FACHTHEMA
Martin Ziegler, Viktor Sigrist, Georg-Friedger Drewsen
Leitlinien für die Erstellung
anwendungsfreundlicher Tragwerksnormen
Die derzeitige Normungssituation sorgt durch den Umfang der
Normen, ihre Unübersichtlichkeit und ihre Kompliziertheit für
Unmut bei den Anwendern. Auf Initiative des Verbandes der
Beratenden Ingenieure (VBI) und der Prüfingenieure (BVPI)
wurde in einem Forschungsprojekt im Rahmen der Initiative
„Zukunft Bau“ des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung ein Leitfaden zur Erstellung anwendungsfreundlicher und praxistauglicher Bemessungsnormen entwickelt, der
dazu beitragen soll, bei der bevorstehenden Überarbeitung der
Bemessungsnormen auf nationaler und europäischer Ebene
die derzeitigen Probleme zu verringern. Der Leitfaden enthält
zunächst eine Aufarbeitung der derzeitigen Normungssituation
in organisatorischer und rechtlicher Hinsicht. Darauf aufbauend werden allgemeine Anforderungen an anwendungsfreundliche und praxistaugliche Normen formuliert. Es folgen
Vorschläge für eine einheitliche Struktur und Gliederung der
Bemessungsnormen sowie für eine Vereinfachung der
Bemessungsverfahren und Kombinationsregeln. Anschließend
wird aufgezeigt, dass effizientes Normenschaffen eine
professionelle Organisation erfordert, bei der die Zuarbeit zur
Normungsarbeit wie ein Ingenieurvertrag abgearbeitet und
vergütet wird. Abschließend werden Hinweise zu Optimierung
der Normungsarbeit auf nationaler und europäischer Ebene
gegeben.
Keywords Eurocodes; Normen; Teilsicherheitsbeiwerte;
Kombinationsregeln; Professionalisierung
Guidelines for the development of structural design codes.
Due to the amount and complexity of the documents the
situation with structural design codes is rather unsatisfactory
for practitioners. On the initiative of the Association of Consulting Engineers (VBI) and the Federal Association of Checking
Engineers for Structural Design (BVPI) a project financed by
the Federal Institute for Research on Building, Urban Affairs
and Spatial Development (BBSR) was carried out which
resulted in the report “Elaboration of Guidelines for the
Development of user-friendly and practical Design Codes”.
This work is aimed at contributing to more consistent codes as
well as code working processes for instance in the upcoming
revision of the Eurocodes. The guidelines comprise a description of the current situation with respect to technical and
organizational aspects. Subsequently, general requirements
are revealed and proposals for a uniform structure of the
documents and simplifications of the design and combination
rules are made. Furthermore, it is illustrated that efficient code
working processes are possible only in a more professional
environment where code drafting is scheduled and remunerated similarly to an engineering contract. Finally, some advice for
optimizing the code working processes in the national and
international context is given.
Keywords Eurocodes; codes; partial safety factors; combination rules;
professional code development
In den letzten Jahren ist der Unmut der Anwender über
die Bemessungsnormen unüberhörbar geworden. Beklagt
werden gestiegener Normenumfang und Berechnungsaufwand verbunden mit einer immer geringer werdenden
Nachvollziehbarkeit und Transparenz. Mit der Hauptgrund für die gegenwärtige Situation ist die Tatsache, dass
die von der Normung besonders betroffenen Planer, Prüfingenieure und Ausführenden sich aufgrund des wirtschaftlichen Drucks immer weniger an der Normungsarbeit beteiligen können.
Die erhoffte Vereinfachung und Harmonisierung der
Normen in Europa wird mit dieser Normengeneration allerdings nicht erreicht. Schon bisher war die Normungssituation durch eine große und kaum mehr überschaubare Anzahl an Normen und mit jeweils geltenden Empfehlungen geprägt. Durch die verbindliche Einführung der
Eurocodes werden die Schwierigkeiten und Unübersichtlichkeiten noch weiter zunehmen, denn die europäischen
Normen sind in der Regel umfangreicher als die Vorläuferdokumente und nur in Kombination mit den sogenannten Nationalen Anhängen und den ergänzenden
Regelungen anwendbar.
Mit Wirkung zum 1. Juli 2012 soll das erste große Paket
der Eurocodes (EC0 bis 5 und EC7) verbindlich bauaufsichtlich eingeführt werden. Es handelt sich um eine
Stichtagsregelung, wonach ab diesem Datum nur noch
die betreffenden Eurocodes gelten und die bisherigen korrespondierenden nationalen Normen aus der Liste der
Technischen Baubestimmungen gestrichen werden.
Da die ersten Aktivitäten für die Erstellung der nächsten
Generation der Eurocodes bereits angelaufen sind, ist das
Thema Normengestaltung unmittelbar aktuell. Es ist notwendig, ein klares Konzept zu haben, wie Normen inhaltlich beschaffen sein sollen. Mit diesen Fragestellungen
haben sich auf Initiative des Verbandes der Beratenden
Ingenieure (VBI) und der Bundesvereinigung der Prüf-
1
Einleitung
© Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin. Bautechnik 89 (2012), Heft 4
229
FACHTHEMA ARTICLE
DOI: 10.1002 / bate.201200010
M. Ziegler, V. Sigrist, G.-F. Drewsen: Leitlinien für die Erstellung anwendungsfreundlicher Tragwerksnormen
ingenieure für Bautechnik e. V. (BVPI) die beiden erstgenannten Autoren in einem Forschungsprojekt im Rahmen der Forschungsinitiative „Zukunft Bau“ des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) ausführlich beschäftigt. Bei der Klärung rechtlicher Aspekte
wurden sie durch den dritten Autor unterstützt. Als Ergebnis des mittlerweile abgeschlossenen Projekts wurde
ein Leitfaden zur Erstellung anwendungsfreundlicher Bemessungsnormen entwickelt, über dessen wichtigsten Inhalte nachfolgend berichtet wird [1].
2
Gegenwärtige Normensituation
2.1
Allgemeine Motivation für Normen
Im Gegensatz zu Produktnormen, dank derer Produkte
reproduzierbar und in gleichbleibender Qualität geschaffen werden können, stellen Bemessungsnormen für die
entwerfenden Ingenieure eine gemeinsame Grundlage
zur Bestimmung der Sicherheit der von ihnen gestalteten
Bauwerke dar. Von den fünf Hauptfunktionen, die DEML
[2] allgemein den Normen zuweist, verbleiben bei den
hier betrachteten Bemessungsnormen vor allem folgende
Funktionen:
– Ordnungsfunktion: Es werden die Hierarchie und der
Umfang der zu betrachtenden Regelwerke festgelegt.
