Michael Skowron
Vom Stundenzeiger des Lebens
Die Symphonie des Lebens und die ewige Wiederkunft
des Gleichen
Friedrich Nietzsche hat den antiken Glauben an eine Musik der Sphären, der Gestirne
und ihrer Bewegungen, auf die Erde herabgeholt und spricht von der „Symphonie des
wirklichen Lebens“ (MA I, KSA 2, 337), später auch von der „Musik des Lebens“ (FW,
KSA 3, 624) und deren Bewegungen und Höhepunkten, die unter gewissen Bedingungen und in besonderen Augenblicken zu hören seien: „Das Leben besteht aus seltenen einzelnen Momenten von höchster Bedeutsamkeit und unzählig vielen Intervallen, in denen uns besten Falls die Schattenbilder jener Momente umschweben. Die
Liebe, der Frühling, jede schöne Melodie, das Gebirge, der Mond, das Meer – Alles
redet nur einmal ganz zum Herzen: wenn es überhaupt je ganz zu Worte kommt. Denn
viele Menschen haben jene Momente gar nicht und sind selber Intervalle und Pausen
in der Symphonie des wirklichen Lebens“ (MA I, KSA 2, 337). Der Titel des Aphorismus lautet: Vom Stundenzeiger des Lebens, handelt also von der Zeit des Lebens
und dessen bedeutendsten Stunden und Augenblicken, wobei man nicht nur an die
genannten Momente höchster Bedeutsamkeit denken kann, sondern im Falle Nietzsches auch an all jene Stunden, denen er eigene Kapitel, wenn nicht ganze Bücher
gewidmet hat, wie Geburt und Tod (der Tragödie), der Zeit vor Sonnenaufgang (Za III,
Vor Sonnen-Aufgang), der Morgenröte, dem Mittag (Za IV, Mittags) und Abend (DD, Die
Sonne sinkt), der Nacht (Za II, Das Nachtlied) und Mitternacht (Za IV, Das Nachtwandler-Lied), in denen die Symphonie des Lebens für ihn hörbar wurde, zu ihm ‚redete‘
und zur Darstellung kam. Die Gedankenketten1, die einerseits zu diesem Aphorismus
hinführen und andererseits von ihm aus- und über ihn hinausgehen, sind Gegenstand der folgenden Überlegungen.
1 Musikalische Augenblicke auf das Ganze
Das Bild des Stundenzeigers und der Zusammenhang von Zeit und Zeitmessung
findet sich bereits in Nietzsches frühesten philosophischen ‚Gedanken‘ über Fatum
und Geschichte aus dem Jahre 1864 (BAW 2, 54 ff.), wenn er nach den verborgenen
„Triebfedern“ des großen Uhrwerks fragt, die sowohl den Menschen als auch die
1 Vgl. VM, KSA 2, 526; NL 20[3], KSA 8, 361.
DOI 10.1515/NIFO-2017-0026
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Geschichte im Ganzen bestimmen. Das „Zifferblatt“ dieser Uhr seien die Ereignisse,
die demnach bereits festzustehen scheinen, während der Stundenzeiger nur darüber
hinwegrückt, „um nach Zwölfen seinen Gang von Neuem anzufangen; eine neue
Weltperiode bricht an“ (BAW 2, 56). Bleibt sich das Uhrwerk mit seinem Zifferblatt,
Ereignissen und Triebfedern gleich, so kann die „neue Weltperiode“ nur darin bestehen, dass der Stundenzeiger „von Neuem“ anfangend wieder über die gleichen Ereignisse hinweggeht, eine hier noch unausgesprochene ewige Wiederkehr des Gleichen.
In den „Triebfedern“, in denen Nietzsche damals noch die „immanente Humanität“
(BAW 2, 56) vermutete, könnte man sogar eine erste Andeutung des oder der ‚Willen
zur Macht‘ sehen. Von dem zum „Spielwerk“ gewordenen „Uhrwerk“ heißt es dann in
der Fröhlichen Wissenschaft, dass es „ewig seine Weise“ wiederhole, mit dem Vorbehalt, dass sie „nie eine Melodie“ heißen dürfe (FW, KSA 3, 468).
Die damit angedeutete, aber dort noch fehlende Verbindung zur Musik wird in
der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) hergestellt2, in der sich nicht
nur die Vorstellung von der Musik als Ursprung der Bilder und Figuren der Tragödie,
die „in ihrer ältesten Gestalt nur die Leiden des Dionysos zum Gegenstand hatte“ (GT,
KSA 1, 71) findet, sondern auch eine Scheidung zweier durch eine „Kluft der Vergessenheit“ getrennten Wirklichkeiten, derjenigen des Alltags und derjenigen der dionysischen Wirklichkeit (ebd., 56), in welcher der Unterschied zwischen den seltenen
Momenten von höchster Bedeutsamkeit und den unzähligen Pausen und Intervallen
vorgebildet ist, in welche die Ereignisse des Zifferblatts jetzt differenziert werden. So
ergeben sich zwei mögliche „Weltbetrachtungen, die des Alltags und die der seltensten Augenblicke des Gefühls und des Denkens“ (NL 5[166], KSA 8, 88). In Also sprach
Zarathustra ist es „die stillste Stunde“, in welcher der Zeiger rückt, die Uhr des Lebens
Atem holt: „Die stillsten Worte sind es, welche den Sturm bringen. Gedanken, die
mit Taubenfüssen kommen, lenken die Welt“ (Za, KSA 4, 187, 189).3 Gerade in diesen
„stillsten Stunden“, in denen der Lärm der Alltagswelt verstummt ist, kann man die
„Musik des Lebens“ hören, die im Alltagsleben übertönt wird und bestenfalls noch
schwach nachklingt, obwohl seine „Schattenbilder“ direkt oder indirekt dennoch von
jenen Momenten bestimmt sind. In der Fröhlichen Wissenschaft ist z. B. von der gelegentlich auftauchenden Einsicht der „Contemplativen“ die Rede, dass sie „die Welt,
die uns etwas angeht, geschaffen“ haben, und diese dann mit all ihren „Schätzungen,
Farben, Gewichten, Perspectiven, Stufenleitern, Bejahungen und Verneinungen […]
von den sogenannten practischen Menschen […] eingelernt, eingeübt, in Fleisch und
2 Vgl. Renate Reschke, „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrthum“. Eine Skizze musikästhetischer Auffassungen Friedrich Nietzsches, in: Denkumbrüche mit Nietzsche. Zur anspornenden Verachtung der
Zeit, Berlin 2000, 208–233.
