hg.), Lehrbuch der Militärhygiene, Berlin 1910, 261-390, hier 261-262). Sie wurden von zivilen Küchenmeistern unterrichtet, militärinterne Schulungen erfolgten erst während des Ersten Weltkrieges (vgl. Eugen Brunfaut, Unsere Armeeküche, Die Woche 12, 1910, 381-383).

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Vortrag eines Zivilküchenmeisters vor Unteroffizieren 1910 (Die Woche 12, 1910, 382)

Derartige Schulungen waren aber an den Einsatz moderner Küchentechnologie geknüpft. Es gab zahlreiche Vorschläge – und auch reale Umsetzungen, wie die 1850 in der schleswig-holsteinischen Armee eingesetzte Dampfküche (Michael Peltner, Soldatenernährung unter besonderer Berücksichtigung ernährungsphysiologischer und angewandter ernährungswissenschaftlicher Erkenntnisse in der deutschen Wehrmacht, Med. Diss. Düsseldorf 1994, 12) –, doch gab man lange Zeit einfachen Kesselwagen den Vorzug, während Schlachtereien und Bäckereien in rückwärtigen Gebieten stationär eingerichtet wurden. Hauptargument gegen diese Mobilisierung war die Vergrößerung des Versorgungstrosses, die immer auch bedeutete, relativ weniger Soldaten an der Frontlinie zu haben (Meinert, 1880, Th. 2, 321).

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Ständische Vorrechte: Das Feldküchenautomobil des Kaisers mit Herd, Eisschränken, Küchenutensilien, Zelt und Tisch für zwölf Personen (Der Welt-Spiegel 1910, Ausg. v. 11. August, 2)

Das Gegenargument einer schnellen mobilen Kriegsführung abseits der Eisenbahnen griff lange Zeit kaum, auch wenn 1886 der Peyersche Feldbacköfen und dann 1896 allgemein fahrbare Feldbacköfen eingeführt wurden. Erst die guten Erfahrungen der russischen Truppen mit mobilen Kücheneinheiten während des Krieges gegen Japan 1904/05 führten zu einem allgemeinen Wandel. Motorkraftfahrzeuge wurden in der Armee allerdings nur zögerlich eingeführt, eine motorisierte Versorgung von zentralisierten Zubereitungsstätten schien daher unrealistisch. Das preußische Kriegsministerium schrieb 1905 und 1906 daher Wettbewerbe für mobile, von Pferden gezogene Küchen aus und erprobte verschiedene Modelle bei Manövern (W[ilhelm] Haunauer, Die Verpflegung der Truppen im Kriege, Die Umschau 19, 1915, 9-13, hier 12-13; [Hermann] v. Francois (Hg.), Feldverpflegungsdienst bei den höheren Kommandobehörden, T. 2, 2. Aufl., Berlin 1909; W[ilhelm] Schumburg, Hygiene der Einzelernährung und Massenernährung, Leipzig 1913 (Handbuch der Hygiene, hg. v. Th[eodor] Weyl, 2. Aufl., Bd. 3, Abt. 3), 441-447). Seit 1908 begann die Einführung eines Standardmodells, das jedoch lediglich erlaubte – anders als der irreführende Populärbegriff „Gulaschkanone“ suggerierte –, Speisen zu kochen. Die ansatzweise Trennung von Kampf und Kochen erhöhte gleichwohl die Destruktionskraft des Männerkollektivs: „Marschküchen sind nicht bloß ein bequemeres Ernährungsinstrument, da sie den Soldaten von einer seiner eigentlichen Bestimmung als Kämpfer fremden Arbeit entlasten und den vollen Ersatz der in Gefechten und auf Märschen aufgebrauchten Kräfte sichern, sondern geradezu ein Kriegsmittel, wenn man will, eine Waffe“ (Unsere Marschküchen, Der Militärarzt 43, 1909, Sp. 54-55, hier Sp. 54).