– Informationsfunktion: Durch Normen wird die Kommunikation zwischen den an einem Bauprojekt Beteiligten erleichtert. Auch geben Normen Auskunft zum
Stand der Technik.
– Vereinheitlichungsfunktion: Durch die Vorgabe von
Analyse- und Nachweisverfahren wird eine gemeinsame Basis geschaffen, die den Vergleich und die Bewertung der rechnerisch ermittelten Sicherheiten erlaubt.
Die Rationalisierungs- und die Innovationsfunktion, die
bei der kostengünstigen Herstellung und schnellen Vermarktung von Massenprodukten eine große Rolle spielen, haben bei Bemessungsnormen hingegen nur eine untergeordnete Bedeutung.
2.2
Entstehung von Normen
Die für die Normung auf nationaler und internationaler
Ebene in Deutschland zuständige Organisation ist durch
Normenvertrag vom 5. Juni 1975 das Deutsche Institut
für Normung e. V. (DIN), das am 22. Dezember 1917
noch unter dem Namen Normenausschuss der deutschen
Industrie (NADI) gegründet wurde und seit 1920 als eingetragener Verein geführt wird.
Im Prinzip kann die Erstellung einer Norm von jedermann beim DIN e. V. beantragt werden. Dazu sind ein
Konzept für die Norm vorzulegen und eine Grundfinanzierung für die damit verbundenen Verwaltungstätigkeiten des DIN e. V. sicherzustellen. In der Regel werden
Normenprojekte aus einem Kreis interessierter Fachleute
230
Bautechnik 89 (2012), Heft 4
oder einem Interessensverband heraus beantragt. Die Erstellung hat bestimmten formalen Grundsätzen der Normungsarbeit zu folgen, die in DIN 820 festgelegt sind [3].
Sofern für eine beantragte Norm ein ausschließliches
nationales Interesse besteht, wird die Norm zur weiteren
Bearbeitung an den Lenkungsausschuss des zuständigen
Fachbereichs weitergeleitet. Bei positiver Prüfung leitet
dieser das Projekt an den dafür zuständigen Arbeitsausschuss weiter. In diesem sind alle an einer Norm interessierten Kreise eingebunden. Wird eine Norm verabschiedet, so hat dies im Konsens zu erfolgen, um den
rechtlichen Ansprüchen an das im nächsten Abschnitt beschriebene antizipierte Sachverständigengutachten zu genügen.
Sofern die beantragte Norm in einem europäischen oder
internationalen Kontext steht, ist der Normenausschuss
auch gleichzeitig Ansprechpartner für Projekte gleichen
Inhalts auf europäischer oder internationalen Ebene. Bei
den Eurocodes für Bemessungsaufgaben im Bauwesen
(EC0 bis EC9) muss man sich in diesem Zusammenhang
darüber im Klaren sein, dass in ihnen die wesentlichen
Inhalte zur Bemessung niedergeschrieben sind, während
die zugehörigen nationalen Anhänge lediglich noch länderspezifische ergänzende Regelungen enthalten.
2.3
Rechtliche Aspekte
Juristen leben ebenso wenig in einem technikfreien Raum
wie Ingenieure in einem rechtsfreien Raum. Deshalb ist,
neben den technischen und verfahrenstechnischen Anforderungen an Normen, auch auf deren rechtliche Relevanz einzugehen, wobei sich dieser Beitrag mit nur wenigen Aspekten im privaten Recht befassen kann.
In der juristischen Baurechtspraxis wird die Bedeutung
technischer Normen sowohl über- als auch unterschätzt:
Bei der Prüfung der Mangelhaftigkeit einer Werkleistung
spielen technische Normen eine unerwartet nachrangige
Rolle, können aber bei den bedeutsamen Fragen zur Beweislast entscheidend sein. Technische Normen haben
im zivilen Rechtssystem „privaten“ Charakter und sind
im Gegensatz zu Gesetzen und Verordnungen solange
unverbindlich für Auftraggeber (AG) und Auftragnehmer
(AN), wie beide nicht die Geltung dieser Regelwerke vereinbaren. Anders sieht das im Bauordnungsrecht aus,
wenn die jeweilige Norm eine bauaufsichtlich „eingeführte technische Baubestimmung“ (ETB) ist.
Nahezu alltäglich stellt sich die Frage: Was ist geschuldet,
was ist mangelhaft? Welcher AN war nicht schon der trügerischen Versuchung erlegen, seine Planung oder Ausführung als mangelfrei, weil DIN-gerecht, zu verteidigen.
Das Oberlandesgericht Frankfurt/M. hat in einer Grundsatzentscheidung [4], Blasbachtalbrücken-Urteil, festgestellt, dass die vertragliche Beschaffenheitsvereinbarung
Vorrang vor allgemeinen technischen Regeln hat. In jenem Fall waren im Zeitpunkt der Abnahme sämtliche anerkannten Regeln der Technik eingehalten; dennoch zeig-
ten sich Risse. Das Gericht sah einen Mangel, denn der
AG habe keine Risse, sondern eine mangelfreie Brücke
bestellt.
Fehlt es an einer Beschaffenheitsvereinbarung, muss der
Richter zunächst im Wege der Auslegung nach dem
vertraglich Gewollten suchen. Der Bundesgerichtshof
(BGH) hat in einer Grundsatzentscheidung [5] die Auslegung des Vertrages zur Klärung der vereinbarten
Beschaffenheit als vorrangig vor der Heranziehung der
technischen Regeln betrachtet: In jenem Fall war die
Werkleistung mangelhaft, da sie das im Wege der Vertragsauslegung ermittelte vereinbarte Schalldämm-Maß
nicht erreichte. Führe hingegen auch die Auslegung nicht
zu einer vereinbarten Beschaffenheit, wäre die Werkleistung im Allgemeinen mangelhaft, wenn sie nicht den zur
Zeit der Abnahme anerkannten Regeln der Technik als
vertraglichem Mindeststandard entspricht; DIN-Normen
seien private technische Regeln mit Empfehlungscharakter, die den Standard „anerkannte Regeln der Technik“
wiedergeben oder hinter diesem zurückbleiben können.
