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FOLIA LINGUISTICA ET LITTERARIA: Časopis za nauku o jeziku i književnosi FOLIA LINGUISTICA ET LITTERARIA: Journal of Language and Literary Studies Glavni urednik / General Editor: Marija Krivokapić Urednici posebnog izdanja / Editors of Special Ediion: Jelena Knežević, Simone Heine, Ljubomir Ivanović Izdavač: Insitut za jezik i književnost, Filološki fakultet, Nikšić Publisher: Insitute for Language and Literature, Faculty of Philology, Nikšić Uređivački odbor / Board of Editors: Rossella Abbaicchio, University of Bari Aleksandra Banjević, University of Montenegro Nick Ceramella, University for Foreigners of Perugia Vesna Vukićević Janković, University of Montenegro Ginete Katz-Roy, Pairs West University Nanterre La Défense Bernhard Ketemann, University of Graz Jelena Knežević, University of Montenegro Vlasta Kučiš, University of Maribor Radmila Lazarević University of Montenegro Aleksandra Nikčević Batrićević, University of Montenegro Ana Pejanović, University of Montengero Ljiljana Pajović Dujović, University of Montenegro Sekretar / Secretary: Jovana Đurčević, University of Montenegro Kontakt / Contact: foliaredakcija@gmail.com Graički dizajn / Graphic Design: Biljana Živković, Studio Mouse Štampa / Printed by: Foto LAB, Nikšić Tiraž / Copies: 500 © Filološki fakultet, Nikšić, novembar / November 2017. Folia linguistica et litteraria: Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft (18/1) (Sonderausgabe) Macht und Politik in der deutschen Sprache, Literatur und Kultur Jelena Knežević / Simone Heine / Ljubomir Ivanović (Hrsg.) Insitut für Sprache und Literatur Philologische Fakultät, Nikšić Universität Montenegro FiloloŠ{ški fakultet - Nik{i} Inhaltsverzeichnis / Table of Contents Macht und Poliik in der deutschen Sprache, Literatur und Kultur Einleitung / Introducion Jelena Knežević, Simone Heine, Ljubomir Ivanović ........................................... 7 Literatur- und Kulturwissenschat / Literary and Cultural Studies Kafkas Machtphantasien Slobodan Grubačić ......................................................................................... 13 Rumäniendeutsche Schritsteller im Visier des kommunisischen Geheimdienstes Securitate Stefan Sienerth .............................................................................................. 29 Poliische Machtstellung oder kulturelle Insellage der Literatur. Leidlich kämpt Plenzdorfs junger W. um seine Charlie Miodrag Vukčević .......................................................................................... 47 Das Patriarchat als Ort männlicher Macht in den Erzählungen von Marie von Ebner-Eschenbach Eldi Grubišić Pulišelić ..................................................................................... 67 Literatur vs. Engagement. Einige Anmerkungen zu Peter Handkes Elfenbeinturm Anđelka Krstanović ........................................................................................ 83 Die poeische Darstellung der Macht im Werk Das Land zwischen den Katarakten des Nil von Anton Prokesch von Osten Marina Lučić ................................................................................................. 99 Macht versus Ohnmacht. Die Problemaik der Deportaion, exemplarisch dargestellt anhand ausgewählter Werke rumäniendeutscher Autoren Maria Sass .................................................................................................... 113 Andreas Okopenko, die österreichische Nachkriegsliteratur und das Poliische Arno Herberth, Laura Tezarek...................................................................... 