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ÜberlingenNachruf auf Martin Walser

Sein Jenseits

Martin Walser war der letzte große Vertreter der Gründungsgeneration der deutschen Nachkriegsliteratur. Nun ist er im Alter von 96 Jahren gestorben.

Der Schriftsteller Martin Walser ist im Alter von 96 Jahren in seiner Heimat am Bodensee gestorben.
Der Schriftsteller Martin Walser ist im Alter von 96 Jahren in seiner Heimat am Bodensee gestorben. Foto: Felix Kästle

Überlingen „Jenseits der Liebe“ heißt einer der Gesellschaftsromane von Martin Walser aus dem Jahr 1976. „Jenseits der Literatur“, so war die vernichtende Kritik in einer großen Tageszeitung überschrieben. Wenig später, 1978, erschien „Ein fliehendes Pferd“, eine Urlaubsgeschichte mit viel Erotik und ein wenig Esoterik, vom selben Kritiker als Meisternovelle gelobt, zweimal verfilmt und auch für die Bühne zubereitet. 2010 schließlich kam Walsers Novelle „Mein Jenseits“ heraus, ein literarisches Glaubensbekenntnis des damals schon über 80-jährigen Autors. In der Nacht auf Freitag ist er, im Alter von 96 Jahren, in seiner Heimat am Bodensee gestorben.

Mit Walser verlässt der letzte große Vertreter der Gründungsgeneration der deutschen Nachkriegsliteratur die Bühne, einer, der ihr ein „guter Herbergsvater“ war (Schirrmacher). Wie sein Jahrgangsgenosse Günter Grass und der um zwei Jahre jüngere Hans Magnus Enzensberger hat der 1927 in eine katholische Wirtshausfamilie am Bodensee hineingeborene Walser die letzten Kriegsjahre als Teenager erlebt. Walser war Flakhelfer, bevor er das Abitur machte. Dann studierte er am theologischen Seminar in Regensburg, wo er mit Ruth Klüger zusammentraf, anschließend in Tübingen, wo er sein Studium mit einer Doktorarbeit über Kafka abschloss. Davor schon sammelte er Erfahrungen als Journalist, als Reporter beim Süddeutschen Rundfunk, und schrieb Hörspiele.

In der Gruppe 47, die sozusagen den deutschen Literaturbetrieb erfunden hat, war Walser einer der tonangebenden Autoren. Seine kafkaesken Kurzgeschichten wurden früh ausgezeichnet, für seinen ersten Roman „Ehen in Philippsburg“ (1957), eine Wirtschaftswundersatire, bekam er gleich den Hesse-Preis. Es folgten weitere Auszeichnungen – und über sechzig Bücher, Romane und Erzählungen vor allem, Essays zum Zeitgeschehen und über seine literarischen Säulenheiligen Hölderlin und Schiller, Theaterstücke, Tagebücher und – im hohen Alter – poetische Aphorismen.

Diese, gesammelt in dem Band „Spätdienst“ (2018), trafen auf gemischte Kritik. Ins Sentimentalische driftet Walsers Bekenntnis ab, traurig und heikel zu sein. Treffsicher informiert er da aber auch über die Erfahrung, an sich emporzuklettern, um dann von oben zu sehen, wie klein man doch ist. Umstritten war auch der politische Walser. Mit seiner Paulskirchen-Rede (1998) und mit dem Roman „Tod eines Kritikers“ (2002) lehnte er sich weit aus dem Fenster, entzweite sich mit der Freundin Ruth Klüger, leistete rechtslastigen, ja sogar antisemitischen Deutungen Vorschub. Walser liebte Debatten, verschreckte Freunde und missbilligte Kritiker.

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Hinter dem polemischen Sprecher von alemannischer Statur, der gerne Ski fuhr und schwamm, stand ein politisch wacher Dichter, ein literarischer „Berserker“. Schon 1961 hat Enzensberger seinem Kollegen eine eigenartige epische Breite bescheinigt, die auf Nahaufnahme statt aufs Panorama setzt und gern von den Details auch außer Dienst erzählt. Walsers Sätze wollen nicht ins Bett, unermüdlich leuchten sie der deutschen Gesellschaft heim.