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Rückansicht einer deutschen Feldküche 1909 (Bischoff, 1910, 414)

Auch wenn die Feldküchen im deutschen Heer erst 1915 allseits eingeführt waren – noch 1914 waren russische Feldküchen begehrte Beutegüter –, so führte diese Technisierung doch seit 1909 zu Vorschlägen, gesonderte Verpflegungsoffiziere zu ernennen, deren Aufgabe auch die Rekrutierung (und Ausbildung) von Köchen und Küchenpersonal sein sollte (Francois (Hg.), 1909, 217-220). Die damit einhergehende Wissensbildung regelte das Problem fehlender Zubereitungskompetenzen jedoch nur scheinbar, warnten doch gerade Militärstrategen: „Erst wenn wir Feldküchen haben, bekommt diese sachkundige Fürsorge ihre volle Bedeutung,…“ ([Heinrich] Laymann, Die Ernährung der Millionenheere des nächsten Krieges, Berlin 1908, V). Deren Beschaffung stockte jedoch vor dem Ersten Weltkrieg; auch als Folge der beträchtlich wachsenden Truppenstärken durch die Heeresreform 1912.

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Eroberte russische Feldküche im Dienst des deutschen Militärs 1914 (Der Welt-Spiegel 1914, Ausg. v. 27. September, 4)

Kochkurse für Soldaten

Entsprechend wurde drittens versucht, durch Kochkurse und allgemeine Unterrichtungen die praktischen Kompetenzen der Soldaten selbst zu verbessern. Über dieses vermeintlich unmännliche Kapitel finden sich deutlich weniger Quellen als über die anderen Formen, doch war es gleichwohl breitenwirksam. Schon vor und insbesondere nach dem deutsch-französischen Krieg wurde die „Idee einer kurzen praktischen Kochanweisung für Soldaten“ (Roth, 1871, 66) intensiv diskutiert und auch praktiziert. Parallel gab es ein ziviles Marktangebot sogenannter Feldkochbücher (Auguste Kux, Gründliche Anleitung für Jedermann die Speisen im Manöver und Felde mit den gegebenen Mitteln möglichst wohlschmeckend und nahrhaft zuzubereiten, Berlin 1878). In der Felddienst-Ordnung wurde Leistungsfähigkeit und Gesundheit der Truppe unmittelbar mit einer guten Zubereitung der Verpflegung gekoppelt, und es hieß unmissverständlich: „Der Soldat muß hierzu praktische Anleitung erhalten“ (Laymann, 1908, 8. Ähnlich Schumburg, 1913, 429). Gerade in Kenntnis der Ernährungsphysiologie mussten auch Abwechslung und Geschmack beachtet werden, galt doch, dass der Soldat kein „Füllofen“ sei, für den es genüge, „die erforderlichen Gramm Eiweiß, Fett und Kohlehydrate“ herbeizuschaffen (beide Zitate n. Laymann, 1908, 11). Nicht Hunger, sondern der einzelne Mann sollte der beste Koch sein, nicht zuletzt, um dem Einerlei des ausgekochten Rindfleisches und der Eintöpfe ab und an entkommen zu können (Das Rindfleisch und die Soldatennahrung, Die Gesundheit in Wort und Bild 1907, Sp. 447-448). Wenn die Truppe gleichwohl „ungeübt und die Zubereitung mangelhaft“ (Rez. v. Laymann, Die Mitwirkung der Truppe bei der Ernährung der Millionenheere des nächsten Krieges, Berlin 1907, Deutsche Militärärztliche Zeitschrift 36, 1907, 431-432, hier 431) blieb, so lag dies nicht zuletzt an den vielfach fehlenden Kocheinrichtungen in den Kasernen und an dem vorrangig repräsentativem Tschingderassabum vieler Manöver. Männer sollten laufen und schießen, nicht aber kochen und abschmecken.

