Vom Umgang mit Rache im Alten
Testament: Rechtliche, moralische und
religiöse Grenzziehungen
Jan Dietrich
I.
Einführung: Legitime versus illegitime Rache
Rache gilt gemeinhin als ein illegitimes und illegales Prinzip der Selbstjustiz,
das auf Emotionen der Wut und des Hasses gründet und dem Recht wie
auch der Gerechtigkeit im Wege steht. Statt auf die Durchsetzung des Rechts
zu warten und die dem Täter sodann auferlegte Strafe zu akzeptieren, straft
der Rächer nach eigenem Gutdünken, so dass aus dem Täter ein Opfer wird
und der Rächer als Übeltäter gilt. Diese pejorative Sicht auf die Rache wird
vielfach auch auf die Schriften des Alten Testaments übertragen, das nach
weitläufiger Ansicht ein Buch der Rache ist, in dem im Gegensatz zur Botschaft Jesu im Neuen Testament ein Gott der Rache wirkt und Menschen
ihren Rachegefühlen nachgehen. Sie steht einer Auffassung der Rechtsanthropologie gegenüber, nach der in tribalen und segmentären Gesellschaften
ohne umfassendes und durchgreifendes staatliches Rechtssystem (Blut-)Rache ein legitimes und regelorientiertes Rechtsmittel darstellt, das zur Konfliktvermeidung beiträgt.1 Rechtsanthropologisch betrachtet kann das Alte
Israel der vorhellenistischen Zeit zwar nicht allumfassend, aber doch in weiten Teilen mit anderen tribalen und segmentären Gesellschaften verglichen
werden. In den Schriften des Alten Testaments scheinen vielerorts noch Verhältnisse einer Tribalgesellschaft durch, während ein umfassendes und
durchgreifendes staatliches Rechtssystem nur in Ansätzen erkennbar ist.
Hier soll die Blutrache ›Leben für Leben‹ ähnlich wie die Talion »Auge für
Auge, Zahn für Zahn« (2 Mose 21,24) nicht in eine ausufernde Gewalt münden, sondern der Begrenzung einer überbietenden Vergeltung dienen. Doch
können wir mit Sicherheit annehmen, dass diese Begrenzung der Gewalt im
1 Vgl. U. Wesel, Frühformen des Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften. Umrisse einer
Frühgeschichte des Rechts bei Sammlern und Jägern und akephalen Ackerbauern und
Hirten, Frankfurt am Main 1985, 328; K.H. Singer, Blutrache, in: Religion in Geschichte
und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Vierte, völlig
neu bearbeitete Auflage, Tübingen 1998, 1654.
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Jan Dietrich
Alltag auch tatsächlich durchgesetzt und stets eingehalten wurde? Das können wir nicht.2 Ausufernde Gewalt durch eskalierende Blutfehden sind ja
selbst noch in der westlichen Kultur der Neuzeit aus der Geschichte Amerikas bekannt.3 Das Rechtsprinzip der Rache wird in Frage gestellt, wenn Rache persönlich wird, wenn sie an Feindschaft gebunden ist, in (Blut-)Fehden
eskaliert und ihre Legitimität aufgrund ihrer eigenen zerstörerischen Folgen
zu diskreditieren droht. Nicht die Rache scheint dann legitim, sondern ihre
Begrenzung. Die Schriften des Alten Testaments bewegen sich in einem
Grenzgebiet, wenn in ihnen das legitime Prinzip der (Blut-)Rache noch
durchscheint und sogar als legales Rechtsmittel anerkannt wird, andererseits
aber genau diesem Prinzip rechtliche, moralische und religiöse Grenzen gezogen werden.
