Materiale Textkulturen
Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 933
Herausgegeben von
Ludger Lieb
Wissenschaftlicher Beirat:
Jan Christian Gertz, Markus Hilgert, Hanna Liss, Bernd
Schneidmüller, Melanie Trede und Christian Witschel
Band 15
Friedrich-Emanuel Focken and Michael R. Ott - 9783110417944
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Metatexte
Erzählungen von schrifttragenden Artefakten in der
alttestamentlichen und mittelalterlichen Literatur
Herausgegeben von
Friedrich-Emanuel Focken und Michael R. Ott
Friedrich-Emanuel Focken and Michael R. Ott - 9783110417944
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ISBN 978-3-11-041793-7
e-ISBN (PDF) 978-3-11-041794-4
e-ISBN (EPUB) 978-3-11-042532-1
ISSN 2198-6932
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auf zwei steinerne Tafeln (1835), © Belvedere, Wien.
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Inhalt
Friedrich-Emanuel Focken, Michael R. Ott
Metatexte und schrifttragende Artefakte
Regina Toepfer
Zusammenfassung der Beiträge
1
11
Schrifttragende Artefakte aus der Bildungspraxis
im antiken Israel und seinem Kontext
Erhard Blum
Die altaramäischen Wandinschriften vom Tell Deir ʻAlla und ihr institutioneller
21
Kontext
David M. Carr
Writing That Dares Not Speak Its Name. Writing About Orality and Inscribed
53
Amulet Practice in Ancient Israelite Educational Texts
Daniel Stökl Ben Ezra
Bücherlesen im Jachad Qumrans. Himmlische Bücher zwischen Katechese,
75
kollektivem Studium und esoterischer Geheimschrift
Schrifttragende Artefakte im Alten Testament
Reinhard Müller
Vom verschrifteten Orakelspruch zum Prophetenbuch. Schriftliche Übermittlung
99
göttlicher Botschaften im Licht von Jes 8,1.16 und Jes 30,8
Konrad Schmid
Schrift und Schriftmetaphorik in der Prophetie des Jeremiabuchs
123
Friedrich-Emanuel Focken
Ezechiels Schriftrolle. Die Konzeption seiner Prophetie im Berufungsbericht
145
(Ez 1–3)
Jan Christian Gertz
Mose zerbricht die Tafeln des Bundes am Sinai – Literarhistorisch ausgereizt,
177
aber praxeologisch unterschätzt?
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VIII
Inhalt
Schrifttragende Artefakte in der mittelalterlichen Literatur
Andrew James Johnston
Schriftkommunikation im Beowulf
205
Robert Folger
Die Imagination der Materialität. Das Liebesgefängnis (Cárcel de amor 1492),
217
Metatextualität und soziale Praxis
Katharina Philipowski
Schrift in Fesseln. Die steinerne Rede der Persine in Thürings von Ringoltingen
Melusine (1456)
239
Kommunikation und Medialität
Ludger Lieb und Michael R. Ott
Schnittstellen. Mensch-Artefakt-Interaktion in deutschsprachigen Texten des
265
13. Jahrhunderts
Joachim Schaper
Anthropologie des Schreibens als Theologie des Schreibens. Ein
281
medienarchäologischer Gang durch das Buch Exodus
Metatextualität und Notation am Beispiel mittelalterlicher
Handschriften
Hanna Liss
Ein Pentateuch wie andere auch? Die Lese-Geheimnisse des Regensburg
299
Pentateuchs
Christina Lechtermann
Textherstellung in den Marienleben Philipps von Seitz, Walthers von Rheinau
335
und Wernhers des Schweizer
Vorstellung der Autorinnen und Autoren
Index
367
371
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Reinhard Müller
Vom verschrifteten Orakelspruch
zum Prophetenbuch
Schriftliche Übermittlung göttlicher Botschaften
im Licht von Jes 8,1.16 und Jes 30,8
Die Prophetie des Alten Testaments ist als Schriftprophetie überliefert. Das Wort
der alttestamentlichen Propheten liegt meist 1 in Gestalt von mehr oder weniger
umfangreichen Büchern vor, die einen großen Teil der alttestamentlichen Schriftensammlung ausmachen. Dieser Sachverhalt, der Bibellesern als Selbstverständlichkeit erscheinen mag, ist in hohem Maß erklärungsbedürftig; denn Prophetie
tritt zunächst als mündliche Rede in Erscheinung. Das zeigt schon der antike
griechische Begriff, der in seiner Grundbedeutung ein „Hervor-Sagen“ meint
(πρόφημι), was ursprünglich nicht – wie in heutiger Alltagssprache – auf die Vorhersage der Zukunft bezogen war, sondern auf die Artikulation göttlicher Botschaften durch Menschenmund.2
Im Alten Orient, in dessen Mitte die Ursprünge des Alten Testaments zu suchen
sind, begegnete Prophetie in ähnlicher Weise: Ein Prophet oder eine Prophetin
lässt sich hier als „eine Person“ definieren,
die 1. in einem kognitiven Erlebnis, einer Vision, einer Audition, einem Traum o. ä., der Offenbarung einer Gottheit oder mehrerer Gottheiten teilhaftig wird, und 2. sich durch die betreffende(n) Gottheit(en) beauftragt weiß, die Offenbarung in sprachlicher oder metasprachlicher Fassung zu übermitteln.3
Um die göttliche Botschaft an die menschlichen Adressaten weiterzugeben, bedienten sich Propheten und Prophetinnen in aller Regel der mündlichen Rede, selten
einer metasprachlichen Zeichenhandlung. Natürlich wissen wir von diesem Phänomen nur durch schriftliche Überlieferungen, wobei vor allem Briefe aus altbabylonischer Zeit sowie Sammlungen prophetischer Orakel aus der neuassyrischen Epoche zu nennen sind. Es ist aber in all diesen Fällen deutlich, dass die prophetische
Botschaft in keiner Weise der Verschriftlichung bedurfte, um wirksam zu sein; das
1 Daneben werden in etlichen alttestamentlichen Texten Propheten, teils auch Prophetinnen (s. u.
S. 105 FN 28) erwähnt oder es wird von ihnen erzählt, wobei auch mehrfach deren Botschaften
zitiert werden; dieses Phänomen ist jedoch von den Büchern, die nach Propheten benannt sind
und laut der Eröffnungsverse ausschließlich die von ihnen übermittelten Worte Jahwes enthalten
(Jes 1,1; Jer 1,1–3 etc.), zu unterscheiden.
2 Vgl. z. B. Pötscher 1979, 1183.
3 Weippert 2014, 88f.
© 2016 Reinhard Müller, publiziert von De Gruyter.
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100
Reinhard Müller
Medium der Schrift wurde stets von außen an die Prophetie herangetragen,4 etwa,
um den Spruch eines in einer Provinzstadt auftretenden Propheten dem König in
der Hauptstadt mitzuteilen oder um mit der Sammlung von heilvollen Orakeln, die
einst in kriegerischen Auseinandersetzungen an den König ergangen waren, dessen bleibende dynastische Legitimität zu beglaubigen.
From the point of view of the communication process, prophecy does not necessarily presuppose any literary activity at all. Every phase of the communication from the prophet to the
addressee is possible without scribal involvement, even though the use of scribal assistance
evidently facilitates the process and is urgently needed in some cases. However, the process
can never be purely literal unless all the persons involved are fully literate, which would rarely
have been the case in the ancient Near East.5
Die alttestamentlichen Prophetenbücher unterscheiden sich von all dem grundsätzlich. Zwar beanspruchen auch sie, Worte des Propheten zu enthalten, diese
Worte sind aber solcherart in die Form des Buches eingegangen, dass sie sich von
der Buchform nicht trennen lassen; das prophetische Wort ist mit dem Buch verschmolzen: „Vor dem Propheten steht das Buch. Wer zum Propheten will, ist zuerst
an das Buch gewiesen.“ 6 Die Ursprünge dieses Phänomens sind rätselhaft.7 Einer
verbreiteten Theorie zufolge war die Zurückweisung der prophetischen Botschaft
durch deren Adressaten ein entscheidender Faktor, der dazu führte, dass der Prophet selbst oder ihm nahestehende Kreise diese Botschaft das erste Mal aufzeichneten, um ihre Wahrheit festzuhalten und späteren Generationen nahezubringen.8
Freilich ist diese Theorie nicht unumstritten.9
Das Buch Jesaja zählt zu den prophetischen Büchern des Alten Testaments, die
ausdrücklich von der Schriftlichkeit der prophetischen Botschaft handeln.10 Zugleich ist das Jesajabuch durch die – im Alten Testament singuläre – Paradoxie
des sogenannten Verstockungsauftrags geprägt, die darin besteht, dass der Prophet
laut Jes 6 von Jahwe beauftragt wurde, seine Adressaten zum Unverständnis aufzurufen: „Geh und sprich zu diesem Volk: ‚Hört, ja hört, und seht es nicht ein, und
seht, ja seht, und versteht es nicht!‘“ (Jes 6,9) In diesen Worten scheint die Erfahrung verarbeitet zu sein, dass die Botschaft, die Jesaja im Namen Jahwes verkündet
hatte, auf Unverständnis und Ablehnung gestoßen war.11 Die schriftliche Gestalt
4 Vgl. van der Toorn 2000, 221 zur altbabylonischen Prophetie: „… the written report is just one
link in the chain of transmission; it is, in a sense, accidental to the whole process.“
5 Nissinen 2000, 241.
6 Steck 1996, 7.
7 Vgl. Jeremias 2013.
8 Vgl. Jeremias 2013, 100–103.
9 Vgl. Becker 2006, dagegen Jeremias 2013, 103ff. und wiederum die Replik von Kratz 2013.
10 Neben Jesaja sind das die Bücher Jeremia (v. a. in Jer 36; aber auch in Jer 29,1–3; 45,1; 51,59–
64), Ezechiel (in Ez 2,8–3,3) und Habakuk (in Hab 2,1–3).
11 Vgl. Müller 2012, 88–91.
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Vom verschrifteten Orakelspruch zum Prophetenbuch
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der jesajanischen Prophetie wird im Bereich des sog. Protojesaja (Jes 1–39) vor allem in drei Texten in den Blick genommen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zumindest teilweise den Ursprüngen des Jesajabuches nahe stehen (Jes 8,1.16; 30,8)12.
In ihnen wird der komplexe Vorgang der schriftlichen Übermittlung prophetischer
Worte facettenreich beleuchtet. Dabei zeigt sich, dass das Phänomen der schriftlichen Gestalt der jesajanischen Prophetie auf eigentümliche Weise mit der Paradoxie der darin enthaltenen göttlichen Botschaft verknüpft ist.
1 „Nimm dir eine große Tafel und schreibe darauf …“
(Jes 8,1): Verschriftlichung eines enigmatischen
Orakels
Zum ersten Mal ist im Jesajabuch in Jes 8,1 von der Niederschrift einer göttlichen
Botschaft die Rede; Jahwe selbst habe dazu den Auftrag erteilt:
[1] Und Jahwe sprach zu mir: „Nimm dir eine große Tafel (?)13 und schreibe darauf mit einem
Menschen-Griffel (?)14: ‚Für Schnell-(ist-)Beute-Eilend-(ist-)Plündergut‘.“ [2] ‹Da nahm ich›15
mir als zuverlässige Zeugen den Priester Urija und den Secharjahu ben Jeberechjahu.