3 Nietzsche schließt an Heraklit an, für den der Blitz alles lenkt (Diels, Kranz, Frg. 64), und nimmt
ihn gegen die Klagen derer, die ihm Dunkelheit vorwerfen, in Schutz: „wahrscheinlich hat nie ein
Mensch heller und leuchtender geschrieben. Freilich sehr kurz, und deshalb allerdings für die lesenden Schnellläufer dunkel“ (PHG, KSA 1, 832; vgl. M, KSA 3, 17).
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Blut, ja Alltäglichkeit übersetzt“ wird. Dieses „Wissen“ habe allerdings seinen beständigen Begleiter in einem „Wahn“, der die kontemplativen Menschen gerade dies vergessen lasse und wenn, wie Nietzsche sich selbst einschließend feststellt, „wir es
einen Augenblick einmal erhaschen, so haben wir es im nächsten wieder vergessen“
(FW, KSA 3, 540).
Mit den „Schattenbildern“ spielt Nietzsche auf das platonische Höhlengleichnis
an, in dem die Ideen zunächst und zumeist auch nur als projizierte „Schattenbilder“
sichtbar sind. Von dieser Höhle ist auch in der vierten Unzeitgemäßen Betrachtung
(Richard Wagner in Bayreuth) die Rede, wenn angesichts der Gegenüberstellung
des „trüb erleuchtete[n] Stück Natur und Leben“, das die meisten allein zu kennen
scheinen und der „Mysterien“ einer neuen Kunst umwertend gefragt wird, „welches
Leben wirklicher und wo eigentlich der Tag, wo die Höhle ist“ (WB, KSA 1, 464).
Dennoch geht es bei Nietzsche nicht um eine platonische Zweiweltenlehre, nicht nur
weil sowohl jener Alltag als auch die seltenen Augenblicke in derselben Welt und
auf demselben Zifferblatt beheimatet sind, sondern auch weil die platonischen Ideen
nur im Denken zugänglich sind, Musik aber immer auch zum „Herzen“, nicht nur
zum Verstand spricht, sowie sinnlich erfahren und gehört werden muss. Denn „[w]
as hätte man von ihr begriffen, verstanden, erkannt“, wenn man ihren Wert danach
abschätzte, „wie viel von ihr gezählt, berechnet, in Formeln gebracht werden könne“
(FW, KSA 3, 626). Der Aphorismus weist also bereits auf das V. Buch der Fröhlichen
Wissenschaft voraus, in der erklärt wird „Warum wir keine Idealisten sind“, die wegen
der täuschenden Sinnlichkeit auch die „Musik des Lebens“ leugnen oder für eine Sinnestäuschung halten (FW, KSA 3, 623 f.).4
Auch Zarathustra ist kein Idealist, wenn er am Beginn seines Untergangs zwar
aus seiner Höhle heraustritt und sich an die Sonne, für Platon das Sinnbild des höchsten Guten, wendet (Za, KSA 4, 11), und dann wie diese in die „Unterwelt“ der Menschen herabsteigt, um ihnen die von seinen Zuhörern und Lesern idealistisch oder
transhumanistisch missverstandene Lehre vom Übermenschen zu lehren (EH, KSA 6,
300), womit er dann ganz unplatonisch scheitert.5 Nach Ecce homo beginnt Zarathustra nicht (nur) mit der Lehre vom Übermenschen, sondern seiner „Grundconception“
4 Zum engeren Kontext dieses Aphorismus im fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft vgl. Werner Stegmaier, „Philosophischer Idealismus“ und die „Musik des Lebens“. Zu Nietzsches Umgang mit
Paradoxien. Eine kontextuelle Interpretation des Aphorismus Nr. 372 der Fröhlichen Wissenschaft, in:
Nietzsche-Studien 33 (2004), 90–128; ders., Nietzsches Befreiung der Philosophie. Kontextuelle Interpretation des V. Buches der Fröhlichen Wissenschaft, Berlin, Boston 2012, 515–538). Die Musik des Lebens, deren „Grundtöne“ in den leiblichen Bewegungen wie der Lebendigkeit der Stimme, Mimik,
Gestik und Körperhaltung zu suchen seien, kann demnach nur paradox im Vorbei- und Verhören
‚gehört‘ werden (126 ff.).
5 Vgl. Michael Skowron, Nietzsches dionysische Gegenlehre und Gegenwertung, in: Nietzscheforschung
22, 2015, 213–225, 223 ff.; ders., Nietzsches Kritik des Transhumanismus und die ewige Wiederkunft des
Gleichen, in: Aufklärung und Kritik 1/2016.