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Männer der Tat: Unterricht an der Feldküche (Die Woche 12, 1910, 383)

Während die Mannschaften zumeist durch Militärköche in Menagen unterrichtet wurden, entstanden schon vor dem Ersten Weltkrieg auch Kochkurse speziell für Mannschaften, die zumeist von Hauswirtschaftslehrerinnen durchgeführt wurden. In München etwa trafen sich 1910 dreißig Teilnehmer einen Monat lang viermal wöchentlich in einer von der Militärbehörde bezahlten Hauswirtschaftsschule, brachten ihre Abendportionen mit, die sie dann nach theoretischer Einführung unter Anleitung kochten. Hedwig Heyl (1850-1934), Kochbuchautorin und Hauswirtschaftlerin, unterstützte diese Bestrebungen ausdrücklich: „Es ist einleuchtend, daß, wenn diese Veranstaltung größeren Umfang erhielte, alle mit geprüften Lehrkräften besetzten Schulen größerer Garnisonen solche Kurse abhielten und diese von den Militärbehörden derartig wie in München unterstützt würden, die Ernährung durch die Soldatenküche bei einem Teil des Volkes ganz anders wirken müßte wie heute, wo zufällig erworbene Kenntnisse der Massenkocherei doch noch viel Lücken zeigen“ (Gute Soldatenküche – bessere Volksernährung, Blätter für Volksgesundheitspflege 10, 1910, 187-188, hier 187). Der angeleitete Erwerb praktischer Kompetenzen und auch abstrakten Wissens über Ernährungslehre, Preise und Qualitäten schien ihr einen doppelten Vorteil zu haben. Auf der einen Seite könnte durch die Ausbildung von männlichen Kochfachkräften das Militär „zu einer Art Kochschule für das Volk aufsteigen“ und zu einem „Hebel zu durchgreifender Besserung der Volksernährung in breiten Schichten“ (beide Zitate n. Heyl, 1910, 188) werden. Zugleich aber hoffte sie, dass ein kompetenter Mann auch bei der Gattinnenwahl höhere Ansprüche stellen würde, sodass die Ausbildung der Männer eine verbesserte Schulung der Frauen nach sich ziehen würde. Basale Bildungsarbeit erschien daher volkswirtschaftlich und -biologisch wünschenswert. Die Küche des Militärs wurde als Teil der großen nationalen Tischgemeinschaft gedacht, in der Hausmannskost (noch) wichtiger war als künstliche Kost. Das sollte sich während des Ersten Weltkrieges nicht ändern, wohl aber während der 1930er Jahre (Spiekermann, 2018, 580-601).

Uwe Spiekermann, 16. Juni 2020

Die wahre Geschichte der Erbswurst

Es gibt sie noch, die Erbswurst. Doch sie fristet in den Regalen ein karges Restdasein, richtet ihre Nährkraft vorrangig auf Camper aus, liegt unbestimmt lange als letzte Reserve in den Küchenschränken. Wie anders ihre Stellung während und nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71. Damals war die Erbswurst neu, Ausdruck deutscher Innovationskraft, ein wichtiger Baustein beim militärischen Sieg über das Kaiserreich im Westen.

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Herbert Küster, Das Lied von der Erbswurst, Berlin s.a. [1870], 1

Erbswurst war Militärkost, doch als solche war sie eigentlich nicht gedacht. Prosaisch handelte es sich um ein Nahrungskompendium, eine Mischung von getrocknetem Erbsenmehl, Speck, Salz, Zwiebeln, Paprika und weiteren Gewürzen. All dies wurde vorgekocht und in Naturdärme gepresst. Verschiedene Erfinder hatten sich an der neuen Speise versucht, viele Versuche misslangen. Den Siegerkranz im kulinarischen Wettbewerb errang der Berliner Konservenunternehmer Johann Heinrich Grüneberg (1819-1872), der seine Versuche 1867 gestartet hatte. Inspiriert von der langsam Raum greifenden chemisch-physiologischen Stofflehre wollte er nicht nur eine x-beliebige Konserve herstellen, sondern eine rasch nutzbare Speise mit hohem Eiweiß- und Fettgehalt. Die Erbswurst war entsprechend ein preiswerter Suppengrundstoff mit hohem Nährwert, die lediglich zerkleinert und dann mit Wasser aufgekocht werden musste.