Das gilt auch für die Essays, die Walser geschrieben hat. Lange vor dem Fall der Mauer hatte Walser mit der deutsch-deutschen Teilung gehadert, die „Deutschen Sorgen“ protokolliert und dazu angehalten, die „Wunde Deutschland“ offenzuhalten. Als die Einheit kam, feierte er sie und verteidigte seine Position im Streitgespräch mit dem Einheitszweifler Grass. Ein schönes literarisches Beispiel für Walsers Deutschlandbild ist die Novelle „Dorle und Wolf“.

Der darin an der Teilung leidende DDR-Spion Wolf ist einer der einsilbigen Helden von Walser, der alle mit seinen Weltschmerzen betupft. Diese Figuren sind kleine oder mittlere Angestellte, die unter Anpassungsdruck leiden, ihr „Ja zum Nein der Welt“ kultivieren und es immer wieder schaffen, durch tragikomische „Unterlegenheitsanfälle“ das drohende Unglück von sich abzuwenden. Sie heißen Kristlein, Horn, Zürn, Halm, Fink, und es ist kein Wunder, dass sie der Autor zu jenen Glaubenszweifel-Büchern greifen lässt, die auch ihm teuer sind: Kierkegaard und der späte Nietzsche vor allem. Im „Fliehenden Pferd“ liefert der dänische Philosoph das Motto für Walsers Erzählen: das Bekenntnis. Es kommt dem Autor nicht darauf an, den Leser mit einer vermeintlich besseren Weltanschauung zu überzeugen, sondern darauf, ihm den Glauben an sich selbst zu offenbaren: „Kein Kriminalroman ist so spannend wie ich für mich.“

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Das religiös musikalische Schreiben ist im Alterswerk Walsers immer auffälliger geworden. Seine Büchner-Preis-Rede am 23.10.1983 stellte er unter den Titel „Woran Gott stirbt“. Walser sah eine unheilige Allianz von Bürgertum und Christentum am Werk, die Gott an Wissenschaft und Kirche verkaufe. Barmherzigkeit und Mitleiden seien verschwunden. „Gott … stirbt daran, daß er nicht hilft“, schreibt Walser. Dieses Credo führt nicht mehr nach oben, sondern nach innen: in eine philosophisch angehauchte Merksatz-Sprache. „Glauben heißt, die Welt so schön zu machen, wie sie nicht ist“, heißt es in einer von Walsers späten Novellen. Und an anderer Stelle steht das Bekenntnis: „Ich bin an den Sonntag gebunden / Wie an eine Melodie / Ich habe keine andere gefunden / Ich glaube nicht, aber ich knie“.

Ein Meilenstein in Walsers religiöser Biografie ist „Das dreizehnte Kapitel“ (2012), ein nicht ganz pathosfreies Glaubensbuch, eine Liebesleidensgeschichte zwischen einem erfolgreichen Schriftsteller und einer Theologieprofessorin, beide verheiratet, aber nicht miteinander. Sie lernen sich im grandiosen Eingangskapitel des Romans bei einem Empfang auf Schloss Bellevue kennen. Darunter macht es Walser nicht. Ermöglicht wird diese unmögliche Beziehung in Briefen. Und diese Briefe, die sich das Paar schreibt, kreisen um das Thema der Rechtfertigung. Ein religiöses, ein moralisches, ein politisches Thema. Walser hat darüber auch in einer brillanten Harvard-Rede „Über Rechtfertigung, eine Versuchung“ (2011) gesprochen. Dass der Schriftsteller nicht weiß, sondern uns etwas glauben macht, dass er bekennt, wenn er von Gott und der Welt erzählt, das ist die Botschaft, die uns, mit Enzensbergers Worten, der „sanfte Wüterich“ Walser in seinen Büchern hinterlassen hat.

Michael Braun, Jahrgang 1964, ist apl. Professor für Neuere Deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Universität zu Köln. Er forscht insbesondere zu den Themen Deutsche Literatur vom 19. bis 21. Jahrhundert, Film, Religion und Literatur, Lyrik und Erinnerungskulturen.