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Georg Cavallar, Wien Die Denkungsart des Friedens. Ein vergessenes Erbe der Aufklärung Einleitung Mein Fokus sind nicht die Friedensprojekte der Aufklärung von William Penn bis zum frühen Fichte, nicht Kants politischer Kosmopolitismus, auch nicht sein berühmtes und viel diskutiertes Weltbürgerrecht. Siehe einführend neuerdings Madrid, Niria Sánchez (2014): “Kant’s Juridical Cosmopolitanism from the Standpoint of some Recent Global Justice Theories”, in: Studia Philosophica Kantiana 3, 2, 18-31.- Dieser Aufsatz setzt Überlegungen fort, die ich in Cavallar, Georg (2015): Kant's Embedded Cosmopolitanism: History, Philosophy and Education for World Citizens. Berlin und Boston, begonnen habe. Ich werde mich auch nicht mit der politischen Philosophie beschäftigen, etwa mit der schon seit Machiavelli und Montesquieu gestellten Frage, ob der Republikanismus zum Frieden führe. Stattdessen möchte ich ein vergessenes Thema aufgreifen, das im Zeitalter der Aufklärung wenigstens in Ansätzen bearbeitet wurde: die Denkungsart. Ich werde der Rolle der Denkungsart bei manchen Philosophen des Zeitalters der Aufklärung nachgehen, etwa bei Smith, Rousseau und vor allem bei Kant, der meiner Meinung nach dieses Thema am klarsten formulierte und diskutierte. Ich beginne mit Aspekten des Denkens der Aufklärung, die der Konzeption einer erweiterten Denkungsart förderlich waren, unterscheide zwischen unreflektierter und reflektierter Aufklärung, die „Aufklärung über die Aufklärung“ betreibt und zwischen einem systematischen Denken und dem herkömmlichen Systemdenken. Die erweiterte Denkungsart des Friedens kontrastiere ich mit ihrem Gegenstück, der eingeschränkten Denkungsart. Die erweiterte Denkungsart ist bei Kant der epistemologische oder kognitive Kosmopolitismus des so genannten Weltbürgers, der versucht, den „Egoismus der Vernunft“ zu transzendieren und die Perspektive von Adam Smiths „Impartial Spectator“ einzunehmen. Im letzten Abschnitt nenne ich mögliche Beispiele aus dem 18. Jahrhundert für diese Denkungsart, aus dem Bereich des Streits der christlichen Konfessionen, der ethnozentrischen Vorurteile und dem Gebiet der Metaphysik. Ich schließe mit einigen Bemerkungen zur eingeschränkten Denkungsart des Unfriedens. Eine erste Annäherung an das Thema bietet Rousseau. Im Zuge seiner Reflexion über die Eigenliebe im Émile schrieb Rousseau: “Große Männer täuschen sich nicht über ihre Überlegenheit. Sie sehen sie, sie fühlen sie und bleiben dennoch bescheiden. Je mehr sie haben, desto besser erkennen sie, was ihnen fehlt“. Rousseau, Jean-Jacques (1983): Emil oder Über die Erziehung, hrsg. Von Ludwig Schmidts, Paderborn et al., 251. Neben ihrer Bescheidenheit zeichnen sie sich durch ein hohes Maß an Reflexionswissen über ihren eigenen Charakter aus, vor allem über die eigenen Schwächen. „Hinsichtlich ihrer exklusiven Güter sind sie zu vernünftig, um auf Geschenke stolz zu sein, die sie sich nicht selbst gemacht haben. Ein guter Mensch kann auf seine Tugend stolz sein, weil sie ihm gehört. Aber worauf kann sich ein Mann von Geist etwas einbilden?” Ibid. Im Original: „L’homme de bien peu! être fier de sa vertu, parce qu’elle est à lui ; mais de quoi l’homme d’esprit est-il fier?“, Rousseau, Jean-Jacques (1968): Œuvres complètes, Bd. 4, Paris, 427. Der Intellektuelle, der “l’homme d’esprit” wie es im Original heißt, hat keinen Grund zur Arroganz, denn seine Talente sind Naturanlagen und nicht etwas, das er sich selbst erworben hat. Der tugendhafte Mensch verdient unsere Bewunderung und Respekt, denn diese Tugend ist das Ergebnis eigener Anstrengungen. Hier ist das angedeutet, was Kant als “erweiterte Denkungsart” bezeichnet hat, nämlich die Bereitschaft, die eigene eingeschränkte oder bornierte Denkungsweise, die wohl meist auf Eigenliebe zurückgeführt werden kann, zu transzendieren und sich „über die subjektiven Privatbedingungen des Urteils“ hinwegzusetzen. Die Werke Kants werden zitiert nach: Kant, Immanuel (1900ff.): Werke. Akademie-Textausgabe. Berlin, hier Bd. 5, 295. Rousseau distanzierte sich offenbar polemisch von manchen arroganten Intellektuellen der französischen Aufklärung, die sich auf ihren Esprit etwas einbildeten statt darüber zu reflektieren, was sie sich selbst zuschreiben konnten und was nicht. Diese Reflexion könnte zu Bescheidenheit, zu einer erweiterten Denkungsart, zu mehr Hochachtung gegenüber nicht-Intellektuellen führen, die zwar keinen Esprit, aber vielleicht gesunden Hausverstand und Tugend vorweisen können. Rousseaus Passage zeigt auch, dass diese Denkungsart auf einer moralischen Gesinnung basiert, die es dem Individuum ermöglicht, auch und vor allem die eigenen Vorurteile, liebgewonnenen Annahmen, Verzerrungen und Selbstbilder kritisch zu reflektieren. Eine Umwandlung der Denkungsart hat Kant mehrfach beschrieben, etwa mit der Kopernikanischen Wende in der ersten Kritik oder in der Moralphilosophie mit dem Bild des Menschen, der in sich selbst eine moralische Revolution beginnt. Siehe etwa Knapp, Tilo (2008): Die Kopernikanische Wende: Kants Neubegründung der Metaphysik in der reinen Vernunft. Berlin. In einer unveröffentlichten Reflexion hat Kant auch angedeutet, welche Bedeutung diese Umwandlung der Denkungsart in einer bestimmten Phase seines eigenen Lebens hatte. Zunächst war er offenbar der überhebliche Intellektuelle, der „den Pöbel“ verachtete, weil dieser „von nichts weiß“. Dann bewirkte die Lektüre Rousseaus – vielleicht genau die Stelle, die ich vorhin zitiert habe – ein „Umdenken“. „Rousseau hat mich zurecht gebracht. Dieser verblendende Vorzug verschwindet, ich lerne die Menschen ehren.