129 Historische Wirklichkeit im Spiegel des magischen Realismus Maja Stefanović ............................................................................................ 143 Modalitäten der Macht im deutschen Gegenwartsdrama am Beispiel von Rolf Hochhuths Heil Hitler! Sonja Novak .................................................................................................. 159 Über die Eigenmacht der Literatur Tomislav Zelić ................................................................................................ 175 Verräter in den eigenen Reihen: Die Darstellung der serbischen Gesellschat in Beiträgen zur Handke-Kontroverse 1996 in serbischen Printmedien Paul Gruber ................................................................................................... 193 Die poliische Anthropologie in Karl Immermanns Merlin. Eine Mythe Zaneta Sambunjak ........................................................................................ 213 Machtbewäligung: Heinrich Bölls literarischer Widerstand Boris Dudaš ................................................................................................... 221 HINWEISE FÜR AUTORINNEN UND AUTOREN ............................................... 233 INSTRUCTIONS FOR CONTRIBUTORS ............................................................. 235 UPUTSTVO AUTORIMA .................................................................................. 237 Folia linguisica et literaria 7 UDK 32=112.2 UDK 008=112.2 Macht und Politik in der deutschen Sprache, Literatur und Kultur Einleitung Jelena Knežević, Universität Montenegro, jelenak@ac.me Simone Heine, DAAD, sheine@gmx.net Ljubomir Ivanović, Universität Montenegro, ljubomiri@ac.me Der Südosteuropäische Germanistenverband (SOEGV) widmete seine 9. Jahrestagung dem Thema Poliik und Macht in der deutschen Sprache, Literatur und Kultur. In der Sekion Literatur und Kulturwissenschat wurde Literatur als Faktor bei der Prägung geisiger Haltungen diskuiert. Seit langem wird immer wieder folgende Frage gestellt: Wie mächig ist eigentlich Literatur? Hat sie in allen Epochen eine poliische Rolle gespielt − eine Rolle bei der Entstehung und Durchführung unterschiedlicher Poliiken? Und wozu eigentlich Literatur? Was leistet sie für AutorInnen und LeserInnen und welchen Stellenwert nimmt sie in kulturellen, sozialen und historischen Zusammenhängen ein? Von Unterhaltung und Vergnügen über emoionale Wirkung und ästheische Erfahrungen bis hin zu Orienierung, Erkenntnis und Wissen ergibt sich ein breites Spektrum an Antworten. Die Frage nach der Funkion der Literatur ist die Frage nach einer Kulturpoliik, mit der Literatur konform geht oder gegen sie opponiert. Sie ist gleichzeiig eng verbunden mit der Frage nach ihrer Macht, unabhängig davon, ob es sich um die tatsächliche oder erwünschte und angenommene Macht der Literatur handelt. Dabei kreisten die Diskussionen um folgende Fragen: Was kann und was soll ‚Macht‘ und ‚Poliik‘ in Hinblick auf literarische Texte oder Kunstwerke allgemein bedeuten? Wie produkiv sind die poeischen Darstellungen von Macht und Poliik in der deutschsprachigen Literatur aller Epochen – gesellschatliche Relexion und Selbstrelexion? Kann engagierte, provokaive und beunruhigende Literatur gesellschatliche Veränderungen in die Wege leiten? Wie sieht es mit Zensur und Autozensur sowie mit selbstbezüglichen literarischen Konzepten aus? Welche Funkionen lassen sich der Literatur begründet zuweisen? Handelt es sich dabei beispielsweise um kogniive, emoionale, ästheische oder andere Funkionen? Herrschen ethische