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gemäß (auch) mit dem „Ewige-Wiederkunfts-Gedanken“ (ebd., 335), chronologisch
betrachtet also am Ende (des dritten Teils), das diesem Gedanken entsprechend zirkulär wieder zum Anfang zurückführt, auf dass er „wieder den Menschen den Übermenschen künde“ (Za, KSA 4, 276). Das „Finale“ seiner „Symphonie“, wie Nietzsche
Also sprach Zarathustra auch nennt (vgl. KSB 6, 353, Brief-Nr. 397; 466, Brief-Nr. 479;
474, Brief-Nr. 485; 475, Brief-Nr. 486), knüpfe wieder an den Anfang des ersten Teils
an: „circulus also, und hoffentlich nicht circulus vitiosus“ (KSB 6, 491, Brief-Nr. 499;
vgl. JGB, KSA 5, 75). Es wird um Mitternacht von den zwölf Glockenschlägen einer
alten schweren „Brumm-Glocke“ begleitet (Za, KSA 4, 285 f.), die offenbar auch ein
neues Jahr oder eine „neue Weltperiode“ einläuten.6 Der Götzen-Dämmerung zufolge
beginnt Zarathustra dementsprechend in einem Augenblick, dem mittäglichen
„Augenblick des kürzesten Schattens“, in dem mit der wahren Welt auch die scheinbare zum Verschwinden kommt bzw. von der Geschichte dieser Unterscheidung her
gesehen, „abgeschafft“ ist (GD, KSA 6, 81). „Mitternacht ist auch Mittag“ (Za, KSA 4,
402).
„Die Liebe, der Frühling, jede schöne Melodie, das Gebirge, der Mond, das Meer“
sind zwar immer (wieder) da, aber wir erfahren sie in dem, was und wie sie wirklich
sind, wenn überhaupt, nur in seltenen Augenblicken, in denen sie zum Herzen und
nicht bloß zum Verstand reden und auch dies nur in Graden, nicht immer „ganz“.
„Es geht geisterhaft um uns zu, jeder Augenblick des Lebens will uns etwas sagen,
aber wir wollen diese Geisterstimme nicht hören. Wir fürchten uns, wenn wir allein
und stille sind, dass uns etwas in das Ohr geraunt werde, und so hassen wir die Stille
und betäuben uns durch Geselligkeit“ (SE, KSA 1, 379). Man muss durch den Schleier,
der sich über die Wirklichkeit gelegt hat und immer dichter geworden ist, sodass
man ihn für die Wirklichkeit hält, hindurchdringen, platonisch geredet sich aus der
Schattenwelt der Höhle befreien, um am Leitfaden plötzlich erhellender und orientierender Augenblicke schrittweise und/oder mit einem Schlag zur eigentlicheren
Wirklichkeit vorzudringen.7 Wie aber kann dies geschehen? Wie schon bei Platon, so
vermögen auch in der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung (Schopenhauer als Erzieher) die meisten Menschen dies nicht allein aus eigener Kraft, sondern bedürfen der
bereits selber wahrhaft frei gewordenen Menschen, der „Nicht-mehr-Thiere, die Philosophen, Künstler und Heiligen“, die sie über ihre eigene Noch-Tierheit erheben können
(SE, KSA 1, 380). Nach Nietzsches Genie- und Wagnerkritik ab Menschliches, Allzumenschliches sind es in der Fröhlichen Wissenschaft jedoch nur noch die „seltens-
6 Sylvesternächte und Geburtstage waren schon für den jungen Nietzsche beliebte Anlässe für Rückund Vorausblicke auf das eigene Leben, denn sie geben uns Stunden, „wo die Seele stille steht und
einen Abschnitt der eigenen Entwicklung übersehen kann. […] Man ist für ein paar Stunden erhaben
über die Zeit und tritt fast aus der eignen Entwicklung heraus.“ (KSB 2, 34, Brief-Nr. 458).
7 Unterschied und Beziehung von plötzlicher und gradueller Erleuchtung spielen im (Zen-)Buddhismus eine bedeutende Rolle. Vgl. Peter N. Gregory (ed.), Sudden and Gradual: Approaches to Enlightenment in Chinese Thought, Honolulu, 1988.
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ten glücklichen Zufälle“, die dies vermögen: „Die letzten Schönheiten eines Werkes
zu sehen – dazu reicht alles Wissen und aller guter Wille nicht aus; es bedarf der
seltensten glücklichen Zufälle, damit einmal der Wolkenschleier von diesen Gipfeln
für uns weiche und die Sonne auf ihnen glühe. Nicht nur müssen wir gerade an der
rechten Stelle stehen, diess zu sehen: es muss gerade unsere Seele selber den Schleier
von ihren Höhen weggezogen haben und eines äusseren Ausdruckes und Gleichnisses bedürftig sein, wie um einen Halt zu haben und ihrer selber mächtig zu bleiben.
Diess Alles aber kommt so selten gleichzeitig zusammen, dass ich glauben möchte,
die höchsten Höhen alles Guten, sei es Werk, That, Mensch, Natur, seien bisher für
die Meisten und selbst für die Besten etwas Verborgenes und Verhülltes gewesen“
(FW, KSA 3, 568 f.). Wie schon in Menschliches, Allzumenschliches (MA I, KSA 2, 337)
enthüllt „die ungöttliche Wirklichkeit“ auch hier die letzten Schönheiten und höchsten Höhen alles Schönen und Guten entweder „gar nicht oder Ein Mal“ (FW, KSA 3,
569) und auch nicht für jeden, bisher vielleicht nicht einmal „für die Besten“. Die
Beziehung dieses Aphorismus zu dem übernächsten Aphorismus 341, in dem nach
der Erinnerung an den sterbenden und idealistisch das Leben und seine Musik verneinenden Sokrates (FW, KSA 3, 569 f.; GD, KSA 6, 67)8 und vor dem Beginn der „Tragödie“ und „Parodie“ Zarathustras (FW, KSA 3, 571; 346, 637) deren „Grundgedanke“
(EH, KSA 6, 336), der „Ewige-Wiederkunfts-Gedanke“ als eine Art dämonischer oder
göttlicher Offenbarung vorgestellt wird, hat bisher kaum Beachtung gefunden. Nietzsche hat jedoch offenbar beide Aphorismen ganz gezielt in Beziehung gesetzt, sofern
in letzterem und scheinbar im Gegensatz zu jener Einmaligkeit die angesichts der
„ungöttliche[n] Wirklichkeit“ vergeblichen Gebete der Griechen, alles Schöne zwei
und drei Mal erleben zu dürfen (FW, KSA 3, 569), schließlich doch noch erhört und
sogar unendlich überboten würden, jener gegenüber allerdings zunächst nur in der
umgekehrten ‚göttlichen Unwirklichkeit‘ des konditionierten Konjunktivs („Wie,
wenn …“).