II. Rache und Recht: Die Begrenzung der Rache durch das
Gesetz
In den Hochkulturen des Alten Ägypten und Mesopotamien findet sich die
Blutrache als anerkanntes Rechtsprinzip nicht. Selbst die Talion, die häufig
unter die Rache subsumiert wird, stellt in der Rechtsgeschichte des alten
Mesopotamien keine spezielle Form der Rache dar, sondern hat sich rechtshistorisch aus dem Kompensationsrecht entwickelt.4 Das Alte Israel der vorhellenistischen Zeit hingegen kann in weiten Teilen als tribale und segmentäre Gesellschaft angesehen werden, in dem sich erst mit der Zeit
Staatsstrukturen und eine urbane Kultur neben den tribalen Grundstrukturen ausbilden, ohne letztere abzulösen. Tatsächlich wird die negative Form
einer überbietenden Rache im Alten Testament gleich zu Beginn im Rahmen
der »Urgeschichte« (1 Mose 1–11) am Beispiel des sogenannten Lamechliedes
als ›anthropologisches Urphänomen‹ dargestellt. Dadurch, dass dieses Lied
2 Über die Geltung und tatsächliche Durchsetzung tribaler Maximen im Rechtsalltag des
Alten Israel können wir leider kaum Sicheres sagen.
3 Vgl. beispielsweise J.E. Pearce, Days of Darkness: the feuds of Eastern Kentucky, Lexington 1994; C. Parsons, The Sutton-Taylor Feud: the deadliest blood feud in Texas, Denton
2009.
4 Vgl. dazu E. Otto, Die Geschichte der Talion im Alten Orient und Israel, in: D.R.
Daniels/U. Gleßmer/M. Rösel (Hrsg.), Ernten, was man sät. Festschrift für Klaus Koch zu
seinem 65. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 1991, 101–130, besonders: 107–117.
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im Kontext der Kain-und-Abel-Geschichte erscheint, wird es in den weiten
Problemhorizont schuldhaften Verhaltens gestellt und auf diese Weise problematisiert. Hier singt Lamech (1 Mose 4,23b-24):
Wahrlich, einen Mann erschlug ich für meine Wunde und einen Knaben für meine
Strieme.
Wenn siebenfach Kain gerächt wird, so Lamech siebenundsiebzigfach.
Diese überbietende Vergeltung wird durch ihre Kontextualisierung im Zusammenhang der Kain-und-Abel-Geschichte problematisiert. Die eigentliche Blutrache jedoch wird im Alten Testament als legitimes Rechtsprinzip
aufgenommen und anerkannt,5 aber in ihrem Wirkungsbereich deutlich beschränkt. Die beiden ältesten Texte zum Prinzip der Blutrache finden sich in
2 Mose 21,13–14 und 5 Mose 19,1–13. In dem vermutlich älteren Rechtstext
2 Mose 21,13–14 aus dem Bundesbuch (2 Mose 20,22–23,33) wird ein unbedingter Rechtssatz zum Totschlag (Vers 12) ›schulmäßig‹ weiterentwickelt
und zwischen vorsätzlichem und unvorsätzlichem Totschlag unterschieden
(Verse 13–14). Diese Unterscheidung ermöglicht es, dem Bluträcher seine
legitime Blutrache zuzugestehen, sie jedoch auf den Fall des vorsätzlichen
Totschlags zu begrenzen (2 Mose 21,12–14):
Wer einen Mann schlägt, so dass er stirbt, wird unbedingt getötet.
Aber wenn er nicht aufgelauert hat, sondern der Gott es seiner Hand widerfahren
ließ, dann bestimme ich dir einen Ort, wohin er fliehen kann.
Aber wenn ein Mann vorsätzlich gegen seinen Nächsten handelt, um ihn hinterlistig
zu töten, sollst du ihn von meinem Altar wegholen, damit er stirbt.
Vers 12 ist ein traditionsgebundener Rechtssatz über die unbedingte Tötung
des Totschlägers. Er ist wohl nicht auf die Familie begrenzt, sondern schließt
die intergentale Blutrache ein.6 An Vers 12 schließt sich ein Text juristischer
Schreibergelehrsamkeit an, der von der Unbedingtheit der Forderung in Vers
12 absieht und in den Versen 13 und 14 zwischen vorsätzlichem und unvor5 Zu נקםals Rechtsterminus vgl. E. Lipiński, נקם, in: Theologisches Wörterbuch zum Alten
Testament 5 (1986), 602–612; G. Sauer, nqm, in: Theologisches Handwörterbuch zum
Alten Testament 2 (1976), 106–109. Zur Rache als Rechtsform vgl. beispielsweise auch W.
Dietrich, Rache. Erwägungen zu einem alttestamentlichen Thema, in: Evangelische Theologie 36 (1976), 450–472; L. Ruppert, Fluch- und Rachepsalmen, in: Neues Bibel-Lexikon
1 (1991), 685–686.
