Pressefreiheit aufgehoben, nicht ausgetilgt

Am 1. Januar, als Ungarn den Ratsvorsitz der EU aufnahm, trat auch das neue Mediengesetz in Kraft. Der europaweit kritisierte Text wird auch von der unabhängigen ungarischen Presse bekämpft. Ein Beispiel hierfür mit dem Leitartikel der Népszabadság.

Veröffentlicht am 3 Januar 2011 um 16:48

Die Redaktion von Népszabadság tut auf der heutigen Titelseite ihren Standpunkt kund: Durch das Inkrafttreten des neuen Mediengesetzes ist die Pressefreiheit in Ungarn an ihr vorläufiges Ende gelangt. Damit es alle verstehen, haben wir unseren Protest auch in die anderen 22 offiziellen Sprachen der Europäischen Union übersetzt. Es handelt sich um einen Satz von enormer Tragweite. Ein schwerwiegender Satz wie dieser wurde von dieser Zeitung seit der Wende noch kein einziges Mal niedergeschrieben. Auch die Art und Weise unseres Protests ist im Rückblick auf die vergangenen zwanzig Jahre einmalig. Unser Vorgehen bedarf mithin der Erklärung.

Es ist unsere feste Überzeugung, dass das Mediengesetz allen vollmundigen Versprechungen zum Trotz, den autoritären Bestrebungen der Fidesz-KDNP-Regierung als Instrument dienen wird. Es schafft die Möglichkeit, all jene zu bändigen, zu bestrafen und letztendlich sogar in den Ruin zu treiben, die anderer Meinung sind als die Regierung.

Und obwohl sich nun alle in Beteuerungen ergehen, ob es nun ein Mitglied der Medienaufsichtsbehörde ist, das darauf aufmerksam macht, dass seine Behörde allfällige Sanktionen umsichtig und gerecht verhängen werde, oder ob es ein Medienfachmann der Regierungspartei Fidesz ist, der durchblicken ließ (wenngleich er es nicht offen sagte), dass die Zeitungen für politische Meinungen keine Geldstrafen zu gewärtigen haben, fragen wir: Wenn dies alles bloß ein Missverständnis ist, warum wurde dann diese Passage nicht aus dem Gesetz genommen? Warum wurden dann die hiesigen und internationalen Proteste missachtet, die in ihrem Ausmaß und ihrer Qualität alles übertreffen, was wir in Ungarn seit der Wende an Unmutsbekundungen gesehen haben? [Ein Kommentator kann mit bis zu 5 Millionen Forint belangt werden (18.000 Euro), eine Zeitung im Wiederholungsfall mit bis zu 25 Millionen Forint (89.700 Euro)].

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So kann die ausnahmslos von der Regierungspartei Fidesz besetzte Medienaufsichtsbehörde aufgrund jedweder Begründung und jedweden Vorwands bei wiederholtem Vergehen Bußgelder bis zu 25 Millionen Forint auf Redaktionen verhängen – zum Beispiel, weil sie einen Artikel für unausgewogen hält; oder weil ihr missfällt, dass über Fidesz-Mitglieder oder der Regierungspartei nahe stehende Personen geschrieben wurde, wiewohl der Inhalt der Wahrheit entspricht. Freilich: Die sanktionierte Zeitung kann sich ans Gericht wenden und eine Aufhebung ihrer Strafe anstrengen. Doch auf welcher rechtlichen Grundlage wird das Gericht über die Aufhebung der Strafe entscheiden? Wir wissen es nicht. Es kommt entweder zu einer Aufhebung, oder eben nicht. Wir haben es hier schlechthin mit zu vielen „oder“ zu tun: Die Medienaufsichtsbehörde lebt entweder mit dieser Möglichkeit, oder nicht; sie verhängt entweder ein Bußgeld, das eine Zeitung in den Ruin treibt, oder nicht; das Gericht hebt die Geldstrafe entweder auf, oder nicht. Für eine Garantie ist dies aber ziemlich wenig in einem Land, wo bislang auch ohne Strafen jedermann auf richterlichem Wege zu seinem Recht kam, wenn es um Schadensersatzforderungen gegenüber der Presse ging.