12 Daneben sind drei weitere Texte zu nennen: In Jes 29,11f. wird die polemische Rede von 29,9f.,
die auf das (göttlich bewirkte) Unverständnis der Angeredeten bezogen ist, mit dem offenbar aus
8,16 entlehnten Motiv des versiegelten Buches illustriert. In Jes 29,18 wiederum wird 29,11f. im Rahmen einer Heilsverheißung ausgelegt und in 34,16 ist vom „Buch Jahwes“ die Rede, womit wahrscheinlich bereits das werdende Großjesajabuch im Blick ist, darüberhinaus möglicherweise zugleich eine Schriftensammlung, die „den Pentateuch und die Propheten in irgendeiner Urgestalt“
umfasste (Beuken 2010, 322). Diese Texte sind mit hoher Wahrscheinlichkeit Nachträge, die mit den
Anfängen des Jesajabuches nur noch indirekt zusammenhängen.
13 Das Nomen גליוןist von der Wurzel „ גלהentblößen, offenbaren“ gebildet (Gesenius 2013, 218);
„als Grundbedeutung ist … etwa ‚Entblößung‘ anzusetzen; das kann sich auf eine leere/freie
Schreibfläche, aber wohl auch auf die Durchsichtigkeit (eines Stoffes) beziehen“ (Krebernik/Becker
2009, 127) – so in Jes 3,23, dem einzigen weiteren Beleg. Die traditionell angenommene Bedeutung
„Tafel“ fußt 1. auf der Tatsache, dass es sich um einen Schriftträger handeln muss, 2. auf der Analogie zu Jes 30,8 und Hab 2,2, wo von der Niederschrift prophetischer Botschaften auf einer bzw.
mehreren Tafeln ([ )לוח]ותdie Rede ist, und 3. auf der Annahme, dass die Ereignisfolge von Jes 8,1–
4 mit der Aufstellung einer öffentlich sichtbaren Inschrift begann. Die Septuaginta spricht dagegen
von einem „Blatt“ von „neuem, großem“ Papyrus, was an eine Schriftrolle denken lässt und vielleicht andeuten soll, dass später auf diese Rolle weitere Worte hinzukamen. Krebernik und Becker
haben jüngst die traditionelle Deutung „Tafel“ infrage gestellt und denken im Blick auf 8,16 an eine
versiegelte Urkunde (2009, 127). Warum diese aber „groß“ sein soll, wird nicht deutlich. Vielmehr
lässt das Adjektiv „ גדולgroß“ auf die beabsichtigte Wirkung der Aufschrift schließen: Wenn der
Schriftträger groß ist, soll wohl auch die Aufschrift groß, d. h. weithin erkennbar und gut lesbar
sein (vgl. Hab 2,2, wo betont wird, dass die Tafelaufschrift „deutlich“ sein soll, „damit man sie
schnell lesen kann“), was wiederum zur klassischen Deutung von גליוןals „Tafel“ passt (vgl. dazu
auch die Hinweise bei Liss 2003, 190f. FN 3).
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[3] Und ich kam der Prophetin nahe, und sie wurde schwanger und gebar einen Sohn. Und
Jahwe sprach zu mir: „Nenne seinen Namen: ‚Schnell-(ist-)Beute-Eilend-(ist-)Plündergut‘.
[4] Denn bevor der Knabe zu rufen lernt ‚Mein Vater!‘ und ‚Meine Mutter!‘, wird man den
Reichtum von Damaskus und die Beute von Samaria vor den König von Assur tragen.“
(Jes 8,1–4)
Der Abschnitt enthält eine kleine Erzählung, einen sogenannten prophetischen
Selbstbericht.16 Der Ich-Erzähler ist derselbe wie in Jes 6; dort wurde die majestätisch-unheimliche Erscheinung des Königsgottes Jahwe geschildert, gipfelnd in
dem göttlichen Auftrag an den Ich-Erzähler, dieser solle dem Volk die paradoxen
14 חרט, hier traditionell als „Griffel“ wiedergegeben, ist nicht das sonst im Alten Testament für
ein Schreibwerkzeug gebrauchte Wort (vgl. עטin Jer 8,8; 17,1; Ps 45,2; Hi 19,24). Ex 32,4, der einzige
weitere alttestamentliche Beleg, hilft zum Verständnis kaum weiter (dort vielleicht Verschreibung
aus „ חריטBeutel“); die Verwendung der Wurzel חרטim Phönizischen, Syrischen und Mittelhebräischen lässt aber darauf schließen, dass ein חרטzum Einritzen oder Meißeln in eine harte Oberfläche gedient hat (siehe Gesenius 2013, 396; Hoftijzer/Jongeling 1995, 404 s. v. ḥrṭyt); das würde zur
Deutung von גליוןals (steinerne?) Tafel (s. o. S. 101 FN 13) passen. Schwieriger ist der offenbar
epexegetische Genitiv („ אנושGriffel) von Menschen“. Wenn mit der üblichen Deutung ein „unter
Menschen gebräuchlicher, d. h. gewöhnlicher“ Griffel gemeint ist, bleibt der Sinn des Ausdrucks
unklar; wenn es um die allgemeine Lesbarkeit der Schrift ginge (Gesenius 2013, 80: „in Vulgärschrift“; vgl. z. B. Liss 2003, 191 mit FN 4), wäre חרטstatt auf das Schreibwerkzeug auf die Schrift
zu beziehen (vgl. die Kritik dieser Deutung durch Wildberger 1972, 312). Nach wie vor erwägenswert
erscheint mir der auf Greßmann 1929, 239 FN 1 zurückgehende Vorschlag, נוּשׁ zu lesen (von ihm
als „hart“ übersetzt, besser aber mit Wildberger als „unheilvoll“ zu verstehen), vgl. den יום אנוש
„unheilvollen Tag“ in Jer 17,16 und den „ חרט חייםGriffel des Lebens“ in 1QM XII 3, auf den Wildberger hingewiesen hat; ein „Unheils-Griffel“ würde metonymisch auf den Charakter der aufgezeichneten Botschaft verweisen. Der Konsonantentext schließt dieses Verständnis nicht aus.
15 Die unvokalisierte Verbform lässt sich im Blick auf die Verbform zu Beginn von V. 3 am ehesten
als Narrativ lesen, der die in V. 1aα eröffnete narratio („ ויאמר יהוה אליund Jahwe sprach zu mir“)
fortsetzt, so bereits Vulgata, vgl. z. B. Wildberger 1972, 313; Barthel 1997, 186; die Endung -ā zeigt
dabei möglicherweise „eine gewisse Emphase des Ausdrucks“ an (Gesenius/Kautzsch 1909, § 49 e).
Die Masoreten vokalisieren die Form dagegen als Kohortativ הי „und ich will … als Zeugen
nehmen“, was die Gottesrede aus V. 1 fortsetzt und die Hinzuziehung von Zeugen auf den Willen
Jahwes zurückführt. Dass V. 2 damit auch als Teil des aufzuschreibenden Orakels aus V. 1bβ gedacht
ist (so Beuken 2003, 213; Schmid 2011, 99 mit FN 11), ist möglich, aber nicht zwingend: Die Form
lässt sich als indirekter Kohortativ (Joüon/Muraoka 2011, § 116 b) nach den Imperativen קח … וכתב
„nimm … und schreib!“ lesen, was eher dafür spricht, dass die masoretische Deutung von ואעידה
als „und ich will … als Zeugen nehmen“ als Fortsetzung der Gottesrede nach der Mitteilung des
aufzuschreibenden Spruches zu verstehen ist. In jedem Fall aber entbehrt die Vorstellung, dass
Jahwe selbst sich die genannten Personen als Zeugen nimmt, nicht einer gewissen Künstlichkeit;
vom Konsonantentext her drängt sie sich nicht auf. 1QJesa bietet dagegen den Imperativ „ והעדund
nimm … als Zeugen“, was ebenfalls die Gottesrede aus V. 1 fortsetzt; diese Lesart ist auch in Septuaginta, Targum und Peschitta vorausgesetzt. Der masoretische Konsonantentext ist aber bereits
durch 4QJese bezeugt.
16 Das Stichwort „Bericht“ ist nicht unproblematisch, da es in hohem Maß Authentizität des Erwähnten suggeriert; was hier erzählt wird, muss im Kern nicht unhistorisch sein, es ist aber zu
beachten, dass „der Bericht“ beträchtliche deutende Elemente enthält, die vom berichteten Sachverhalt zu unterscheiden sind.
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Vom verschrifteten Orakelspruch zum Prophetenbuch
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Worte „Hört, ja hört, und seht es nicht ein, und seht, ja seht, und versteht es nicht!“
(Jes 6,9) übermitteln. Laut der Buchüberschrift in Jes 1,1 ist der Ich-Erzähler von
Jes 6 und 8 mit Jesaja ben Amoz zu identifizieren, der zur Zeit der judäischen Könige Ussija, Jotam, Ahas und Hiskija all das, was im Jesajabuch mitgeteilt wird, als
„Schauung … über Juda und Jerusalem schaute“.
Die kurze Erzählung in Jes 8,1–4 beginnt mit dem göttlichen Befehl, Jesaja solle
die Worte „ למהר שלל חש בזFür Schnell-(ist-)Beute-Eilend-(ist-)Plündergut“ niederschreiben (V. 1). Jesaja nimmt sich17 zwei namentlich genannte Zeugen (V. 2).
Anschließend ist die Rede von Jesajas Verbindung mit „der Prophetin“, was in deren Schwangerschaft und die Geburt eines Sohnes mündet (V. 3a). Nun ergeht ein
zweites Gotteswort an Jesaja: Er soll seinen Sohn „Schnell-(ist-)Beute-Eilend(ist-)Plündergut“ nennen (V. 3b); Jahwe erklärt den zeichenhaften Namen mit der
Plünderung von Damaskus und Samaria durch den „König von Assur“, die in näherer Zukunft bevorsteht (V. 4).
Die Ich-Erzählung blickt auf diese Ereignisse zurück, was einen zeitlichen Abstand voraussetzt; wie groß dieser Abstand ist, lassen die Verse nicht erkennen.
Deutlich ist jedoch, dass Jes 8,1–4 eine resultative Perspektive einnimmt: Die Ereignisfolge wird vom Ende her betrachtet; die erzählten Ereignisse stehen im Licht
der göttlichen Ankündigung des Untergangs von Damaskus und Samaria (V. 4),
auf die der Text ebenfalls zurückblickt. Dabei fällt auf, dass der kurze Text einen
beträchtlichen Zeitabschnitt in den Blick nimmt: Was hier erzählt wird, umfasst
mindestens neun Monate. Dieser Zeitraum ist in wenige Worte zusammengedrängt;18 in Jes 8,1–4 wird über diese Zeit offenbar nur das Nötigste mitgeteilt.
