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PD Dr. Robert Gramsch (Jena) Zwischen „Überfüllungskrise“ und neuen Bildungsinhalten: Universitätsbesuch und universitärer Strukturwandel in Deutschland am Ende des Mittelalters (ca. 1470 bis 1530) Tagung Eisenach (3.-5.7.2014) „Negative Implikationen der Reformation?“ Titelseite der Luther-Schrift: „An die Ratsherrn Aller Stedte Deutschen Landes, dass sie Christliche Schulen errichten und halten sollen“ (Wittenberg, 1524). UB Heidelberg (Bild: Internet) Universitätsmatrikel Basel, späte 1520er Jahre: Vergleich des Luthertums und seiner Auswirkungen auf den Universitätsbesuch mit der Pest, gipfelnd im WS 1528/29: „Jene Pest der Seelen, von welcher die Vorgänger berichtet haben, hat sich ins Höchste gesteigert, soweit, dass der ganze christliche Ritus wie überhaupt alles sich ins Gegenteil verkehrten und die christliche Republik vollständigen Schiffbruch erlitten hat.“ Brief des Erasmus von Rotterdam an Willibald Pirkheimer (1528 aus Basel): „Ubicunque regnat Lutheranismus, ibi litterarum est interitus.“  Die „fundamentalste Existenzkrise des deutschen Universitätswesens seit dessen Anfängen“ (Matthias Asche), eine „negative Implikation der Reformation“? Welche Wechselwirkungen gab es zwischen den Entwicklungen im spätmittelalterlichen deutschen Bildungswesen und der Reformation; brach die Krise schicksalhaft „von außen“, wie ein Pestzug, über die Universitäten herein oder war sie die logische Folge aus Entwicklungen, die schon Jahrzehnte zuvor im Bildungssektor begonnen hatten? Um diese Frage zu diskutieren, soll schwerpunktmäßig ein statistischer Zugriff gewählt werden, der es erlaubt, rasch auf die wesentlichen Punkte zu kommen. Der rapide Anstieg der universitären Besucherzahlen – eine Grundtatsache der spätmittelalterlichen deutschen Universitätsgeschichte. Er verläuft in mehreren Etappen (vgl. R.C. Schwinges): 1. 2. 3. 4. Langsamer Anstieg (bis 1450) „take-off-Phase“ (1450-70) „Erste Überfüllungskrise“ (1470-90) Zweiter Frequenzboom (1490-1520) Besucherfrequenz der deutschen Universitäten 1385-1600 (nach Immenhauser 2003) Die Gründe für den massiven Frequenzboom nach 1490 sind bis heute nicht geklärt. (…) Unter dem Eindruck aktueller Erfahrungen sei für dieses Phänomen ein bisher noch nicht diskutiertes Bild gebraucht – nämlich dasjenige einer konjunkturellen Überhitzung. Bekanntlich sind Aktienmarktentwicklungen wesentlich ein Produkt der Psychologie – sowohl hinsichtlich von Booms, welche mit übertriebenen Gewinnerwartungen, als auch mit Krisen, die mit der Dämpfung solcher Erwartungen und dem Umschlagen ins Gegenteil einer allzu pessimistischen Lagebewertung verbunden sind. Der Aufschwung bis dicht vor die Schwelle der Reformation wäre demnach mit dem Aufbau einer „Blase“ vergleichbar, welcher mit den individuellen Erwartungen einer Vielzahl von Studenten, aber auch mit gesamtgesellschaftlichen Trends im Zusammenhang steht. Ein solcher Vorgang entzieht sich in seiner Komplexität einer knapp skizzierenden Beschreibung. Klar aber ist, dass dann auch das geistesgeschichtliche Phänomen des Humanismus, welches jenes Zeitalter prägte, hiermit in Zusammenhang gebracht werden müsste. Gerade der Humanismus steht ja für einen überschwänglichen Optimismus, zugleich aber auch für eine – gewissermaßen modern-marktwirtschaftliche – intellektuelle Aggressivität, welche der älteren scholastischen Tradition des Universitätsbetriebs fremd gewesen war. Ich sehe in dieser Aggressivität auch eine Antwort auf den verschärften Konkurrenzkampf im gelehrten Feld seit der ersten „Überfüllungskrise“. (…) Wie uns die Erfahrung der letzten Jahre gelehrt hat, folgt auf jede „Blase“ unweigerlich ein Zusammenbruch, eine „Marktkorrektur“ von zuweilen katastrophalen Ausmaßen. Ein solcher Vorgang lässt sich nach 1520 im nordalpinen Reich beobachten, wobei der Auslöser dieser Entwicklung feststeht: die Reformation. (…) Martin Luther selbst war an dieser Sinnkrise nicht unschuldig: Verschiedene seiner Werke, etwa die Streitschrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“, enthalten Polemiken gegen die traditionelle Universität. Mit seiner Kritik, die er unter dem Eindruck der hereinbrechenden Frequenzmisere bald schon wieder zurücknahm und durch konstruktive Reformvorschläge ersetzte, öffnete Luther Tür und Tor für eine weit radikalere, intellektuellenfeindliche Interpretation seiner Lehre. (…) Unmöglich kann seine Kritik oder können die Stimmen anderer Radikaler die katastrophale Wirkung allein hervorgebracht haben, aber sie haben in einem selbstverstärkenden Prozess offenbar die „Blase der Erwartungen“ zum Platzen gebracht, welche den bisherigen Aufschwung bewirkt hatte. (…) Erst die Erneuerung des universitären Bildungssystems im humanistisch-reformatorischen Geiste, zögernd gefolgt von einer