Grüneberg hatte gegenüber Mitbewerbern den Vorteil fundierter Vorarbeiten. Er zielte zwar auf den zivilen Markt, sah aber schon frühzeitig die Chancen der Militärkost (zu deren Anfängen s. „Künstliche Kost“ Kap. 3.2.1). Grüneberg besaß gute Kontakte zur Heeresverwaltung, lockte die Herren schon lange vor dem Krieg mit der Idee einer wohlschmeckenden, einfach zuzubereitenden und relativ leichten Erbsensuppe im Tornister. Es folgten Menschenversuche: Im Frühjahr 1870 wurden in Frankfurt/M. und in Brandenburg a.d.H. zwei sogenannte Erbswurst-Kommandos abgestellt, bestehend aus Offizier, Unteroffizieren und etwa 20 Gemeinen. Sie waren zuvor ärztlich untersucht und gewogen worden. Sechs Wochen lang wurden sie bei Brot und Erbswurst gehalten, durften also neben der üblichen Brotportion (430 Gramm/Tag) lediglich das neue Produkt verzehren. Dienst war ansonsten nach Vorschrift zu leisten. Das Resultat war mehr als überzeugend, nahmen die Soldaten doch etwa fünf Pfund zu und wiesen keinerlei Mängelzustände auf.

Erbswurst war also mehr als eine Erfinderphantasie – und die preußische Regierung zahlte Grüneberg 1870 37.000 Taler für die exklusive Nutzung seines Rezeptes. Mitte Juli, also just zu Kriegsbeginn, wurde in Berlin die „Königl. Preußische Fabrik für Armeepräserven in Berlin“ gegründet, in der nach nur wenigen Wochen Bauzeit zuerst Erbswurst, dann parallel Fleisch- und Gemüsepräserven produziert wurden. Besucher der Fabrikanlagen waren beeindruckt: „Ein betäubender Lärm, Klopfen, Hämmern, Schlagen, Rollen, umgibt uns. Man denke sich einen ausgedehnten, von einer Menge eiserner Säulen getragenen Holzbau, in welchem über 1700 Personen, Männer und Frauen, Knaben und Mädchen, von früh bis spät beschäftigt sind, um nicht weniger als 150,000 Pfund Erbswurst und 240,000 Portionen Fleisch- und Gemüsepräserven mit Verpackung fertig zur Lieferung an die Bahn herzustellen“ (Allgemeine Zeitung [München] 1870, Nr. 337 v. 2. Dezember, 5344). Die Tageskapazitäten lagen anfangs bei 7 Tonnen, konnten jedoch auf 65 Tonnen gesteigert werden. Insgesamt wurden in der von Grüneberg eingerichteten und geleiteten Fabrik etwa 5.000 t Erbswurst produziert. 12 Millionen Därme wurden eingesetzt, ca. 40 Millionen Portionen hergestellt.

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Spott für das Eiserne Kreuz des Erbswurst-Verwaltungsbeamten Schott (Kladderadatsch 24, 1871, 64)

