Zeitreise

Die Witwenvorstadt

Wo die Witwenvorstadt zu finden ist, wissen wohl nur noch wenige Lenzburger: So nannte man im Volksmund in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Schützenmattstrasse.

Von Christoph Moser

Die drei grosszügigen spätklassizistischen Villen auf der Westseite der Strasse, nämlich die Villa Hünerwadel, das Rosenhaus und die Villa Malaga, waren zwischen 1838 und 1840 je für eine Witwe erbaut worden. Näheres dazu weiter unten; denn zuerst wollen wir mit dem Bau der heute noch weitgehend in ihrer ursprünglichen Form erhaltenen Strasse beginnen.

Der Ausbau der Strasse und der Bau des Hotels «Krone»


Die gnädigen Herren von Bern bauten im 18. Jahrhundert die Verkehrswege in ihrem Herrschaftsgebiet systematisch aus, vor allem auch die wichtige über Lenzburg führende West-Ost-Achse Richtung Baden-Zürich. Die unter bernischer Herrschaft stehende Stadt Lenzburg wirkte beim Strassenausbau von 1769-1772 tatkräftig mit. Sie übernahm die Strassenbaukosten, erstellte eine neue Brücke über den Aabach, kaufte das zum Strassenausbau notwendige Land und einige verkehrsbehindernde Häuser, die abgebrochen wurden. Zum Abschluss dieser Arbeiten wurde gegenüber dem Obern Tor, am heutigen Kronenplatz, der erste ausserhalb der Stadtmauern gelegene Gasthof errichtet. Auf diesen wurde das Wirtepatent des alten, innerhalb der Stadtmauern gelegenen Ochsen übertragen. Der Bedeutung an der ausgebauten Verkehrsachse entsprechend erhielt der neue Gasthof den Namen «Krone».
Quelle: Michael Stettler/Emil Maurer Die Kunstdenkmäler des Kantons Aargau, Band II, Seite 79

Diese Patentübertragung ging nicht ohne Nebengeräusche über die Bühne. Sowohl gegen die Verlegung des Gasthofes vor die Stadtmauern als auch gegen die Patentübertragung erhob der Besitzer des bisherigen wichtigsten Stadtgasthofes, des «Löwen», Johannes Rischgasser, bei der Berner Regierung Klage. Er fand mit dieser Klage aber kein Gehör. Denn es lag sowohl im Interesse Berns wie von Lenzburg, dass Lenzburg wegen der hier durchführenden grossen Landstrasse mit einem «sowohl in Ansehen der Bewirtung, als anderen Bequemlichkeiten wohl eingerichteten Wirtshaus» versehen sei. So erhielt Samuel Strauss die hochobrigkeitliche Genehmigung für den Betrieb der «Krone». Doch: Wer zuletzt lacht, lacht bekanntlich am besten. Samuel Strauss ist zwar der erste in der langen Reihe der Lenzburger Kronenwirte, sein Nachfolger aber hiess Gabriel Rischgasser, Sohn von Johannes Rischgasser.

Die Bauten auf der Bergseite der Schützenmattstrasse


Das älteste der Häuser auf der Bergseite, ist die Liegenschaft Steinbrüchliweg 2. Sie wurde 1735 für den Säckelmeister und späteren Schultheiss Johann Seiler, den Vater von Johann Seiler dem älteren, errichtet. Links des Steinbrüchliweges erhebt sich das markante Kaufmannshaus, das ca. 1767/68 für den Kaufherrn und Schultheissen Samuel Seiler den älteren errichtet wurde. Im Erdgeschoss dieses Hauses betrieb von 1878 bis 1914 die Hypothekarbank Lenzburg ihre Schalter und Büros.

Die für Samuel Seiler den älteren errichtete Liegenschaft Steinbrüchliweg 1. Quelle: Walter Irmiger: 100 Jahre Hypothekarbank Lenzburg 1868-1968, Seite 31.

Den Abschluss der bergseitigen Liegenschaften bildet das Haus Schützenmattstrasse 6. Es war ursprünglich ein einfaches Fabrikationsgebäude. Samuel Seiler d.ä. diente es als Tabakfabrik. Als Samuel Seiler in wirtschaftliche Schwierigkeiten und schliesslich in den Geltstag (Konkurs) geriet, erwarb Schultheiss Markus Hünerwadel diese Liegenschaft und baute sie zu seinem Wohnhaus um. Er selber war nach der französischen Textilimportsperre 1785 am Konkurs vorbeigeschrammt und konnte sich nur durch den Verkauf seines umfangreichen Grundbesitzes über Wasser halten. So wurde 1788 sein Handelshaus am Freischarenplatz von der Stadt erworben, um es fortan als Schulhaus zu nutzen. Mit weiteren Umbauten durch die folgenden Eigentümer Dr. Karg und Bezirkskommandant Halder erhielt das Haus sein heutiges Aussehen.
Und nun wenden wir uns den drei Liegenschaften zu, welche zum Namen «Witwenvorstadt» führten.