6 »Ex 21,12 legitimiert die Blutrache, ohne sie an die Torgerichtsbarkeit zu binden.« (L.
Schwienhorst-Schönberger, Das Bundesbuch (Ex 20,22 – 23,33). Studien zu seiner Entstehung und Theologie (Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 188),
Berlin/New York 1990, 224).
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sätzlichem Totschlag unterscheidet.7 In der Forschung werden von wenigen
Ausnahmen abgesehen die Verse 13 und 14 auf eine Hand zurückgeführt und
die Bezeichnung »Ort« in Vers 13 sowie »Altar« in Vers 14 in einem Zusammenhang interpretiert, sei es, dass der Ort selbst den Altar oder Tempel bezeichnet, sei es, dass der Ort oder die Stadt bezeichnet wird, wo sich der Altar
befindet.8 Dem Rechtsprinzip der Blutrache wird durch diese Ausführung in
seinem Anwendungsbereich Grenzen gezogen. Während es im Rahmen des
unbedingten und traditionsgebundenen, den Schreibern wohl vorgegebenen
Rechtssatzes in Vers 12 auf jedes Blutdelikt anwendbar wäre, wird seine Legitimität auf den Fall des vorsätzlichen Totschlags beschränkt. Diese Begrenzung wird in 5 Mose 19,1–13 noch weiter ausgeführt.
Das Gesetzeskorpus im Buch Deuteronomium (5 Mose 12–26) gilt gemeinhin als Reformulierung des Bundesbuches.9 Im Fall von 5 Mose 19,1–13
ist es sehr wahrscheinlich, dass der oben besprochene Rechtssatz bekannt
war und aus der Perspektive des Zentralisationsgesetzes (5 Mose 12) in 5
Mose 19 reformuliert wurde: Statt eines Altars werden nun – möglicherweise
in Anknüpfung an מקוםin 2 Mose 21,13 – Asylstädte eingeführt, ohne einen
städtischen Altarbereich zu erwähnen. In diesem Gesetz wird mittels einer
kleinen ›Gefühlskunde‹ die Problematik der Blutrache herausgestellt und
diese in ihrem Anwendungsbereich auf verschiedenen Ebenen begrenzt (2
Mose 19,4b-6):
7 Der literarisch sekundäre Charakter der Verse 13 und 14 wird überwiegend anerkannt, vgl.
für viele L. Schwienhorst-Schönberger, Bundesbuch, 39–41; E. Otto, Recht im antiken Israel, in: U. Manthe (Hrsg.), Die Rechtskulturen der Antike. Vom Alten Orient bis zum
Römischen Reich, München 2003, 151–190, hier: 184.
8 Kritisch gegen diese Identifikation wendet sich neuerdings P. Barmash, Homicide in the
Biblical World, Cambridge 2005, 76–78. Gegen Barmash wendet sich B.S. Jackson, Homicide in the Hebrew Bible: a review essay, in: Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 12 (2006), 362–374, hier: 369–370. Die Frage, warum Vers 13
nicht »Altar« schreibt, wenn er wie Vers 14 einen Altar im Blick hat, wird meines Erachtens
in der deutschsprachigen Forschung schon von Schwienhorst-Schönberger, Bundesbuch,
40–41 plausibel erklärt: »In V. 13 kann für מקוםnicht מזבחstehen, denn die Gottheit errichtet niemals einen Altar, sondern für die Gottheit wird ein Altar errichtet. Umgekehrt
aber wird der Ort ()מקום, an dem der Mensch einen Altar für die Gottheit errichtet, nicht
vom Menschen, sondern von der Gottheit bestimmt ()שים. JHWH/Gott erscheint an einem Ort ()מקום, der Mensch errichtet ihm dort einen Altar.«
9 Vgl. dazu vor allem E. Otto, Das Deuteronomium: Politische Theologie und Rechtsform
in Juda und Assyrien (Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 284),
Berlin/New York 1999, 217–364.