Die Knappheit der Erzählung bringt nicht unerhebliche Leerstellen mit sich:
Einige Einzelheiten in Jes 8,1–4 sind ausgesprochen rätselhaft, was durch philologische Detailprobleme noch vertieft wird.19 Lesern, die den erwähnten Ereignissen
nahe standen, vielleicht sogar den Verfasser kannten, mag der Text klarer gewesen
sein; er scheint aber bald an Klarheit verloren zu haben, was sich in manchen
Divergenzen in der antiken Textüberlieferung andeutet.
Erklärungsbedürftig ist etwa die Rolle der Zeugen: Was genau sollten sie bezeugen? Man wird am ehesten an den Vorgang der Niederschrift denken, auch
wenn der Text das nicht ausdrücklich sagt: Der Satz „‹Da nahm ich› 20 mir als zuverlässige Zeugen den Priester Urija und den Secharjahu ben Jeberechjahu“ soll
wohl bedeuten: „Da tat ich, was Jahwe mir befohlen hatte, im Beisein zuverlässiger
17 S. o. S. 102 FN 15.
18 In hebräischen Erzählungen ist das kein unübliches Phänomen; gerade der Zeitraum zwischen
Schwangerschaft und Geburt ist für die hebräischen Erzähler normalerweise uninteressant, und die
Wendung „ ותהר ותלדund sie wurde schwanger und gebar“ ist eine Standardformel hebräischer
Erzählungen, vgl. Gen 4,1.17; 21,2 etc.
19 S. o. S. 101f. FN 13, 14 und 15.
20 S. o. S. 102 FN 15.
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Zeugen“. Eine gewisse Analogie bietet der andernorts erwähnte Rechtsakt, bei dem
ein Kaufbrief unter den Augen von Zeugen geschrieben, versiegelt und übergeben
wird (Jer 32,10–12).21 Während freilich bei diesem Rechtsakt die Zeugen vor allem
die Details des Kaufes beglaubigen, die auch im Schriftstück festgehalten sind,
kann es in Jes 8,2 nicht primär um den Inhalt des Niedergeschriebenen gehen;
denn der aufgezeichnete Text ist ja offenbar als sichtbar und lesbar gedacht. Stattdessen scheint die Zeugenschaft der Person des Schreibers und dem Zeitpunkt der
Niederschrift gegolten zu haben; letzterer lag offenbar weit vor den Ereignissen,
auf die sich das in V. 1 mitgeteilte Orakel bezog.22
Fragen stellen sich auch im Blick auf die als Zeugen genannten Personen:23
Man gewinnt den Eindruck, dass „der Priester Urija“ und „Secharjahu ben Jeberechjahu“ den ursprünglichen Adressaten des Textes bekannt waren; möglicherweise soll freilich genau das den Lesern suggeriert werden. Ist es Zufall, dass im
Königebuch ein Priester namens Urija ( אוריה הכהןwie in Jes 8,224) genannt wird,
der unter dem judäischen König Ahas gewirkt haben soll (2Kön 16,10–16), und dass
laut 2Kön 18,2 die Mutter des Königs Hiskija die Tochter eines gewissen Secharja
war? Hier mögen literarische oder historische Zusammenhänge bestehen, ohne
dass sich die Frage abschließend beantworten lässt. In jedem Fall werden die beiden Zeugen durch ihre namentliche Nennung als Personen gezeichnet, die einer
gewissen Öffentlichkeit – vermutlich am Königshof oder in dessen Umfeld – vertraut gewesen sind.
Offen bleibt auch, auf welche Weise Jesaja den in V. 1 mitgeteilten göttlichen
Auftrag umgesetzt hat: Schon die materialen Details von Schriftträger und Schreibwerkzeug bleiben aus philologischen Gründen unklar. Wenn mit dem Schriftträger
()גליון, wie üblicherweise angenommen, eine „Tafel“ gemeint ist, drängt sich die
Frage auf, wo Jesaja diese aufgestellt oder angebracht hat. Gern denkt man an den
Bereich des Tempels, vielleicht dessen Eingang,25 was freilich spekulativ bleibt.
Damit verbunden ist die Frage nach den Adressaten der Aufschrift: Für wessen
Augen war die „große Tafel“ bestimmt? Im Blick auf V. 2 wird man sich wohl am
ehesten lesekundige Angehörige des Hofstaates als Adressaten vorstellen. Der Text
jedoch schweigt zu diesen Fragen; vorausgesetzt wird lediglich, dass die Tafelaufschrift lesbar war.
21 Die Namen der Zeugen werden dabei freilich im Kaufbrief genannt (vgl. Jer 32,12); schon das
unterscheidet Jes 8,1f. von dem genannten Rechtsakt.
22 Vgl. Wildberger 1972, 317.
23 Nach Becker 1997, 94 ist V. 2 ein „Zuwachs“, wofür sich freilich kaum triftige Gründe nennen
lassen. Nach Krebernik/Becker 2009, 128 sind dagegen nur die „ein wenig nachhinkenden“ Namen
in V. 2b nachgetragen, was sich immerhin nicht ausschließen lässt.
24 In Jes 8,2 LXX bleibt eigentümlicherweise das Priesteramt des Urija unerwähnt. Geschieht dies
im Blick auf das negative Image des Priesters Urija in 2Kön 16,10–16, das seiner Rolle als zuverlässigem Zeugen abträglich ist?
25 Wildberger 1972, 315.
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Vom verschrifteten Orakelspruch zum Prophetenbuch
105
Rätselraten hat auch die in V. 3 erwähnte „Prophetin“ ausgelöst; nirgends
sonst im Jesajabuch wird sie erwähnt: Wer war sie, welchen Charakter hatte ihre
prophetische Tätigkeit und in welcher Beziehung stand Jesaja zu ihr? Die übliche
Annahme, es habe sich um Jesajas Frau gehandelt,26 kann sich darauf berufen,
dass der Text eine eheliche Vertrautheit der beiden vorauszusetzen scheint.27 Die
Frau wird freilich gerade nicht als Jesajas Ehefrau eingeführt, sondern als „die
Prophetin“ ( ;)הנביאהder Begriff „ נביאהProphetin“ bezeichnet eine selbständige
prophetische Tätigkeit.28 Der Gedanke an die vor allem aus neuassyrischen Orakeln
bekannten Prophetinnen, die an Tempeln wirkten, lässt sich nicht abweisen.29 Freilich verliert der Text über die prophetische Wirksamkeit der Frau keine Silbe.30 Wie
bei den Zeugen in V. 2 erweckt die Darstellung lediglich den Eindruck, dass die
ursprünglichen Adressaten wussten, wer mit „der Prophetin“ gemeint war.
Die entscheidende Frage zu Jes 8,1–4 lautet indes: Wie verhält sich die Niederschrift der merkwürdigen Worte „ למהר שלל חש בזFür Schnell-(ist-)Beute-Eilend(ist-)Plündergut“, von der in V. 1 die Rede ist, zu den in V. 3f. erwähnten Ereignissen (Schwangerschaft der Prophetin, Geburt des Sohnes, zweites göttliches Orakel)? Der Zusammenhang scheint auf den ersten Blick nahe zu legen, dass die
Aufzeichnung der diktierten Worte den zeichenhaften Namen des später gezeugten
Kindes im Vorhinein öffentlich bekannt machen sollte. Es fällt jedoch auf, dass das
weder ausdrücklich gesagt noch auf irgendeine Weise angedeutet wird: Aus den
Worten „ למהר שלל חש בזFür Schnell-(ist-)Beute-Eilend-(ist-)Plündergut“ ist
kaum schon zu entnehmen, dass es sich um den zeichenhaften Namen für ein erst
noch zu zeugendes Kind handelt.31 Wer oder was mit „ מהר שלל חש בזSchnell-
26 So etwa Wildberger 1972, 317.
27 Der Gebrauch von קרבim Qal für sexuelle Annäherung ist allerdings offenbar nicht notwendig
auf ein bestehendes Eheverhältnis bezogen, vgl. Lev 18,6.14.19 und Ez 18,6 mit Gen 20,4 und Dtn
22,14.
28 Vgl. Ex 15,20; Ri 4,4; 2Kön 22,14; Neh 6,14. Wenn die fragliche Prophetin zugleich als Ehefrau
eines Mannes eingeführt werden soll, geschieht dies, nachdem die Berufsbezeichnung „ נביאהProphetin“ genannt wurde, wie Ri 4,4 und 2Kön 22,14 zeigen.
29 Vgl. Nissinen 2003, 100.
30 Die These, hinter V. 3f. stehe ein ursprünglich selbständiger Bericht über das Wort einer Prophetin, deren Name später getilgt worden sei (Knauf 2000, passim), hat keinen Anhalt im überlieferten
Text.
31 Vgl. Barthel 1997, 190: „Die Inschrift enthält noch nicht den Namen des Prophetensohnes, sondern eine Art Motto, das durch seine ungewöhnliche Form Aufmerksamkeit erregt.“ Es wirkt inkonsequent, wenn Barthel fortfährt: „Auch wenn die Deutung im literarischen Zusammenhang erst in
V. 4 folgt, kann der Sinn des Spruches weder für Jesaja noch für seine Adressaten rätselhaft gewesen sein. Man wird im Gegenteil voraussetzen dürfen, daß Jesaja seinen Zeitgenossen den Sinn der
Inschrift erläutert hat …“. Davon sagt der Text nichts. V. 4 deutet tatsächlich an, dass Jesaja den
zeichenhaften Namen seines Sohnes auf Nachfrage mit diesen Worten erläutert hat, der Text bietet
aber keinen Anhalt, dass dies auch auf V. 1 zu übertragen ist.
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Reinhard Müller
(ist-)Beute-Eilend-(ist-)Plündergut“ gemeint ist,32 bleibt in V. 1 völlig offen. Das gilt
auch im Blick auf den von Jahwe angeredeten Jesaja selbst: „… der Text lässt gerade nicht erkennen, dass sich Yeshaʽyahu zum Zeitpunkt der Niederschrift über die
Bedeutung des Ausdruckes im Klaren war.“ 33 Im Unterschied zu der zweiten göttlichen Botschaft, die in V. 3b.4 mitgeteilt wird, fehlt in V. 1 jegliche Erklärung des
rätselhaften Spruches; erst nach den retardierenden Momenten von V. 2 und V. 3a
erfahren die Leser, welchen Sinn der Spruch hatte.
Auch ist die Wortfolge „ מהר שלל חש בזSchnell-(ist-)Beute-Eilend-(ist-)Plündergut“ alles andere als selbsterklärend.34 Frappierend ist die von Siegfried Morenz
beobachtete Ähnlichkeit zu dem ägyptischen Ausdruck „Eile! Erbeute!“, der in
Kriegsberichten begegnet;35 seine formelhafte Prägung wird daran deutlich, dass
die eigentlich imperativische Wendung auch substantiviert verwendet werden
konnte („Seine Majestät erbeutete diese Stadt in einem Augenblick, all ihre Sachen
… als ‚Eile-Beute‘“ 36). Es lässt sich vermuten, dass der Spruch, den Jahwe dem
Jesaja diktiert hat, nicht unbeeinflusst von dem ägyptischen Ausdruck entstanden
ist.37 Zugleich fällt der synonyme Parallelismus auf („Schnell ist Beute // Eilend ist
Plündergut“), der dem Spruch im Unterschied zu der ägyptischen Parallele eine
poetische Qualität verleiht. Über den konkreten Sinn ist damit freilich noch nichts
gesagt. Die ägyptische Formel bezeichnet „eine mühelose, rasche Beute …, die zu
erlangen weder zeitraubend noch schwierig ist – ganz im Doppelsinne einer Eroberung ‚en passant‘“.38 Die Tafelaufschrift scheint auf eine vergleichbare militärische
Aktion bezogen zu sein. In welchem Zusammenhang diese Aktion steht, bleibt je-
32 Die einleitende Präposition „ לim Hinblick auf, für“ lässt sich zwar tatsächlich so lesen, dass
die Aufschrift einer im Folgenden benannten Person zugeeignet wird, vgl. Jenni 2000, 71 zum sog.
