Logo az

Lüttich

Lütticher „Golden Sixties”-Ausstellung: Pille, Pop und Barrikaden

Dem Kennedy-Attentäter beim Morden über die Schulter schauen, ein paar Schritte über den Mond stolpern oder Brigitte Bardot in den Schritt linsen? Kein Problem. Lässt sich einrichten, na ja, zumindest als ob - in einem Lütticher Parkhaus.

Mann auf dem Mond: Mit nachgestellten Szenen wie dieser versucht die Ausstellung, Vergangenes für alle Sinne zu vergegenwärtigen. Die Mondlandung wird so zum Spuk-Spaziergang über vibrierenden Beton.
Mann auf dem Mond: Mit nachgestellten Szenen wie dieser versucht die Ausstellung, Vergangenes für alle Sinne zu vergegenwärtigen. Die Mondlandung wird so zum Spuk-Spaziergang über vibrierenden Beton. 

Dort lädt die Ausstellung „Golden Sixties” auf 4000 Quadratmetern zu einer abwechslungsreichen Zeitreise durch die 60er Jahre ein. Geschichte gefühlsecht. So könnte das Motto der Schau lauten, die vor allem durch nachgestellte Szenen Vergangenes für alle Sinne vergegenwärtigen will.

Das erinnert manchmal an einen Besuch im Bonner Haus der Geschichte, manchmal auch an eine Geisterbahnfahrt oder einen Stöber-Ausflug auf dem Trödelmarkt.

Makaber mutet die rund ein Kilometer lange Tour durch insgesamt 17 Räume ziemlich zu Beginn an: Über knarzende Dielen kann der Besucher sich zwischen Pappkartons mit der Aufschrift „Books” zum Fenster vortasten und hinauslehnen. So wie Lee Harvey Oswald, der mutmaßliche Mörder des US-Präsidenten John F. Kennedy, es wohl am 22. November 1963 in einem Bücherlager in Dallas tat.

Dreimal laden, dreimal schießen - es dröhnt in den Ohren, und Kennedys Schädel wackelt im davonbrausenden Auto der Computeranimation hinter dem Fenster. Geschichte mit Gänsehautfaktor. Für Verschwörungstheorien oder historische Hintergründe ist im Erlebnispark weniger Platz.

Mehr als 300 Original-Exponate - von Krümeln der Berliner Mauer bis zur Mao-Bibel - haben die Ausstellungsmacher des Vereins „Europa 50” zusammengetragen, Leihgaben von privaten Sammlern, aber auch vom Rockmuseum in München oder der Cinemathèque in Paris. Thematisch geordnet wird das Jahrzehnt der Aufbrüche grob in drei Revolutions-Rubriken: Politik (etwa mit den Pariser Barrikaden vom Mai 1968), Kultur und Sitten (Hippies, Pille, Popmusik), Wirtschaft und Technologie (zum Beispiel mit der Entwicklung des Fernsehens).

350 000 Besucher soll die Fundgrube anlocken, die nach Angaben der Veranstalter mit rund sechs Millionen Euro finanziert wurde - größtenteils mit Hilfe von Sponsoren, 400 000 Euro flossen von der Region Wallonie. Schon im vorigen Jahr hatten die Organisatoren bei ihrer Klimawandel-Schau „SOS Planet” 230 000 Besucher gezählt - an selber Stelle im Parkhaus.

Eröffnung mit dem Königspaar

Aber das ist ja auch nicht nur einfach ein Parkhaus. Es handelt sich um eine Etage im neuen Lütticher Hauptbahnhof. Eine Ausstellung im Ausstellungsstück also. Die gigantische Glasvitrine des Star-Architekten Santiago Calatrava wurde im September 2009 eröffnet und lässt sich ebenfalls stundenlang besichtigen. Eine sich räkelnde Frau oder ein gestrandeter Wal? Eher wie ein futuristisches UFO wirkt das Gebäude aus Stahl, Beton und Licht.

Ein besonders prominenter Gast ist nun mit dem Zug eingefahren - und hat bei seinem ersten Besuch im fertigen Bahnhof gleich die Sechziger-Ausstellung feierlich eröffnet: Belgiens König Albert II. mit Gattin Paola. „Ein privater Besuch”, betont Pressesprecher Manfred Dahmen bescheiden. Zwölf Kamera-Teams waren dabei.

Und der König soll, so sagt man, obwohl man darüber eigentlich gar nicht sprechen darf, von der Ausstellung „begeistert” gewesen sein. Satte zehn Minuten habe der Motorradfan verweilt - bei der ersten Honda, die in Belgien gebaut wurde. Denn im breiten weltweiten Spektrum bietet die Ausstellung auch eine speziell belgische Perspektive: von der allerersten, abgegriffenen Gitarre des Schlagersängers Adamo über das gelbe Trikot vom ersten Toursieg des Radstars Eddy Merckx bis zu den dunklen Seiten der Geschichte: der belgischen Kolonie Kongo, die erst 1960 unabhängig wurde.

Und plötzlich hört man dann zwischen Schüssen und Protestsongs dieses Donnern. Natürlich, ein Zug, denkt man, die Gleise sind ja nur ein paar Meter entfernt. „Nein, die Rakete”, sagt Manfred Dahmen mit einem Lächeln. Ein wenig schmunzeln lässt dann tatsächlich die „Eroberung” des Mondes, die in Lüttich als Spuk-Spaziergang über vibrierenden Beton zu Klängen von Richard Strauss inszeniert wird. Unterhaltsam auch der Besuch im Atelier von Andy Warhol: Die Factory wurde „naturgetreu nachgestellt”.

Wohl eher ein Gag, dass die Beatles ihre Pilzköpfe durch die auf rostig getrimmten Stahltüren der Fabrik stecken. Wenn dann zwischen Bildern von Campbell-Suppendosen und Marilyns auch noch ein Plakat auftaucht, das die „gewaltsamen Todesfälle” von Albert Camus („Schriftsteller: Autounfall”) bis Janis Joplin („Sängerin: Überdosis”) auflistet, dann nimmt das charmante Sammelsurium der 60er doch etwas skurrile Züge an.

Die der Sex-Appeal Brigitte Bardots noch verstärkt. Im Leder-Mini lehnt sie an der von ihr besungenen Original-Harley-Davidson. Als eher suboptimal geratene Puppe allerdings, die auch als Daniela Katzenberger durchgehen könnte.

Aber das ist schon viel zu spitzfindige Mäkelei an einer Ausstellung, die amüsant und informativ ist. Ein kurzweiliger Spaziergang an der Oberfläche der 60er Jahre, keine tiefschürfende historische Analyse.

Populär, nicht für Spezialisten konzipiert, ein nostalgischer Trip, wahrscheinlich mit besonderem Aha-Effekt für Zeitgenossen. Manfred Dahmen formuliert das Ziel zurückhaltend: „Wenn der Besucher am Ende vergessen hat, dass er in einem Parkhaus ist, dann ist die Ausstellung gelungen.”

Die Ausstellung „Golden Sixties” im Hauptbahnhof Lüttich-Guillemins ist noch mindestens bis zum 28. April 2013 zu sehen. Sie ist täglich geöffnet von 10 bis 19 Uhr, jeden ersten Freitag im Monat bis 22 Uhr.

Ein Audioguide und viele Beschriftungen liefern Erläuterungen in Niederländisch, Französisch, Deutsch und Englisch.

Für Kinder ab zwölf Jahren soll die Ausstellung geeignet sein. Pädagogisches Begleitmaterial und weitere Infos bietet Manfred Dahmen: Tel. 0032/475512488.