Schulen im Ausnahmezustand – Schüler mit Pandemie-Defiziten überrennen Nachhilfekurse

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Schulen im AusnahmezustandSchüler mit Pandemie-Defiziten überrennen Nachhilfekurse

Der unregelmässige Schulbetrieb hat Kinder und Jugendliche in einen Rückstand versetzt. Nachhilfekurse sind deshalb gefragt wie nie. Bildungsforscher Stefan Wolter fordert ein Monitoring.

Darum gehts

Das Coronavirus brachte den Schulbetrieb vielerorts durcheinander. Die Quarantänen und Ausfälle von Lehrpersonen im letzten halben Jahr haben bei zahlreichen Schülerinnen und Schülern Defizite verursacht. Immer wieder mussten sogar ganze Schulen geschlossen werden. Tausende Schülerinnen und Schüler sassen zeitweise zuhause in Quarantäne. Und so blieb mancherorts das gewohnte Lernen auf der Strecke. Ende November 2021 war keine Gruppe so stark von Corona betroffen wie Kinder und Teenager. Jeder dritte Corona-Fall ging auf die unter 19-Jährigen zurück.

«Wegen Quarantänen und Unterrichtsausfällen haben viele Schülerinnen und Schüler Lücken», sagt Christian Marty, Co-Geschäftsführer der Schlaumacher GmbH in Zürich und CEO der Lernplattform Evulpo. Die Nachfrage nach den Kursen habe in den letzten Wochen um rund 30 Prozent zugenommen. Oft hätten Schülerinnen und Schüler Schulstoff verpasst, weil sie beim Lernen in der Quarantäne mehr Unterstützung gebraucht hätten.

Gymi-Anwärterinnen und -anwärter seien ebenso von Defiziten betroffen, sagt Marty. Im Vergleich zu früher würden mittlerweile fast doppelt so viele Schülerinnen und Schüler Vorbereitungskurse besuchen. Es gebe vor allem Kursteilnehmende, die in Französisch viel Aufholbedarf hätten. «Kürzlich sagte ein Schüler, er habe seit Monaten nicht mehr richtig Französisch gehabt.»

«Kapitel übersprungen»

Auch ein Inhaber eines Schaffhauser Nachhilfestudios stellt bei seinen Kundinnen und Kunden grössere Defizite als üblich fest. Um manchen Familien, Lehrerinnen und Lehrern nicht auf die Füsse zu treten, will er anonym bleiben. «Wir merken, dass die Schüler beim Stoff nicht dort sind, wo sie jetzt sein sollten», sagt er. Manche Lehrpersonen hätten im letzten halben Jahr zum Beispiel in der Geometrie gewisse Kapitel übersprungen. «Später fiel das auf die Schüler zurück.» Schulen hätten deshalb insbesondere von Eltern mit Kindern, die aufs Gymi wollten, Reklamationen erhalten.

Im Schaffhauser Nachhilfestudio landen zudem einst gute Schülerinnen und Schüler. «Manche Sekschülerinnen und -schüler sind im letzten halben Jahr richtig abgestürzt», sagt der Nachhilfelehrer. Sie hätten etwa mit vorgetäuschten Corona-Symptomen die Schule geschwänzt. «Weil ihre Leistungen dadurch immer mehr absackten, wurden sie abgestuft.»

«Einmaleins sitzt nicht»

Das Team der Zürcher Perspectiva-Nova-Nachhilfe, die auch Online-Kurse anbietet, ist über die Kantonsgrenze hinaus gefragt, wie CEO Elisha Jay Fringer sagt. Die Nachfrage habe um 50 Prozent zugenommen. «Bei Primarschülern sitzt oft das Einmaleins nicht, weil das Repetieren im Klassenunterricht wegen Quarantänen und Lehrerausfällen zu kurz kam.» Viele wüssten zudem nicht, wie man einen Aufsatz schreibe, da sie nie eine richtige Einführung bekommen hätten.

Fringer: «Wir haben den Eindruck, dass die Lehrpersonen wegen der erschwerten Umstände durch Corona oft den einfachen Stoff behandelten und den anspruchsvolleren zur Seite schoben, was zur Folge hat, dass die verlangten Kompetenzen und Automatismen fehlen.» Die Defizite veranlassten einige Schülerinnen und Schüler auch dazu, jetzt schon einen Vorbereitungskurs für die Gymiprüfung nächstes Jahr zu besuchen.

Es brauche vergleichende Lernstandserhebungen

Der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) bestätigt das Problem. «Grundsätzlich gilt es deutlich zu sagen, dass es bestimmt Schüler und Schülerinnen gibt, die Defizite aufweisen», sagt LCH-Präsidentin Dagmar Rösler. Im letzten halbe Jahr seien einige Schülerinnen und Schüler mehrere Wochen in Quarantäne gewesen, andere gar nicht. Auch arbeiteten nicht alle gleich, müssten sie zuhause selbständig arbeiten.

Stefan Wolter, Professor für Bildungsökonomie und Taskforce-Mitglied, fordert regelmässige, vergleichende und standardisierte Lernstandserhebungen. «Nach der Pandemie ist es umso wichtiger, dass Klassen einmal pro Semester zeigen können, auf welchem Lernstand sie sind.» Auf diese Weise könnten die Lehrpersonen eruieren, ob ein Leistungsabfall stattgefunden habe. «Denn ich schliesse nicht aus, dass gewisse Eltern wegen der ausserordentlichen Umstände in den Schulen in Panik verfallen sind und ihre Kinder in die Nachhilfe schicken.»

Wiesen Schülerinnen und Schüler tatsächlich Defizite auf, müsse die Schule ihnen am freien Nachmittag Angebote bieten, um den Stoff aufzuholen, sagt Wolter. «Greifen die Lehrpersonen jetzt nicht ein, verschleppen sie das Problem.»

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