Technische Normen sind somit nicht automatisch oder
ausschließlicher Maßstab der Mangelfreiheit einer Vertragsleistung.
aber im Streitfall mithilfe eines Sachverständigen auch
klären, ob die Norm noch mit den anerkannten Regeln
der Technik übereinstimmt, „wissenschaftlich richtig“
und „in der Praxis bewährt“ ist (Mindeststandard) [11].
Im Interesse notwendiger Übereinstimmung der Entscheidungen in technischer und rechtlicher Hinsicht
wäre eine einheitliche Ausgestaltung des „Sachverständigen-Qualitäts-Profils“ der regelerstellenden Organisationen, Gremien und ihrer Repräsentanten, sowie eine
Harmonisierung der Normen schaffenden Verfahren
sinnvoll, um einheitliche Konkretisierung normativer
Standards in technischen Normen zu gewährleisten. Es
erscheint erstrebenswert, unter Einbeziehung interdisziplinären – auch juristischen – Wissens bei der Erstellung
technischer Regelwerke den Anforderungen des Rechts
an ein „Sachverständigengutachten von besonderem
Gewicht“ zu entsprechen, um technische Normen in der
Gesamtordnung wirtschaftlicher Vorgänge im Interesse
einheitlicher Entscheidungsfindung als noch souveräneres Instrument mit höchster Sachkompetenz zu verankern.
3
Entscheidende Bedeutung erlangen technische Regeln,
wenn es darum geht, wer im gerichtlichen Streitfall beweisen muss, mangelfrei geleistet zu haben. Nach dem
„Beweis des ersten Anscheins“ gilt für Bauleistungen:
„Derjenige, der sich ... an ein kodifiziertes technisches Regelwerk hält, kann für sich ... die widerlegliche Vermutung in Anspruch nehmen, die Regeln der Technik eingehalten zu haben“ [6], denn es „... besteht eine Vermutung,
dass kodifizierte Regelwerke die anerkannten Regeln der
Technik wiedergeben“ [7].
Technische Normen müssen jedoch, um diese positive
Wirkung in der Rechtspraxis zu erzielen, bestimmte Voraussetzungen erfüllen: Unter anderem muss das Gremium, das sie schuf, höchsten Sachverstand und nicht allein
interessierten Sachverstand repräsentieren, die an der
Normung interessierten Kreise in einem angemessenen
Verhältnis einbeziehen, dabei privaten Interessen nicht
den Vorrang vor den öffentlichen, allgemeinen Interessen
einräumen sowie personell und verfahrenstechnisch den
Anforderungen an Sachverständige (Sachkunde, Neutralität, Unabhängigkeit) genügen [8]. Zudem sollten technische Normen in der Qualität eines Sachverständigengutachtens erscheinen, um auch für das Recht von Bedeutung zu sein, so das BVerwG: „... die in der TA Luft
festgelegten Immissionswerte (seien) wegen ihres naturwissenschaftlich fundierten fachlichen Aussagegehaltes
als „antizipiertes Sachverständigengutachten“ auch für
das Gericht bedeutsam ...“ [9]. Voraussetzung für ein „antizipiertes Sachverständigengutachten“ ist die inhaltliche
Übereinstimmung des technischen Regelwerkes mit den
normativen Standards, d. h. eine Norm muss mindestens
den anerkannten Regeln der Technik entsprechen [10],
um diesen Anspruch zu erfüllen. Angesichts der ständigen Fortentwicklung der Bautechnik muss der Richter
Anforderungen an Normen
Da in den Tragwerksnormen (Eurocodes) keine konkreten Gegenstände oder Vorgehensweisen behandelt
werden, nehmen diese innerhalb des Normenwerks eine
besondere Stellung ein. Die Anforderungen an diesen
Normentyp lassen sich wie folgt umschreiben:
– Sicherheit: Die rechnerisch einzuhaltenden Sicherheiten sind festzulegen.
– Vereinheitlichung: Für die Analyse- und Nachweisverfahren sind einheitliche Prinzipien zu definieren.
– Rechtssicherheit: Es sind die anerkannten Regeln der
Technik zu dokumentieren.
– Qualitätssicherung: Die Anwendung soll die Einhaltung von Mindeststandards garantieren.
Bei der Planung von Tragwerken ist folglich ein verbindliches Sicherheitsniveau einzuhalten, damit für die Ersteller und Nutzer des Bauwerks sowie für Dritte eine Gefahr
für Leib und Leben (weitgehend) ausgeschlossen werden
kann. Die rechnerische Sicherheit soll mithilfe vereinheitlichter Ausgangsparameter und Vorgehensweisen erreicht werden; die Vielzahl möglicher Berechnungsverfahren wird so auf eine sinnvolle Anzahl reduziert. Auf
diese Art soll die wirtschaftliche Bemessung einer Konstruktion unter Einhaltung einer definierten Qualität gewährleistet werden. Hinsichtlich Tragwerkssicherheit
und -qualität stellen die Normen für die Anwender damit
eine rechtlich verlässliche Grundlage dar.
Darüber hinaus sollen die Tragwerksnormen die Rationalisierung des Planungsprozesses begünstigen und dadurch
wirtschaftliches Arbeiten ermöglichen. Sie stellen somit
auch Hilfsmittel dar, die die tägliche Arbeit der Planer
(Ingenieure) erleichtern sollen. Letzteres kann durch EinBautechnik 89 (2012), Heft 4
231
FACHTHEMA ARTICLE
M. Ziegler, V. Sigrist, G.-F. Drewsen: Guidelines for the development of structural design codes
M. Ziegler, V. Sigrist, G.-F. Drewsen: Leitlinien für die Erstellung anwendungsfreundlicher Tragwerksnormen
haltung der nachfolgend aufgeführten Grundsätze erreicht werden.
– Durch die in den Tragwerksnormen beschriebenen
Vorgehensweisen und Berechnungsverfahren sollen
Arbeitsaufwand und mögliche bzw. erforderliche Planungs- und Rechengenauigkeit in ein sinnvolles Verhältnis gebracht werden.
– In den Tragwerksnormen sind nur die aus bauaufsichtlicher Sicht zwingenden Notwendigkeiten
regeln.
– Durch die Anwendung der Tragwerksnormen wird die
Verantwortung des Ingenieurs nicht geschmälert; die
Normen sollen Entscheidungshilfen bei Fragestellungen bieten, die den direkten Erfahrungsbereich des
Einzelnen überschreiten.