“ Kant, Immanuel (1900ff.): Werke, Bd. 20, 44. Auffallend ist, dass Kant in den Druckschriften immer wieder beteuert, dass die Denkungsart mit der Qualität, nicht mit der Quantität der Erkenntnis zu tun hat. Auch Menschen mit einem „kleinen“ Umfang an Erkenntnis können über diese erweiterte Denkungsart verfügen. Kant, Immanuel (1900ff.): Werke, Bd. 5, 295. Pointiert formuliert: Menschen ohne Hochschulabschluss, aber mit gesundem Hausverstand und intakten moralischen Anlagen praktizieren vielleicht eher die erweiterte Denkungsart als UniversitätsprofessorInnen, die ein unglaubliches Fachwissen vorweisen, denen es aber an reflektierender Urteilskraft und moralischer Gesinnung mangelt. Aspekte des Denkens der Aufklärung, die der Konzeption einer erweiterten Denkungsart förderlich waren Im Alltagsgebrauch, aber auch in der wissenschaftlichen Literatur ist meistens recht pauschal von „der Aufklärung“ und von „den Aufklärern“ die Rede. Hier sind zunächst Differenzierungen angebracht. Die Diskussion kann sehr grob und schematisch folgendermaßen zusammengefasst werden. Die erste Gruppe vertritt die „Einheitsthese“, die besagt, dass bei aller Vielfalt die Einheit und Kohärenz der Aufklärung bewahrt werden kann. Als typischer Vertreter kann Ernst Cassirer gelten, der in seinem bahnbrechenden Werk „Die Philosophie der Aufklärung“ (1932) von einer einheitlichen „Denkform“, von einem „gemeinsamen Mittelpunkt“, einem „Wesensbegriff der Aufklärung“, von einem „Gesamtbild“ glaubte sprechen zu können. Vertreter der Einheitsthese sind gegenwärtig etwa Jonathan Israel oder Robert Louden. Cassirer, Ernst (2003): Die Philosophie der Aufklärung [1932]. Hamburg, 1-36, 113, 128, 32, 128, 143, 207, Israel, Jonathan (2001): Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650-1750. Oxford, Israel, Jonathan (2006): Enlightenment Contested. Philosophy, Modernity, and the Emancipation of Man 1670-1752. Oxford, Israel, Jonathan (2011): Democratic Enlightenment. Philosophy, Revolution, and Human Rights 1750-1790. Oxford, Louden, Robert B. (2007): The World We Want. How and Why the Ideals of the Enlightenment Still Elude Us. Oxford. Die zweite Gruppe behauptet, dass es aufgrund der Vielfalt der Erscheinungsformen der Aufklärung keine gemeinsame Grundideen gebe, es fehle also die Einheit in der Vielfalt. Vertreter wären G. J. A. Pocock oder James Schmidt. Pocock, G. J. A. (1999): Barbarism and Religion, 2 vols. New York, Schmidt, James (2003): Inventing the Enlightenment: Anti-Jacobins, British Hegelians, and the Oxford English Dictionary, in: Journal of the History of Ideas 64, 421-43. Eine vermittelnde Position nimmt in gewisser Weise Panajotis Kondylis ein, wenn er postuliert, dass es bei der Aufklärung nur Einheit hinsichtlich der gestellten Fragen gebe, nicht aber bei den versuchten Antworten, die sehr unterschiedlich ausfallen und daher von Polemik, „Vielfalt und Multidimensionalität“ gekennzeichnet seien. Kondylis, Panajotis (1981): Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Stuttgart, 20-1. An Einführungen siehe besonders Alt, Peter-André (2001): Aufklärung. Stuttgart, Hardtwig, Wolfgang (Hrsg) (2010): Die Aufklärung und ihre Weltwirkung. Göttingen, Hunter, Ian (2001): Rival Enlightenments. Civil and Metaphysical Philosophy in Early Modern Germany. Cambridge, Meyer, Annette (2010): Die Epoche der Aufklärung, Berlin und Schneiders, Werner (2001): Das Zeitalter der Aufklärung. München. Die Vielfältigkeit der europäischen Aufklärung im 18. Jahrhundert macht einfache Etikettierungen unmöglich. Ob sie einen gemeinsamen Nenner aufweist, sei hier dahingestellt. Die Beantwortung dieser komplexen, wiederum philosophischen (und vielleicht sogar metaphysischen) Frage ist für meine Überlegungen gar nicht erforderlich. Aus Gründen intellektueller Redlichkeit sollte man sich aber – erstens - vor bequemen Klischees hüten sowie davor, „caricatures of Enlightenment ideals“ entweder anzugreifen oder zu verteidigen. Louden, Robert (2007): World We Want, 7. Zweitens ist es sachlich angemessen, auf ein „inflated Enlightenment“ zu verzichten, wo die Aufklärung mit „all modernity, [and] with nearly everything subsumed under the name of Western civilization“ identifiziert wird. Darnton, Robert (2003): George Washington’s False Teeth: An Unconventional Guide to the Eighteenth Century. New York, 11, zitiert nach Louden, Robert (2007): World We Want, 9. Stattdessen plädiere ich hier für einen doppelten Begriff der Aufklärung. Erstens sollte sie als historische Epochenbezeichnung für die geistesgeschichtliche Reformbewegung zwischen 1650 und 1800 in Europa und Nordamerika verwendet werden, zweitens als transkultureller Vollzug des Selberdenkens, als Tätigkeit und Prozess. Dieser doppelte Begriff ist ganz klar bei Kant formuliert, wenn er das 18. Jahrhundert nicht als „das“ Jahrhundert der Aufklärung bezeichnet, sondern von „einem Zeitalter der Aufklärung“ schreibt, also einem Jahrhundert, das in den Prozess eingetreten sei, sich selbst aufzuklären. Damit kann es offensichtlich auch andere Zeitalter neben dem 18. Jahrhundert geben, die diese Bezeichnung verdienen. Kant, Immanuel (1900ff.): Werke, Bd. 8, 40 und Schmidt, James (2011): ‘Misunderstanding the Question: “What is Enlightenment?”: Venturi, Habermas, and Foucault’, History of European Ideas, 37, 1, 43-52, hier 45. Drittens kann zwischen einer gemäßigten und einer radikalen Aufklärung unterschieden werden. Der radikale Flügel wird von französischen atheistischen Materialisten wie Diderot, d’Holbach, La Mettrie oder Sade gebildet. Die Einteilung wird von Jonathan Israel vorgeschlagen; siehe Fußnote 8. Im folgenden Abschnitt werde ich versuchen, einige Aspekte des Denkens der Aufklärung, die der Konzeption der erweiterten Denkungsart förderlich waren, mit Hilfe von Denkern der Aufklärung und anhand ausgewählter Sekundärliteratur zu rekonstruieren. Vor allem die selbstreflexive Spätaufklärung im deutschen Sprachraum scheint – erstens - Aufklärung über die Aufklärung betrieben haben. Es ging nicht mehr nur um die Destruktion von Aberglauben und Vorurteil, sondern um die Aufhebung von Scheinwissen, ohne ein neues Scheinwissen an seine Stelle treten zu lassen. Aufklärung wurde von vielen als Kritik verstanden, vor allem aber als Selbstkritik, nämlich als kritische Prüfung der eigenen Vorurteile, Denkmuster und impliziten metaphysischen Annahmen. Die reflexive Aufklärung ist, wie Alex Hutter betont hat, eine „Aufklärung der Aufklärung“. Hutter, Axel (2009): „Kant und das Projekt einer Metaphysik der Aufklärung“, in: Klemme, Heiner (Hrsg.): Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung, Berlin, 68-81, hier 72. Siehe auch den ausgezeichneten Text von Recki, Birigt (2006): Kant und die Aufklärung, in: Die Vernunft, ihre Natur, ihr Gefühl und der Fortschritt. Aufsätze zu Immanuel Kant, Paderborn, 15-38. Die unreflektierte Aufklärung gab sich mit einer Beseitigung des falschen Wissens, des Vorurteils oder der Unwissenheit zufrieden und strebte lediglich nach einem