Lamed inscriptionis: „dieses hier vorhandene Ding/dieser hier folgende Text wird dem y zugeschrieben“. Auch unter dieser Voraussetzung bleibt aber offen, welchen Sinn diese Zuschreibung
hier haben soll.
33 Liss 2003, 193.
34 Das gilt auch für die Frage, wie der Konsonantentext zu lesen ist; die masoretische Vokalisierung, der hier gefolgt wird, dürfte die stimmigste Deutung bieten, auch wenn sie für das als Partizip
gelesene מהרeine Elision des anlautenden מannehmen muss (vgl. Gesenius/Kautzsch 1909, § 52
s). Die Forschung hat noch einige weitere abweichende Lesungen durchgespielt, von denen jedoch
keine überzeugen konnte, vgl. etwa die Hinweise bei Wildberger 1972, 312f.
35 Morenz 1949, 697f.
36 Zitiert nach Morenz 1949, 698.
37 So Morenz 1949, 698f.; Donner 1964, 19; Kratz 2011, 59. Kritisch dazu Schmid 2014, 435 FN 29,
u. a. im Blick auf die große zeitliche Entfernung zwischen den ägyptischen Belegen aus dem Neuen
Reich und Jes 8,1. Vgl. jedoch Morenz 1949, 698: „… wir besitzen … wenig genug von den Urkunden
der Äthiopenzeit, die in den Jahren des Jesaja geschrieben wurden und wiederum eine Epoche
vorwiegend militärischen Handelns spiegeln. Und wer möchte leugnen, daß die Aufzeichnungen
des ägyptischen Heldenkönigs Thutmosis III., sei es auf Wänden, sei es auf Denksteinen im Reichsheiligtum zu Karnak, nicht zu allen Zeiten der ägyptischen Geschichte gelesen und somit lebendig
erhalten worden sind?“
38 Morenz 1949, 698.
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Vom verschrifteten Orakelspruch zum Prophetenbuch
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doch offen. Dass hier der assyrische Straffeldzug gegen die abtrünnigen Vasallen
Damaskus und Samaria gemeint ist, drängt sich vom Wortlaut des מהר שלל חש
„ בזSchnell-(ist-)Beute-Eilend-(ist-)Plündergut“ her nicht notwendig auf. Für sich
genommen ließe sich der Ausdruck auch auf ganz andere militärische Konstellationen beziehen, etwa auf einen Beutezug durch den judäischen König oder auf eine
Plünderung, der das judäische Königreich zum Opfer fällt.39
Hinzu kommt, dass die Anfertigung einer öffentlich sichtbaren Tafelaufschrift
(V. 1) im Verhältnis zu den Ereignissen, die in V. 3 mitgeteilt werden, als selbständige Zeichenhandlung betrachtet werden kann.40 Das legt auch der Vergleich mit
einer Formparallele nahe, die in Ez 37,16 zu finden ist:41 Dort erhält der Prophet
den göttlichen Auftrag zu einer Zeichenhandlung, der mit den auffallend ähnlichen
Worten „ קח לך עץ אחד וכתוב עליוnimm dir ein einziges Holzstück und schreibe
darauf“ beginnt; auch diese Handlung (die im Ganzen komplexer ist als Jes 8,1) ist
für sich genommen erklärungsbedürftig (vgl. Ez 37,18). In diesem Fall freilich teilt
Jahwe dem Propheten sogleich mit, welchen Sinn die Handlung hat, und beauftragt ihn, diese Erklärung den Leuten zu verkünden, wenn er von ihnen gefragt
wird (Ez 37,19). In Jes 8 erscheint dagegen die in V. 1 avisierte Handlung durch die
Hinzuziehung der Zeugen als abgeschlossen, bevor Jahwe dem Propheten den Sinn
der Tafelaufschrift erklärt hat.
Der Spruch, den laut Jes 8,1 Jahwe dem Jesaja diktiert hat, bleibt zunächst
enigmatisch, da an dieser Stelle noch nicht gesagt wird, welchen Bezugsrahmen
er hat:
Hält man sich streng an den Text, so ist … damit zu rechnen, daß zum Zeitpunkt der Handlung
von V. 1 noch niemand, auch Jesaja nicht, der Sinn dieser Handlung offenbar war.42
39 Schmid 2014, 435f. schlägt dagegen vor, dass das rätselhafte Orakel von Jes 8,1 von Jes 10,6 her
abgeleitet wurde, wo im Kontext eines Wortes über Assur als göttliches Werkzeug des Gerichts an
Israel die sehr ähnlichen Wendungen „ לשלל שלל ולבז בזum Beute zu erbeuten und Raub zu
rauben“ begegnen: „Jes 8,1–4 verarbeitet Jes 10,6 unter der Maßgabe des Verstockungsauftrags“
(436). Wenn Jes 8,1 aber von einem Wort abgeleitet wurde, das gar nicht mit der Tafel verbunden
ist, wäre zu fragen, was ursprünglich auf der Tafel stand bzw. welchen Realitätsgehalt Jes 8,1 beanspruchen kann: Ist es vorstellbar, dass in der schriftlichen Mitteilung der Zeichenhandlung in
Jes 8,1 der Text der ursprünglichen Tafelaufschrift ausgetauscht wurde? Oder wurde die gesamte
Zeichenhandlung von Jes 8,1 nachträglich konstruiert? Beides ist natürlich nicht ausgeschlossen,
spräche aber gegen die Annahme, dass Jes 8,1–4 wie Jes 6* von Jesaja selbst niedergeschrieben
wurde (s. u. S. 115f. FN 78). Zudem wäre in diesem Modell die Nähe von Jes 8,1/10,6 zu dem ägyptischen Ausdruck schwerer zu erklären, wenn sie nicht auf einem Zufall beruhen sollte (vgl. oben
S. 106 FN 37). Die klassische Annahme, dass umgekehrt Jes 10,6 das ambivalente Orakel aus Jes 8,1
aufnimmt und vereindeutigend auslegt, erscheint mir als einfacher und wahrscheinlicher.
40 Vgl. Kratz 2011, 59.
41 In dieselbe Richtung deutet die Parallele, wenn Ez 37,16ff. von Jes 8,1 beeinflusst sein sollte (so
Becker 1997, 98): Unter dieser Voraussetzung würde Ez 37,16ff. indirekt bestätigen, dass Jes 8,1 als
selbständige Zeichenhandlung verstanden werden kann.
42 Steck 1982, 201.
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Reinhard Müller
Zu vergleichen ist eine prophetische Zeichenhandlung aus altbabylonischer Zeit,
die in einem Brief aus Mari erwähnt wird (ARM 26 206): Ein Hofbeamter berichtet
dem König, dass ein Prophet des Dagan vor dem Stadttor ein Lamm roh (wörtlich
„lebendig“) verschlungen habe; anschließend habe er in Gegenwart der Stadtältesten ausgerufen: „Ein Verschlingen wird stattfinden!“ 43 – eine eindrucksvolle Ankündigung drohenden Unheils, die offen lässt, welcher Art das Unheil sein wird.44
Nicht unähnlich mit Jes 8,1 ist auch der berühmte ambivalente Spruch, den der
Lyderkönig Krösus von den Orakeln in Delphi und Oropos erhalten haben soll:
Wenn er gegen die Perser ziehe, werde er ein großes Reich zerstören.45 Der genaue
Sinn von derlei Orakeln wird erst deutlich, nachdem mehr oder weniger viel Zeit
verstrichen ist und sich gezeigt hat, auf welche Ereigniskonstellation das Orakel
bezogen war.
Vor diesem Hintergrund könnte deutlich werden, welchen Zweck die Verschriftlichung der göttlichen Botschaft auf einer Tafel hatte:
Daß sie [sc. die Parole „Eilebeute-Raubebald“] schriftlich fixiert wird, hat dokumentarische,
vielleicht auch magische Bedeutung. Hier findet sich eine mögliche Erklärung …, warum und
auf welche Weise Prophetenworte schriftlich niedergelegt worden sind.46
Da der Text andeutet, die Tafelaufschrift sei gut sichtbar und lesbar gewesen, lässt
sich annehmen, dass die Tafel dazu diente, das Jahwewort einem größeren Adressatenkreis, der vor allem am Königshof zu suchen ist, bekannt zu machen. Zugleich
aber – und das ist entscheidend – nahm die Aufzeichnung das Orakel aus dem
Moment, in dem es ergangen war, heraus. Die Übermittlung der göttlichen Botschaft an ihre Adressaten wurde zeitlich zerdehnt, wobei ihr Wortlaut durch das
Medium der Tafelaufschrift fixiert blieb.47 Anders gesagt: Die Niederschrift auf der
Tafel ermöglichte, dass Jahwes Botschaft über eine längere Zeit unverändert „im
Raum stand“, bis sie die politische Konstellation fand, auf die sie von Seiten Jah-
43 Referiert nach Nissinen 2003, 38f.
44 Nach Nissinen 2003, 38f. mit Anm. f könnte eine Viehseuche oder eine größere Katastrophe
gemeint sein. Zusätzlich zu der zitierten Ankündigung gibt der Prophet Anweisungen, die wohl zur
Eindämmung des drohenden Unheils dienen: „Give orders to the cities to return the taboo material.
Whoever commits an act of violence shall be expelled from the city“ (38).
45 Herodot, Historien I, 53; zum Kontext vgl. Rosenberger 2001, 160–165.
46 Levin 2010, 44.
47 Vgl. Ehlich 1993, zum Phänomen der „zerdehnten Sprechsituation“, in der ein „Text … gespeichert“ wird, „um in eine zweite Sprechsituation hineintransportiert zu werden“ (32, Hervorhebung
im Original); dieses Phänomen ist nicht auf Schriftlichkeit beschränkt: Ein Text kann auch durch
einen Boten „gespeichert“ werden. Durch die Verschriftlichung kommen aber weitere Dimensionen
hinzu: Schrift „substituiert die akustischen Übertragungsmittel durch andere, nämlich visuelle, die
ihrerseits graphisch materialisiert werden. Die schriftlichen Übertragungsmittel sind nicht mehr
flüchtig …“. Zugleich wird „die Herauslösung des Texts aus der Sprechsituation zum greifbaren,
sichtbaren Ereignis. Damit verliert die Überlieferung ihre personale Vermittlung“ (38, Hervorhebung
im Original).