Auch hier ist es zunächst eine Stunde der ‚einsamsten Einsamkeit‘, in welcher
„dir“ ein geisterhaft erscheinender „Dämon“ nachschleichen und den Gedanken
der ewigen Wiederkunft des Gleichen ins Ohr raunen könnte. Die Frage ist, wie man
8 Nietzsche knüpft an die Geburt der Tragödie an, in der sowohl vom sterbenden (GT, KSA 1, 99) als
auch vom musiktreibenden Sokrates (GT, KSA 1, 96, 102, 111) die Rede ist. Wenn der Aphorismus 340
der Fröhlichen Wissenschaft mit der Forderung endet, auch die Griechen zu überwinden, so sind dem
Kontext des Aphorismus zufolge die sokratisch-platonischen Griechen gemeint, nicht die des vorsokratischen tragischen Zeitalters, die Nietzsche mit ihren dionysischen Mysterien und dem Glauben
an die ewige Wiederkunft (wieder)entdeckt zu haben beanspruchte und im Aphorismus 341 zur Sprache kommen (NL 8[15], KSA 10, 340). Ziel der Tragödie sei es, heißt es in der vierten Unzeitgemäßen
Betrachtung, den Einzelnen „zu etwas Überpersönlichen“ zu „weihen“: „er soll die schreckliche Beängstigung, welche der Tod und die Zeit dem Individuum macht, verlernen: denn schon im kleinsten
Augenblick, im kürzesten Atom seines Lebenslaufes kann ihm etwas Heiliges begegnen, das allen
Kampf und alle Noth überschwänglich aufwiegt – das heisst tragisch gesinnt sein“ (WB, KSA 1, 453).
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sich dazu verhalten würde und warum man sich so dazu verhalten würde, entsetzt
und ablehnend, weil man noch nie, oder zustimmend und beglückt, weil man schon
einmal einen solchen Augenblick, in dem die Symphonie des Lebens hörbar wurde
und redete, erlebt hat, so dass man ihn diesem Gedanken zufolge immer wieder
erleben könnte und wollte. Der Gedanke führt in einem „ungeheuren Augenblick“
aber vor allem auch über die Auszeichnung einzelner besonderer Augenblicke hinaus
und verleiht jedem Augenblick gleichen Wert.
Der „Ewige-Wiederkunfts-Gedanke“ erscheint hier im Bild einer immer wieder
umgedrehten „ewige[n] Sanduhr des Daseins“ (FW, KSA 3, 570), die außer dem schmalen Torweg des Augenblicks (Za, KSA 4, 200), durch den der Sand hindurch muss,
auch noch den Augenblick der Umdrehung kennt, in dem wie bei jenem Zifferblatt
alles von Neuem beginnt. Wer oder was aber dreht die Sanduhr um? Die Antwort ist
nicht in einem von außen kommenden Akteur, etwa einem Gott, zu suchen, sondern
liegt in der immanenten Gesetzmäßigkeit der Dinge und Ereignisse selbst begründet,
wonach alle Dinge „solchermaassen fest […] verknotet“ sind, dass jeder Augenblick
„alle kommenden Dinge nach sich zieht“, also auch sich selber noch (ebd.). Die
Umdrehung folgt dem „Gesetz der nothwendigen ‚Selbstüberwindung‘ im Wesen des
Lebens“ (GM, KSA 5, 410) als „Wille zur Macht“ (Za, KSA 4, 146 ff.), die sich als die
ewig aktiven, unruhigen ‚Triebfedern‘ der ewigen Wiederkunft des Gleichen erweisen.
Der ‚Ewige-Wiederkunfts-Gedanke‘ eröffnet die Möglichkeit, dass nicht nur ein oder
mehrere erlebte ekstatische Augenblicke nicht nur ein, zwei oder drei Mal, sondern
immer wieder erlebt werden können, sondern jeder Augenblick eine ungeheure Möglichkeit der Umkehr in sich birgt und so bedeutsam wie jeder andere ist: „das Werden
ist werthgleich in jedem Augenblick: die Summe seines Werthes bleibt sich gleich“
bzw. „der Gesammtwerth der Welt ist unabwerthbar“ (NL 11[72], KSA 13, 34 ff.). Die
Wertgleichheit jeden Augenblicks mit jedem anderen wertet die traditionell durch
die Wertschätzung des „Ewig-Gleichbleibenden“ (z. B. Substanzen) abgewerteten
‚Augenblicke‘ auf und setzt ihr den „Werth des Kürzesten und Vergänglichsten, das
verführerische Goldaufblitzen am Bauch der Schlange vita“, also den Augenblick, entgegen (NL 9[26], KSA 12, 348).9 So heißt es im Lenzer Heide-Text, dass auch ohne dem
Prozess des Werdens eine Zweckvorstellung zu unterstellen, ein bejahender „Pantheismus“ dann möglich sei, „wenn Etwas innerhalb jenes Prozesses in jedem Momente
desselben erreicht würde – und immer das Gleiche“ (NL 5[71], KSA 12, 213 f.).10
9 Das Gleichbleiben des Wertes ist nicht mit dem Wert des Gleichbleibenden zu verwechseln. „Alles
Unvergängliche – das ist nur ein Gleichniss“, heißt es mit einer Anspielung auf Goethe (Za, KSA 4, 110;
vgl. FW, An Goethe, KSA 3, 639) und Homer: „Und die Dichter lügen zuviel“ (vgl. FW, KSA 3, 442) „Aber
von Zeit und Werden sollen die besten Gleichnisse reden: ein Lob sollen sie sein und eine Rechtfertigung aller Vergänglichkeit!“ (Za, KSA 4, 110).