– Die Dokumente des Normenprogramms sollen konsistent sein, d. h. in sich stimmig sein und untereinander keine Widersprüche aufweisen.
In einer Norm soll aufgezeigt werden, in welchen Fällen
aufwändige Untersuchungen zweckmäßig sind bzw.
wann darauf verzichtet werden kann. Im Falle stark
streuender oder schwer zu erfassender Eingangswerte erweisen sich nicht selten einfache und übersichtliche Berechnungen als ausreichend genau; sie sind zudem interpretierbar und stellen eine solide Grundlage für die zu
treffende Entscheidung dar. Normen sollten nicht den
Charakter von Fach- oder Lehrbüchern aufweisen oder
die neusten Forschungsergebnisse darstellen. Aus formaler Sicht bestehen folgende Anforderungen an Tragwerksnormen:
– Lesbarkeit: Normentexte sollen gut lesbar, leicht verständlich und knapp gehalten sein.
– Einheitlichkeit: Normen sollen sich auf einheitliche
(technische) Grundlagen beziehen, einheitliche Fachbegriffe verwenden und eine einheitliche Dokumentengliederung aufweisen.
– Nachvollziehbarkeit: Die den Analyse- und Nachweisverfahren zugrunde liegenden (physikalischen) Zusammenhänge sollen erkennbar bleiben.
Grundlagen
der Projektierung
von Tragwerken
– Eindeutigkeit: Pro Fragestellung soll es ein (ggf. mehrstufiges) Verfahren geben, das eindeutige Ergebnisse
liefert.
Da neue Normen in der Regel in einem internationalen
Kontext stehen und somit zunächst in englischer Sprache
verfasst werden, kommt der sprachlichen Sorgfalt (z. B.
bei der Übersetzung) eine besondere Bedeutung zu. Normen dienen schließlich auch sehr wesentlich der Verständigung und müssen allein schon deshalb begrifflich konsistent sein.
4
Empfehlungen zur Verbesserung der Normen
4.1
Struktur und Gliederung
Das europäische Normenprogramm für den Tragwerksbau umfasst viele Dokumente, die sich grundsätzlich aber
[12, 13] folgenden drei Gruppen von Normen zuordnen
lassen:
– Tragwerksnormen: Grundlagen der Tragwerksplanung,
Einwirkungen auf Tragwerke sowie Bemessungsnormen
– Normen für Baustoffe, Bauprodukte und die Ausführung: Baustoffe (z. B. Beton, Stahl), Bauweisen (z. B.
Betonbau, Stahlbau) und ggf. spezielle Anwendungsgebiete (z. B. Hochbau, Brückenbau)
– Prüfnormen: Technische Prüfung von Baustoffen und
Bauprodukten
Dieses Konzept des CEN soll auch in Zukunft die Grundlage für die Strukturierung der Tragwerksnormen darstellen. Eine anzustrebende Verbesserung betrifft die in
Bild 1 dargestellte Hierarchie innerhalb der Tragwerksnormen.
Die Grundlagen der Tragwerksplanung bilden die Basis
zur Nutzung des gesamten Regelwerks. Das Dokument 0
ist allen weiteren Normen übergeordnet und umfasst
neben den Grundsätzen, z. B. zur Festlegung repräsentativer Werte oder zum Sicherheitskonzept, auch die prinzi-
Teil 0
Einwirkungen
1
Betonbau
2
Verbundbau
3
4
Bild 1
Empfohlene Struktur der Tragwerksnormen
Recommended structure of the structural design codes
232
Bautechnik 89 (2012), Heft 4
Holzbau
Geotechnik
5
6
7
pielle Vorgehensweise bei der Bemessung von Tragwerken. Regelungen zu den Einwirkungen werden der Dokumentengruppe 1 zugeordnet, die mehrere Teile umfasst,
sodass eine klare Gliederung nach Arten von Einwirkungen und Anwendungsfällen möglich ist. Für Brand- und
auch Erbebeneinwirkungen sollten separate Teile dieser
Norm erstellt werden.
Eine Norm, die bezogen auf eine Bauweise (z. B. Stahlbau) die Tragwerksanalyse und die Bemessung zum Gegenstand hat, wird als Bemessungsnorm bezeichnet. Die
Bemessungsnormen sollen alle gängigen Bauweisen, d. h.
den Betonbau, den Stahlbau, den Stahl-Beton-Verbundbau, den Holzbau, das Mauerwerk und auch die geotechnischen Bauwerke umfassen. Alle diese Normen beziehen sich auf die Dokumentengruppen 0 und 1 und verfügen folglich über gemeinsame Grundsätze und
einheitliche Definitionen. Jede Bemessungsnorm soll in
verschiedene Teile gegliedert sein, was zur Ordnung und
Übersichtlichkeit beiträgt und den Umfang der einzelnen
Dokumente begrenzt hält. Aus heutiger Sicht ist eine
Gliederung in vier Teilen vorzusehen; wünschenswert
wäre der in Tab. 1 beispielhaft für den Beton- und Stahlbetonbau dargestellte Aufbau.
Der Teil 1 beinhaltet die allgemeinen Regeln der Bemessung sowie die Besonderheiten für spezielle Arten von
Bauwerken (z. B. Brücken). Ein Großteil der möglichen
Fragestellungen soll in diesem Teil der Norm behandelt
werden. In den Teil 2 sollen Themen aufgenommen werden, die als Ergänzung der allgemeinen Regeln zu verstehen sind und die spezielle Baustoffe und/oder Anwendungsfälle zum Gegenstand haben. Dieser Teil soll aber
auch neuen Themen (z. B. neu entwickelten Baustoffen
oder Bauweisen) offen stehen. Der Teil 3 widmet sich der
Tragwerksbemessung für den Brandfall, wobei als Anwender hauptsächlich Spezialisten infrage kommen. Gleiches gilt für den Teil 4 der Norm, der die Auslegung von
Tragwerken gegen Erdbeben beinhaltet.
Für die Geotechnik ergeben sich einige Besonderheiten,
die darauf zurückzuführen sind, dass mit dem in seinen
Eigenschaften nur wenig veränderbaren natürlich anstehenden Baugrund gearbeitet werden muss. Hinzu
kommt, dass Einwirkungen gleichzeitig auch Widerstände sein können und in den Grenzzustandsgleichungen
für die einzelnen geotechnischen Konstruktionen meist
unterschiedliche summarische Widerstände anstelle reiner Bodenfestigkeiten eingesetzt werden. Dies erschwert
es, die Struktur der Bemessungsnormen direkt für diese
Anwendungen zu übernehmen. Dennoch ist ein zumindest analoger Aufbau anzustreben [1].