Die Villa Alice bzw. Hünerwadel


An der Schützenmattstrasse 3 wurde diese 1838 für die Witwe des jung verstorbenen Landarztes Dr. Fischer, Margaritha Fischer-Rischgasser, errichtet. Entworfen wurde der Bau von Daniel Pfister aus Zürich. Margaritha Fischer war die einzige Tochter des Kronenwirts Gabriel Rischgasser. Nach ihrem Tod im Jahre 1850 erwarb Alexander Hünerwadel die Liegenschaft. Ihm folgten seine Tochter Berta Roth-Hünerwadel und deren Ehemann als Bewohner. Nach deren Tod 1926 zog die jüngste Tochter, Alice Hünerwadel, 1860-1939, in dieses prächtige Anwesen mit grossem Umschwung ein. Mit ihrem Testament hat sie die Stiftung Alice Hünerwadel errichtet, die in der Liegenschaft von 1949 bis 2002 ein kleines Altersheim betrieb. Es musste geschlossen werden, weil es den heutigen Anforderungen baulich und vor allem auch bezüglich Betriebsgrösse nicht mehr entsprach. Der beträchtliche Erlös aus der Veräusserung der Liegenschaft ging an den Verein für Alterswohnheime der Stadt Lenzburg.
Die Villa Hünerwadel. Quelle: Dokumentation Denkmalpflege des Kantons Aargau

Das Rosenhaus


an der Schützenmattstrasse 5 wurde 1840 für Catharina Hünerwadel-Tobler, 1777-1850, die Witwe von Hieronymus Hünerwadel-Tobler, 1772-1824, errichtet. Dieser war einer der Söhne des Bleiche-Herren Gottlieb Hünerwadel und von 1803-1824 Stadtammann von Lenzburg. Die Pläne für dieses Haus verfasste der Lenzburger Zimmermeister Eduard Bertschinger, von welchem auch die Pläne für die 1. Etappe des alten Gemeindesaales stammen. Das Haus ging dann an die früh verwitwete Tochter Marie Wilhelmine Rohr-Hünerwadel, 1809-1868, und dann an deren Schwiegersohn Ernst Meyer-Rohr, 1827-1900 über. Er war der Sohn der Nachbarin Louise Meyer-Rohr. Bevor die Liegenschaft an die reformierte Kirchgemeinde Lenzburg-Hendschiken veräussert und 1957 zum Pfarrhaus umgebaut wurde, wohnte zuletzt die Witwe des Bildhauers Arnold Hünerwadel, 1877-1945, im Obergeschoss des Rosenhauses. Dessen Mutter, Ernestine Hünerwadel-Meyer, war eine Schwester von Ernst Meyer-Rohr.

Das Rosenhaus, Aufnahme von 1982. Quelle: Fotosammlung Stadtbauamt

Die Parterrewohnung hatten von 1944 bis 1952 die Eltern des Autors gemietet, der hier am 12. Dezember 1947 das Licht der Welt erblickt und seine früheste Kindheit im weiten Umschwung dieser damals noch altertümlichen, mit Kachelöfen beheizten Villa verbracht hat. Er erinnert sich übrigens noch sehr gut an den immensen Verkehr, der hier in den 1950er-Jahren vorbeifuhr, vor allem an die tagein und tagaus zirkulierenden Lastwagen der Firma Comolli aus Bremgarten. Damals diente die Schützenmattstrasse dem Durchgangsverkehr in beiden Richtungen. Erst im Oktober 1964 wurde der Verkehr auf die neu gebaute Verbindungsstrasse von der Hendschikerstrasse zur Niederlenzerstrasse (Freiämterplatz) verlegt.

Der Autor am Jugendfest 1951 vor dem Rosenhaus. Quelle: Privates Fotoalbum

Die Villa «Malaga»


an der Schützenmattstrasse 7 wurde 1840 vom Badener Architekten Caspar Joseph Jeuch für Witwe Louise Meyer-Rohr errichtet. Sie war die Grossmutter der Ehefrau des Malaga-Weinimporteurs und spanischen Konsuls Alfred Zweifel-Meyer, 1851-1920. Dieser erwarb die Liegenschaft 1886 von seinem Schwiegervater Ernst Meyer-Rohr. Die Tochter des Konsuls, Frau Miranda Ludwig-Zweifel, hat die Liegenschaft 1972 der Stadt Lenzburg vermacht. Diese richtete darin eine Kinderarztpraxis ein. Nachdem der Kinderarzt die Praxis ohne Nachfolge aufgegeben hatte, veräusserte die Stadt die Liegenschaft 2010, da sie sich nicht für eine mit den denkmalpflegerischen Vorgaben zu vereinbarende öffentliche Nutzung eignete.

Die Villa «Malaga». Quelle: Dokumentation Denkmalpflege des Kantons Aargau

Das schönste städtebauliche Ensemble von Lenzburg


Die Schützenmattstrasse mit den bergseitigen Naturstein-Stützmauern, mit den schmiedeeisernen Einfriedungen auf Steinsockeln auf der Westseite, mit ihrer Pflästerung und mit den oben geschilderten historischen Villen in prächtigen Gärten ist das wohl schönste städtebauliche Ensemble, das Lenzburg zu bieten hat.
Wer sich in die Geschichte der Villen und die komplexen Verwandtschaftsverhältnisse ihrer Bewohner vertiefen möchte, dem sei der von der Ortsbürgerkommission herausgegebene Lenzburger Druck 1957 von Miranda Ludwig-Zweifel «Das Rosenhaus in der Witwenvorstadt» zur Lektüre empfohlen.
Titelbild: Die «Witwenvorstadt» um 1910. Quelle: Fotoband Liebes altes Lenzburg, Seite 140.