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Vom verschrifteten Orakelspruch zum Prophetenbuch
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wes von vornherein bezogen war. In dieser neuen Situation erging ein zweites Jahweorakel, das dem Jesaja den Sinn der Tafelaufschrift enthüllte.48 Die zeichenhafte
Benennung des mittlerweile geborenen Kindes diente dann offenbar dazu, denen,
die die Aufschrift gelesen hatten, den erst jetzt enthüllten Sinn des rätselhaften
Orakelspruchs bekannt zu machen.
Auf die politische Geschichte der Jesajazeit könnten diese Erwägungen folgendermaßen zu beziehen sein: Es ist wenig wahrscheinlich, dass der Versuch von
Damaskus und Samaria, Jerusalem zur Beteiligung am Aufstand gegen Assur zu
zwingen, der historisch im Hintergrund des Jahweorakels von V. 3b.4 steht, neun
Monate oder länger – der Zeitraum, der in V. 3a vorausgesetzt ist – gedauert hat.
Wenn diese Annahme zutrifft, muss die Tafelaufschrift von V. 1 deutlich vor dem
(angedrohten oder tatsächlich begonnenen) „syrisch-efraimitischen Krieg“ angefertigt worden sein;49 die Geburt des Kindes und das anschließende Jahweorakel
fielen dagegen offenbar in die Zeit der syrisch-efraimitischen Bedrohung Judas.
Freilich lassen sich diese Vermutungen wegen des literarischen Charakters von
Jes 8,1–4 – der Text hat mit einer Annalennotiz wenig gemein – kaum erhärten.
Entscheidend aber ist, dass mit dem Text von Jes 8,1–4, der irgendwann nach
den erwähnten Ereignissen aufgezeichnet worden sein muss, eine zweite Ebene
der Schriftlichkeit ins Spiel kommt. Mit ihr erhalten die einst durch Jesaja übermittelten Botschaften Jahwes eine vollkommen neue zeitliche Dimension: Die Tafel,
die von Jesaja beschriftet wurde, hat sich nicht erhalten; an ihre Stelle trat der
Selbstbericht von Jes 8,1–4, der Jesajas Zeit überdauert hat. Dass dieser Selbstbericht in manchen Zügen ähnlich enigmatisch ist wie die ursprüngliche Tafelaufschrift, ist vielleicht kein Zufall.
Wann und von wem Jes 8,1–4 niedergeschrieben wurde und in welchem literarischen Zusammenhang dieser Text ursprünglich stand, lässt sich hier nicht umfassend untersuchen. Es sei aber darauf hingewiesen, dass Jes 8,1 im vorliegenden
Jesajabuch mittelbar auf Jes 6 folgt, dem Kapitel über Jesajas Vision des thronenden Jahwe. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass dieser Zusammenhang von Anfang
an bestand; möglicherweise stand Jes 8,1 ursprünglich sogar unmittelbar hinter
Kap. 6. In jedem Fall ist Jes 8,1–4 im Licht des göttlichen Auftrags zu lesen, Jesaja
solle dem Volk eine unverständliche Botschaft übermitteln:
48 Dieses Orakel bedeutet für sich genommen nicht Unheil, sondern Heil für Juda, wie Kratz 2011,
59f. zu Recht betont hat: Wie immer man die literarische Darstellung von Jes 8,1–4 beurteilt, eröffnet Jes 8,4 den Rückblick auf eine Phase im prophetischen Wirken des Jesaja, in der dieser den
Untergang der Feinde Judas verkündete. Als schwer vorstellbar erscheint mir dagegen mittlerweile
Kratzʼ Annahme, in Jes 8,1–4 sei eine literarische Ebene zu greifen, die den Umschlag zur Unheilsprophetie im Licht von Jes 6,9 noch nicht kannte (ähnlich v. a. Becker 1997, 94–109; so noch Müller
2012, 23 mit FN 65), siehe die folgenden Überlegungen.
49 Vgl. Steck 1982, 202, der dies als Möglichkeit diskutiert, sowie Kratz 2011, 59.
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Reinhard Müller
Jes 6,9
Und er sprach:
„Geh und sprich zu diesem Volk:
‚Hört, ja hört, und seht es nicht ein,
und seht, ja seht, und versteht es nicht!‘“
Die Art und Weise, in der in Jes 8,1–4 der göttliche Befehl zur Anfertigung der
Tafelaufschrift und die darauf folgenden Ereignisse dargestellt werden, lässt diese
Ereignisse als Wirkung des göttlichen Auftrags in Jes 6,9 erscheinen: Laut Jes 8,1
erfuhren weder Jesaja noch die Zeugen noch die Adressaten der Aufschrift deren
Sinn.
Die Bedeutung des Zeichens bleibt in Jes 8,1–2 verborgen, und zwar nicht deswegen, weil wir
diese Bedeutung heute nicht mehr verstehen, sondern weil der Text sie selbst verbirgt.50
Wenn wir in V. 3f. weiterlesen, erfahren wir zwar, welchen Sinn die Aufschrift hatte; V. 3f. werden aber erst nach V. 1f. mitgeteilt, und diese Abfolge legt den Gedanken nahe, dass Jesajas „prophetisches Wirken nicht auf ein uneingeschränktes Verständnis bei seiner Umwelt stoßen konnte“ 51:
Jes 8,1–4 beschreibt … eine negative kommunikative Situation, insofern die Zeugen zwar an
einer Stelle in den Handlungsablauf integriert, gleichzeitig jedoch von einem weiterführenden
Verständnis des Geschehens ausgeschlossen sind … Das Unverständnis der Umwelt Yesha’yahus wird [somit] als konstitutives Moment des prophetischen Wirkens qualifiziert.52
Zugespitzt gesagt:
Offenkundig will Jes 8,1–4 nicht nur nicht den Eindruck verhindern, sondern regelrecht herstellen, dass Jesaja selbst nicht als Herr, sondern als Objekt im Geschehen gilt, der erst nach
bestimmter Zeit überhaupt begreifen kann, worum es geht. Das Bemerkenswerte ist …, dass
sich die nächste sachliche Parallele zu diesem Konzept im Jesajabuch … in Jes 6 findet. Auch
in Jes 6 wird der Prophet erst nach und nach der Gerichtsdimension seiner Vision gewahr und
Jes 6 zeigt deutlich, dass auch hier der Prophet nachgerade nur ein Instrument Gottes ist.53
Dass Jes 8,1–4 im Licht von Jes 6 zu lesen ist, deutet sich auch in der Fortsetzung
von 8,1–4 an. In V. 5–8 wird ein weiteres Jahweorakel zitiert, das davon spricht,
„dieses Volk“ habe „die ruhig fließenden Wasser des Siloah verworfen“, was in die
Ankündigung einer umfassenden Katastrophe für Juda mündet.54 Dieses Unheilswort lässt sich als Deutung von Jes 8,1–4 lesen, aus der hervorgeht, wie sich Jesajas
Auftrag von Jes 6,9 in seiner Verkündigung ausgewirkt hat: Trotz des für Juda heil-
50
51
52
53
54
Schmid 2014, 435.
Liss 2003, 193.
Liss 2003, 194.
Schmid 2014, 437 (Hervorhebungen im Original).
Vgl. dazu Hartenstein 2011, 8–23.
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Vom verschrifteten Orakelspruch zum Prophetenbuch
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vollen Orakels von 8,4 (das vom Gang der politischen Geschichte bestätigt wurde)55
hat „dieses Volk die ruhig fließenden Wasser des Siloah verworfen“ – eine Metapher, die wohl indirekt auf Jesajas politische Botschaft verweist. Dass Jesajas prophetisches Wirken das Volk tatsächlich zum Unverständnis geführt hat, was für
Juda katastrophale Folgen hatte, wird durch den Zusammenhang von Jes 8,1–4 und
8,5–8 endgültig deutlich gemacht:56
… deshalb ist in 8,1–4 alles zunächst auf die Öffentlichkeit und Beglaubigung des Zeichens
konzentriert (V. 1–2), da ja der Redegang bezüglich des Volkes vorliegt, sodann aber auf die
Bekräftigung der Rettungszusage durch den Zeicheneintritt abgehoben (V. 3–4), um auch hier
zu zeigen, wie sich selbst angesichts solcher Zeichen und Worte Jahwes, die Rettung in Aussicht stellen (8,1–4), das Volk verstockt gebärdet hat und so dem Gericht entsprechend Jes 6
verfallen bleibt (8,6–8a).57
Wer aber die drei Worte Jahwes liest, die in V. 1, V. 3b.4 und V. 5–8 aufgezeichnet sind,
wird durch den Text in die Lage versetzt, auf das Unverständnis des Volkes zurückzublicken und gegenüber der göttlichen Botschaft einen Standpunkt einzunehmen, der
jenseits der von Jesajas Verkündigung bewirkten Verständnislosigkeit liegt.
2 Die versiegelte Weisung (Jes 8,16):
Aufbewahrung und Weiterübermittlung
der prophetischen Botschaft
In Jes 8,16 ist die Rede von einer verschnürten und versiegelten Weisung, was das
Bild einer zusammengebundenen und mit einem Siegel versehenen Schriftrolle
55 Freilich nicht so, dass Damaskus und Samaria von den Assyrern auf gleiche Weise bestraft
wurden, wie hier suggeriert wird; das muss jedoch nicht dafür sprechen, dass Jes 8,4 vor dem
Ausgang der assyrischen Strafexpedition von 732 niedergeschrieben wurde (so besonders Kratz
2011, 59): Im Rückblick auf die hier mitgeteilten Ereignisse verschmilzt der Untergang von Samaria
(722) mit dem 732 erfolgten Untergang von Damaskus, was das Jahweorakel von V. 4 – wenn es
denn tatsächlich in dieser Form während der syrisch-efraimitischen Bedrohung Jerusalems erging
und von Jesaja verkündet wurde – als zutreffend bestätigt.
56 Das spricht gegen den namentlich von Becker 1997, 103–109 vertretenen und von ihm jüngst
erneuerten (Krebernik/Becker 2009, 131–133) Vorschlag, Jes 8,5–8 sei eine unheilsprophetische Fortschreibung zu dem heilsprophetischen Selbstbericht von 8,1–4 (so auch Kratz 2011, 60 sowie noch
Müller 2012, 23 mit FN 65); dieser Vorschlag scheitert nicht nur an der Literarkritik von Jes 6 (siehe
Müller 2012, 18–22), sondern auch daran, dass die Formulierung der Redeeinleitung in 8,5 (ויסף
„ יהוה דבר אלי עוד לאמרUnd Jahwe redete noch einmal zu mir und sprach“) kein zwingendes
Argument zu einer literarkritischen Scheidung darstellt; es ist genauso gut vorstellbar, dass auf
diese Weise eine weitere wörtliche Rede desselben Sprechers eingeführt wird, die vom Vortext deutlich abgesetzt werden soll (vgl. Gen 18,29; Ri 9,37): Das „Und Jahwe redete noch einmal“ impliziert,
dass die Rede von V. 5–8 deutlich später als die von V. 3b.4 erging. Vgl. zum Zusammenhang von
Jes 8,1–4 und 8,5–8 jüngst Schmid 2014, 439–441.