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Wer seinen Nächsten unabsichtlich erschlägt und ihn nicht vorher schon hasste – so
wer mit seinem Nächsten in den Wald geht, um Bäume zu fällen und seine Hand
schlägt10 mit der Axt, um den Baum umzuhauen, aber das Eisen löst sich vom Stiel11
und trifft seinen Nächsten, so dass er stirbt – soll in eine dieser (Asyl-)Städte fliehen
und leben, damit der Bluträcher nicht hinter dem Totschläger nachjagt, weil sein
Herz glüht, und ihn einholt, weil der Weg lang ist, und ihn erschlägt, obwohl es für
ihn kein Todesurteil gibt, weil er ihn nicht vorher schon hasste.
In diesem Rechtssatz wird ein konkretes Fallbeispiel eingeführt, das einen
tatsächlichen Rechtsfall widerspiegeln, aber auch aus der Gelehrtenstube
stammen kann. Die schon aus 2 Mose 21,13–14 bekannte Differenzierung
zwischen vorsätzlichem und unvorsätzlichem Totschlag wird rechtsanthropologisch weiter ausgeführt, indem dem vorsätzlichen Totschläger in dem
Fallbeispiel ein Hassmotiv zugeschrieben wird. »Mit der Verhandlung des
Tötungsdeliktes am Ortsgericht ist die Blutracheinstitution keineswegs außer Kraft gesetzt.«12 Gleichzeitig jedoch wird die Blutrache auf den vorsätzlichen Totschlag begrenzt und ihre problematischen Züge herausgestrichen,
indem auch über das Fallbeispiel hinaus dem Bluträcher ein »heißes« oder
»glühendes Herz« zugeschrieben wird,13 das es ihm unmöglich macht, in
dem vorliegenden Rechtsfall die Umstände zu bedenken und abwägend zu
handeln. Dem Bluträcher wird auf diese Weise die Fähigkeit zu rechtsrelevanten Überlegungen abgesprochen und allein den im Weiteren rechtskräftig operierenden Ältesten zuerkannt (Verse 11–12):
Aber wenn ein Mann seinen Nächsten hasst und ihm auflauert und sich gegen ihn
erhebt und ihn schlägt, so dass er stirbt, und er flieht in eine dieser (Asyl-)Städte,
dann sendet man die Ältesten seiner Stadt und sie holen ihn von dort und geben ihn
in die Hand des Bluträchers, so dass er stirbt.
Dem Bluträcher wurde schon im Fall des unvorsätzlichen Totschlags die Ermächtigung zur Blutrache entzogen. In diesem Abschnitt über den vorsätzlichen Totschlag wird die Bedeutung des Bluträchers auf die Funktion eines
Erfüllungsgehilfen reduziert, während allein den Ältesten rechtsmächtige
Kompetenzen zugesprochen werden. Die Rechtstexte des Alten Israel spiegeln hier eine Aufnahme, aber auch den Versuch einer eindeutigen Begren10 Das Verb wird von mir als Qal gelesen.
11 Der Begriff »( עץHolz; Baum«) kann sich hier auf den Holzstiel der Axt oder auf den Baum
beziehen, von dem das Eisenblatt abgleitet.
12 Otto, Recht, 186.
13 Vgl. mit anderer Terminologie und in anderem Zusammenhang, aber mit ähnlichem anthropologischem Zuschnitt den Tag der Rache als Tag des Zorns in Sprüche 6,34.
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zung der ursprünglich unbedingt geltenden und legitimen Blutrache, wie sie
noch aus 2 Mose 21,12 abgeleitet werden kann, wider. Doch nicht nur im
Bereich des Rechts, sondern auch im zwischenmenschlichen Bereich von
Moral und Ethik werden der Rache Grenzen gezogen. Hier soll sie jedoch
nicht nur begrenzt, sondern auch überwunden werden.
III. Rache und Moral: Die Überwindung der Rache durch
ethische Maximen
Schon in dem oben besprochenen Rechtstext 5 Mose 19,1–13 machen die
Schreiber deutlich, dass sie sowohl dem vorsätzlichen Totschläger als auch
dem Bluträcher eine Gefühlswelt des Hasses und der Wut (ein »glühendes
Herz«) unterstellen. Damit wird sowohl die Beziehung des Täters zum Opfer
als auch diejenige des Bluträchers zum Totschläger als eine Beziehung der
Feindschaft ausgelegt: Das Freund-Feind-Denken ist Teil der Psychologie
der Rache.