Wissenszuwachs. Die reflexive Aufklärung hingegen machte eben dieses Wissen zum Problem; sie versuchte über das Wissen aufzuklären. Die Vernunft musste deshalb „das beschwerlichste aller ihrer Geschäfte, nämlich das der Selbsterkenntnis […] übernehmen“. Kant, Immanuel (1781): Kritik der reinen Vernunft, A XI, in: Werke, Bd. 4, 9. Die reflexive Aufklärung reagierte mithin auf eine Gefahr, die in jeder unreflektierten Aufklärung des bloßen Unwissens angelegt ist, nämlich auf die Gefahr, durch die bloße Anhäufung von Einzelkenntnissen, die sich in kein verantwortbares Wissen mehr integrieren lassen, eine neue Unmündigkeit zu befördern. Eine solche Unmündigkeit, die durch die blinde Wissensakkumulation einer unreflektierten Aufklärung überhaupt erst möglich wird, droht jedoch den eigentlichen Zweck der Aufklärung, die reflexive Dimension der Selbsterkenntnis, wieder zu vergessen oder aus den Augen zu verlieren. Hutter, Axel (2009): „Kant“, 72. Kant unterschied deshalb zwischen dem Wissen der Einzelwissenschaften und der Philosophie als Weisheitslehre. Ein mehr an Kenntnissen bedeutet nicht notwendig ein mehr an Aufklärung. Entscheidend ist die Qualität der Kenntnisse, die Fähigkeit, im Prozess des Selberdenkens von ihnen richtigen Gebrauch zu machen. Aufklärung wurde – zweitens - als reflexive Metaphysik der Aufklärung verstanden. Gemeinhin wird angenommen, dass die Aufklärung metaphysikkritisch gewesen sei. Das ist insofern zutreffend, als die überwiegende Zahl der Aufklärer den metaphysischen Systemen des 17. Jahrhunderts, vor allem offenbar dem Cartesianismus skeptisch bis ablehnend gegenüber gestanden ist. Der Akkumulation des Wissens speziell in den Naturwissenschaften stand eine Skepsis, in den Worten Kants eine „Gleichgültigkeit“ im Bereich der Metaphysik gegenüber. Siehe etwa Kondylis, Panajotis (1981): Aufklärung, 170-286, Langthaler, Rudolf (2014): Geschichte, Ethik und Religion im Anschluss an Kant. Philosophische Perspektiven ‚zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz‘. Berlin und Kant, Immanuel (1900ff.): Werke, Bd. 4, 8. Die reflexive Aufklärung erkannte zunächst selbst bei den schärfsten Metaphysikkritikern eine implizite, verborgene eigene Metaphysik. Vielleicht mit Blick auf die radikalen materialistischen und atheistischen Vertreter der Aufklärung, auf Diderot und d‘Holbach, formulierte Rousseau mit zynischem Sarkasmus: „Ich fand sie alle stolz, rechthaberisch, dogmatisch, selbst in ihrem vorgeblichen Skeptizismus. Sie wussten alles, bewiesen nichts und machten sich einer über den anderen lustig“. Rousseau, Jean-Jacques (1983): Emil oder Über die Erziehung, hrsg. von Ludwig Schmidts, Paderborn et al., 277. Ganz ähnlich argumentierte auch Kant, dass „Verächter der Metaphysik“ wie etwa Voltaire bei allem Witz, Humor und Esprit nicht verbergen können, dass auch sie selbst „ihre eigene Metaphysik“ haben. Kant, Immanuel (1900ff.): Werke, Bd. 29, 765, ibid. Bd. 4, 8 und 367. Wenn wir Metaphysik ähnlich wie das Atmen nicht vermeiden können, dann kommt es darauf an, welche Art von Metaphysik wir betreiben, und Aufklärer wie Rousseau oder Kant plädierten für eine kritische, selbstreflexive und praktische Metaphysik. Der Unterscheidung zwischen unreflektierter und reflektierter Aufklärung entspricht die Kantische Differenzierung zwischen den Kategorien des Verstandes und den Ideen der Vernunft. Aufklärung ist nicht nur Wissensakkumulation des Verstandes, sondern vor allem philosophische Aufklärung, nämlich Weisheitslehre als „die Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft“. Kant, Immanuel (1900ff.): Werke, Bd. 6, 434. Siehe auch die weiterführenden Überlegungen von La Rocca, Claudio (2009): “Aufgeklärte Vernunft – Gestern und Heute”, in: Klemme, Heiner (2009): Kant, 100-23. Sie bietet zwar nicht ein System der Erkenntnis wie die abendländische Tradition, aber immerhin eine systematische und kritische Reflexion über die Grenzen der theoretischen Verstandeserkenntnis und die Möglichkeit des Glaubens, die sich aus der Gewissheit unserer moralischen Bestimmung speist. Die unreflektierte Aufklärung „vergisst“ gleichermaßen auf die Dimension der Mündigkeit, des Selberdenkens, der eigenen Anstrengung und Bemühung, die dieses ungegenständliche metaphysische Reflexionswissen möglich macht. Sokrates stand auch aus diesem Grund bei vielen Vertretern der reflektierten Aufklärung in hohem Ansehen. Die Streitereien auf dem Schlachtfeld der dogmatischen Metaphysik führten den savoyischen Vikar bei Rousseau zum sokratischen Nichtwissen. Die unreflektierte und daher missverstandene Aufklärung, so der Vikar, führe zum Wunsch, alles „durchdringen“ und „kennen“ zu wollen. „Das einzige, was wir nicht wissen, ist unsere Unkenntnis von dem, was wir nicht wissen können.“ Rousseau, Jean-Jacques (1983): Emil, 277. Genau dieses Wissen um unsere eigene Unwissenheit, um deren Gründe, und die eigene Anstrengung auf dem Weg zu diesem reflexiven Wissen standen bei Rousseau im Mittelpunkt. Aufklärung kann deshalb – drittens - nur philosophische Aufklärung sein, da sie immer mit dem Mut zum Selberdenken zu tun hat, mit dem Mut, den Fallen aufzuspüren, in die das eigene Denken tappen kann. Aufklärung ist damit vor allem eines, nämlich anstrengend, weshalb auch Kant etwas zynisch anmerkte: „Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich ein Gewissen hat, einen Arzt, der für mich Diät beurteilt, und so weiter, so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen“. Kant, Immanuel (1900ff.): Werke, Bd 8, 35. Die bisherigen Ausführungen stellen nicht den Anspruch, das Wesen oder Grundcharakteristika der Aufklärung festgelegt zu haben. Ich habe mich nur bemüht, auf einzelne Aspekte zu verweisen, die im Zeitalter der Aufklärung offensichtlich von einigen Denkern entfaltet und für wichtig gehalten wurden und die Reflexion über die erweiterte Denkungsart vorbereitet haben. Die erweiterte, kosmopolitische Denkungsart Die Denkungsart oder Denkweise bezieht sich in der engen Definition auf das „Wie“ des Denkens. Sie unterscheidet sich von der moralischen Gesinnung, von Mentalität, Einstellung oder Haltung, auch wenn sie mit diesen Qualitäten eng verbunden sein wird und in der weiten Definition Kants tatsächlich mit diesen zusammen fällt. Die erweiterte Denkungsart kommt der Haltung der Weltoffenheit recht nahe, ist aber im