Orienierung und Vermitlung von moralischen 8 Journal of Language and Literary Studies Werten vor? Oder geht es in erster Linie um Kriik und Subversion? Welches Verständnis von der Macht literarischer Texte haben verschiedene Literaturtheorien oder kulturwissenschatliche Ansätze, Ethical Criicism oder Postcolonial Studies? Welche Rolle spielten Annahmen über die Macht von Literatur in der Geschichte der Literaturwissenschaten und welche Rolle nehmen sie heute in diesen Disziplinen ein? Die linguisische Sekion Sprachwissenschat und Translatologie beschäfigte sich mit Macht und Poliik in der Sprache bzw. von der Sprache. Systemlinguisisch wurden grammaische Phänomene als silisisches Merkmal und Instrument in poliischen Texten oder als Mitel zur Konsituierung von Macht in der Sprache bzw. Sprache der Macht untersucht. Des Weiteren wurden Rezepion und Relexion der Sprachenpoliik im deutschsprachigen Raum analysiert. Im Rahmen der Diskurslinguisik, Pragmaik, Text- und Soziolinguisik beschätigte sich die Sekion vor allem mit dem poliischen Diskurs, poliischen Metaphern sowie dem poliischen und gesellschatlichen Einluss auf Sprache. Auf dem Gebiet der Translatologie setzte sich die Sekion mit Fragen der Translaionskultur/ Translaionskulturen sowie transkultueller Kommunikaion auseinander, die immer auch eine poliische Dimension besitzen. Darüber hinaus wurden wissenschatliche Untersuchungen zu Problemen des Übersetzens poliischer Texte sowie der poliischen und gesellschatlichen Bedeutung translatorischen Handelns diskuiert. Im aktuellen gesellschatlichen und poliischen Diskurs weltweit, insbesondere in deutschsprachigen Ländern, kommt man an der Flüchtlingsthemaik sowie Themen wie Migraion und Integraion nicht vorbei. Da es sich um ganz aktuelle gesellschatliche Gegebenheiten handelt, stellen sie in der Regel keinen Bestandteil gängiger DaF-Lehrwerke dar. In der Sekion DaF-Didakik und Landeskunde wurde daher die Frage gestellt, wie diese wichigen Themen, welche die Lernenden unter anderem zur Relexion und Auseinandersetzung mit interkulturellen Fragestellungen anregen, didakisiert und mit Erfolg im DaF-Unterricht eingesetzt werden können. Ein anderer Aspekt des Themas Macht und Poliik wurde themaisiert, in dem die Einlussnahme der Poliik auf das Unterrichtsgeschehen in Form von Rahmenplänen und Curricula in Vergangenheit und Gegenwart in verschiedenen Ländern der Region aufgearbeitet wurde. Auch wurden die vielfäligen Machtbeziehungen, die in jedem Klassenzimmer auindbar sind, diskuiert. An erster Stelle wäre die Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden zu nennen: Welche Auswirkungen haben hierarchische, egalitäre, parizipaive, autoritäre und andere Strukturen auf das Unterrichtsgeschehen und den Lernerfolg? Und wie ist es um die Machtbeziehungen unter den Lernenden bestellt? Gibt es Druck in der Gruppe und/ oder Folia linguisica et literaria 9 Konkurrenz oder ist das Klima eher solidarisch? Des Weiteren setzten sich Beiträge mit der Frage nach der Integraion des Themas Poliik in den Landeskunde-Unterricht auseinander. Wie können die Lernenden für poliische Themen moiviert werden? Welche Unterrichtsformen und Materialien eignen sich dazu, die bloße Vermitlung von abfragbaren Fakten zu erweitern? Die Konferenz fand im November 2016 in Bar, Montenegro stat und wurde in Zusammenarbeit mit der Abteilung für deutsche Sprache und Literatur der Philologischen Fakultät der Universität Montenegro organisiert. Die TeilnehmerInnenzahl belief sich auf 98 Hochschulangehörige aus den SOEGV-Mitgliedsländern, sowie aus Bulgarien, Deutschland, Österreich, Polen, Rumänien, der