Während die Rache in den Rechtstexten anerkannt und aufgenommen,
aber begrenzt wird, soll sie in den Weisheitstexten überwunden werden. In
den beiden ethischen Vorgaben 2 Mose 23,4–514 und Sprüche 25,21–22 soll
der Mensch seinem »Hasser« in existentiellen Nöten (Verhungern, Verdursten, Verlust lebensnotwendigen Besitzes) beistehen:
Wenn dir das Rind deines Feindes oder sein Esel umherirrend begegnen,
sollst du sie ihm unbedingt zurückbringen.
Wenn du den Esel deines Hassers siehst, wie er unter seiner Last zusammenbricht,
dann lass ab davon, ihm fernzubleiben: Du sollst mit ihm (das Tier) aufrichten.
(2 Mose 23,4–5)
Wenn dein Hasser hungert, gib ihm zu essen,
und wenn er dürstet, gib ihm Wasser zu trinken.
Denn glühende Kohlen legst du auf sein Haupt,
und der Herr wird es dir vergelten. (Sprüche 25,21–22)
Wie in 5 Mose 19,5 spielt auch in diesen beiden Texten der Hass ( )שנאeine
entscheidende Rolle. Doch anders als in 5 Mose 19,5 wird gegen ihn nicht
die Blutrache gesetzt, sondern die Überwindung des Hasses durch Absehung
14 2 Mose 23,4–5 ist eine als kasuistischer Rechtssatz formulierte ethische Maxime.
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von der Feindschaft.15 Der Gerechte soll die Schwäche seines Gegners nicht
ausnutzen, sondern ihm aus seiner Not helfen. Auf diese Weise bietet das
Ungleichgewicht der Verhältnisse die Chance zur Überwindung der Feindschaft. Dies bringt vor allem der Sprüche 25,21 zugehörige Vers 22 zum
Ausdruck, denn die glühenden Kohlen auf dem Haupt stehen für die Reue,
die der Feind angesichts der Hilfe des Gegners empfinden muss.16 Auf narrativer Ebene wird im Buch Hiob die Überwindung von Gegnerschaft durch
stellvertretendes Handeln dargestellt. Die Freunde Hiobs, die sich im Laufe
des langwierigen Dialogs geradezu zu Feinden entwickeln (vgl. etwa Hiob
19,2.22), weil sie Hiobs Unglück als Sünde brandmarken, und deren Zorn
gegen Hiob entbrennt (vgl. Hiob 32,2), sind am Ende der Erzählung selbst
in göttliche Ungnade gefallen, so dass es ausgerechnet Hiob ist, der für sie
Fürbitte leisten muss (Hiob 42,8).17 In Moral und Ethik des Alten Testaments werden Feindschaft und Schadenfreude über das Unglück des Gegners (vgl. Sprüche 24,17; Hiob 31,29) durch Stellvertretung und Großzügigkeit überwunden. Dies schließt das Gebot ein, seinen Mitbewohner nicht zu
hassen noch überhaupt Rache zu üben, sondern seinen Nächsten, ja sogar
den Fremdling wie sich selbst zu lieben (3 Mose 19,17a.18a.34a):
Nicht sollst du deinen Bruder hassen in deinem Herzen.
Nicht sollst du dich rächen und nichts sollst du den Söhnen deines Volkes nachtragen, sondern du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.
Wie ein Einheimischer von euch soll euch der Fremde sein, der als Fremder mit euch
lebt, und du sollst ihn lieben wie dich selbst.
Im Matthäusevangelium wird 3 Mose 19,18 (fälschlich) durch das Gebot,
den Feind zu hassen, ergänzt und dem Gebot der Feindesliebe gegenübergestellt (Matthäus 5,43–48).18 Die vorgestellten Texte aus dem Alten Testament
15 Dies schließt die Überwindung von Schadenfreude über das Unglück des Gegners ein
(vgl. Sprüche 24,17; Hiob 31,29).
16 Vgl. dazu S. Morenz, Feurige Kohlen auf dem Haupt, in: Theologische Literaturzeitung 78
(1953), 187–192.
17 Vgl. dazu R. Lux, Hiob. Im Räderwerk des Bösen (Biblische Gestalten 25), Leipzig 2012,
265–268.