Und dazu war noch nicht einmal eine Medienbehörde vonnöten. Auch kein Medien-Ombudsmann. Von nun an hat dieser ausschließlich der Vorsitzenden der Medienaufsichtsbehörde seine Berichte abzuliefern. Und er kann nach Gutdünken Verfahren gegen jegliche Redaktion initiieren: Wenn ihm also gerade der Sinn danach steht, kann er jegliches Geschäftsdokument einfordern; wird es nicht ausgehändigt, kann die Geldstrafe mit einem Schlag schon bei mehr als 50 Millionen Forint liegen. Er initiiert ein Verfahren, oder nicht. Er verhängt eine Geldstrafe, oder nicht. Warum beinhaltet das Mediengesetz solche Möglichkeiten? Wohl aus dem einfachen Grund, um solche Möglichkeiten auch nutzen zu können. Und wenn schon solche Möglichkeiten genutzt werden können, dann werden sie auch genutzt.

All dies schwebt nun wie ein Damoklesschwert über den Köpfen jener Presseorgane, die etwas auf sich halten. Also über all jenen Medien, die der Wahrheit verpflichtet sind. Jene Wirklichkeit, die uns von der Regierung vorgegaukelt wird, ist am besten an den Programmen des gegängelten öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Fernsehens festzumachen: In dieser Wirklichkeit gibt es Ordnung und öffentliche Sicherheit, in dieser Wirklichkeit werden die Renten geschützt, in dieser Wirklichkeit ist Staatsoberhaupt Pál Schmitt eine durch und durch autonome Person, und in dieser Wirklichkeit ist dieses Mediengesetz „ein echtes europäisches Regelwerk“. Wir jedoch wollen vielmehr jene Wirklichkeit vermitteln, in der wir tatsächlich leben. Davon rücken wir kein Jota ab. Auch von jener Praxis nicht, dass unsere Titelseite bloß eine einzige Information beinhaltet, sofern sie eine Nachricht von dieser Tragweite ist: In Ungarn wurde die Pressefreiheit aufgehoben. Doch austilgen werden sie sie niemals können.

Aus dem Ungarischen von Peter Bognar

STANDPUNKT

Die Kritik? Eine sozialistische Verschwörung

„In Washington, Paris, London und Berlin sorgen sich die Journalisten um die EU, und zwar wegen eines osteuropäischen Landes, das die Pressefreiheit mit Füßen tritt“, schreibt Kolumnist István Pataky in der Magyar Nemzet. Der Journalist der regierungsnahen Tageszeitung meint jedoch, dass „der Großteil der Angriffe gegen Ungarn im Augenblick seines Ratsvorsitzes von der europäischen Linken ausgeht, und wie so oft von einem aus Budapest wehenden Wind getragen wird“, sowie den ungarischen Sozialisten, die von 2002 bis 2009 an der Macht waren.

„Lassen wir uns nicht täuschen“, meint István Pataky. „Wenn es dieses Mediengesetz nicht gegeben hätte, hätte eine andere Maßnahme als Vorwand gedient, um die gut geölte Maschine zum gewünschten Datum in Gang zu setzen. Ich weiß nicht, wie viele Male unsere Botschaften zum Frühstück geladen haben, um der Presse dieses Mediengesetz zu erklären und es den europäischen Gesetzen gegenüberzustellen. Jedoch können sich die Pressesprecher sicher sein, dass die ungarischen Donaustrategie und das Eingliederungsprojekt für Roma weniger leserfreundliche Themen sind, als das Mediengesetz. Das wird den ungarischen Vorsitz aber nicht daran hindern, effiziente Arbeit zu leisten. Und für den Erfolg bedarf es dann auch keiner Erklärungen.“

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