Gegensatz zu letzterer vor allem eine kognitive Kompetenz oder Fähigkeit. Sie unterscheidet sich vom „globalen Denken“ dadurch, dass sie bei jedem Gegenstand oder Thema, auch wenn dieses keine globale Dimension haben sollte, zum Tragen kommt. Die erweiterte Denkungsart ist bei Kant der epistemologische oder kognitive Kosmopolitismus des so genannten Weltbürgers. Der Weltbürger versucht, den „Egoismus der Vernunft“ zu transzendieren, der in der mangelnden Bereitschaft besteht, seine eigenen Urteile mit Hilfe der Urteile anderer zu testen. Das normative Ideal besteht in den drei Maximen der allgemeinen Menschenvernunft: der vorurteilsfreien, der erweiterten und der konsequenten Denkungsart. Erstere bekämpft Vorurteil und Aberglaube und fällt als Bereitschaft, „jederzeit selbst zu denken“ mit der Aufklärung zusammen. Die konsequente Denkungsart besteht darin, sich an das Prinzip der Widerspruchsfreiheit zu halten und daher „mit sich einstimmig“ zu denken. Die erweiterte Denkungsart überwindet den logischen Egoismus. „Dem Egoismus kann nur der Pluralismus entgegengesetzt werden, d. i. die Denkungsart: sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten.“ Kant, Immanuel (1900ff.): Werke, Bd. 7, 130, Bd. 9, 80. Wer versucht, den eigenen logischen Egoismus zu überwinden, bemüht sich, Sachverhalte aus der Perspektive anderer zu sehen, deren Standpunkte einzunehmen und die eigenen Urteile mit jenen anderer zu vergleichen. WelltbürgerInnen in diesem Sinn versuchen, ihr eigenes Denken zu erweitern und im Urteilen ein möglichst hohes Maß an Konsistenz und Universalität zu erreichen. Im Idealfall wird eine kosmopolitische Perspektive erreicht, die die „subjektiven Privatbedingungen des Urteils“ transzendiert. Ein Mensch mit erweiterter Denkungsart reflektiert „aus einem allgemeinen Standpunkte (den er dadurch nur bestimmen kann, dass er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eigenes Urteil“. Kant, Immanuel (1900ff.): Werke, Bd. 5, 295; siehe auch ibid. Bd. 9, 57 und Bd. 19, 184-5. Ähnliche Reflexionen in einem moralphilosophischen Kontext fand Kant bei einem Autor, den er selbst sehr geschätzt hat, nämlich bei Adam Smith, der in seiner “The Theory of Moral Sentiments” (1759) formuliert: „We endeavour to examine our own conduct as we imagine any other fair and impartial spectator would examine it”. Smith, Adam (2002): The Theory of Moral Sentiments, hrsg. von Knud Haakonssen, Cambridge, III.1.2., 129. Siehe auch die Analysen bei Raphael, D. D. (2007): The Impartial Spectator. Adam Smith’s Moral Philosophy, Oxford und Ballestrem, Karl Graf (2001): Adam Smith. München. Die Fähigkeit sich in die Lage eines anderen zu versetzen basiert auf Vorstellungsvermögen (imagination) sowie der zentralen Sympathie, die nicht mit der Nächstenliebe zusammen fällt, sondern ein „Gefühl für Gefühle“ darstellt, „welches moralische Gefühle und Werturteile zu erklären erlaubt“. Ballestrem, Karl Graf (2001): Smith, 66. Weil wir die Fähigkeit besitzen, über andere zu urteilen, können wir auch über uns selbst urteilen, da wir wissen, dass auch andere dasselbe mit uns tun. “We suppose ourselves the spectators of our own behaviour, and endeavour to imagine what effect it would, in this light, produce upon us. This is the only looking-glass by which we can, in some measure, with the eyes of other people, scrutinize the propriety of our own conduct”. Smith, Adam (2002): Moral Sentiments, III.1.5, 131. Wir können die Perspektive des Zuschauers einnehmen, weil wir uns von uns selbst distanzieren können und selbst unsere eigene Parteilichkeit oder Voreingenommenheit „wie in einem Spiegel“ sehen können – indem wir sie etwa bei anderen feststellen. Diese Fähigkeit zur Selbstdistanzierung und diese Reflexionsfähigkeit sind die Basis dafür, dass wir lernen, nicht nur unsere eigene Perspektive, sondern auch die der anderen zu relativieren. Da auch die Perspektiven der anderen meist inhomogen sein werden, benötigen wir einen Maßstab, der diese beurteilt, und das ist das Gewissen, der „ideal man within the breast.“ Smith, Adam (2002): Moral Sentiments, I.3.3.26, 170, I.3.3.28, 171, I.3.4.4, 183 und öfters. Diese Instanz der Unparteilichkeit und der Wechselseitigkeit bzw. Reziprozität transzendiert den bloßen Perspektivismus der ersten Ebene. Selbst jemand, der ein Bein verloren habe, werde sich nach einer Zeit der Verzweiflung und Trauer mit seiner Situation abfinden und seinen Verlust allmählich nur noch als „inconveniency“ sehen, etwa mit der Überlegung, er hätte auch sein Leben verlieren können. „He soon identifies himself with the ideal man within the breast, he soon becomes himself the impartial spectator of his own situation“. Smith, Adam (2002): Moral Sentiments, I.3.3.29, 172.- Die theologische Dimension von Smiths Moralphilosophie blende ich hier aus (darüber einführend Ballestrem, Karl Graf (2001): Smith, 80-94). Der unparteiische oder faire Zuseher generiert verallgemeinerungsfähige Maximen und das Ergebnis sind moralische Urteile, die Intersubjektivität, vielleicht sogar Objektivität beanspruchen können. Smiths Überlegungen können aus ihrem ethischen Kontext gelöst und auf unsere Fähigkeit zur Reflexion über den eigenen Standpunkt auch in Fragen der Erkenntnis bezogen werden. Einem weit verbreiteten Klischee zufolge war „die Aufklärung“ einseitig rationalistisch und vertrat einen naiven Glauben an die Vernunft, ein Vorwurf, der wohl auf die Romantik zurückgeht. Siehe besonders Kondylis, Panajotis (1981): Aufklärung und Louden, Robert (2007): World We Want über Interpretationsklischees bezüglich der Aufklärung. Tatsächlich impliziert die Konzeption der erweiterten Denkungsart eine Theorie der endlichen, allgemeinen und unverzichtbaren Vernunft oder besser Vernunftfähigkeit des Menschen. Die Vernunft ist endlich, weil sie nicht in der Lage ist, ein umfassendes metaphysisches System zu entwerfen, das einer sachlichen Kritik standhält. Das gehörte, wie ich oben erwähnte, zu den Grundüberzeugungen der meisten Aufklärer, die deshalb, wie Cassirer formulierte, auch den „esprit systématique“ an die Stelle des „esprit de système“ – wohl typisch für die rationalistische Metaphysik des 17. Jahrhunderts und für Descartes - setzten. Cassirer, Ernst (2003): Die Philosophie, XI, 7, 101-2. Die Vernunft wird als fehlbar angesehen, weshalb sie auch auf Hilfe „von