4.2
Sicherheitskonzept und Bemessungsverfahren
Heutige Normen bauen auf dem sogenannten semiprobabilistischen Sicherheitskonzept auf, das eine Nachweisführung mit Teilsicherheitsbeiwerten verlangt und der
Idee folgt, die deterministisch festgelegten Einflussgrößen
Tab. 1
Aufbau der Norm „Beton- und Stahlbetonbau“
Outline of the code for structural concrete
1
1.1
1.2
1.3
Beton- und Stahlbetonbau – Teil 1
Allgemeine Bemessungsregeln
Besonderheiten für den Brückenbau
Besonderheiten für den Behälter- und Silobau
2
2.1
2.2
2.3
Beton- und Stahlbetonbau – Teil 2
(z. B.) Ergänzende Regeln für Stahlfaserbeton
(z. B.) Ergänzende Regeln für ultrahochfesten Beton
(z. B.) Ergänzende Regeln für die Befestigungstechnik
3
Beton- und Stahlbetonbau – Teil 3
3.1 Bemessung für den Brandfall
4
Beton- und Stahlbetonbau – Teil 4
4.1 Bemessung für Erdbebeneinwirkung
(z. B. Lasten, Festigkeiten) abhängig von der Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens in der Berechnung zu berücksichtigen. Über die Teilsicherheitsbeiwerte werden vereinfachend die Streuungen der Werkstoffeigenschaften,
der geometrischen Größen und der einwirkenden Lasten,
aber auch die Ungenauigkeiten der Last- und Widerstandsmodelle erfasst.
Um die Tragfähigkeiten von Strukturen, deren Teilen und
Verbindungen zu ermitteln, sind Nachweise für Grenzzustände der Tragfähigkeit (ULS) zu führen:
– Verlust der Lagersicherheit (EQU)
– Versagen des Tragwerks bzw. seiner Bauteile (STR)
– Versagen (oder übermäßiges Verformen) des Baugrundes (GEO)
– Ermüdungsversagen des Tragwerks bzw. seiner Bauteile (FAT).
In der Geotechnik sind zudem von Bedeutung:
– Verlust der Lagersicherheit durch Aufschwimmen
(UPL)
– Versagen durch hydraulischen Grundbruch (HYD).
Neben der Tragfähigkeit ist der Grenzzustand der Gebrauchstauglichkeit (SLS) nachzuweisen. Er beinhaltet
die Einhaltung der sogenannten Gebrauchsgrenzen.
Die Nachweisführung besteht im Allgemeinen darin, Bemessungswerte der Auswirkungen (bzw. von Beanspruchungen) mit jenen der Widerstände zu vergleichen. Hierzu sind die jeweils charakteristischen Werte mit den Teilsicherheitsbeiwerten zu erhöhen bzw. zu vermindern;
Bild 2 zeigt das hierfür im Rahmen der Arbeiten an den
Eurocodes entwickelte Schema. Es wird deutlich, dass das
Bilden der Bemessungswerte auf verschiedenen Wegen erfolgen kann. Die Beiwerte (einschließlich der Kombinationsbeiwerte ψ) können vor der Ermittlung der Auswirkung auf die charakteristischen Werte der Einwirkungen
bzw. der Werkstofffestigkeiten geschlagen werden. Ebenso ist es möglich, diese erst nach der Bestimmung der Auswirkung bzw. des Widerstandes anzusetzen.
Bautechnik 89 (2012), Heft 4
233
FACHTHEMA ARTICLE
M. Ziegler, V. Sigrist, G.-F. Drewsen: Guidelines for the development of structural design codes
M. Ziegler, V. Sigrist, G.-F. Drewsen: Leitlinien für die Erstellung anwendungsfreundlicher Tragwerksnormen
Beanspruchung
Widerstand
Frep
Einwirkung
Auswirkung
Fk
Ψ·
f
Fd
Xd
m
Ψ
Ψ·
F
S
R
M
Ek
F
Ed
Rd
M
charakteristische
Werte
Bild 2
Bemessungswerte
Baustoff- oder
Baugrundeigenschaft
Rk
Tragwiderstand
charakteristische
Werte
Möglichkeiten, Bemessungswerte zu bilden (in Anlehnung an [14])
Possibilities of generating design values (following [14])
Im Umgang mit den Einwirkungen ermöglicht es das
semiprobabilistische Sicherheitskonzept, einwirkungsabhängige Teilsicherheitsbeiwerte festzulegen, die auf probabilistischen Untersuchungen basieren und somit die jeweiligen Streuungen berücksichtigen. Zudem können die
Einwirkungen unter individueller Berücksichtigung von
Unsicherheiten miteinander kombiniert werden. Mit dieser Vorgehensweise steigt auf jeden Fall der Berechnungsaufwand, nicht aber zwangsläufig die Genauigkeit.
Beim Nachweis der Tragfähigkeit betragen die Teilsicherheitsbeiwerte üblicherweise γG = 1,35 für Eigenlasten und
γQ = 1,50 für Nutz- oder Verkehrslasten. Man kann sich
fragen, ob die beiden Teilsicherheitsbeiwerte ohne signifikante Einbuße an Sicherheit und Wirtschaftlichkeit nicht
durch einen einzigen Wert γF ersetzt werden könnten. Bei
Proportionalität zwischen Einwirkung und Auswirkung
und unter der Annahme, dass sich auch die Unsicherheiten der Widerstandsseite mit nur einem Sicherheitsbeiwert γM abdecken lassen, ergibt sich:
Rk
≥ γFγ M
Ek
(1)
Das Produkt γF γM entspricht dem früher gebräuchlichen
„globalen“ Sicherheitsbeiwert, wenn die Kombinationsbeiwerte vorerst unberücksichtigt bleiben. Ein solches
vereinfachtes Vorgehen sollte auch weiterhin zulässig
sein [1].
Eine weitere wichtige Komponente des Sicherheitskonzepts sind die neu eingeführten Kombinationsregeln, bei
denen die Praxis kritisiert, dass die Anzahl der Regeln
und der Kombinationswerte ψ zu groß ist, was die Interpretation der (vom Computer berechneten) Ergebnisse
deutlich erschwert.