Schweiz und der Türkei. Bei allen TeilnehmerInnen möchten wir uns für die gelungenen Beiträge, die angeregten Diskussionen und die wertvollen Rückmeldungen bedanken. Nikšić, im September 2017 Danksagung Großer Dank geht an den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), ohne dessen Unterstützung die Durchführung der Tagung nicht möglich gewesen wäre. Des Weiteren danken wir der Universität Montenegro, der Deutschen Botschat, der Österreichischen Botschat, der KonradAdenauer-Situng, der Donauschwäbischen Kultursitung des Landes BadenWürtembergs, dem Goethe Insitut sowie der Humboldt-Gesellschat zur Förderung der montenegrinisch-deutschen kulturellen Zusammenarbeit. Literaturwissenschat / Literary and Cultural Studies Folia linguisica et literaria 13 UDK 821.112.2.09 Kafkas Machtphantasien Slobodan Grubačić, Belgrad, bobo.grubacic@gmx.net Abstract: Macht ist in der Literatur des 20. Jahrhunderts ein weitreichendes, strukturierendes Thema des Denkens geworden. Für Kafka ist der Machtbegriff „soziologisch ambigue“: unter den Umdichtungen der Mythen im dritten Oktavheft, eingestreut zwischen Aphorismen und erkenntnistheoretischen Betrachtungen, indet sich eine Eintragung vom 20. Oktober 1917, die mit dem märchenhaften „Es war einmal“ beginnt und ähnlich endet: „Es war einmal eine Gesellschaft von Schurken, das heißt, es waren keine Schurken, sondern gewöhnliche Menschen. Sie hielten immer zusammen. Wenn zum Beispiel einer von ihnen jemanden, einen Fremden, außerhalb ihrer Gemeinschaft Stehenden, auf etwas schurkenmäßige Weise unglücklich gemacht hatte, − das heißt wieder nichts Schurkenmäßiges, sondern so wie es gewöhnlich, wie es üblich ist – und er dann vor der Gemeinschaft beichtete, untersuchten sie es, beurteilten es, legten Bußen auf, verziehen und dergleichen. Es war nicht schlecht gemeint, die Interessen der einzelnen und der Gemeinschaft wurden streng gewahrt und dem Beichtenden wurde das Kompliment gereicht, dessen Grundfarbe er gezeigt hatte: „Wie? Darum machst du dir Kummer? Du hast doch das Selbstverständliche getan, so gehandelt, wie du mußtest. Alles andere wäre unbegreilich. Du bist nur überreizt. Werde doch wieder verständig“. So hielten sie immer zusammen, auch nach ihrem Tode gaben sie die Gemeinschaft nicht auf, sondern stiegen im Reigen zum Himmel. Im Ganzen war es ein Anblick reinster Kinderunschuld, wie sie logen. Da aber vor dem Himmel alles in seine Elemente zerschlagen wird, stürzten sie ab, wahre Felsblöcke“. Schlüsselwörter: Kafka, Aphorismen, Macht, Mythos, Parabel, Goethe Kakas Parabeln sind Narraiоnen, die funkenarig zünden wollen. Doch der begriliche Inhalt dessen, was Kaka als „stehenden Sturmlauf“ bezeichnet oder einfach als Macht der Ohnmacht, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt, ist für ihn – wie etwa für Max Webers Aufassung der Macht als System − „soziologisch amorph“, mehrdeuig, ambigue. Daher bietet sich den rätselnden Lesern, die darauf erpicht sind, dieser epischen Kleinform, diesen Bonsai-Geschichten von der Macht, ein möglichst eindeuiges Gatungsgepräge abzugewinnen, mehr als nur eine plausible Lösung an. Allerdings keine Botschat. Nichts, was sich getrost nach Hause tragen ließe – auch wenn sie zuweilen die Welt märchenhat versprachlicht. 