außen“, auf die Korrektur durch andere vernünftige Lebewesen, angewiesen ist. Sie steht unter dem Horizont der Wahrheit, die nicht gegeben, sondern aufgegeben ist. Die Vernunft ist aber auch allgemein, weil sie prinzipiell jedem Menschen zugesprochen wird, auch denen, mit denen ich nicht einer Meinung bin. Selbst in Extremfällen, nämlich bei psychischen Erkrankungen, gelte nach Kant: „Wir können einen Menschen nur durch den Rest seines eigenen gesunden Verstandes überzeugen. Spreche ich diesen ihm ab, so ist es töricht, mit ihm zu vernünfteln“. Kant, Immanuel (1900ff.): Werke, Bd. 16, 16 (Reflexion 1578). Die Vernunft ist schließlich unverzichtbar, weil wir sonst einer beliebigen Subjektivität verhaftet bleiben, und uns nur noch über Befindlichkeiten austauschen würden, die jeden Anspruch auf Wahrheit aufgegeben haben. Elemente dieser Theorie der endlichen, allgemeinen und unverzichtbaren Vernunftfähigkeit des Menschen fand Norbert Hinske neben Kant bei Vertretern der deutschen Aufklärung wie Christian Wolff, Georg Friedrich Meier, Johann Georg Heinrich Feder und Johann Heinrich Lambert. Hinske, Norbert (1980): Kant als Herausforderung an die Gegenwart. Freiburg und München, 31-66. Kant hat meiner Meinung nach die Konzeption der erweiterten Denkungsart am klarsten ausgearbeitet, weshalb ich mich hier auch meistens auf ihn beziehe. Die Kernstellen sind Kant, Immanuel (1900ff.): Werke, Bd. 5: 293-6, Bd, 7: 294-5, Bd. 6: 472-3. An Sekundärliteratur siehe vor allem Koch, Lutz (2003): Kants ethische Didaktik. Würzburg, 324-31, Wood, Allen (2008): Kantian Ethics. Cambridge, 17-20, Munzel, Felicitas (1999): Kant’s Conception of Moral Character. The ‘Critical’ Link of Morality, Anthropology, and reflective Judgment, Chicago and London, 57-9 und 223-36, Keienburg, Johannes (2011): Immanuel Kant und die Öffentlichkeit der Vernunft. Berlin und New York, 154-174 sowie Recki, Birigt (2006): ‚An der Stelle [je]des andern denken‘. Über das kommunikative Element der Vernunft, in: Die Vernunft, ihre Natur, ihr Gefühl und der Fortschritt. Aufsätze zu Immanuel Kant, Paderborn, 111-125. Die Denkungsart fällt an manchen Stellen der Schriften Kants mit dem intelligiblen „Charakter schlechthin“ zusammen. Kant, Immanuel (1900ff.): Werke, Bd. 7: 285; vgl. 294-5 und 291. Der Denkungsart liegt eine bestimmte Gesinnung - die „oberste Maxime“ einer Person, die in deren „Willkür“ aufgenommen wird, ein „Habitus“, eine Haltung Vgl. Kant, Immanuel (1900ff.): Werke, Bd. 6: 31 und 37, 5: 471. Zum Verhältnis von Denkungsart und Gesinnung siehe Gressis, Robert A. (2013): The Relationship Between the Gesinnung and the Denkungsart, in: Bacin et al., (Hrsg.), Kant und die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht, vol. 4, 403-12. - zugrunde. Denkungsart unterscheidet Kant von der Sinnesart, die sich auf Empirie bezieht oder auch vom Temperament oder der Naturanlage. Die Denkungsart hingegen beruht auf Prinzipien. Kant, Immanuel (1900ff.): Werke, Bd. 6: 479; vgl. 4: 423, 7: 277 und 295. In den Worten von Formosa ist die Gesinnung eine “highest-order maxim that defines the overall practical orientation“ of one’s character. Formosa, Paul (2012): From Discipline to Autonomy. Kant’s Theory of Moral Development, in: Roth, Klas und Chris Surprenant (Hrsg.) (2012): Kant and Education. Interpretations and Commentary. New York and London, 163-76, hier 173. Vorurteilsfreie, erweiterte und konsequente Denkungsart sind damit „Maximen“, nämlich jene des „gemeinen Menschenverstandes“. Kant (1900ff.): Werke, Bd. 5: 294. In diesem Sinne schreibt Kant deshalb auch von „moralischer“ oder „sittlicher“ Denkungsart, Vgl. Kant, Immanuel (1900ff.): Werke, Bd. 5: 446, 471, 472; Bd. 7: 68; Bd. 6: 45, 199 und 387. ihrer „Revolution“ oder „Umwandlung“, Ibid. Bd. 6: 47 und 48 ihrer „Mißbildung“ oder einer „unedlen Denkungsart“. Ibid. Bd. 7: 326, Bd. 6: 472. In manchen Passagen fällt aber „Denkungsart“ einfach mit „Denkweise“ zusammen, es wird also der kognitive Aspekt betont, etwa wenn Kant von einer Denkungsart schreibt, die „durch lange Gewohnheit zur Natur“ geworden sei. Ibid. Bd. 4: 262; siehe auch Bd. 3: 495, 446. Ich unterscheide deshalb zwischen der engeren Definition von Denkungsart, die nur eine kognitive Dimension beinhaltet, und der weiteren Definition, die zusätzlich eine moralische Dimension umfasst. Der oben erwähnte „Egoismus der Vernunft“ fällt mit dem „logischen Eigensinn“ zusammen, und dieser ist das Gegenstück des „Gemeinsinns“, des „gemeinen Menschenverstandes“ bzw. des „sensus communis logicus“. Ihn definiert Kant als Beurteilungsvermögen, „welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes anderen in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjektiven Privatbedingungen, welche leicht für objektiv gehalten werden könnten, auf das Urteil nachteiligen Einfluss haben würde“. Ibid. Bd. 5: 293. Um unser eigenes Denken und Urteilen zu prüfen, benötigen wir also einen „Probierstein“, der zwar die Wahrheit nicht garantiert, aber eine hinreichende Bedingung darstellt: der Verstand der anderen ermöglicht es uns, unsere „Privatvorstellungen“ der kritischen Prüfung zu unterwerfen und in diesem Prozess der Veröffentlichung eventuell zu berichtigen. Ibid., Bd. 7: 219. Siehe einführend den ausgezeichneten Aufsatz von Pasternack, Lawrence (2014): Kant’s Touchstone of Communication and the Public Use of Reason, in: Society and Politics 8, 78-91 und Recki, Birigt (2006): ‚An der Stelle [je]des andern denken‘, passim. Der bornierte oder beschränkte Kopf zeichnet sich nicht durch geringes oder gar kein Wissen aus, sondern die Qualität ist hier wichtiger als die Quantität: es kommt auf die „Beschaffenheit“ der Begriffe bzw. Grundsätze an. Selbst Gelehrte können diese beschränkte Denkungsart haben. Kant, Immanuel (1900ff.): Werke, Bd. 7: 205 und 210. Die apriorische Grundstruktur des menschlichen Verstandes begründet transzendentale Intersubjektivität zwischen den Menschen. Kants Vernunft ist nicht monologisch oder nur subjektzentriert, sie ist im Gegenteil auf andere vernunftbegabte Wesen angewiesen, auf Öffentlichkeit, freie Meinungsäußerung, Publizität, Gedankenaustausch, Pluralismus, Publikum und öffentliche Republik. Kommunikation ist bei der Wahrheitssuche nicht nur hilfreich, sie ist unverzichtbar. Im Gegensatz zur moralischen Sphäre, wo wir über den