Auf der Grundlage von Vergleichsrechnungen lassen sich
vereinfachte Kombinationsregeln ableiten. Für übliche
Fälle und bekannte Bauaufgaben (z. B. Hochbau) könnten beim Nachweis der Tragfähigkeit die Kombinationsregeln für „ständige“ und „vorübergehende“ Bemessungs234
Xk
Bautechnik 89 (2012), Heft 4
situationen durch die Einführung des (universellen) Kombinationsbeiwerts ψuni = 0,7 in die Form
⎧
⎫
⎪
⎪
Ed = E ⎨ γ GjGkj " + " γ P Pk " + " γ Q,lQk,l " + " ψ uni γ Q,iQk,i ⎬
⎪⎩ j ≥ l
⎪⎭
i>l
∑
∑
(2)
gebracht werden. Für den Nachweis der Gebrauchstauglichkeit kann für „seltene“ Lastkombinationen von der
Beziehung
⎧
⎫
⎪
⎪
Ed = E ⎨ Gkj " + " Pk " + " Qk,l " + " ψ uni Qk,i ⎬ ,
i>l
⎩⎪ j ≥ l
⎭⎪
∑
∑
(3)
und für „quasi-ständige“ Lastkombinationen von
⎧
⎫
ψ
⎪
⎪
Ed = E ⎨ Gkj " + " Pk " + " uni Qk,l ⎬ ,
2
⎪⎩ j ≥ l
⎪⎭
∑
(4)
ausgegangen werden. Anstelle von ψuni /2 könnte in
Gl. (4) bei dauerhaft hoch belasteten Tragwerken (z. B.
Lagerhäusern) ψuni und bei Bauwerken mit geringer Auslastung ψuni = 0 eingesetzt werden.
In der Geotechnik wurde in DIN 1054 (2010) [15] ebenfalls die Möglichkeit eröffnet, die Einwirkungen mit Kombinationsbeiwerten zu versehen. Die in der Tragwerksplanung ermittelten und bereits mit Kombinationsbeiwerten
versehenen repräsentativen Einwirkungen sollen so direkt übernommen werden können. Die zusätzliche Möglichkeit, auch die geotechnischen Einwirkungen mit
Kombinationsbeiwerten zu versehen, muss jedoch hinterfragt werden. Da bei geotechnischen Einwirkungen in der
Regel die ständigen Einwirkungen aus Erd- und Wasserdruck dominieren, ist der Einfluss der Kombinationsbeiwerte auf das Ergebnis gering. Dies konnte im Rahmen
eines vom BBR finanzierten Forschungsvorhabens mit
umfangreichen Vergleichsrechnungen gezeigt werden
(„Vergleichsrechnungen DIN 1054 zu EC7-1“ Aktenzeichen: ZP 52-5-11.74-1350/09).
5
Optimierung der Normungsarbeit
5.1
Professionalisierung der Normungsarbeit
Die derzeitigen Schwierigkeiten bei der Erstellung von
Normen sind hinlänglich bekannt. Vertreter von ausführenden Firmen sowie von planenden und prüfenden Ingenieurbüros nehmen aufgrund des bestehenden wirtschaftlichen Drucks nur noch sporadisch und meist mangelhaft
vorbereitet an den Sitzungen der Normenausschüsse teil.
Für eine effiziente Mitarbeit fehlt ihnen die qualifizierte
Zuarbeit, die z. B. die Vorbereitung neuer Formulierungsvorschläge, zeitintensive Literaturrecherchen oder wichtige Vergleichsrechnungen umfassen kann. Auch aufgrund
des Zeitdrucks werden in den Normenausschüssen deshalb oft Kompromisslösungen akzeptiert, die noch hätten
verbessert werden können.
Es ist unerlässlich, dass die Normungsarbeit von Planern,
Prüfern und Ausführenden wieder mit der Intensität betrieben werden kann, die dem Ziel und Anspruch der
Normung gerecht wird. Unterstützung für die vorbereitenden und begleitenden Arbeiten mit entsprechend qualifiziertem Personal wird aber nur dann möglich sein,
wenn diese Zuarbeit wie ein Ingenieurauftrag betrachtet
und entsprechend vergütet wird; diese Einschätzung
deckt sich prinzipiell mit Vorschlägen des Sonderausschusses des NABAU [16]. Um dies zu realisieren, gibt es
drei wichtige Voraussetzungen:
1. Die von der Normung besonders betroffenen Firmen
müssen bereit sein, Vertreter in die Normenausschüsse zu
entsenden, die aufgrund ihrer beruflichen Erfahrung und
ihrer Reputation die notwendige Akzeptanz finden. Die
Vertreter müssen regelmäßig und gut vorbereitet an den
Sitzungen teilnehmen, und sie sollen möglichst auch die
deutschen Interessen in den europäischen Gremien über
einen längeren Zeitraum wahrnehmen.
2. Die Vertreter in den Normenausschüssen sollen auf
fachliche Unterstützung zurückgreifen können. Für diese
Zuarbeit muss entsprechend qualifiziertes Personal abgestellt werden. Auch wenn diese Leute in den Firmen für
das Tagesgeschäft äußerst wertvoll sind, müssen sie für
die Normungsarbeit freigestellt werden, wofür sie aber bezahlt werden sollen.
3. Um die Zuarbeit zu finanzieren, muss Geld bereitgestellt werden: Denkbar sind direkte Beiträge der Berufsverbände (z. B. VBI, Deutscher Ausschuss für Stahlbeton
(DAfStB), Hauptverband der deutschen Bauindustrie
(HDB)) aber auch zweckgebundene Beiträge von den Verbandsmitgliedern. Zudem besteht die Möglichkeit, über
entsprechend begründete Forschungsanträge weitere Mittel auch von der öffentlichen Hand einzuwerben (z. B. für
Vergleichsrechnungen).
Für die Organisation der Zuarbeit sind verschiedene Modelle denkbar. Generell soll die Zuarbeit aber in eine eigene Organisationseinheit (nachfolgend „Normungsinitiative Praxis“ (NIP) genannt) ausgelagert werden. Für die
Zuarbeit sollen die Regeln eines Ingenieurvertrags gelten,
d. h. gearbeitet wird gegen Bezahlung und innerhalb eines
vorgegebenen Leistungs- und Zeitrahmens. Durch die
Schaffung der NIP sollen die Gremien des DIN e. V. nicht
in Frage gestellt werden, da diese allein schon aus formalrechtlicher Sicht unverzichtbar sind.