10 Vgl. Michael Skowron, Dionysischer Pantheismus. Nietzsches Lenzer Heide-Text über den europäischen Nihilismus und die ewige Wiederkehr/kunft, in: Nietzscheforschung 20, 2013, 355–377.
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2 Voraussetzungen und Folgen
Das Problem könnte demnach nur sein, dass jemand nicht nur den „ungeheuren
Augenblick“ der Möglichkeit der ewigen Wiederkunft des Gleichen nicht, sondern
nicht einmal einen einzigen ekstatischen Augenblick, in dem die Symphonie des
wirklichen Lebens zumindest in einem kleinen Ausschnitt hörbar wurde, erlebt hat,
und damit auch die Grundlage für eine Bejahung der ganzen Symphonie und ihrer
ewigen Wiederkunft fehlt, er oder sie also tatsächlich nur ein Intervall und Pause
in der Symphonie des wirklichen Lebens wäre. Damit der Mensch solche Augenblicke, die auch Stunden, einen ganzen Tag und/oder Nacht ‚dauern‘ können – denn
„recht gesprochen, giebt es für dergleichen Dinge auf Erden keine Zeit“ (Za, KSA 4,
407), weil sie auch aus unserer gewöhnlichen Zeitrechnung, die ebenfalls noch zur
trüb erleuchteten Oberflächen- und Bewusstseinswelt gehört, herausfallen, insofern
zeitlos sind und in die ‚göttliche Unwirklichkeit‘ gehören –11, erleben kann, und er
nicht nur ein Intervall oder Pause in einem über ihn hinweg spielenden Stück bleibt,
ruft Nietzsche bekanntlich immer wieder dazu auf, man selbst zu werden und Zufriedenheit mit sich selbst zu erreichen (FW, KSA 3, 529 ff.).
Der Ewige-Wiederkunfts-Gedanke scheint jedoch nicht nur an die Voraussetzung
gebunden zu sein, einen ekstatischen Augenblick zu erleben oder erlebt zu haben,
den er einschließlich seiner selbst als letzte ewige „Bestätigung und Besiegelung“
zu bejahen erlaubt (FW, KSA 3, 570), sondern auch daran, dass alle Dinge und Ereignisse notwendig „verkettet, verfädelt, verliebt“ (Za, KSA 4, 402) sind, so „dass dieser
Augenblick alle kommenden Dinge nach sich zieht“, also auch sich selber noch (ebd.,
200). Wenn Nietzsche die Seligkeit lehren will, welche sagt: „ich will das noch Ein
Mal um dieses Augenblickes <willen.>“ (NL 18[47], KSA 10, 579),12 hätte man sich
dann nicht auch zu fragen, ob man diese und mögliche andere Voraussetzungen (wie
Zeitunendlichkeit) teilen kann? Oder ist der Augenblick selbst bereits ewige Wiederkunft des Gleichen, sofern er immer anders, zugleich aber immer derselbe ist und
das Vermögen zur ‚Selbstüberwindung‘ in sich trägt? Denn die ‚Voraussetzungen‘
sind unterschiedlicher Art: die eine ist ganz persönlich-individuell und existenziell,
die anderen logischer und begrifflich-allgemeiner Art, wobei diese in jener fundiert
11 Auch dies eine „anspornende Verachtung der Zeit“, die nicht nur ‚seine‘ oder unsere Zeit betrifft,
sondern „gar nichts mit der Zeit zu thun“ hat (NL 34[47], KSA 7, 807), also „unzeitgemäss […] im tiefsten Verstande“ ist (SE, KSA 1, 346). Auch Zarathustras „Ja- und Amen-Lied“ endet mit den ‚sieben
Siegeln‘ seines Bekenntnisses der Liebe zur Ewigkeit (Za, KSA 4, 267 ff.), und „was ein Philosoph
am ersten und letzten von sich [verlangt]“, das ist, „[s]eine Zeit in sich zu überwinden, ‚zeitlos‘ zu
werden“. (WA, KSA 6, 11) Vgl. Renate Reschke, Denkumbrüche mit Nietzsche. Zur anspornenden Verachtung der Zeit, Berlin 2000.
12 Nietzsche hat die Denkfigur auch auf sich selbst (im zweifachen Sinne) angewandt: „Unsterblich
ist der Augenblick, wo ich die Wiederkunft zeugte. Um dieses Augenblicks willen ertrage ich die Wiederkunft“ (NL 5[1], 205, KSA 10, 210).
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sind und aus ihr verstanden werden müssen, also keine ‚Voraussetzungen‘, sondern
Folgen sind. Sie begründen die ewige Wiederkunftslehre nicht, sondern entfalten nur,
was im Augenblick ihres Entwurfs impliziert ist.13 Entscheidend ist die existenzielle
Voraussetzung, einen Augenblick, in dem die „Symphonie des wirklichen Lebens“
(MA I, KSA 2, 337) hörbar wurde, selber erlebt zu haben, so dass man sich fragen
kann, ob man diesen Augenblick noch einmal und unzählige Male bzw. ewig erleben
wollen könnte, was dann auch die (dritte) Zustimmung zu den Konsequenzen dieser
Zustimmung einschließt.14
Zarathustra hat zumindest den hässlichsten der höheren Menschen gelehrt, um
des Tages willen, den er mit ihm verbracht hat, das ganze Leben und alles „Noch
Ein Mal!“ erleben zu wollen, sodass er dann auch die anderen höheren Menschen
fragt, ob sie es ihm gleich tun wollen (Za, KSA 4, 395 f.). Wenigstens in diesem Fall
ist Zarathustra mit seiner Lehre nicht gescheitert, was ihn selber in einen Zustand
der Trunkenheit versetzt und beim Klang der Mitternachtsglocke gemeinsam mit den
höheren Menschen in die Nacht hinaus wandeln lässt, wo es immer „noch stiller und
heimlicher“ wird, so dass der Ton der Mitternachtsglocke immer besser hörbar wird
(ebd., 396 f.). Er selbst hatte die Erfahrung mit einem vorbeihuschenden glücklichen
Augenblick auch schon „Mittags“, als die Welt „vollkommen“ war, gemacht: „Das
Wenigste gerade, das Leiseste, Leichteste, einer Eidechse Rascheln, ein Hauch, ein
Husch, ein Augenblick – Wenig macht die Art des besten Glücks. Still!“ (ebd., 344).