14 Journal of Language and Literary Studies Unter den Umdichtungen der Mythen im driten Oktavhet, eingestreut zwischen Aphorismen und erkenntnistheoreischen Betrachtungen, indet sich eine Eintragung vom 25. Oktober 1917, die mit dem märchenhaten „Es war einmal“ beginnt und ähnlich endet:: ’Es war einmal eine Gesellschat von Schurken, das heißt, es waren keine Schurken, sondern gewöhnliche Menschen. Sie hielten immer zusammen. Wenn zum Beispiel einer von ihnen jemanden, einen Fremden, außerhalb ihrer Gemeinschat Stehenden, auf etwas schurkenmäßige Weise unglücklich gemacht hate, − das heißt wieder nichts Schurkenmäßiges, sondern so wie es gewöhnlich, wie es üblich ist – und er dann vor der Gemeinschat beichtete, untersuchten sie es, beurteilten es, legten Bußen auf, verziehen und dergleichen. Es war nicht schlecht gemeint, die Interessen der einzelnen und der Gemeinschat wurden streng gewahrt und dem Beichtenden wurde das Kompliment gereicht, dessen Grundfarbe er gezeigt hate: „Wie? Darum machst du dir Kummer? Du hast doch das Selbstverständliche getan, so gehandelt, wie du mußtest. Alles andere wäre unbegreilich. Du bist nur überreizt. Werde doch wieder verständig“. So hielten sie immer zusammen, auch nach ihrem Tode gaben sie die Gemeinschat nicht auf, sondern siegen im Reigen zum Himmel. Im ganzen war es ein Anblick reinster Kinderunschuld, wie sie logen. Da aber vor dem Himmel alles in seine Elemente zerschlagen wird, stürzten sie ab, wahre Felsblöcke’ (Kaka 1953, 80-81). Aus dem Bild trit uns eine Dramaik entgegen, eine Provokaion, ein Schauspiel, ein gestochener Gedanke, etwas Heiteres und Lastendes zugleich, und wir fragen uns, in welche Denkweisen, Sprachhaltungen, Seh-Störungen sind wir da hineingeraten, in welche Schläue, die auf Zusammenstöße zugeschniten ist, die aus einem Fall des ius divinum, das die Beziehung zwischen Götern und Menschen regelt, ein Prinzip ironischer Symmetrie zwischen Handlung und Behandlung, Tat und Urteil statuiert. Sind es Prager Oberschichtenengel, die von der Höhe ihres Selbstbewusstseins heruntergestoßen und vom Anblick der Gorgo versteinert werden? Oder nur gemessene Ministranten des k. und k. Behördenhimmels? Haben wir eine Persilage auf das Jüngste Gericht vor uns, von dem es in einem Aphorismus heißt: „Nur unser Zeitbegrif läßt uns das Jüngste Gericht so nennen, eigentlich ist es ein Standrecht“? (Kaka 1953, Aphorismus Nr. 40) Oder ist es ein Höllensturz? Wären es rebellische Engel, so stürzten sie vom Hinmmel auf die Erde durch einen Wolkenschacht in die metaphysische Tiefe geschmetert, wären es verdammte Sünder, und das scheint plausibler, so behielten sie auch im „Geworfensein“ ihre Form, und so führte sie ihr Sturz nicht auf die Erde, sondern ins Folia linguisica et literaria 15 Unterirdische, in die Stratiefe für Wesen, die aus leicht erklärbaren Gründen des Obenwohnens für unwürdig erachtet werden. Den genauen Inhalt dieses wie durch ein Fernrohr gesehenen Spektakels verrät, so könnte man meinen – wie in jenen frühen illiteraten Epochen die notwendig bebilderten Rechtsbücher darlegen – die Analyse der Handgesten-Sprache. Tatsächlich sind Kakas gesische und bewusst überdeutliche Darstellungen von Hand- und Armhaltung durchwegs Sinnträger, gemalte Worte, Rollenzuweisungen. Doch er inszeniert hier kein ikionales Geschehen mit tragfähigen Karyaiden des epischen Portals, sondern ein metaphysisches Thema mit schemenhaten Körpern, die, in ihren Scharnieren bewegt, nichts als Händchen zu halten, einen Reigen in „reinster Kinderunschuld“ zu bilden haben. Der Machtdiskurs ist gleichzeiig Körperdiskurs: Der Körper ist das Medium, mit dessen Hilfe Utopie, Macht und Ästheik korreliert und durch Momente der santen Repression in Kakas real-utopischen Machtentwürfen sichtbar werden. Kein Zweifel: eine Art Übertreibung oder Überverrätselung ist es schon, was Kaka hier als Scheinheiligkeit der Machinsituion inszeniert. Zugleich