katholischen Bildungsreform im Zeichen von Konfessionalisierung und Jesuitentum, stellte die Lage in den Jahrzehnten nach 1540 wieder her. Besucherfrequenz der deutschen Universitäten 1500-1570 (nach Asche 2000) Deutsche Universitäten 1501-1505 Betrachten wir zunächst die deutsche Hochschullandschaft zu Beginn des 16. Jahrhunderts. In den folgenden Graphiken sind in Fünfjahresschritten alle damals wichtigen deutschen Universitäten dargestellt. Ihre Größe wird anhand der durchschnittlichen Zahl der Immatrikulationen bestimmt. Große Universität > 240 p.a. Mittl. Universität >120 p.a. Kleine Universität < 120 p.a. Deutlich zu erkennen ist, dass der Schwerpunkt des deutschen Hochschulsystems damals in Mitteldeutschland lag. Alles in allem konstatieren wir ein bemerkenswertes Übergewicht des Nordens und Ostens – jener Gegenden, wo die Reformation später am schnellsten und nachhaltigsten Fuß fasste. Im Grunde war mithin die spätere Dominanz der protestantischen Universitäten schon um 1500 vorgezeichnet – ein Umstand, der m.E. größere Beachtung verdient, als dies bisher geschehen ist. Deutsche Universitäten 1506-1510 Die zweite Karte zeigt nicht nur die Größenverhältnisse der deutschen Universitäten 1506-10 sondern anhand entsprechender Einfärbungen auch Wachstumsund Schrumpfungsprozesse. Große Universität > 240 p.a. Mittl. Universität >120 p.a. Kleine Universität < 120 p.a. Wachstum > 20 % (letzte 5 Jahre) Konstante Größe Verlust 20-50 % Verlust > 50 % Deutsche Universitäten 1511-1515 Große Universität > 240 p.a. Mittl. Universität >120 p.a. Kleine Universität < 120 p.a. Wachstum > 20 % (letzte 5 Jahre) Konstante Größe Verlust 20-50 % Verlust > 50 % Deutsche Universitäten 1516-1520 Große Universität > 240 p.a. Mittl. Universität >120 p.a. Kleine Universität < 120 p.a. Wachstum > 20 % (letzte 5 Jahre) Konstante Größe Verlust 20-50 % Verlust > 50 % Deutsche Universitäten 1521-1525 Die katastrophale Wende kam nach 1521. Fast alle Universitäten verzeichneten in dieser Zeit zum Teil extreme Frequenzverluste. Aufschlussreich ist hierbei der Zeitpunkt, wann jeweils der stärkste Frequenzknick (von in der Regel über 50 % binnen eines Jahres) stattfand. Knick 1522/23 und 1524/25 Große Universität > 240 p.a. Abbruch 1525 Knick 1522/23 Mittl. Universität >120 p.a. Kleine Universität < 120 p.a. Wachstum > 20 % (letzte 5 Jahre) Konstante Größe Knick 1520/21 und 1523/24 Knick 1522/23 Verlust 20-50 % Knick 1522/23 Verlust > 50 % Knick 1523/24 Knick 1522/23 Pest 1521, Knick 1523-25 Deutsche Universitäten 1526-1530 Große Universität > 240 p.a. faktischer Abbruch Mittl. Universität >120 p.a. Kleine Universität < 120 p.a. Tiefpunkt 1526/27, dann Aufstieg Wachstum > 20 % (letzte 5 Jahre) Knick 1526/27 Konstante Größe Verlust 20-50 % Verlust > 50 % Knick 1527-29 Abbruch 1528 1529/30 Türkenkrieg  Unstrittig ist, dass die Reformation Auslöser der Krise war, welche das Hochschulsystem nach 1520 erschütterte. Die Ursachen lagen zum einen in der von den Reformatoren, insbesondere deren radikalem Flügel Die Entwicklung der deutschen Universitätslandschaft 1501-1530 geäußerten Grundsatzkritik an der traditionellen universitären Bildung. Zum anderen machte sich angesichts des sich abzeichnenden Umsturzes aller kirchlichen Verhältnisse eine tief greifende Verunsicherung hinsichtlich der (kirchlichen) Karriereaussichten eines mühseligen und teuren Universitätsstudiums breit. Wir können dieses Phänomen recht gut mit modernen marktwirtschaftlichen Phänomenen vergleichen. So gesehen, stellt der extreme Frequenzabsturz die Kehrseite des vorangegangenen Frequenzhochs dar – beide gehören zusammen! Wichtige Literatur: - Franz Eulenburg, Die Frequenz der deutschen Universitäten von ihrer Gründung bis zur Gegenwart (Abhandlungen der Sächs. AdW, phil.-histor. Klasse, 24), Leipzig 1904. - Rainer C. Schwinges, Universitätsbesuch im Reich vom 14. zum 16. Jahrhundert: Wachstum und Konjunkturen, in: H. Berding (Hg.), Universität und Gesellschaft (Geschichte und Gesellschaft, 10/1), Göttingen 1984, S. 5-30. - Wilhelm Ernst Winterhager, Wittenberg und Marburg als Universitäten der Reformation. Humanistischer Aufbruch, reformatorische Bildungskrise und Hochschulreformdebatten im frühen 16. Jahrhundert, in: Sachsen-Anhalt. Jahrbuch der Historischen Kommission für Sachsen-Anhalt 22, 1999/2000, S. 189–238. - Matthias Asche, Frequenzeinbrüche und Reformen – Die deutschen Universitäten in den 1520er und 1560er Jahren zwischen Reformation und humanistischem Neuanfang, in: Walther Ludwig (Hg.), Die Musen im Reformationszeitalter, (Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten, 1), Leipzig 2001, S. 53-96. - Beat Immenhauser, Universitätsbesuch zur Reformationszeit. Überlegungen zum Rückgang der Immatrikulationen nach 1521, in: Jb. für Universitätsgeschichte 6 (2003), S. 69-88.