Die Armeepräservenfabrik war arbeitsteilig organisiert, nutzte Maschinen, folgte dem Grundprinzip der Fließfertigung: Speck und Schinken wurden in zwölf großen Kesseln gekocht, dann das in Fässern bereitstehende Erbsmehl sowie Salz, Zwiebeln und Gewürze hinzugefügt. All diese Zutaten wurden vorgekocht, dem Fleisch also passgenau zugeführt. Die fertige Kochmasse wurde anschließend in Eimern zu Spritztischen gebracht, wo 250 Schlachter sie in Form brachten und in Pergamentpapier vorverpackten. Dann übernahmen Hilfskräfte, im Regelfall Kinder beiderlei Geschlechts, und fuhren die Halbfertigprodukte in kleinen Wagen in den Verpackungsraum. Folgen wir nun wieder einer zeitgenössischen Schilderung: „Dort sind 400 Frauen und Kinder emsig thätig jede Wurst, nachdem sie von Fett gereinigt, mit einer Etikette und Gebrauchsanweisung zu versehen, die folgendermaßen lautet: ‚Zehn Loth oder den dritten Theil einer Erbswurst vom Darm befreien, in ¾ Quart kalten Wassers legen, unter Umrühren auf- und dann noch 5 Minuten weiter kochen lassen.“ Zu zwei und zwei werden die Würste sorgfältig verpackt und wandern nun nach den Bötticherwerkstätten, wo sie in Kisten zu 150 Pfund verpackt, vernagelt und überhaupt zum sofortigen Transport fertig gemacht werden“ (Freisinger Tagblatt 1870, Nr. 279 v. 1. Dezember). Die Prozesstechnik blieb geheim, die Grünebergsche Erbswurst war dem Militär vorbehalten. Dieses baute parallel weitere Kapazitäten auf, so etwa in Frankfurt/M., Hamburg und München, vor allem aber in Gustavsburg bei Mainz. Die neuen Fabriken produzierten, erprobten zugleich aber weitere Produkte. Doch bei Bohnen- und Linsenwürsten entsprachen weder Nährwert und Haltbarkeit noch der Geschmack den Erfordernissen einer akzeptablen Grundversorgung.

Nach Kriegsende sickerten weitere Details der Produktion in die Öffentlichkeit. Sie belegten nochmals die beträchtlichen Vorarbeiten, ohne die Erbswurst ein Flop geworden wäre. Das Erbsmehl bestand demnach aus drei unterschiedlichen Arten, gedämpft, kondensiert und doppelt kondensiert. Das hinzugefügte Rindfleisch wurde konsequent abgedämpft, der Speck war zu einem Drittel fett, zu zwei Dritteln mager. Die Zwiebeln waren passiert, einzelne Gewürze vorbehandelt. Erbswurst war eine frühe industriell produzierte Fertigspeise, bot ein Ideal für viele Nahrungsmittelunternehmer, etwa Rudolf Scheller (1822-1900), Julius Maggi (1846-1912) oder Carl Heinrich Eduard Knorr (1843-1921).

Während die Produktion erfolgreich war, zeigten sich während des deutsch-französischen Krieges aber auch problematische Seiten der Nahrungsinnovation. Erst einmal war sie dringend erforderlich, um die unzureichenden Verpflegungsstrukturen der deutschen Heere abzufedern. Die viel gerühmte Taktung der Eisenbahnen geriet immer wieder ins Stocken, Rückstaus behinderten den Nachschub und in den drei zentralen Depots verdarben massiv Lebensmittel, nicht nur die nachrangigen „Liebesgaben“ der Heimat. Die mit- und nachgeführten Rinder- und Schweineherden waren schlicht zu langsam, wurden zudem durch Seuchen massiv reduziert. Da die Lebensmittelrequirierung im Feindesland an Grenzen stieß, bot die Erbswurst eine willkommene, zugleich aber notwendige Ergänzung.

Schwieriger war, dass das neue Universallebensmittel anfangs zwar gerne genossen wurde, zumal die einfache Zubereitung auch von kochunkundigen Männern gewährleistet werden konnte. Doch sie verlor nach einigen Monaten ihren Kredit: Man „konnte dieselbe später wohl in den Gräben, auf den Landstraßen und Bivouac-Plätzen massenhaft herumliegend, wenig aber aufbewahrt in den Kochgeschirren, Packtaschen oder Tornistern der Mannschaften finden. Der Grund lag wohl darin, daß sie den Leuten bald Ueberdruß und außerdem noch Magenbeschwerden und Unwohlsein verursachte“ (Straubinger Tagblatt 1871, Nr. v. 1. August, 745). Grund hierfür war zumeist die unzureichende Lagertechnik. Die Erbswurst wurde ranzig, war dann nur mit Widerwillen zu verzehren. In späteren Kriegen traten Präserven bzw. Konserven an ihre Stelle.