eine Art Vorausgabe jener intertextuellen Methoden und Spielen mit parabelarigen Strukturparikeln, die poliische Fikion und Essay, philosophische Relexion und mythische Leitbilder mischen, ohne die Existenz humanwissenschatlich ergründen zu wollen. Nach Origenes (dem Begründer der allegorischen Methode der Heiligen Schrit) hat Got die Welt erschafen als einen Absieg (Katabasis) zu einer niedereren Stufe für böse und minderwerige Seelen, die einer groben Materie bedurten zum Dienste an der Welt. (Origenes 256-258) Stürzten Kometen auf die Erde, dann Meteorite genannt, galten sie früher meist als heilig oder als „Himmelboten“ und götliche Objekte, ja als schutzmagisches Kometengestein wie bei Paracelsus. (253-254) Aus ihnen wurden Ritualgegenstände hergestellt. Kaka dagegen, dem schon beim Schauen, erst recht beim Niederschreiben jene Ironie das Fernrohr lenkt und die Feder, hat anderes im Sinn. Der Meister der Parabel schildert das Geschick eines Individuums, eines Kollekivsingulars, das mit seiner Existenz und den Existenzen in seiner Umgebung zerfallen ist. Anders ausgedrückt: Er schildert einen vorprogrammierten Kometenschauer in der kürzesten kosmischen Geschichte, die zugleich den rafgierigen Vollständigkeitsdrang von Epik lisig berut: nämlich die totale Gesellschat. Daher kommt auch die totale Katastrophe nicht von ungefähr. Nicht aus heiterem, wenn auch unerkennbar unbegreilichem Himmel. Dass Kaka vielfach auf Topoi zurückgreit, die dem Kanon der damaligen Plichtlektüre entstammen, ist leicht verständlich. Denn schließlich stand hier ein Bildvorrat zur Verfügung, der höchst nobiliiert war und dessen Sprache andererseits bereits geläuig und daher verständlich und also an eine gebildete Öffentlichkeit zu vermiteln war. Und doch hat man den Eindruck, dass Kaka seinen Diskurs herausholen wollte aus den Basillen bürgerlicher Bildungskulturen. 16 Journal of Language and Literary Studies Vom Standpunkt der posiivisischen Quellenforschung allein, fern ab jeglichen germanisischen Glasperlenspiels, erscheint die Parabel lebensumständlich zugänglicher, aber nicht weniger rätselhat. Man verfolge, akribisch und detailverliebt, ihre Entstehungsgeschichte, bishin zu den Konsequenzen, die sich für Kaka ergeben: Er las intensiv die Bücher seines akademischen Lehrers Chrisian von Ehrenfels, er besuchte regelmäßig seine Seminarveranstaltungen und in den Jahren vorher war er ot zu den literarisch-philosopischen Vorträgen im Haus der Apothekersgain Berta Fanta gegangen, bei denen häuig auch Ehrenfels dabei war; er sah die Auführung seiner Sternenbraut und entnahm offenbar das Schurkenmoiv in modiizierter Form dem ersten Band des Systems der Wertheorie: „So etwa könnte eine Räuberbande eine besimmte Strafe für jeden einzelnen aus ihrer Mite aussetzen, welcher eine günsige Gelegenheit zu rauben unbenützt vorüber gehen ließe. Die durch diese Strafandrohung gestützte Norm des Verhaltens ist, wie leicht ersichtlich, das genaue Gegenteil einer moralischen Maxime.“ (Ehrenfels 128)1 Die Parallelität ist mit Händen zu greifen. Mit der einfachsten Formel könnte man das, wofür Kaka unversöhnlich streitet, die moralisch moivierte Absage an das Böse nennen. Es ist fraglich, ob an derarigen Stellen Kakas Schurkenkonzept nicht beinahe in ein Dogma umschlägt. Doch ließe sich daraus fraglos schließen, was Kakas Werk im Innersten zusammenhält: Es versucht hinter der sant beharrlichen Lebenszuversicht, hinter der universellen Idylle, das böse, enigmaisch-elitäre Moment des eigentlich Sozialen herauszuarbeiten. Es variiert das Verlöschen der Individuaion in seiner provokaiven