18 Ansonsten gilt in der Ethik des Neuen Testaments »das Gebot der Nächstenliebe als wichtigstes Gebot«. Es wird in Matthäus 5,43 im Rahmen einer Antithese zitiert, um »seinen
Geltungsbereich gegenüber früher zu erweitern« (H.-P. Mathys, Liebe deinen Nächsten
wie dich selbst. Untersuchungen zum alttestamentlichen Gebot der Nächstenliebe (Lev
19,18) (Orbis Biblicus et Orientalis 71), Fribourg/Göttingen 1986, 160). Diese Erweiterung bezieht sich vor allem auf das Objekt der Nächstenliebe: Sie soll sich nicht nur auf
den persönlichen Feind beziehen (vgl. 2 Mose 23,4–5; Sprüche 25,21–22), sondern gilt
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Jan Dietrich
zeigen jedoch, dass auch schon in ihnen auf eine Überwindung von Feindschaft, Hass und Rache gezielt wird. Wie steht es über den zwischenmenschlichen Bereich hinaus mit der Religion des Alten Testaments, in der Gott –
so hat es den Anschein – häufig als ein Gott der Rache erscheint?
IV. Rache und Religion: Die Aufhebung der Rache durch den
rächenden Gott
Bisher haben wir das Phänomen der Rache auf rechtlicher und moralischethischer Ebene betrachtet, doch wie zeigt es sich in der religiösen Sphäre?
Grundsätzlich wird hier die Rache im hegelianischen Sinne ›aufgehoben‹,
indem der Mensch auf die Durchsetzung eigener Rache verzichtet und Gott
die Aufgabe der Rache beziehungsweise Vergeltung zuspricht. Dabei ist die
Maxime aus Sprüche 20,22 noch leicht einsichtig:
Sag nicht: ›Ich will Böses vergelten!‹
Warte auf den Herrn, denn er wird dich retten.
Ist diese Maxime noch leicht einsichtig, so sind diejenigen Texte weit schwerer nachzuvollziehen, in denen der Beter zwar nicht mehr sich selbst zu rächen wagt, aber von Gott Rache an seinen Gegnern herbeiwünscht: So heißt
es beispielsweise in Ps 58,11:
Es freut sich der Gerechte, wenn er Rache (besser: Ahndung)19 schaut,
seine Füße badet im Blut des Frevlers.
In den Psalmen des Alten Testaments werden die Rachegefühle des Beters
nicht unterdrückt und nicht durch ethische Maximen unterbunden, sondern der Beter darf seinen Rachegefühlen Ausdruck verleihen – tut dies allerdings nur so, dass er sich selbst die Rache verwehrt und auf den Gott der
Gerechtigkeit hofft, der sich gegen die Unterdrücker und für die Schwachen
»allen Feinden, religiöse Gegner und politische Unterdrücker eingeschlossen«, wie die pluralische Formulierung in Matthäus 5,44 zeigt (vgl. G. Theißen/A. Merz, Der historische
Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996, 348).
19 Vgl. B. Janowski, Ein Gott der Gewalt? Perspektiven des Alten Testaments, in: I. Müllner/L.
Schwienhorst-Schönberger/R. Scoralick (Hrsg.), Gottes Name(n). Zum Gedenken an Erich
Zenger (Herders Biblische Studien 71), Freiburg/Basel/Wien 2012, 11–33, hier: 24–25;
ders., Ein Gott, der straft und tötet? Zwölf Fragen zum Gottesbild des Alten Testaments,
Neukirchen-Vluyn 2013, 109–111.