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Moltke vor dem Kriegsgericht (Fliegende Blätter 54, 1871, Nr. 1340, 1. Beiblatt, 1)

Das Wechselspiel zwischen offenkundigen Problemen und dem Status einer kulinarischen Wunderwaffe machte aus der Erbswurst zugleich aber eine populäre Speise, auf die viele Deutsche stolz waren, die kulinarisch jedoch eher ein Fremdkörper blieb. Der Soldatenhumor war entsprechend: „Frage: Welchem Kriegsgericht kann kein deutscher Soldat entgehen? Antwort: Der Erbswurst“ (Augsburger Anzeigeblatt 1871, Nr. v. 15. Januar). Die damaligen Karikaturzeitschriften arbeiteten sich an dem Nahrungskomprimat vielfach ab. Es mutierte zur Ehestifterin, und im „Ulk“ kommentierte die Konfektionsdame „Paula Erbswurst“, eine töricht-naive Seele aus dem Volke. Der Münchener „Puck“ verspottete die absonderliche Speise, ließ in der Etappe eine Erbswurstausstellung erstehen, die gegen Entree betreten werden konnte, um die Suppenspeise erst zu sehen, dann zu beriechen und schließlich gar zu essen. Auch Berichte über „enorme Diebstähle“ in der Grünebergschen Fabrik machten ihre Runde. Der „Kladderadatsch“ schickte gar einen virtuellen Reporter hin zu Grüneberg, voll von Elan und Hintersinn: „Die Stätte will ich sehen, auf der Frankreich geschlagen, die Lateinische Race vertilgt wird; die Stätte, die das geflügelte Wort erzeugt, welches unsere Krieger täglich wiederholen müssen: ‚Wurst, wieder Wurst!‘.“ Klar, dass dieser Investigativjournalist am Ende schwelgte: „Das ist die Wurst der Zukunft! Die Sphinx! Der Richard Wagner im Darm! Die bacchantische Umschlingung der drei Naturreiche! Das Pflanzenwurstthier! Die Thierwurstpflanze! Der Wurstbrillant! Die Brillantwurst!“ (Kladderadatsch 24 (1871), Nr. v. 1. Januar, 2). Selbst Grünebergs plötzlicher Tod 1872 wurde launig kommentiert: „Ob er wohl an den Folgen der Erbwurst, oder an aus besseren Folgen überladenem Magen gestorben ist!“ (Oberfränkische Zeitung 5, 1872, Nr. 248 v. 19. Oktober). Ja, Deutschland ist Urgrund für Humoristen.

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Werbung für Erbswurst 1870 (Kladderadatsch 23, 1870, 3. S. n. 216)

Doch zugleich auch ein Land geschäftstüchtiger Praktiker. Noch vor der offiziellen Niederlage Frankreichs baute die Frankfurter Erbswurstfabrik ein Netzwerk von Niederlagen in Süddeutschland auf. Erbswurst wurde als nationale Wonnespeise vermarktet, als billiges und wohlschmeckendes Grundprodukt für eine „in jedem Augenblicke fertige Mahlzeit“ (Kitzinger Anzeiger 1871, Nr. v. 28. Februar). Marktforschung gab es noch nicht, Erbswurst schien für alle da: „Vermöge der vielen Vorzüge eignet sich das Präparat zu einem Nahrungsmittel für alle Berufsclassen. Bei plötzlich eintretendem Besuch ist die Hausfrau sofort in der Lage ihre Gäste bewirthen zu können; bei Treibjagden oder anderen Gelegenheiten bildet die Erbswurst ein passendes Gericht, und selbst der Arbeiter ist dadurch in den Stand gesetzt, wenn er an Wintertagen spät von der Arbeit heimkehrt, sich ein sättigendes, warmes Abendbrod in der kürzesten Zeit zu bereiten“ (Allgemeine Zeitung [München] 1871, Nr. 346 v. 12. Dezember, 6144). Auch private Anbieter nutzten den Trend, so etwa die Berliner Produzenten Jacobi-Scherbening & Wiedemann bzw. Louis Lejeune.