kategorischen Imperativ als (wenn auch vielleicht nur unkultiviertes) Kriterium der Beurteilung verfügen, gibt es bei theoretischen Urteilen keinen inneren Kompass, der uns garantiert, dass wir unsere Behauptungen selbst irrtumsfrei prüfen und in einem konkreten Fall zwischen Meinen, Wissen und Glauben, zwischen Überzeugung, Gewissheit und Überredung, zwischen subjektiven Privatbedingungen und objektiver Erkenntnis differenzieren können. Siehe hierzu ausführlich Keienburg, Johannes (2011): Kant, Pasternack, Lawrence (2014): Kant’s touchstone und Cavallar, Georg (2015): Cosmopolitanism, 133-146. Der subjektzentrierte Aspekt ist bei Kant allerdings auch vorhanden: Aufklärung, erweiterte Denkungsart und Wahrheitssuche sind nicht nur durch den politischen Despotismus gefährdet (weil Kommunikation und Öffentlichkeit untergraben oder überhaupt abgeschafft werden), auch die Selbstsucht, der logische Egoismus, der durch Arroganz, „Eigendünkel“ bzw. Überheblichkeit, Faulheit oder Feigheit verursacht werden kann, Siehe etwa Kant (1900ff.): Werke, Bd. 24: 874, Bd. 9: 80. kurz, eine korrumpierte Denkungsart gehören ebenfalls zu diesen Gefährdungen. Felicitas Munzel betont deshalb zu Recht, dass nur dort, wo die aufrichtige und gewissenhafte sokratische Selbstprüfung stattfinde, “where the inner freedom of integrity of the morally well-ordered conduct of thought, of the integrity of the honest and upright character, reigns, will the political, civil right of free speech be realized as a genuine freedom”. Munzel, G. Felicitas (2012): Kant’s Conception of Pedagogy. Toward Education for Freedom. Evanston, Illinois, 178. Siehe auch ibid., XVI, 83, 171-9 und 233 sowie Munzel (1999): Kant’s Conception of Moral Character, 175-81. Es wäre unsinnig – auch wenn das in der Diskussion immer wieder geschehen ist –, in der Kantinterpretation die subjektzentrierte gegen die öffentliche, intersubjektive Dimension auszuspielen und umgekehrt. Diese Art von binärem Denken sollte überwunden werden. Beispiele für erweiterte Denkungsart Es würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, eine umfassende Analyse der erweiterten Denkungsart im Zeitalter der Aufklärung anzuführen. Ich nenne hier nur kursorisch mögliche Beispiele, erstens aus dem Bereich des Religiösen, der Konfessionen und des Kirchenglaubens. Der Prinzipal der Universität von Edinburgh eröffnete Versammlungen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gerne mit dem Gebet: “Herr, weise zurück und unterdrücke den Geist des Zwangs und der Verfolgung, nicht nur bei Papisten, sondern bei Christen aller Bekenntnisse”. Zitiert in Ballestrem, Karl Graf (2001): Smith, 19. Diese Formulierung eines Gemäßigten richtete sich polemisch gegen die “high flighers” bzw. „Fundamentalisten“ in der schottischen Kirche. Sie kann aber auch als Beispiel für erweiterte Denkungsart gelesen werden, da anerkannt wurde, dass der “Geist des Zwangs und der Verfolgung“ prinzipiell bei allen Konfessionen möglich sei, nicht nur beim traditionellen Gegner, den Katholiken. Kant hoffte, dass die unterschiedlichen, historisch gewachsenen Formen des Kirchenglaubens sich allmählich selbst reformieren und der Idee einer reinen Vernunftreligion annähern würden, die das Wesen des Glaubens in der Kultivierung eines guten Willens, einer moralischen Lebensführung und der Beförderung des höchsten Gutes sieht. Kant, Immanuel (1900ff.): Werke, Bd. 6: 105f. und 178-85. Kant verabscheute “sectarian squabbles“ Wood, Allen (1970): Kant's Moral Religion. Ithaca and London, 197-8. und provozierte als Philosoph, der dem Protestantismus sicher näher stand als dem Katholizismus, seine überwiegend protestantische Leserschaft mit der Bemerkung, dass es “protestantische Katholiken“ in Europa gäbe, nämlich Menschen mit “einer sich erweiternden Denkungsart“ und noch viel mehr Beispiele von „erzkatholischen Protestanten“, die nämlich ihre eigene Konfession bzw. ihren Kirchenglauben für „allgemein verbindlich“ ausgeben und damit eine eingeschränkte Denkungsart an den Tag legten. Kant, Immanuel (1900ff.): Werke, Bd. 6: 109. Mit dieser Bemerkung dokumentierte Kant meiner Meinung nach seine eigene erweiterte Denkungsart, denn die unter vielen Aufklärern und Vertretern des Protestantismus im 18. Jahrhundert übliche Polemik gegen den Katholizismus wird hier unterlaufen und eine wohl plausible Differenzierung eingebracht. Kant qualifiziert übrigens auch hier sein Urteil, nämlich mit dem Klammerausdruck, dass die „erweiterte Denkungsart“ für die katholische Kirche als Institution nicht gelten könne – eine historisch wohl zutreffende Bemerkung. Zum Thema Katholizismus und Aufklärung siehe etwa Fischer, Norbert (Hrsg.) (2005): Kant und der Katholizismus. Stationen einer wechselhaften Geschichte. Herder, Lehner, Ulrich (2011): Enlightened monks. The German benedictines 1740-1803. Oxford. Kants Begeisterung für die Französische Revolution war schon zu seinen Lebzeiten bekannt. Er zögerte nicht, sich auch öffentlich zu republikanischen Prinzipien zu bekennen Siehe etwa Kuehn, Manfred (2001): Kant. A Biography. Cambridge, 14, 20, 340-3. und auch noch 1798 die Revolution im „Streit der Fakultäten“ zu verteidigen, wo er weniger die Revolution selbst und ihre verfassungsrechtliche Bedeutung als vielmehr die uneigennützige und moralische „Denkungsart der Zuschauer“ in ganz Europa in den ersten Monaten betonte. Kant, Immanuel (1900ff.): Werke, Bd. 7: 85. Allerdings vermied Kant eine einseitige, bornierte Denkungsart, denn die Schattenseiten dieser Revolution, nämlich der terreur unter Robespierre, werden nicht geleugnet, und als Zeiten „der öffentlichen und für gesetzmäßig erklärten Ungerechtigkeit“ gebrandmarkt. Ibid. Bd. 7: 259. Kant war damit bereit, den meist konservativen Kritikern der Revolution zuzugestehen, dass ihre Kritik in der Frage des faktischen Verlaufs der Revolution teilweise berechtigt war. Im Versuch der Verwirklichung dieser erweiterten Denkungsart können auch die eigenen ethnozentrischen Vorurteile abgelegt werden. Naturrechtsautoren wie Locke und Vattel entwickelten beispielsweise das so genannte „agricultural argument“ zugunsten europäischer Kolonisation, indem sie argumentierten, dass rechtmäßiger Besitz auf der intensive Nutzung von Boden basiere. Mit Hilfe dieser Theorie ließen sich die Besitzansprüche der nomadischen Ureinwohner