57 Steck 1982, 203.
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Reinhard Müller
evoziert;58 damit wird offenbar die Aufbewahrung und Weitergabe von Jesajas Botschaft in den Blick genommen. Danach redet Jesaja über sich selbst (8,17) und
seine Kinder (8,18), was wohl die Söhne und ihre zeichenhaften Namen (Jes 7,3;
8,3) meint:59
Jes 8,16 Verschnüre(n)60 das Bezeugte,
versiegle/eln die Weisung in/unter denen, die von mir belehrt sind!
17 Und ich will auf Jahwe harren, der sein Angesicht verbirgt vor dem Haus Jakobs,
und auf ihn hoffen.
18 Siehe ich und die Kinder, die Jahwe mir gegeben hat, sind zu Zeichen und Wahrzeichen in Israel geworden von Jahwe der Heerscharen her, der auf dem Berg Zion
wohnt.
Die Auslegung von V. 16, die hier im Mittelpunkt steht, bereitet erhebliche Schwierigkeiten: Der Vers ist eigentümlich ambivalent formuliert. Die verwendeten Verbformen ( צורund )חתוםlassen sich entweder als Imperative verstehen („verschnüre
… versiegle!“) oder als Infinitive („verschnüren … versiegeln“).61 Wenn es sich um
Befehlsformen handelt, ist als Sprecher offenbar Jahwe vorausgesetzt.62 Bei der
58 Wildberger 1972, 344f. verweist zwar darauf, dass die fraglichen Belege zu *צור/*( צררs. u. FN
60) das Einbinden loser Gegenstände (v. a. Geld) in einen Beutel meinen, weshalb mit Eißfeldt 1960,
26f. „in Jes 8 16 wohl nicht an das Verschnüren einer Leder- oder Papyrusrolle, sondern eines Beutels zu denken“ sei (Wildberger 1972, 345, Hervorhebungen im Original). Der implizite Zusammenhang von 8,16 mit 8,1f. lässt gleichwohl daran denken, dass sich die Versiegelung (real oder metaphorisch) auf ein Schriftstück bezieht, was durch die Analogie zur Versiegelung des von Zeugen
beglaubigten Kaufvertrags (Jer 32,10ff.) bestätigt wird.
59 Der Abschnitt wird gern als ursprünglicher Abschluss der sog. Denkschrift Jesajas verstanden,
die in Jes 6–8 enthalten und von Jesaja während des syrisch-efraimitischen Krieges abgefasst worden sei; die Hypothese der Denkschrift geht zurück auf Budde 1928, bes. 118–123. Zu Jes 8,16–18 als
Schluss der Denkschrift vgl. z. B. Barthel 1997, 229. Die mittlerweile stark umstrittene Hypothese
(vgl. etwa die Hinweise bei Krebernik/Becker 2009, 124) kann hier nicht beurteilt werden, da dies
eine umfassendere Untersuchung zu Jes 6–8 und den näheren Kontexten erfordern würde. Es sei
aber darauf hingewiesen, dass eine Niederschrift von Jes 6 bereits zur Zeit des syrisch-efraimitischen Krieges schwer vorstellbar ist, da hinter der schriftlichen Fassung von Jes 6 mit hoher Wahrscheinlichkeit Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit dem antiassyrischen Aufstand von
705–701 v. Chr. stehen, vgl. Müller 2012, bes. 85–94.
60 צורist entweder von * צררabzuleiten (Gesenius/Kautzsch 1909, § 67o; Gesenius 2013, 1140)
oder von der Nebenform *( צורGesenius 2013, 1110).
61 Im Konsonantentext lässt die plene-Schreibung im Ketib צור … חתוםeher den inf. abs. vermuten (siehe Duhm 1902, 59), während die Masoreten die Formen als Imperative vokalisieren. Eine
der Hauptverwendungsweisen des inf. abs. ist freilich der Imperativ (vgl. Joüon/Muraoka 2011, § 123
w), wodurch sich das Problem auf der Ebene des Ketib wiederholt: Auch wenn man gegen die
Masoreten annimmt, dass hier Infinitive gemeint sind, bleibt offen, wie diese syntaktisch zu verstehen sind.
62 Als Alternative wird mitunter vorgeschlagen, dass Jesaja der Sprecher der Imperative ist (Sweeney 1996, 175–181; erwogen von Williamson 1994, 97f.); dann müsste freilich בלמדיals „in meinem
Lehren/meiner Lehre“ verstanden werden, und es bliebe unklar, warum hier nicht die Anrede an
die 2. Ps. Pl. (V. 12f.) fortgesetzt wird.
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Lesung als Infinitive muss dagegen das Ich des Propheten als Subjekt hinzugedacht werden („verschnüren [will ich] … versiegeln [will ich]“).63 Letzteres scheint
der nähere Kontext zu erfordern, da in der Fortsetzung in V. 17f. der Prophet spricht
(„Und ich will auf Jahwe harren …“); auch steht vor V. 16 ein Abschnitt, in dem
sich der Prophet offenbar an einen Kreis von Vertrauten wendet (die sog. Jüngerlehre von V. 11–15).64
Die grammatische Frage hat erhebliche Konsequenzen für den Sinn des Satzes,
vor allem im Blick auf die abschließende Wendung „ בלמדיin/unter denen, die von
mir belehrt sind“ – traditionell als „in/unter meinen Jüngern“ interpretiert:65 Sind
die Jünger des Propheten gemeint (so bei der Deutung der Verbformen als Infinitive: „verschnüren … [und] versiegeln [will ich] die Weisung in/unter meinen Jüngern“), oder geht es um die Jünger Jahwes, der hier den Propheten mit einer bestimmten Weise der Weitergabe der prophetischen Botschaft betraut („verschnüre
… [und] versiegle die Weisung in/unter meinen Jüngern“)? Mit diesem komplizierten Problem verbindet sich eine weitere Frage, die das Motiv der verschnürten und
versiegelten Schriftrolle betrifft: Ist an eine reale Schriftrolle gedacht, die in Gegenwart der genannten Jünger verschnürt und versiegelt wird?66 Oder ist das Bild metaphorisch zu verstehen, d. h. in dem Sinn, dass die prophetische Botschaft in den
Jüngern versiegelt wird?67
Die genannten Fragen werden kontrovers diskutiert.68 Die häufig vertretene
Deutung des Verses als Rede des Propheten, der davon spricht, er wolle seine Botschaft in Gegenwart seiner Schüler versiegeln bzw. durch seine Schüler weitergeben, kann sich darauf berufen, dass der so gelesene Vers sich organisch in den
Kontext einzufügen scheint: Vorher hatte Jesaja einen Kreis von Vertrauten darüber
belehrt, wie man sich gegenüber „diesem Volk“ verhalten solle (8,11–15); nach der
Rede über die Versiegelung der Botschaft (8,16) spricht Jesaja von sich selbst und
seinen Kindern (8,17f.). Aus sprachlichen Gründen bleibt diese Deutung von V. 16
63 Vgl. zu diesem Gebrauch des Inf. abs. Joüon/Muraoka 2011, § 123 w, wo zwar diese Stelle nicht
genannt wird, dafür aber das instruktive Beispiel Jes 5,5 ()הסר … פרץ: Im Unterschied zu Jes 8,16
ist dort allerdings das in diesen Formen implizierte „Ich“ im unmittelbaren Vortext (V. 5a) explizit
genannt. Duhm 1902, 59, der V. 16 auf diese Weise versteht, nennt als Analogie indes Jer 7,9f.
64 Die in V. 12–15 angeredete Gruppe wird von „diesem Volk“ ( )העם הזהunterschieden (V. 12–15).
Auffällig ist allerdings, dass in V. 11 das Ganze als eine Rede Jahwes an den Propheten eingeleitet
wird („ כי כה אמר יהוה אלי כחזקת היד ויסרני מלכת בדרך העם הזהDenn so sprach Jahwe, als die
Hand [mich] ergriff und er mich davor warnte, auf dem Weg dieses Volkes zu gehen“); dadurch
verschmilzt in der folgenden Anrede an die 2. Ps. Pl. die Rede Jahwes an den Propheten (die den
Propheten und seine Vertrauten in den Blick nimmt) mit der Rede des Propheten an seine Vertrauten (vgl. die Rede über Jahwe in V. 13).
65 Vgl. Vulgata: „in discipulis meis“.
66 So etwa Barthel 1997, 233–236; Beuken 2003, 230f.
67 So etwa Wildberger 1972, 345 (der allerdings nicht an das Bild einer Schriftrolle, sondern eines
Beutels denkt, s. o. S. 112 FN 58); Schmid 2011, 104.
68 Vgl. einerseits z. B. Barthel 1997, 228ff., andererseits Becker 1997, 114–120.
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Reinhard Müller
aber schwierig: Dass die Verbformen ( צורund )חתוםdas prophetische Ich implizieren („verschnüren [will ich] … versiegeln [will ich]“), legt sich nur nahe, wenn man
auf die nachfolgende Verbform am Anfang von V. 17 („ וחכיתיund ich will harren“)
blickt, den Text an dieser Stelle also von hinten nach vorn liest.69 Im unmittelbaren
Vortext von V. 16 kommt das prophetische Ich nicht vor (zuletzt in V. 11).70 Die
Masoreten haben V. 16 imperativisch gedeutet, d. h. als Befehl Jahwes an den Propheten – eine Lesetradition, die schon vormasoretisch breit belegt ist:71 „Verschnüre das Bezeugte, versiegle die Weisung …!“ So gelesen hebt sich der Vers zwar
von seiner unmittelbaren Fortsetzung ab; V. 17 steht dann außerhalb der wörtlich
mitgeteilten Rede Jahwes und setzt nach V. 16 neu an („Und ich will auf Jahwe
harren …“).72 Als göttlicher Befehl an den Propheten liegt V. 16 aber in der Fluchtlinie der vorausgehenden vier Reden Jahwes zu Jesaja (eingeleitet in V. 1, V. 3b, V. 5
und V. 11); im Blick darauf ist „[d]er Vers … durchaus noch zur Rede Jahwes zu
ziehen, die Verbalformen als Imperative zu fassen: ‚verschnüre!‘, ‚versiegle!‘“ 73
Jes 8,1
3b
5
11
16
Und Jahwe sprach zu mir: „…
Und Jahwe sprach zu mir: „…
Und Jahwe redete noch einmal zu mir und sprach: „…
Denn so sprach Jahwe zu mir, als die Hand (mich) ergriff …: „…
Verschnüre das Bezeugte, versiegle die Weisung unter/in denen, die von mir belehrt sind!“
Die von den Masoreten vertretene Interpretation von V. 16 könnte so zu erklären
sein. Wenn man diesem Verständnis folgt, sind diejenigen, „die von mir belehrt
sind“ ()למדי, mit den Jüngern Jahwes zu identifizieren.74
Welchen Sinn hat dann aber das Motiv der versiegelten Weisung? Das auffällige Stichwort „das Bezeugte“ ( – )תעודהein Begriff, der eigentlich die öffentliche
Beglaubigung eines privatrechtlichen Aktes bezeichnet –75 verweist auf die in V. 2
erwähnten Zeugen zurück, unter deren Augen Jesaja einst die Tafel beschriftet hatte. Freilich dürfte V. 16 nicht allein die Tafelaufschrift im Blick haben: Der Parallelismus „Bezeugtes“ ()תעודה/„Weisung“ ( )תורהlässt darauf schließen, dass es hier
69 Vgl. Becker 1997, 115f.
70 Zum grammatischen Phänomen s. o. S. 113 FN 63.
71 Durch Aquila, Symmachus und Theodotion sowie Targum und Vulgata.
72 So offenbar in der masoretischen Interpretation des Textes. Eine erwägenswerte Alternative ist
indes die These, dass V. 16 durch V. 17 umgedeutet wird und sich V. 17 u. a. deshalb als Ergänzung
von V. 16 abhebt (so v. a. Becker 1997, 115–119).