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Grüneberg auf dem Markt – Werbung 1871 (Kladderadatsch 24, 1871, Nr. 52, 2. Beibl., 3)

Grüneberg sprang spät auf diesen Zug auf. Erst nach Einstellung der Armeeproduktion begann er im Herbst 1871 mit der Produktion seiner „Deutschen Erbswurst,“ für die er rasch ein Vertriebsnetz aufbauen konnte. Zahlen zum Erfolg dieser Unternehmungen gibt es nicht, doch schon ab 1872 finden sich nur noch vereinzelte Anzeigen. Gleichwohl wurde Erbswurst weiter produziert, gab es eine Reihe von Anbietern, so etwa die seinerzeit bedeutende Firma Alexander Schörke & Co. in Görlitz. Die heutige offenkundig irreführende redaktionelle Werbung von Knorr-Unilever bezeichnet – ebenso wie zahlreiche PR-Journalisten – den Beginn der Knorrschen Erbswurstproduktion 1889 als wichtigen Einschnitt in der Geschichte der Convenienceartikel. Das ist eine typische Kommerzlegende. Knorrs Erfolg lag vor allem an einer effektiven Absatzstruktur. Das Rezept war deutlich verändert worden, Erbswurst war eine – man verzeihe mein abstraktes Deutsch – fungible semantische Illusion geworden.

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Einer der vielen Wettbewerber von Knorr (Konsumgenossenschaftliche Rundschau 2, 1905, 708)

Doch Verbesserungen gab es keineswegs nur auf deutschem Boden. Schon im Dezember 1870 wurde von Experimenten der englischen Armee mit der Erbswurst berichtet, Österreich folgte. Die französische Armee führte sie im September 1871 ein. In Russland liefen Versuche seit 1870, ab 1873 wurde sie eingeführt. Zeitgenossen mahnten jedoch: „Acht‘ wohl auf das, was Kutschke spricht: Die bloße Erbswurst siegt noch nicht! Nein, außerdem gehört dazu Der Heldenmuth, die Seelenruh‘, Das blanke Putzen des Gewehrs Und das Geschick des Commandeurs. […] Drum iß die Erbswurst mit Verstand Und denk‘ dabei ans Vaterland; Hab‘ Acht auf das, was Kutschke spricht: Die bloße Erbswurst siegt noch nicht“ (Kladderadatsch 30, 1877, Nr. 11 v. 4. März, 42).

Obzwar in Deutschland nicht mehr wohlgelitten, wurde Erbswurst als Speise geadelt, die den Erfindergeist der großen Mächte symbolisierte, die Herrschaft des weißen Mannes unterstrich. So endet diese wahre Geschichte der Erbswurst mit einem Blick über den Atlantik, wo man ihre zivilisatorische Mission rasch verstand. Die U.S. Army bestellte schon 1871 Kisten voller Erbswurst, die von San Francisco aus dann an Forts an den Grenzen der noch von Indianern beeinflussten Gebiete versandt wurden. Und ein unbekannter bayerischer Redakteur vermerkte hoffnungsfroh: „Was dem Branntwein, den Kanonen und Gewehren, ja dem Christenthum sogar nicht gelungen, mag die Erbswurst vielleicht zu Stande bringen, den Indianer an warme Küche, d. h. an Civilisation zu gewöhnen“ (Ingolstädter Tagblatt 1871, Nr. v. 28. Juni, 621). Howgh, so hat er gesprochen.

Uwe Spiekermann, 19. Mai 2018