Vom Umgang mit Rache im Alten Testament
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einsetzt und ›Rache‹ im Sinne von gerechter Ahndung durchsetzt.20 Tatsächliche Rache wird dadurch gerade nicht ausgeübt. »Nirgendwo gibt es einen
klaren Beleg dafür, daß Rache, Vergeltung aus der Position des Überlegenen,
des kalt Heimzahlenden gesehen oder gar geübt wird.«21 Der Beter ist in den
Psalmen grundsätzlich in der Position des Schwächeren.22 Er mag zu anderen
Zeiten und in anderen Situationen durchaus ein ebenbürtiger Gegner seines
Feindes gewesen sein, dem er entsprechend den oben beschriebenen Texten
2 Mose 23,4–5 und Sprüche 25,21–22 großmütig zu Hilfe eilt. Seine Rachegefühle bilden deshalb nicht wie das Ressentiment eine gängige
Grundstimmung,23 sondern haben sich erst in seiner und durch seine Not
entwickelt. Dagegen liegt der wahre Grund echter Rachegefühle immer in
der Vergangenheit, und der Rächer begründet seine Rache mit Taten aus der
Vergangenheit, die an ihm nagen.24 In den Psalmen können zwar die auftretenden ›Rachegefühle‹ des Beters durch vergangene Taten des Feindes begründet werden, doch liegt der Fokus hierbei nicht auf der vergangenen als
abgeschlossenen, sondern stets auf der anhaltenden und immer noch gegenwärtigen Unterdrückung durch den Gegner als eines existentiellen Feindes,
der den Beter zu vernichten droht. Die sogenannten Rachepsalmen erweisen
sich hier als Schrei in der Not, um Gerechtigkeit einzufordern und um von
Gott aus den Fängen des Gegners befreit zu werden. Entsprechend sind viele metaphorische Wendungen zu interpretieren, etwa wenn das Gebiss der
Gegner zerschlagen werden soll (Psalm 58,7).25 Es geht dabei nicht um das
Ausleben von Rachephantasien, sondern darum, dass die ›Rache‹ (als eine
Form der ›Ahndung‹) dienende Funktion in der Hoffnung auf Gott zur Be-
20 Vgl. E. Zenger, Ein Gott der Rache? Feindpsalmen verstehen, Freiburg 1994, 140.
21 W. Dietrich/C. Link, Die dunklen Seiten Gottes 1: Willkür und Gewalt, NeukirchenVluyn 1995, 130.
22 Vgl. zum folgenden Gedankengang J. Dietrich, Schadenfreude und Rachegedanken in den
Sprüchen und Psalmen, in: A. Grund/A. Krüger/F. Lippke (Hrsg.), »Ich will dir danken
unter den Völkern.« Studien zur israelitischen und altorientalischen Gebetsliteratur. Festschrift für Bernd Janowski zum 70. Geburtstag, Gütersloh 2013, 80–92.
23 Das Ressentiment »ist eine dauernde psychische Einstellung« (M. Scheler, Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, in: ders., Gesammelte Werke 3. Vom Umsturz der Werte,
Bern 1955, 33–147, hier: 38).
24 So schon A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung 1. Werke I. Nach den Ausgaben letzter Hand herausgegeben von Ludger Lütkehaus, Zürich 1988, 451–452.
25 Zur Feindmetaphorik in den Psalmen vgl. ausführlich P. Riede, Im Netz des Jägers. Studien zur Feindmetaphorik der Individualpsalmen (Wissenschaftliche Monographien zum
Alten und Neuen Testament 85), Neukirchen-Vluyn 2000.
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freiung von Unterdrückung und Gewalt sowie zur Wiederherstellung des
Rechts erhält.26
Die Rachegefühle der Psalmen setzt der Beter nie eigenmächtig in die Tat
um, sondern bringt sie Gott gegenüber zum Ausdruck, damit dieser ihm
gegen seine vereinten und übermächtigen ›Hasser‹ aufhelfe – was die Eigenmächtigkeit seines eigenen Rachewunsches ›aufhebt‹. Statt eigene Rachegefühle in die Tat umzusetzen, wird Rache Gott zugesprochen.27 Dessen Rache
ist jedoch besser als ›gerechter Zorn‹ zu verstehen, nämlich als Teil der
»hochkulturelle[n] Idee der Gerechtigkeit«28 zur Befreiung des Beters von
Unterdrückung. Die »Rachepsalmen« helfen damit bei der Begrenzung tatsächlicher Gewalt und Rache.
Im Umgang mit Rache zeichnet das Alte Testament ein realistisches Bild
vom Menschen und seinen Gefühlen, unterdrückt diese jedoch nicht einfach, sondern verhilft ihnen im Gebet und in der Gottesbeziehung zu einem
sinnvollen Ausdruck, der gleichzeitig dem Beter seine eigene Rache aus der
Hand nimmt. Die Rache selbst wird im Alten Testament ebenfalls nicht verleugnet, aber ihr werden deutliche Grenzen gezogen: rechtliche, moralische
und religiöse. Das Alte Testament begrenzt die Rache durch das Recht, überwindet sie in der Ethik und hebt sie auf in Gott.