Nachfolgend wird nur das sogenannte fachgruppenbezogene Verbände-Modell aus [1] in der Variante 2b vorgestellt (hier kurz mit NIP abgekürzt), da es nach Ansicht
der Autoren unter den gegebenen Randbedingungen in
Deutschland die größten Chancen der Realisierung hat.
Weitere Modelle finden sich in [1].
Beim fachgruppenbezogenen Verbände-Modell erfolgt
die Zuarbeit innerhalb der NIP interessensorientiert. Die
finanziellen Mittel stehen folglich den Gruppen zur Verfügung, die unmittelbar betroffen sind (Bild 3). Da die Zuarbeit nicht nur von Mitarbeitern eines einzelnen Unternehmens geleistet werden kann, ergibt sich zwingend die
Notwendigkeit, dass die NIP eine rechtlich selbstständige
Organisationseinheit bildet.
Die innerhalb der NIP entstehenden Projektgruppen organisieren sich weitgehend selbstständig. Mitarbeiter von
Firmen werden zeitlich befristet eingestellt, wobei sie die
Zusicherung erhalten, nach Abschluss eines Projekts
bzw. Ablauf der Frist wieder in ihr Unternehmen zurückkehren zu können. Umgekehrt kann das entsendende
Unternehmen die Mitarbeiter während der Abstellungsfrist nicht ohne Zustimmung der NIP in das Unternehmen zurückholen. Bei Bedarf können der Projektgruppe
auch Externe aus anderen Bereichen, z. B. aus der Hochschule, ebenfalls gegen Bezahlung, beigestellt werden.
Eine der Hauptaufgaben der NIP besteht darin, den Vertretern der jeweiligen Fachgruppe in den Normenausschüssen das „Backoffice“ zu bieten.
Eine wichtige Aufgabe kommt dem hauptamtlichen Geschäftsführer der NIP zu. Er soll die Aufträge administrativ verwalten und die Arbeiten der einzelnen Projektgruppen koordinieren. Da er übergeordnet arbeitet, erkennt er eventuelle Schnittstellenprobleme und kann
dafür sorgen, dass eine möglichst einheitliche Strategie
verfolgt wird. Finanziert wird er aus den Beiträgen der
Mitgliedsorganisationen aller an der NIP beteiligten Fachgruppen.
Die Formulierung und auch Durchsetzung einer einheitlichen Normungsstrategie ist Hauptaufgabe des Lenkungsgremiums, das aus hochrangigen Vertretern der an der
NIP beteiligten Organisationen gebildet wird. Um zu vermeiden, dass Wege verfolgt werden, die von der Bauaufsicht nicht mitgetragen werden können, empfiehlt es sich,
Vertretern der Bauaufsicht und der Ministerien einen
Gaststatus im Lenkungsgremium einzuräumen.
Formal läuft auch die Genehmigung und Abnahme der
einzelnen Projekte über den Lenkungsausschuss. Dieser
sollte eingreifen und Projekte ablehnen, wenn sich eine
zur allgemeinen Normungsstrategie gegenläufige TenBautechnik 89 (2012), Heft 4
235
FACHTHEMA ARTICLE
M. Ziegler, V. Sigrist, G.-F. Drewsen: Guidelines for the development of structural design codes
M. Ziegler, V. Sigrist, G.-F. Drewsen: Leitlinien für die Erstellung anwendungsfreundlicher Tragwerksnormen
Bild 3
Struktur des fachgruppenbezogenen Verbändemodells NIP
Structure of the association model based on technical units NIP
denz oder eine mangelhafte Qualität abzeichnen. Durch
die weitgehende Zweckbindung der von den Fachorganisationen eingebrachten Mittel auf Projekte aus ihrer direkten Interessenssphäre wird eine hohe Akzeptanz für
das Modell erwartet. Dies zeigt sich auch daran, dass sich
am 13. Januar 2011 die Initiative Praxisgerechte Regelwerke im Bauwesen e. V. (kurz PRB PraxisRegelnBau)
aus einer Reihe von Ingenieur- und Fachverbänden unter
organisatorischer Führung des Deutschen Beton- und
Bautechnikvereins e. V. gegründet hat (Pressemitteilung
des DBV vom 18.01.2011), die organisatorisch ähnlich
aufgestellt ist wie das Verbände-Modell der NIP.
5.2
Optimierung der Normungsarbeit
Typischerweise zieht sich der Prozess für die Neugestaltung einer Norm über mehrere Jahre hin, was entschieden
zu lange ist. Die Ausschusssitzungen finden in großen Abständen statt, sodass viele Dinge jeweils neu diskutiert
werden müssen, weil sie sich zwischenzeitlich anders darstellen. Die Aktualität der Normen geht so bisweilen verloren. Die Normungsarbeit ist deshalb zu beschleunigen.
Voraussetzung ist, dass sich jeder Normenausschuss einen
236
Bautechnik 89 (2012), Heft 4
straffen Zeitplan vorgibt. Um diesen einhalten zu können,
müssen die Vertreter der Normenausschüsse rechtzeitig
die Zuarbeit durch die Mitarbeiter der NIP anfordern und
sich in der Folge mit den Ergebnissen dieser Zuarbeit, aber
auch vor den jeweiligen Sitzungen befassen.
Generell ist zu beachten, dass die Normen auf europäischer Ebene erstellt werden; nationale Regelungen sind
nur dann zulässig, wenn diese dem jeweiligen Eurocode
nicht widersprechen oder falls dieser ausdrücklich nationale Sonderregelungen zulässt. Dabei sollte versucht werden, die nationalen Einlassungen auf ein Minimum zu beschränken, um nicht eine Vielzahl von Untervarianten
der Eurocodes zu erzeugen. Insbesondere sollte angestrebt werden, europaweit einheitliche Nachweisverfahren und Sicherheitsbeiwerte zu verwenden.
Um in den europäischen Gremien die nationalen Interessen und Erfahrungen mit entsprechendem Gewicht einbringen zu können, ist eine adäquate Beteiligung notwendig. In dieser Hinsicht gibt es große Unterschiede zwischen den Ländern. Während von deutscher Seite eher
„Einzelkämpfer“ auftreten, haben andere Länder die Arbeit wesentlich konsequenter organisiert: In den wichti-
gen Gremien arbeiten immer die gleichen Personen über
einen längeren Zeitraum, wofür sie auch bezahlt werden.