73 Budde 1928, 86.
74 Vgl. Jes 54,13, wo explizit von „den Jüngern Jahwes“ ( )למדי יהוהdie Rede ist. In Jes 50,4 ist
dagegen von Jüngerschaft in einem unspezifischen Sinn die Rede. Mitunter wird die Wendung
„ בלמדיin/unter denen, die von mir belehrt sind“ freilich als Zusatz im Zusammenhang mit dem
ebenfalls sekundären V. 17 (s. o. FN 72) erklärt: Fohrer 1967, 140–143; Becker 1997, 116; vgl. auch
Hartenstein 2011, 4.
75 Zu erschließen aus Ruth 4,7, dem einzigen weiteren Beleg des Wortes.
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um die Gesamtheit der Botschaft geht, die Jesaja im Auftrag Jahwes verkündet hat.
Diese Botschaft soll Jesaja versiegeln, und zwar „in Gegenwart derer“ oder „in denen“, die von Jahwe „belehrt sind“. Das lässt sich am ehesten als selbstreferentielle
Aussage verstehen, d. h. als Aussage, die den vorliegenden Text meint: Das „Bezeugte“ und die „Weisung“ ist ja nichts anderes als das, was hier aufgeschrieben
ist. Unter dieser Voraussetzung aber legt es sich nahe, dass das Motiv der Versiegelung metaphorische Bedeutung hat:76 Eine tatsächlich versiegelte Schriftrolle
könnte niemand lesen, solange das Siegel nicht gebrochen wird. Mit der Versiegelung ist hier aber offenbar die Weitergabe der jesajanischen „Weisung“ gemeint,
und eine Weisung muss zugänglich sein. Das „Siegel“ repräsentiert dabei seinen
Eigentümer, also Jesaja, und garantiert, dass die übermittelte Botschaft in authentischer Form weitergegeben wird. Das eigentümliche Motiv der Jünger Jahwes („in
denen, die von mir belehrt sind“) findet in diesem Horizont eine plausible Erklärung: Wer die Worte der hier vorliegenden Aufzeichnungen Jesajas liest und als
Weisung annimmt, statt ihnen wie „dieses Volk“ (6,9; 8,5.11) mit Unverständnis
(6,9) zu begegnen und sie zu „verwerfen“ (8,5), zählt zu denen, die von Jahwe
selbst unterwiesen sind: „Sicher sind es Jesaja’s Jünger oder Vertraute, aber eben
deshalb gehören sie auch Jahwe zu eigen, sodaß er sie als die seinigen bezeichnen
kann.“ 77
Der so gelesene Vers nimmt implizit die Leserschaft des Jesajabuches in den
Blick – gleichgültig, ob in dessen Urgestalt oder in der vorliegenden Form: In denen, die Jesajas Worte als Weisung annehmen – und das sind vornehmlich diejenigen, die das Buch lesen – „versiegelt“ Jesaja seine im Auftrag Jahwes verkündete
Botschaft: Durch das Buch und seine Leser wird diese Botschaft aufbewahrt und
weitertradiert, auch über die Katastrophe hinaus, von der in diesem Buch die Rede
ist (vgl. v. a. Jes 6,11 und 8,5–8).78
3 „Für einen späteren Tag“ (Jes 30,8): die
fortdauernde Zeugenschaft des Prophetenbuches
Nach Jes 8,1 wird in 30,8 ein zweiter Befehl Jahwes an den Propheten zitiert, dieser
solle die ihm anvertraute Botschaft schriftlich festhalten; dabei wird ausdrücklich
der Zweck der Niederschrift genannt:
76 Vgl. jüngst Schmid 2011, 104, nach dem hier freilich „die Verhältnisse einer noch nicht vollständig literarisierten Gesellschaft“ im Blick sind, in der „Information … nicht nur auf Schriftträgern,
sondern auch in Personen ‚gespeichert‘ werden kann“.
77 Budde 1928, 87.
78 Die hochkomplexe Frage der Entstehung von Jes 8,16 in seinem literarischen Kontext kann hier
nicht umfassend bearbeitet werden. Wie von vielen Auslegern angenommen, dürfte Jes 8,16 bereits
im ältesten Jesajabuch gestanden haben (m. E. nach Jes 6,1–11* und 8,1–8*). Ich sehe nach wie vor
keine triftigen Argumente, warum die Urform des Buches nicht vom Propheten selbst stammen
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Reinhard Müller
Jes 30,8
„Nun geh hinein, schreib es nieder auf eine Tafel bei ihnen,
und zeichne es ein in ein Buch,
damit es da sei für einen späteren Tag,
‹als ein Zeuge›79 für immer!“
Welchen Sinn die Zeugenschaft des Aufgezeichneten hat, wird in den folgenden
Versen deutlich:
Jes 30,9
Ja, es ist ein widerspenstiges Volk,
verlogene Söhne,
Söhne, die nicht hören wollen
auf die Weisung Jahwes!
10
Die sprachen zu den Sehern: „Ihr sollt nicht sehen!“
und zu den Schauern: „Schaut uns nicht die Wahrheit!
Redet zu uns Glattes,
schaut Täuschung!
11
Weicht ab vom Weg,
biegt ab vom Pfad,
hört vor uns auf
mit dem Heiligen Israels!“
In diesen Versen spricht der Prophet.80 Er klagt, „ein widerspenstiges Volk“ habe
auf seine Botschaft, hier „Weisung Jahwes“ ()תורת יהוה81 genannt, nicht hören
wollen (V. 9); stattdessen habe das Volk – wie mit einem fingierten Zitat unterstellt
wird (V. 10f.) – von seinen Sehern eine „glatte“ Botschaft gefordert, um sich willentlich zu täuschen. Angesichts dessen erhält das, was der Prophet laut Jahwes
Befehl in V. 8 aufgezeichnet hat, die Rolle eines „Zeugen“ ()עד: Dieser rechtliche
Begriff lässt an einen Prozess denken, den Jahwe gegen die Adressaten von Jesajas
Botschaft führt:
soll; Jesaja dürfte die von ihm verkündete göttliche Botschaft, die bei „diesem Volk“ (6,9; 8,5) auf
Unverständnis und Ablehnung gestoßen war, aufgezeichnet haben, um sie zu bewahren und für
spätere Generationen weiterzutradieren, war er doch – wie es sich für einen Propheten gehört –
von der Richtigkeit dieser Botschaft und ihrer bleibenden Geltung überzeugt.
79 Mit Aquila, Symmachus, Theodotion, Peschitta, Targum, Vulgata und zwei mittelalterlichen
hebräischen Handschriften. Die Masoreten lesen dagegen ד „für immer“ – eine Lesetradition, die
offenbar schon in der Septuaginta vorausgesetzt ist; Vorbild dafür ist wohl ( לעד לעולםPs 111,8;
148,6), mit עד עולםwäre der Ausdruck jedoch singulär. Für die Lesung ד „als Zeuge“ spricht
namentlich die sachliche Parallele Dtn 31,26 (siehe dazu unten S. 119 FN 94).
80 Vgl. Wildberger 1982, 1168.
81 Im Jesajabuch auch in 5,24; außerhalb des Jesajabuches in Ex 13,9; 2Kön 10,31; Jer 8,8; Am 2,4;
Ps 1,2; 19,8; 119,1; Esr 7,10; Neh 9,3; 1Chr 16,40; 22,12; 2Chr 12,1; 17,9; 31,3f.; 34,14; 35,26.
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Dem schriftlichen Zeugnis kommt eine ‚notarielle Funktion‘ zu und dient somit dazu, den Vorgang im Nachhinein korrekt rekonstruieren zu können. Es erhält seine Funktion darin, dass
eine der beiden im ‚Prozess‘ beteiligten Parteien (im Fall des ‚beklagten Volkes‘ auch deren
‚Erben‘ im ganz umfassenden Sinn) auf den Verlauf oder das Ergebnis des Vorganges nochmals
zurückkommen (wollen oder müssen).82
Das schriftlich Festgehaltene dokumentiert, dass die göttliche Weisung „nicht gehört“ wurde, weil die Adressaten dieser Botschaft sich als „widerspenstiges Volk“
erwiesen haben; diese Zeugenschaft überdauert die ursprünglichen Adressaten der
„Weisung Jahwes“, was der verschrifteten Botschaft zeitlich unbegrenzte Geltung
verleiht („ עד עולםauf immer“).
Was aber ist als Inhalt der Niederschrift vorgestellt? Die zu Beginn von V. 8
angedeutete Szene (… „ עתה בוא כתבהNun, geh hinein, schreib es nieder …“)
erweckt zunächst den Eindruck, dass die Aufzeichnung einem Ausspruch des Propheten gilt, den dieser vorher öffentlich („draußen“) verkündet hatte. Tatsächlich
wird in den vorausgehenden Versen (V. 6f.) ein – in mancher Hinsicht rätselhafter – Spruch zitiert; dieser Spruch enthält wahrscheinlich eine Polemik gegen die
Außenpolitik des judäischen Königreiches am Ende des 8. Jahrhunderts: Kritisiert
wird offenbar der judäische Versuch, vor oder während des Aufstands gegen die
assyrische Oberherrschaft (705–701 v. Chr.) ein militärisches Schutzbündnis mit
Ägypten zu schließen, „einem Volk, das nichts nützt“ (V. 6).83 Der Spruch endet mit
den Worten „Darum habe ich darüber ausgerufen: Rahab sind sie? Untätigkeit!“
(V. 7).84 Die am Schluss in enigmatischer Kürze mitgeteilte Rede benennt Ägypten
mit dem Namen des mythischen Drachens Rahab: Dieser könne den Judäern nicht
helfen, weil er durch das assyrische Weltreich dazu verdammt sei, „untätig“ dazusitzen.
Wenn der göttliche Befehl zur Niederschrift mit den Worten beginnt: „Nun,
geh hinein, schreib es nieder …“, scheint sich dieses „es“ (3. sg. f.) zunächst entweder auf den gesamten vorher mitgeteilten „Spruch“ zu beziehen (also V. 6f.) oder
nur auf den am Ende zitierten Ausruf „Rahab sind sie? Untätigkeit!“, der wohl
abbreviaturhaft eine entsprechende polemische Rede zusammenfasst 85. Auf letzteres verweist auch das Motiv der Tafel (… …„ … כתבה על לוח אתםschreib es nieder
auf eine Tafel bei ihnen …!“), das an Jes 8,1 erinnert und durch das Stichwort „bei
ihnen“ 86 geradezu das Bild der vom Propheten beschrifteten und in der Öffentlich82 Liss 2003, 263.