Wie in der Fröhlichen Wissenschaft ist auch hier von einem Gott (wiederum Dionysos, der „einen alten braunen Tropfen goldenen Glücks, goldenen Weins“ trinkt?) die
Rede, allerdings so, dass man ihn auch dann nicht hören würde, wenn man selber
still bleibt, da er still lacht und damit ein weiteres Beispiel ‚göttlicher Unwirklichkeit‘
sein könnte: „So – lacht ein Gott. Still!“ (ebd., 343).
„[V]erkettet, verfädelt, verliebt“ (ebd., 402) sind nicht nur alle Dinge und Ereignisse, sondern auch die Texte, Metaphern, Begriffe, Werte und Gedanken Nietzsches,
und auch hier gibt es nur das Ganze. Ein Grund dafür liegt in der Aufeinanderfolge der
Schriften Nietzsches, die seinen eigenen Worten zufolge eine notwendige Entwicklung
aufweisen, so dass er an seinen Verleger Ernst Wilhelm Fritzsch schreiben kann, dass
„wer einmal auf eine meiner Schriften angebissen hat, es mit allen aufnehmen muss“
(KSB 7, 225, Brief-Nr. 730; vgl. 237, Brief-Nr. 740; 296, Brief-Nr. 784)15 und sie „Angelha-
13 Vgl. Martin Heidegger, Nietzsche I, Pfullingen 1961, 377.
14 Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, München 1976, 201 ff., spricht von einer „doppelten
Bejahung“, allerdings im Hinblick auf Dionysos und Ariadne als zwei Aspekten des dionysischen
Wollens, das der ewigen Wiederkunft zugrunde liege, nicht im Hinblick auf den ‚Teil‘, das ‚Ganze‘ und
deren Implikationen.
15 Etwas von der Notwendigkeit der Entwicklung seiner Schriften und deren Gedankenketten aufzuzeigen, war die Aufgabe der 1886 von Nietzsche verfassten neuen Vorreden zu seinen Schriften von
der Geburt der Tragödie an (vgl. auch KSB 7, 228, Brief-Nr. 732; ebd., 237, Brief-Nr. 740). Im Hinblick auf
Also sprach Zarathustra findet Nietzsche, dass er mit Morgenröthe und Fröhlicher Wissenschaft den
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ken“ nennen lässt, ein weiterer in der notwendigen Zusammengehörigkeit philosophischer Gedanken, Begriffe und Wertungen: „Philosophen […] haben kein Recht darauf,
irgend worin einzeln zu sein: wir dürfen weder einzeln irren, noch einzeln die Wahrheit treffen. Vielmehr mit der Nothwendigkeit, mit der ein Baum seine Früchte trägt,
wachsen aus uns unsre Gedanken, unsre Werthe, unsre Ja’s und Nein’s und Wenn’s und
Ob’s – verwandt und bezüglich allesamt unter einander und Zeugnisse Eines Willens,
Einer Gesundheit, Eines Erdreichs, Einer Sonne“ (GM, KSA 5, 248 f.; vgl. JGB, 34 f.).
Form und Inhalt der Philosophie Nietzsches spiegeln sich ineinander, so dass
eine kontextuelle Interpretation schnell an Grenzen stößt, wenn der Kontext zu eng
gefasst wird und es darum geht, Gedankenketten, die auch weit auseinanderliegende Texte in ihren Modifikationen verbinden können, zu verfolgen. Der Kontext
einer „kontextuellen Interpretation“ muss immer das ganze Werk sein und jeder
enger gewählte Kontext kann nur vorläufig sein oder täuscht darüber hinweg, dass
sie immer schon von einem wie auch immer diffusem oder elaboriertem Verständnis
eines Ganzen geleitet ist.16
Aber auch dieses Ganze scheint nur in Augenblicken auf. Nur scheinbar ganz
nebenbei fragt Nietzsche: „bleibt wirklich eine Sache allein schon unverstanden und
unerkannt, dass sie nur im Fluge berührt, angeblickt, angeblitzt wird?“ (FW, KSA 3,
634). Zum Mindesten gebe es „Wahrheiten von einer besonderen Scheu und Kitzlichkeit, deren man nicht anders habhaft wird, als plötzlich, – die man überraschen oder
lassen muss“ (ebd.). Der späte Nietzsche behauptet, dass er, ähnlich wie Heraklit,
überhaupt „nicht mehr mit Worten, sondern mit Blitzen rede“ (EH, KSA 6, 320), also
mit einer Kraft, in der sich vieles „Lang-Gedachtes“ (VM, KSA 2, 432) zusammenballt
und so zur Entladung kommt, dass ein ganzer und bislang im Dunkel gebliebener
Umfang und Zusammenhang wie im Fall der ewigen Wiederkunft schlagartig ans
Licht kommt, vorausgesetzt, dass auch „wir gerade an der rechten Stelle stehen“ und
die Seele frei genug ist, dies zu sehen (FW, KSA 3, 568). Es sind jene Momente, in
denen „wahre Ekstasen des Lernens“ (EH, KSA 6, 302) möglich sind.