Wenn man entscheidenden Einfluss auf die europäische
Normung haben will, kann nur dieser Weg zum Erfolg
führen. Neben der entsprechenden Präsenz auf europäischer Ebene ist es wichtig, dass die dort getroffenen Vereinbarungen auch in den nationalen Gremien bekannt
gemacht und umgesetzt werden. Die Vertreter in den europäischen Gremien sollten daher auch in den nationalen
Gruppen mitarbeiten.
6
Schlussfolgerungen und Zusammenfassung
Die zunehmende Normenflut und Komplexität der Normen sorgt bei vielen Anwendern für großen Unmut. Die
bevorstehende bauaufsichtliche Einführung der Eurocodes wird diese Situation noch verschärfen. Für die jetzt
anlaufende Erarbeitung der nächsten Generation der
Eurocodes ist es daher unerlässlich, sich klare Leitlinien
vorzugeben, wie Normen aufgebaut und in welchem organisatorischen Rahmen sie geschaffen werden sollen.
In einem Forschungsprojekt im Rahmen der Initiative
„Zukunft Bau“ wurde ein Leitfaden zur Erstellung von
Bemessungsnormen erarbeitet. Neben Anforderungen an
die formale Gestaltung wird insbesondere gefordert, die
Eurocodes aller Bauweisen einheitlich zu strukturieren
und eine einheitliche Gliederung zu verwenden. So sieht
die vorgeschlagene Struktur vor, die alltäglichen Bemessungsfälle in einem Teil 1 zu behandeln, die Sonderbauweisen in Teil 2 und Brand und Erdbeben generell in die
Teile 3 und 4 auszugliedern. Des Weiteren werden Vorschläge gemacht, wie in einfachen Fällen das Teilsicherheitskonzept vereinfacht werden kann und wie die unübersichtlichen Kombinationsregeln durch Verwendung
eines universellen Kombinationsbeiwerts deutlich anwendungsfreundlicher gestaltet werden können.
Um das Normenschaffen effizient gestalten und die nationalen Vorstellungen wirkungsvoll in den europäischen
Gremien vertreten zu können, müssen die Arbeiten professionell organisiert werden. Das derzeitige Modell der
ehrenamtlichen Mitwirkung reicht dazu nicht mehr aus,
zumal sich die Planer und Ausführenden immer weniger
an der Normungsarbeit beteiligen. Es werden Vorschläge
gemacht, wie die Arbeiten in eine eigene Organisation
ausgelagert werden können, in der die Zuarbeit zur Normung wie ein Ingenieurauftrag behandelt wird: Eine im
Umfang klar beschriebene Leistung ist innerhalb eines
vorgegebenen Zeitrahmens gegen eine vereinbarte Vergütung zu erledigen. Der eigentliche Normungsprozess soll
dabei weiter über die Gremien des DIN laufen, da sonst
die rechtlichen Voraussetzungen an den Stellenwert einer
Norm als antizipiertes Sachverständigengutachten nicht
mehr gegeben sind.
Literatur
[1] SIGRIST, V.; ZIEGLER, M.: Entwicklung eines Leitfadens zur
Erstellung anwendungsfreundlicher und praxistauglicher
Bemessungsnormen. Abschlussbericht des Forschungsvorhabens SF – 10.08.18.7-09.3 / II 2 – F 20-08-01-049, Verband Beratender Ingenieure, Berlin, 2011.
[2] DEML, H.-M.: Europarechtliche Anforderungen und Grenzen der technischen Normung. Aachen: Shaker Verlag
2009.
[3] Deutsches Institut für Normung e. V.: DIN 820 Teil 1:
Grundsätze, Teil 2: Gestaltung von Dokumenten. Berlin:
Beuth Verlag 2009.
[4] NJW 1983, 456 = BauR 1983, 156.
[5] NJW 1998, 2814 = BauR 1998, 872.
[6] BGHZ 114, 273; OLG Hamm, NJW-RR 1995, 17.
[7] KNIFFKA/KOEBLE: Kompendium des Baurechts, 3. Aufl.
2008 Teil 6, Rz 34.
[8] BATTIS/GUSY: Umweltrechtliche Studien, Bd 3, 1988, Rz
102 ff, 105.
[9] BVerwG, NJW 1978, 1450.
[10] NICKLISCH: Technische Regelwerke – Sachverständigengutachten im Rechtssinne? NJW 1983 Heft 16, 841ff.
[11] KNIFFKA/KOEBLE: Kompendium des Baurechts, 3. Aufl.
2008, Rn 34.
[12] RITZ, P.; SIGRIST, V.; ALPIGER, K.: Auswirkungen der CENNormen auf Projektierung und Ausführung von Kunstbauten in der Schweiz. Forschungsauftrag Nr. 93/97 des Bundesamtes für Strassen, Okt. 1999, 42 S.
[13] LITZNER, H.-U.: Harmonisierung der technischen Regeln in
Europa – die Eurocodes für den konstruktiven Ingenieur-
bau. Betonkalender 2000. Berlin: Ernst & Sohn, 2000,
S. 55–81.
[14] LÜCHINGER, P.: Tragwerksanalyse und Bemessung. Schweizerischer Ingenieur- und Architektenverein, Dokumentation SIA D 0181, Zürich. April 2003.
[15] Deutsches Institut für Normung e. V.: DIN 1054 – Baugrund – Sicherheitsnachweise im Erd- und Grundbau – Ergänzende Regelungen zu DIN EN 1997-1. Berlin: Beuth
Verlag, Dezember 2010.
[16] Normungsausschuss Bauwesen (NABau) des Deutschen
Instituts für Normung e. V.: Leitfaden „Empfehlung für
Normungsarbeiten im Bauwesen“. Berlin 2008.
Autoren
Univ.-Prof. Dr.-Ing. Martin Ziegler
Geotechnik im Bauwesen, RWTH Aachen
Mies-van-der-Rohe-Straße 1, 52074 Aachen,
ziegler@geotechnik.rwth-aachen.de
Univ.-Prof. Dr. Viktor Sigrist
Technische Universität Hamburg-Harburg, Institut für Massivbau
21071 Hamburg, sigrist@tu-hamburg.de
Rechtsanwalt Georg-Friedger Drewsen
Friedensallee 271, 22763 Hamburg,
gfdrewsen@drewsen.de
Bautechnik 89 (2012), Heft 4
237
FACHTHEMA ARTICLE
M. Ziegler, V. Sigrist, G.-F. Drewsen: Guidelines for the development of structural design codes