Nordamerikas, der Native Americans oder first nations sowie der nicht-europäischen Einwohner anderer Kontinente ignorieren. Autoren wie Christian Wolff oder Denise Diderot kritisierten das Argument als illegitim – eine Kritik, die als Beispiel für kognitiven Kosmopolitismus bzw. die erweiterte Denkungsart gelesen werden kann. Siehe ausführlich Cavallar, Georg (2011): Imperfect cosmopolis: studies in the history of international legal theory and cosmopolitan ideas. Cardiff, 32-5. Kant selbst schloss sich Wolff und Diderot an, und zwar mit einem prinzipiellen rechtsphilosophischen Argument: die Sphäre äußerer Handlungsfreiheit ist bei allen Menschen zu respektieren, solange sie mit der gleichen Freiheit anderer vereinbar ist. Europäer dürfen in Nachbarschaft dieser Völker siedeln, „wenn es aber Hirten- oder Jagdvölker sind (wie die Hottentotten, Tungusen und die meisten amerikanischen Nationen), deren Unterhalt von großen öden Landstrecken abhängt, so würde dies nicht mit Gewalt, sondern nur durch Vertrag, und selbst dieser nicht mit Benutzung der Unwissenheit jener Einwohner in Ansehung der Abtretung solcher Ländereien, geschehen können“. Kant, Immanuel (1900ff.): Werke, Bd. 6: 353. Die erweiterte Denkungsart ist sensitiv was Kontexte betrifft – in diesem Fall berücksichtigt sie, dass nomadische Völker eine Lebensweise haben, die sie von kommerziellen Gesellschaften unterscheidet. Andererseits werden kontingente Aspekte ausgeblendet – etwa europäische Maßstäbe von Eigentum, Souveränität oder Staatlichkeit -, um universalen Prinzipien Priorität einzuräumen. In diesem Fall ist es das Recht auf Handlungsfreiheit, das Instrumentalisierungsverbot oder das Verbot von vorsätzlicher Täuschung. Im Falle der Metaphysik ist das Ergebnis die docta ignorantia, die gelehrte Unwissenheit und ein non liquet, „indem die Streitenden ihre Verblendung und Vorurteile, welche sie veruneinigt haben, einsehen lernen“. Vgl. Kant, Immanuel (1781): Kritik der reinen Vernunft, B 770 und B 775. Urteile werden auf den Bereich möglicher Erfahrung eingeschränkt. Die Vernunft wird kultiviert, indem sie Einsicht in ihre eigene Tragfähigkeit und Grenzen gewinnt. Im Falle der nomadischen Völker findet sie das tragfähige Rechtsprinzip wechselseitiger äußerer Freiheit, das den Streit der Gelehrten entscheidet. Diese Denkungsart muss nach Kant gelehrt und geübt werden. Ein naheliegendes Übungsfeld für Kant ist das Gebiet der Metaphysik, und er empfiehlt Lehrern, die Jugend „der frühen Kenntnis so gefährlicher Sätze“ der Gegner von Religion und Moralität auszusetzen. Ibid. B 782. Diese Jugendlichen könnten dann einsehen, dass das einzige tragfähige Argument gegen diese angeblichen „Freigeister“ – Menschen haben keine theoretische Erkenntnisse im Bereich jenseits der Erfahrung – in gleicher Weise auf ihre eigenen metaphysischen Thesen über Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zutrifft. Diese Denkbewegung selbst ist schon eine ausgezeichnete Übung in der erweiterten Denkungsart: indem wir uns in den Standpunkt anderer versetzen – in diesem Fall den der Freidenker, Atheisten oder Materialisten – trainieren wir unsere Fähigkeit zur erweiterten Denkungsart. Die sokratische Denkungsart, nämlich die Demut, unsere Unwissenheit in der spekulativen Metaphysik anzuerkennen, ist ein weiterer Nebeneffekt dieser Art des Lernens. Siehe ibid., B 780-797 und die Analyse in Munzel, Felicitas (2012): Kant’s Conception of Pedagogy, 238-61. Ohne Zweifel verdient der historische Kontext dieses Beispiels eine Erwähnung. Kants Perspektive ist die des aufgeklärten Theisten (oder vielleicht Christen), der den dogmatischen Materialismus und Atheismus ablehnt und seinen eigenen kritischen moralischen Theismus philosophisch begründen möchte; das wird besonders in den „Vorlesungen über die philosophische Religionslehre" deutlich. Vgl. Kant, Immanuel (1781): Kritik der reinen Vernunft, B XXXIV und Kant, Immanuel (1900ff.): Werke, Bd. 28: 1011-12; über den Atheismus ibid., 28: 1010, 1001, 1026. Diese Haltung könnte man als voreingenommen, borniert und parteiisch kritisieren. Mit dieser Kritik wird aber der entscheidende Punkt übersehen. Jede Position ist eingebettet in historische, kulturelle und andere Kontexte. Worauf es ankommt ist der prinzipiengeleitete Versuch, über die eigene Perspektive zu reflektieren und andere miteinzubeziehen. Im Falle Kants war der Ausgangspunkt eine philosophische Position, die vor allem von den metaphysischen Systemen Wolffs und Baumgartens beeinflusst war. Die erweiterte Denkungsart lag in der Einsicht, dass für alle Seiten „die bestimmten Grenzen“ der reinen theoretischen Vernunft gelten, „innerhalb denen alle unsere Erkenntnis von Gegenständen eingeschlossen ist“. Kant, Immanuel (1781): Kritik der reinen Vernunft, B 789. Das „erweiternde“ Element liegt hier im Grundsatz, die Grenzen der Vernunft, die für den ideologischen, philosophischen, religiösen oder einfach intellektuellen Gegner gelten, gleichermaßen für sich selbst als bindend anzuerkennen. Wenn es keine metaphysische Erkenntnis für den Atheisten geben kann, dann gilt das auch für den Theologen, gemäß der Maxime, mit sich einstimmig zu denken. Es wird also bewusst und reflektiert versucht, nicht den typischen Widerspruch zu praktizieren: ich bin skeptisch, wenn es um die Metaphysik der Gegenposition geht, aber dogmatisch bei meinen eigenen metaphysischen Behauptungen. Ich möchte noch eine Qualifizierung ergänzen. Es ist nicht auszuschließen, dass Kant selbst Beispiele für bornierte Denkungsart geboten hat. Zur Einführung siehe etwa Terra, Ricardo (2013): ‚Hat die kantische Vernunft eine Hautfarbe?