Asymmetrie, seiner beunruhigenden Unangepasstheit an die Gesellschat, wobei die phantasische Überhöhung der sozialen Wirklichkeit einen verqueren magischen Realismus enfesselt. Wen oder was sieht also Kaka so kunstvoll in Gesellschat auferstehen? Parodiert er hier nicht die Kant‘sche „Gemeinschat der Heiligen“ im freien Fall? Den sitlich-religiösen Zusammenhang des durch stellvertretende Liebe erlösten menschlichen Geschlechts, der als das „wahrhat höchste Gut“ der prakischen Vernunt erscheint? Nun, wir werden sehen. Vorerst ist freilich hervorzuheben, dass sich die meisten diskursanalyischen Untersuchungen an dem Begrif der Ambivalenz orieniert haben. Zum Topos der Kaka-Forschung gehört die Feststellung Marin Walsers, daß diese Prosa keine deiniive Aussage bestehen lässt: „Die Zwar-Aber- und Freilich-Allerdings-Bewegungen seiner Prosa sind dazu da, das Schlimmste erscheinen zu lassen als das in diesem Augenblick Bestmögliche. Allerdings ist das Beste auch das, was, sobald es in seinem Superlaiv hat erscheinen dürfen, von der keine Posiion bestehen lassen könnenden Prosabewegung sofort, im ErscheinensDer Liste der Handbibliothek ist zu entnehmen, dass er wohl alles von Ehrenfels Erreichbare gelesen hat. 1 Folia linguisica et literaria 17 moment selbst, eingeschränkt wird, bis es gänzlich zerrieben ist und so wiederum das Schlimmste konstaiert werden muss. Aber doch auch nur, damit ihm widersprochen werden kann.“ (Walser 44). Kaka mit Adorno lesend, deutet Walser auch den biograischen Kaka, als ob der grammaische Habitus idenisch wäre mit dem psychologischen.2 Das ist Psychologismus der reinsten Art. Verdienstlich bleibt zwar, die ambivalente Erzählstruktur gezeigt zu haben, doch es fehlt so vieles in dem, was eine Topographie von Kakas Seele zu sein vorgibt; andererseits kann kein einzelnes Modell den Gesamteindruck erschütern: Alles, worüber Kaka schreibt, aktualisiert sich, weil er nichts schreibt, was nicht strategisch gegen einen speziischen ästheischen oder ethischen Konsens gerichtet ist. Seine Art, metaphorisches Sprechen wortwörtlich zu nehmen, ihm das verborgene Körpergeschehen abzulauschen, ist unnachahmlich, wenngleich ot nachgeahmt. Wie sieht das nun in den narraiven Sequenzen aus? Was geschieht mit der Verschmelzung von Plasizität und märchenhat inszeniertem Ereignis beim „kleinsten Kaka“, der seine Prosa povera von unterschiedlichen Ecken aus in verschiedene Hete zerlegt hat, um sie kapitelweise zu Konvoluten zu ordnen? Wenn schon Sichworte wie vergebliches Streben und menschliches Scheitern fallen, läge da nicht eins von Kakas komplex gebauten und in seinen mythischen Assoziaionen raumgreifenden Werken näher? Die alte, romanische Idee von reiner Literatur mag hier mitgewirkt haben, der Wunsch nach einer Arte povera, ohne Intrige und ohne „transzendentale Topograie des Geistes“ von der noch Lukács’ schwärmte, dafür mit einem Hauch von Blütenstaubfragmenten, einer santen Verneigung vor den Aphorismusbüchern dieser Welt. Im Hintergrund vielleicht die Hofnung, das Erzählen ohne Gepäck führte iefer hinein in das verborgene Wahrheitszenrum der Literatur. Nun sind aber, wie schon Bruno Betelheim feststellte, moderne Märchen „literarische Phänomene und keine therapeuischen“; sie schildern „Probleme, die für die ganze Menschheit gülig sind“. 