83 Vgl. Müller 2012, 52–57.
84 Zu diesem Verständnis der dunklen und umstrittenen Stelle, das sich am überlieferten Text
orientiert, vgl. Donner 1964, 158; Kaiser 1973, 229.
85 So z. B. Dietrich 1976, 142–144; Kaiser 1973, 234; Barthel 1997, 405.
86 Vgl. Beuken 2010, 163: „‚Bei ihnen‘ muss sich in proleptischer Weise auf diejenigen beziehen,
die in V. 9 als ‚widerspenstiges Volk‘ bezeichnet werden.“ Eine häufig vertretene Alternative ist der
Bezug des „bei ihnen“ auf die zuvor erwähnten Personen (wohl judäische Beamte), die in Karawanen nach Ägypten ziehen, um „ihren Reichtum“ (V. 6) dorthin zu tragen (so z. B. Barthel 1997, 406);
dass hier freilich allein dieser kleine Personenkreis im Blick ist, lässt sich schwer vorstellen. Das
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keit aufgestellten Tafel evoziert. Eine solche Tafel mit den rätselhaften Worten „Rahab sind sie? Untätigkeit!“ wäre ein recht genaues Gegenstück zu der ersten Tafel,
auf der „Für Schnell-(ist-)Beute-Eilend-(ist-)Plündergut“ stand.87
Entscheidend ist jedoch, wie der göttliche Befehl zur Verschriftung weitergeht:
„… schreib es nieder auf eine Tafel bei ihnen und zeichne es ein in ein Buch …!“
(… )… כתבה על לוח אתם ועל ספר חקהDie beschriftete Tafel scheint hier auf
eigentümliche Weise mit einer Buchrolle parallelisiert zu sein, wobei sich die Vorstellung aufdrängt, auf dieser Buchrolle müsse viel mehr Text stehen als auf der
Tafel. Man hat vermutet, dass das hebräische Wort, das üblicherweise „Buchrolle“,
auch „Urkunde“ oder „Brief“ bedeutet ()ספר,88 hier vielmehr eine bronzene Tafel
bezeichne,89 was freilich ungesichert bleibt. Immerhin bezeichnet das an dieser
Stelle gebrauchte Verb ( )חקקsonst nie das Schreiben auf Papyrus, seine Grundbedeutung ist „einritzen“ oder sogar „ausmeißeln“;90 ein instruktiver Beleg (Hi 19,23)
verwendet das Verb im Zusammenhang der Anfertigung einer metallenen Inschrift.91 Das lässt vermuten, dass das Verb hier metaphorisch gebraucht ist: Das
Aufgezeichnete ist wie in eine Inschrift „eingeritzt“ – was zum Gedanken der dauerhaften Zeugenschaft passt.92 Unter dieser Voraussetzung muss in Jes 30,8 aber
nicht allein von einer Tafelinschrift die Rede sein: Das hebräische Wort ספר, das
parallel zu „Tafel“ ( )לוחsteht, bleibt für die Deutung als „Buchrolle“ offen, gleichgültig, welchen konkreten Ursprungssinn man hier annehmen mag. Mit anderen
Worten: Jes 30,8 lässt sich so verstehen, dass mit der Tafelaufschrift eine Buchrolle
parallelisiert wird, in der wie in einer Inschrift die prophetische Botschaft „eingeritzt“, d. h. durch die Verschriftung für alle folgenden Zeiten aufbewahrt wird.
Damit aber kommt die gesamte von Jesaja übermittelte Gottesbotschaft als Gegenstand der Weiterübermittlung in den Blick, wodurch diese Botschaft mit dem
Buch verschmilzt: „Bei 30,8 handelt es sich … um nicht weniger als die Ätiologie
des Jes-Buches“.93 Jes 30,8 lässt sich als Parallelaussage zu 8,16 lesen, mit der die
Schriftlichkeit der jesajanischen Überlieferung programmatisch auf die im Folgenden benannte „Widerspenstigkeit“ des Volkes bezogen wird: Die von Jesaja im Auf-
ungehorsame Volk ist bereits durch das Wehewort von V. 1ff. angesprochen, womit sich leicht erklären lässt, dass „bei ihnen“ das Forum dieses Volkes meint.
87 So z. B. Barthel 1997, 405f.
88 Siehe Gesenius 2013, 900: „1. (?) Inschrift … 2. Brief … 3. Schriftstück a) Urkunde, Dokument …
b) Buch, i. S. v. Buchrolle“; die – im Hebräischen nicht sicher belegte – Bedeutung „Inschrift“, die
in Nachbarsprachen wie Phönizisch und Aramäisch begegnet, kommt hier wegen des Ausdrucks
על ספרnicht infrage.
89 Nach akkadischem siparru „Erz, Bronze“ (Wildberger 1982, 1167).
90 Gesenius 2013, 389.
91 Offenbar in einer Bleiplatte (V. 24), parallelisiert mit einer Felsinschrift, die „ausgehauen“ ()חצב
wird.
92 Vgl. Jes 49,16, wo Jahwe unter Verwendung dieses Verbs zu Zion spricht: „In meine Handflächen
habe ich dich gezeichnet.“
93 Becker 1997, 254 (Hervorhebung im Original).
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trag Jahwes aufgezeichnete Botschaft soll bleiben „für einen späteren Tag“, um
ihren Lesern zu bezeugen, weshalb die Botschaft abgelehnt wurde; die durch die
schriftliche Urkunde ermöglichte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eröffnet allen, die sie lesen, in ein Gottesverhältnis jenseits der hier beklagten Widerspenstigkeit einzutreten.94 Der „spätere Tag“ könnte dabei schon der nächste
sein;95 freilich erhält die verschriftete Prophetie zugleich eine zeitlich unbegrenzte
Geltung („ עד עולםfür immer“): Sie bezeugt im Auftrag Jahwes gegenüber jeder
nachfolgenden Generation, warum man einst Jesajas Worte zurückgewiesen hat.
Ob Jes 30,8–11 bereits im ältesten Jesajabuch gestanden hat und auf Jesaja
selbst zurückgeht, ist umstritten.96 In jedem Fall aber bietet die Ätiologie des Phänomens Schriftprophetie, die hier gegeben wird, einen wichtigen Schlüssel zu ihrem Verständnis: Den Anstoß zur Verschriftlichung hat Jahwe selbst gegeben; nur
weil er dem Propheten befahl, die Botschaft aufzuzeichnen, geriet sie nicht in Vergessenheit, und nur anhand dieser Niederschrift lässt sich in späterer Zeit nachvollziehen, weshalb die prophetischen Worte kein Gehör gefunden haben, als sie
das erste Mal verkündet wurden.97 Dieser schriftprophetische Rückblick gibt Einblicke in den göttlichen Willen und in das Verhalten der einstigen Adressaten, die für
spätere Leser identitätsstiftend werden konnten. Es lässt sich nicht ausschließen,
dass darin eine präzise Erinnerung an die tatsächlichen Ursprünge der Schriftprophetie enthalten ist.
4 Schluss
Die vorgestellten Texte werfen Licht auf die komplexe Frage, was das Phänomen
der Verschriftlichung für die prophetische Botschaft bedeutet hat. Sie legen nahe,
94 Eine auffallende Parallele findet Jes 30,8f. in Dtn 31,26f., wo das von Mose aufgezeichnete Torabuch („ ספר התורהBuch der Weisung“) als „Zeuge“ angesichts der „Widerspenstigkeit“ des Volkes
benannt wird; wahrscheinlich ist der Gedanke aus Jes 30,8f. entlehnt.
95 Vgl. ליום אחרוןin Spr 31,25, wo „im Blick auf den nächsten Tag“ gemeint ist.
96 Vgl. einerseits Becker 1997, 250–257, der den Abschnitt einer nachexilischen „Ungehorsams-Redaktion“ zuschreibt, andererseits Kreuch 2011, 290–298, der in Auseinandersetzung mit Becker an
der traditionellen Zuweisung zu Jesaja festhält. Gegen Kreuch scheint mir indes Jes 30,8–11 in Spannung zu Jes 6,9 (vgl. auch 6,10; 29,10) zu stehen: In Jes 30,8–11 wird das Volk bei seinem Ungehorsam behaftet, während Jes 6,9 den Grund für die mangelnde Einsicht des Volkes in Jahwes Willen
sucht. Die Tatsache, dass sich das (wohl entgegen dem ursprünglichen Sinn, vgl. etwa 29,9!) als
Entlastung des Volkes missverstehen lässt, könnte den Anstoß zu einer durchlaufenden Bearbeitung des ältesten Textbestands gegeben haben, die den Ungehorsam des Volkes und damit seine
Verantwortung für die gescheiterte göttlich-menschliche Kommunikation hervorgehoben hat. Beckers These einer Ungehorsams-Redaktion erscheint mir daher grundsätzlich als überzeugend,
auch wenn ich Beckers Annahmen zur ältesten Gestalt der jesajanischen Überlieferung (Jesaja als
Heilsprophet) nicht teile, vgl. Müller 2012, 54f. FN 83.
97 Großes Gewicht hat in diesem Zusammenhang der Hinweis von Liss, dass der „Verstehensprozess … erst im Rückblick auf die Ereignisse das Geschehen in toto zu begreifen vermag“ (Liss 2003,
269, Hervorhebungen im Original).
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Reinhard Müller
dass die prophetische Botschaft durch die Niederschrift substantielle Veränderungen erfuhr:98 Die verschriftete göttliche Botschaft erhielt einen neuen zeitlichen
Horizont, da sie in dieser Form auch nach der Situation, in der sie ursprünglich
erging, rezipiert werden konnte. Im Fall von Jesajas Prophetie eröffnete das den
Adressaten, die ihr ursprünglich mit Unverständnis begegnet waren, die Möglichkeit, ein zweites Mal auf diese Botschaft zu reagieren, nachdem die von Jesaja angekündigten Katastrophen eingetroffen waren. Zugleich fand die Botschaft neue
Adressaten, die zunächst wohl unter den Nachfahren der ursprünglichen zu suchen sind; später aber wurden immer weitere Kreise von der Botschaft Jesajas erfasst. Hinzu kommen neue inhaltliche Dimensionen: Die Lektüre des verschrifteten
Prophetenwortes ermöglicht den Rückblick auf die vergangene kommunikative Situation, wobei der Rückblick gelenkt wird durch die Art und Weise, in der die
Botschaft schriftlich festgehalten ist und im Rahmen des Schriftstückes dargeboten
wird. Im Blick auf Jahwes merkwürdigen Auftrag an Jesaja, er solle dem Volk Unverständnis gegenüber seiner Botschaft befehlen (Jes 6,9), erscheint die schriftliche
Gestalt, die die jesajanische Prophetie erhielt, geradezu als Notwendigkeit;99 denn
nur dank der Verschriftlichung wurde es möglich, aus der – zutiefst gestörten –
Kommunikation zwischen Jahwe und dem Volk herauszutreten und den Inhalt dieser prophetischen Botschaft als göttliche „Weisung“ zu erkennen.
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98 Vgl. Nissinen 2000, passim, der zeigt, dass das grundsätzlich für alle Formen schriftlicher Aufzeichnungen prophetischer Worte anzunehmen ist.
99 Vgl. Müller 2012, 91.
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