‘, in: Bacin et al. (Hrsg.) (2013): Kant und die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht, Bd. 1, 431-47 oder die Diskussion um Kant und den Feminismus. Es wäre außerdem ein Zeichen eben dieser Denkungsart, wenn Kantianer „mit aller Gewalt“ versuchen würden, Kant hier in Schutz zu nehmen und mögliche Schattenseiten zu leugnen. Schließlich lässt sich sinnvoll zwischen Kants theoretischen Reflexionen über die erweiterte Denkungsart und dem, was er selbst praktiziert bzw. gelebt hat unterscheiden. Es sollte ihm meiner Meinung nach sein ehrliches Bemühen um eine erweiterte Denkungsart nicht abgesprochen werden. Mögliches Scheitern ist in der Konzeption des endlichen Verstandes gleichermaßen schon inbegriffen, der es nicht immer schafft, Urteile, die auf subjektiven Privatbedingungen basieren, als mangelhaft oder unzulässig zu entlarven. Die eingeschränkte Denkungsart des Unfriedens ist „engstirnig“ oder „borniert“, und kann sich mit einem dogmatischen, fundamentalistischen, binären oder polemischen Denken überschneiden, wenn es auch nicht notwendigerweise mit diesem zusammenfällt. Es lässt sich durch folgende Kennzeichen charakterisieren. Die eingeschränkte Denkungsart bewirkt eine mangelnde Bereitschaft, die Perspektive der anderen zu berücksichtigen. Daraus folgt oft eine dogmatische Grundhaltung: das eigene Weltbild wird unkritisch vorausgesetzt oder für unumstößlich gehalten und durch Immunisierungsstrategien gegen Hinterfragungen verteidigt. Die unvollständig ausgebildete oder überhaupt fehlende konsequente Denkungsart führt zu Widersprüchen und inkohärenten Überlegungen, die nicht gesehen oder einfach nicht problematisiert werden. Begleitphänomene der Denkungsart des Unfriedens sind oft die folgenden. Es häufen sich unzulässige Generalisierungen, das Denken ist undifferenziert und pauschal. An die Stelle sachlicher Diskussion tritt fallweise das argumentum ad hominem: die Philosophie der Andersdenkenden wird durch Angriffe auf deren Persönlichkeit und ihre Charaktereigenschaften in Frage gestellt. Beliebt sind spätestens seit Nietzsche und Freud so genannte Psychologisierungen, nämlich die Neigung, jedes menschliche Verhalten und Denken mit pseudowissenschaftlichen Begriffen oder Hypothesen wie etwa Zivilisationshass oder Projektion zu „erklären“. Übersehen wird dabei meistens, dass diese psychologischen Deutungen keine Erkenntnis bedeuten, sondern bloße Vermutungen sind, deren faktische Grundlage höchst fragwürdig bleiben muss. Ein anderes häufiges Begleitphänomen ist die Emotionalisierung der Diskussion. Beispiele für die eingeschränkte Denkungsart sind unschwer zu finden. Sie reichen von religiösen Fundamentalismen über Nationalwahn, Chauvinismus, totalitärem Denken im Nationalsozialismus und Stalinismus bis zur dogmatischen und naiven Wissenschaftsgläubigkeit. Auch das Zeitalter der Aufklärung war von dieser Denkungsart nicht frei, nach 1800 scheint sie sich aber verstärkt zu haben, in Zeiten des deutschen Idealismus und des beginnenden Nationalismus. Johann Gottlieb Fichte etwa unterstellte dem Schriftsteller und Verleger Friedrich Nicolai „[t]otale und radikale Verkehrtheit […], mit welcher auch nicht ein richtiger Gedanken verbunden ist“. Von dieser Diagnose, die dem Andersdenkenden nicht einmal ein Mindestmaß an Vernünftigkeit zuspricht, ist es oft nur ein kleiner Schritt zur Nicht-Achtung des anderen als moralisches Subjekt oder Rechtssubjekt. „Es ist zu beklagen, dass Nicolai nicht unmittelbar darauf, als er diese Widerlegung zu Ende gebracht hatte, aufgehenkt worden, damit er im Bewußtsein dieses glorreichen Arguments seine spekulative Laufbahn beschlossen hätte“. Fichte, Johann Gottlieb, ‚Friedrich Nicolais Leben und sonderbare Meinungen‘ (1801), in: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, hrsg. Fritz Medicus, Darmstadt 1962, Bd. 3, 645-739, hier 693 und 703. Fichtes Denkungsart war ähnlich, wenn es um den entstehenden deutschen Nationalismus ging. Wenn ich es auch für fragwürdig halte, Fichte als Nationalisten abzustempeln, da er viele kosmopolitische Elemente auch in den berühmt-berüchtigten „Reden an die deutsche Nation“ (1808) bewahrt hat, so fällt auf, dass Fichte Napoleon mit dem „Erbfeind der Menschheit“, nämlich dem Teufel bzw. „dem Bösen überhaupt“ gleichsetzt. Siehe meine Analyse in Cavallar, Georg (2015): Cosmopolitanism, 151-3 und 158-9 sowie Münkler, Herfried (1999): „Wer sterben kann, wer will denn den zwingen“ – Fichte als Philosoph des Krieges, in: Kunisch, Johannes und Herfried Münkler (Hrsg.), Die Wiedergeburt des Krieges aus dem Geist der Revolution. Studien zum bellizistischen Diskurs des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, Berlin 1999, 241-59, die Zitate 243 und 244. In der Gegenwart sind Beispiele für die eingeschränkte Denkungsart wahrscheinlich jene Eltern in angeblich aufgeklärten modernen Gesellschaften, die Leben und Gesundheit ihrer eigenen Kinder riskieren, weil sie von der Nutzlosigkeit von Impfungen und einer Verschwörung der Pharmakonzerne überzeugt sind. Eine eingeschränkte Denkungsart dokumentieren jene islamischen Fundamentalisten, die zu wissen meinen, dass der Holocaust eine Erfindung von Juden, Freimaurern und US-Imperialisten sei und der „Islamische Staat“ des Jahres 2015 den authentischen Islam praktiziere. Eine ähnliche, wenn auch weniger gefährliche Denkungsart legen westliche Intellektuelle an den Tag, die den Koran für primitiv und lächerlich, „den“ Islam für rückständig und barbarisch sowie „den“ Westen für moralisch überlegen halten. Pankaj Mishra rief nach den Terroranschlägen auf die Redaktion des „Charlie Hebdo“ und auf einen jüdischen Supermarkt im Jänner 2015 zu einer neuen Aufklärung im globalen Maßstab auf. Mishra, Pankaj (2015): After the Paris attacks: It’s time for a new Enlightenment, The Guardian, 20. 1. 2015, Pankaj Mishra, http://www.theguardian.com/news/2015/jan/20/-sp-after-paris-its-time-for-new-enlightenment, abgerufen am 22. 1. 15. Aus den bisherigen Ausführungen lässt sich ableiten, wie diese Aufklärung verstanden werden sollte: als reflexive Aufklärung über Aufklärung, die nicht auf Selbstkritik vergisst und die Kritik der eigenen Vorurteile und Denkmuster ernst nimmt. Als Aufklärung, die auf die Position der Andersdenkenden eingeht, die erweiterte Denkungsart praktiziert und die eigene reflektierende Urteilskraft kultiviert. Als Aufklärung, die bereit ist, den Begriff der Aufklärung differenziert zu verwenden und die Gefahren sieht, der sich eine unreflektierte Aufklärung aussetzt, indem sie nämlich Gefahr läuft, mit der Absolutsetzung des instrumentellen Verstandes und der technologischen Rationalität jene Deformationen und Perversionen der Moderne zu fördern, die Horkheimer und Adorno in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ angeprangert haben. Als Aufklärung, die nicht nur Wissensakkumulation des Verstandes, sondern vor allem philosophische Aufklärung, nämlich Weisheitslehre ist, die über „die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft“ nachdenkt. 1