V. Literaturhinweise
Assmann, Jan: Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel, München 1992.
Barmash, Pamela: Homicide in the Biblical World, Cambridge 2005.
Dietrich, Jan: Schadenfreude und Rachegedanken in den Sprüchen und Psalmen, in:
Grund, Alexandra/Krüger, Annette/Lippke, Florian (Hrsg.), Ich will dir danken
unter den Völkern. Studien zur israelitischen und altorientalischen Gebetsliteratur.
Festschrift für Bernd Janowski zum 70. Geburtstag, Gütersloh 2013, S. 80–92.
Dietrich, Walter: Rache. Erwägungen zu einem alttestamentlichen Thema, Evangelische Theologie 36 (1976), S. 450–472.
26 Vgl. B. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 2013, 129–133; ders., Ein Gott, der straft und tötet?, 105–113.
27 Zur Rache Gottes vgl. H.G.L. Peels, The Vengeance of God. The Meaning of the Root
NQM and the Function of the NQM-Texts in the Context of Divine Revelation in the
Old Testament (Oudtestamentische Studiën 31), Leiden/New York/Köln 1995; Zenger,
Rache.
28 J. Assmann, Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel, München 1992, 85.
Vom Umgang mit Rache im Alten Testament
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Ders./Link, Christian: Die dunklen Seiten Gottes 1. Willkür und Gewalt, Neukirchen-Vluyn 1995.
Jackson, Bernard S.: Homicide in the Hebrew Bible. A review essay, in: Zeitschrift für
Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 12 (2006), S. 362–374.
Janowski, Bernd: Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen,
Neukirchen-Vluyn 2013.
Ders.: Ein Gott der Gewalt? Perspektiven des Alten Testaments, in: Müllner, Ilse/
Schwienhorst-Schönberger, Ludger/Scoralick, Ruth (Hrsg.), Gottes Name(n). Zum
Gedenken an Erich Zenger (Herders Biblische Studien 71), Freiburg/Basel/Wien
2012, S. 11–33.
Ders.: Ein Gott, der straft und tötet? Zwölf Fragen zum Gottesbild des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 2013.
Lipiński, Edward: נקם, in: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament 5 (1986),
S. 602–612.
Lux, Rüdiger: Hiob. Im Räderwerk des Bösen (Biblische Gestalten 25), Leipzig 2012.
Mathys, Hans-Peter: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Untersuchungen zum
alttestamentlichen Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18) (Orbis Biblicus et Orientalis 71), Fribourg/Göttingen 1986.
Morenz, Siegfried: Feurige Kohlen auf dem Haupt, in: Theologische Literaturzeitung
78 (1953), S. 187–192.
Otto, Eckart: Die Geschichte der Talion im Alten Orient und Israel, in: Daniels,
Dwight R./ Gleßmer, Uwe/ Rösel, Martin (Hrsg.), Ernten, was man sät. Festschrift
für Klaus Koch zu seinem 65. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 1991, S. 101–130.
Ders.: Das Deuteronomium: Politische Theologie und Rechtsform in Juda und Assyrien (Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 284), Berlin/
New York 1999.
Ders.: Recht im antiken Israel, in: Manthe, Ulrich (Hrsg.), Die Rechtskulturen der
Antike. Vom Alten Orient bis zum Römischen Reich, München 2003, S. 151–
190.
Parsons, Chuck: The Sutton-Taylor Feud. The deadliest blood feud in Texas, University of North Texas Press 2009.
Pearce, John Ed: Days of Darkness. The feuds of Eastern Kentucky, University Press
of Kentucky 1994.
Peels, Hendrik George Laurens: The Vengeance of God. The Meaning of the Root
NQM and the Function of the NQM-Texts in the Context of Divine Revelation
in the Old Testament (Oudtestamentische Studiën 31), Leiden/New York/Köln
1995.
Riede, Peter: Im Netz des Jägers. Studien zur Feindmetaphorik der Individualpsalmen (Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament 85),
Neukirchen-Vluyn 2000.
Ruppert, Lothar: Fluch- und Rachepsalmen, in: Neues Bibel-Lexikon 1 (1991),
S. 685–686.
50
Jan Dietrich
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