„Commentar vor dem Text gemacht habe“, da darin fast keine Zeile stehe, „die nicht als Einleitung,
Vorbereitung und Commentar zu genanntem Zarathustra dienen“ könne (KSB 6, 496, Brief-Nr. 504;
ebd., 364, Brief-Nr. 404; ebd., 502, Brief-Nr. 520), versprochen sei alles sogar schon in Schopenhauer
als Erzieher (KSB 6, 364, Brief-Nr. 405; ebd., 292, Brief-Nr. 345). Ähnliches gilt später von Jenseits von
Gut und Böse, das „eine Art von Commentar“ zu Zarathustra sei: „Aber wie gut müßte man mich verstehn, um zu verstehn, in wie fern es zu ihm ein Commentar ist“ (KSB 7, 270 f., Brief-Nr. 768; ebd., 224,
Brief-Nr. 730; ebd., 254, Brief-Nr. 754; NL 1886/87, KSA 12, 234). Zur Genealogie der Moral wiederum
wurde „[d]em letztveröffentlichten ‚Jenseits von Gut und Böse‘ zur Ergänzung und Verdeutlichung
beigegeben“ (KSA 14, 377; KSB 8, 186, Brief-Nr. 946; NL 6[2], KSA 12, 231).
16 Auch wenn man nicht zu einer „vollkommenen ‚theoretischen‘ Übersicht“ komme, werde Nietzsches Philosophie desto deutlicher und plausibler, „je stärker sich die internen und externen Kontexte der Aphorismen eines ‚Buchs‘, eines Werks und von Nietzsches Werk im Ganzen verflechten und
verdichten“ (Werner Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, 81).
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Michael Skowron
3 Symphonischer Schluss
Nicht zufällig wird die ewige Wiederkunftslehre in Also sprach Zarathustra zuerst
aus dem Mund der Tiere, die Zarathustras eigenen Worten zufolge ‚gut wissen‘, was
sich in den sieben Tagen von der durch die Konfrontation mit diesem Gedanken
ausgelösten schweren Krankheit, die wie eine Todes-Erfahrung erscheint, erfüllen
musste, in einem ansprechenden „Leier-Lied“, also immerhin musikalisch hörbar,17
bevor sie am Schluss eines anderen Tanzliedes18 zwischen zwölf Glockenschlägen
und „Stundenzeigern des Lebens“ ein Mal, dann im vierten Teil als „Rundgesang“
um „Mitternacht“19, noch ein Mal selber sprechend wird (Za, KSA 4, 286; 403 f.).20 Die
ewige Wiederkehr des Gleichen ist einerseits exoterisch betrachtet ein „Leier-Lied“,
das immer wieder abgespielt wird und vom „Grollenden“ „Noth“, vom „Narren“
„Spiel“ genannt werden kann (FW, KSA 3, 369) , aber andererseits esoterisch und
17 „Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht wieder
auf, ewig läuft das Jahr des Seins. […] Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit“ (Za,
KSA 4, 272 f.) Auch wenn Zarathustra dies ein „Leier-Lied“ nennt, können die Tiere damit nicht ganz
falsch liegen, was sich z. B. in Nietzsches Gedicht An Goethe zeigt, wo ebenfalls vom „Welt-Rad“, dem
rollenden, in positivem Sinne die Rede ist (FW, KSA 3, 639; vgl. auch MA I, KSA 2, 103). Auch Das
Nachtwandler-Lied spricht von der „Mitternachts-Leier“, einer „Glocken-Unke, die Niemand versteht,
aber welche reden muss, vor Tauben“ (Za, KSA 4, 401). Vielleicht ist auch das „Mitternachts-Lied“ nur
eine Leier, weil und solange es niemand versteht, und das „Leier-Lied“ der Tiere, recht verstanden,
umgekehrt auch keine bloße Leier.
18 Das andere Tanzlied hatte in der Reinschrift noch den Titel Vita femina (KSA 14, 324), womit ein
deutlicher Hinweis auf den ebenso betitelten Aphorismus 339 in der Fröhlichen Wissenschaft mit seinen einmaligen „seltensten glücklichen Zufällen“ und „golddurchwirkten Schleier von schönen Möglichkeiten“ und deren Beziehung zu der im Aphorismus 341 in einem ebensolchen Zufall eröffneten
Möglichkeit der ewigen Wiederkunft aller Dinge gegeben wird.
19 Nicht nur „Mittags“, sondern auch um „Mitternacht“ ist die Welt für Zarathustra „vollkommen“.
„Mitternacht ist auch Mittag“ (Za, KSA 4, 342 ff., 402).
20 Vgl. Werner Stegmaier, Oh Mensch! Gieb Acht! Kontextuelle Interpretation des Mitternachts-Lieds
aus Also sprach Zarathustra, in: Nietzsche-Studien 42, 2013, 85–115, für den es in diesem Lied darum
geht, „das Unausgesprochene und Unhörbare als Nachklang des Ausgesprochenen und Hörbaren,
das Leben im Sprechen, die Tiefen unter der Oberflächen- und Zeichenwelt“ zu verstehen (103), so
dass er dementsprechend den musikalisch-zeitlichen Unterschied zwischen seltenen Augenblicken
und langen Intervallen und Pausen epistemologisch und räumlich als Unterschied zwischen oberflächlicher Zeichen- und Bewusstseinswelt einerseits, tiefer und unbewusster Traumwelt andererseits
versteht (96 ff.). Demgegenüber geht es eher darum, die langen Pausen und Intervalle der Oberflächen- und Zeichenwelt des Alltags als Nachklang eines selber in seltenen kurzen Augenblicken hörbar gewordenen und in Texten (Liedern, Gedichten) Festgehaltenen, der „Symphonie des wirklichen
Lebens“, zu begreifen, da wir immer auch „eines äusseren Ausdruckes und Gleichnisses“ bedürfen,
in denen die Seele Halt und Orientierung finden kann, um „ihrer selber mächtig zu bleiben“ und nicht
in eine Ohnmacht versinkt (FW, KSA 3, 568). Vgl. Michael Skowron, Das Gewissen des Tänzers. Seele,
Leben, Weisheit, Wahrheit, Liebe und Tod in und um Zarathustras anderes Tanzlied, in: Nietzsche-Studien 45 (2016), 189–219.
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Vom Stundenzeiger des Lebens
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vom Augenblick selbst her gesehen auch tiefer als der All-Tag mit seiner Logik sich
das denkt und denken kann, tiefer als das Leiden an dieser ewigen alltäglichen
Leier, weil er in den „Brunnen der Ewigkeit“ (Za, KSA 4, 344) und deren Lust an
sich selber und ewige Wiederkunft reicht, die immer wieder Unvordenkliches und
Unvorhersehbares heraufholt und zum Erscheinen bringt. Denn immer liegt auch
eine ewig-tiefe „Kluft der Vergessenheit“ zwischen dem Gleichen und der Wiederkunft des Gleichen.
Das Lied der ewigen Wiederkunft wird aber auch immer nur auf jeweils ganz individuelle Weise gehört, nicht nur weil es wie alle Musik des wirklichen Lebens nur in
bedeutsamsten Augenblicken der „einsamsten Einsamkeit“ und „stillsten Stunden“
vernehmbar wird, sondern auch weil Worte und Töne nur „Regenbogen und ScheinBrücken zwischen Ewig-Geschiedenem“ sind. Sie sind deshalb zwar „lieblich“,
können aber auf Grund dessen auch trügerisch sein und leicht darüber hinwegtäuschen, dass zu „jeder Seele […] eine andre Welt“ gehört und „für jede Seele […] jede
andre Welt eine Hinterwelt“ ist (Za, KSA 4, 272). Die „Musik des Lebens“ ist auch dann
eine „Musik des Vergessens“ (FW, KSA 3, 616), des Vergessens dieser unüberbrückbaren oder doch nur „am schwersten“ oder meta-physisch zu überbrückenden kleinsten
Kluft zwischen Seelen (Za, KSA 4, 272).
Der von Nietzsche wiederentdeckte und bei ihm selber wiederkehrende antike
„Gedanke und Glaube“ (NL 11[143], KSA 9, 496) an die ewige Wiederkunft und „Symphonie des wirklichen Lebens“ (MA I, KSA 2, 337) wird zwar allein schon seines
Augenblick-Charakters wegen nicht nur ebenso, sondern noch viel vergänglicher
sein als der antike Glaube an die Musik der Sphären (M, KSA 3, 89 f.), vielleicht aber
auch unvermeidlich zur Stunde des Mittags oder der Mitternacht immer wiederkehren
und hörbar werden, zuerst in einzelnen, dann in vielen und schließlich (am großen
Mittag?) vielleicht einmal allen Seelen (NL 11[148], KSA 9, 498), als Symphonie oder/
und Chor mit vielen verschiedenen Instrumenten und Stimmen. Schon in der Geburt
der Tragödie dachte Nietzsche an das in ein Gemälde verwandelte „Beethoven‘sche
Jubellied der ‚Freude‘“ aus dessen neunter Symphonie als angemessene Weise, wie
man sich „dem Dionysischen nähern“ könne (GT, KSA 1, 29), und das erste Buch des
im Nachlass auf den 26. August 1881 in Sils-Maria datierten „Entwurf einer neuen
Art zu leben“ (NL 11[197], KSA 9, 519 f.), nämlich so, „daß wir nochmals leben wollen
und in Ewigkeit so leben wollen“ (NL 11[161], KSA 9, 503), beginnt ebenfalls „im Stile
des ersten Satzes der neunten Symphonie“, könnte also auch im „Dithyrambischumfassend“ konzipierten vierten Buch im Stil von deren vierten Satz schließen.21 Das
„Evangelium der Weltenharmonie“ aus der Geburt der Tragödie (GT, KSA 1, 29) weist
auf Also sprach Zarathustra voraus, von dem es nicht nur heißt, das ganze Werk sei
21 Obwohl Thomas Mann in seinem mit zahlreichen Nietzsche-Anspielungen versehenen Roman
Doktor Faustus (1947) seinen Protagonisten Adrian Leverkühn die ‚Zurücknahme‘ der neunten Symphonie fordern ließ, ist sie mit ihrem ‚Jubellied‘ heute nicht nur Europa-, sondern sogar Welthymne.
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Michael Skowron
eine „Symphonie“ und vielleicht am ehesten noch unter die Musik zu rechnen (EH,
KSA 6, 335), sondern auch, es sei „eine ‚Dichtung‘, oder ein fünftes ‚Evangelium‘ oder
irgend Etwas, für das es noch keinen Namen“ gebe (KSB 6, 327, Brief-Nr. 375).22 Voraussetzung solcher zukünftiger Namengebung oder auch des Verzichts darauf, dürfte
ein augenblicklich seltener glücklicher Zufall sein, in dem sich die „höchsten Höhen“
(FW, KSA 3, 568) dieses Werkes entschleiern würden.
22 Vgl. Peter Sloterdijk, Über die Verbesserung der guten Nachricht. Nietzsches fünftes „Evangelium“,
Frankfurt a. M. 2001, der allerdings nur die Sprache, nicht aber das, was nach Nietzsche „[d]as Verständlichste an der Sprache“ ist, berücksichtigt, nämlich „die Musik hinter den Worten, die Leidenschaft hinter dieser Musik, die Person hinter dieser Leidenschaft: alles das also, was nicht geschrieben
werden kann“ (NL 3[1], KSA 10, 89).
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