3 Unübersehbar und unverkennbar ist hier der poliisch brisante Resonanzraum. Das Fragwürdige wird selbstverständlich: die „schurkenmäßigen“ Handlungen, die die Gemeinschat als Werte, als Posiivität alltäglicher Lebenshaltung anerkennt, und die ofenbar das Fortbestehen der Gemeinschat gewährleisten, werden für „gewöhnlich“, „üblich“, ja für „selbstverständlich“ erklärt. „Alles andere wäre unbegreilich“, heißt es im Text, „werde doch wieder Ein Beispiel ist die „Interlinearübersetzung“ der in den Briefen dokumenierten Lebenssituaion: Kaka 1923 mit Dora in Berlin, mitellos, betlägerich; das Telefon ist unten in der Halle, „recht unangenehm“, schreibt er, „und doch wieder sehr angenehm, weil es das Telephonieren fast verhindert“. Aber dann endet er doch sozusagen kafkaisch in einer nicht mehr auhebbaren Schreckvorstellung: „Was täte ich, wenn Prag anläutet und Dora wäre nicht zu Hause“ (Walser 44). 3 Bruno Betelheim bei seiner Wiener Vorlesung am 22. Oktober 1987. 2 18 Journal of Language and Literary Studies verständig“. Nicht nur gibt sich das Unbegreiliche für das Begreiliche aus, das Ungewöhnliche für das Selbstverständliche, wirksamer noch ist diese ironische Distanzierung, die in Form der Fernstellung den Begrif des Verständig-Werden mit silisischen Miteln ereilt. Betont, aber ganz am Schluss stehend, gibt die Verständigkeit selber zu, dass sie ein leeres Wort sei. Ein besonderes Merkmal der gesellschatlichen Syntax ist auch die rhetorische Frage „Wie? Darum machst du dir Kummer?“. Sie setzt die Zusimmung der Gemeinschat voraus. Das Gesagte entspringt dabei nicht dem einmaligen, unwiederbringlichen Augenblick, der letztlich unaussprechlichen Individualität; es ist vorgebildet, übernommen, das Soziale ist ihm eingeprägt; es arikuliert basale,wenn auch problemaische Wertüberzeugungen, hinsichtlich deren eine Gemeinschat einhellig denkt, ja mehr noch: über die diese Gruppe ihre soziale Synthesis vollzieht als eine Einheit des Fühlens oder als eine Solidarität des Lebens. Sie spricht mit dem Beichtenden, als spräche sie mit einem infanilen Wesen ohne Eigenschaten. Und dieses Wesen wird seinerseits dissoziiert: Es ist keine feste Persönlichkeit, vielmehr die momentane Konstellaion im Zusammenhang mehrerer Faktoren, die selbst nichts Individuelles darstellen. Wird dieser Zusammenhang in letzter Instanz doch für zerbrechlich gehalten, was das Bild des Zerfalls mehr als deutlich zu suggerieren scheint, dann wird auch das Band der Brüderlichkeit in der senimental-kitschigen Reigen-Metapher zu einer bloßen Äußerlichkeitsbeziehung zwischen Subjekt-Atomen, die einander gleichberechigt, aber auch im Wortsinne auch gleich-gülig sind. Was ein solches Theorem poliisch bedeutet, hängt davon ab, wie sehr es den Lesern gelingt, in diesem Dokument eines symbolischen Paktes, die doppelte narraive Buchührung ständig mitzurelekieren: die Diferenz von realer und imaginierter Krudelität. Die Schwierigkeit besteht dabei ot darin, dass in der Topologie des Psychismus beide Register aufeinander verweisen: Ähnlichkeiten sind ohne Diferenzen nicht möglich und umgekehrt. Mit der Respektlosigkeit der Nachkommen löst jeder sich aus dem Text heraus, was ihm einleuchtend erscheint und überantwortet den Rest der Verdammnis. Doch das Ganze als Vorgang, als Spektakel am Himmel sich bildhat einprägsam abspielen zu sehen, macht das narraive Phantasiestück so interessant und im sozialpsychologischen Sinne auch im Detail hermeneuisch ergiebig. In ein gesellschatliches Moment ist auch jene Rhetorik des Verhörens verwandelt, die den Lesern Kakas früh aufgefallen ist, jenes für Kaka so charakterisische und ambivalente pseudoforensische Verfahren, welchem seine Gestalten unterworfen werden. Und sie selbst lässt er schrunpfen zum winzigen willenlosen Ding, fremden, undurchsichigen sozialen Energien ausgesetzt. So sehr nun das Ganze dieses Verfahrens als gesellschatlicher Prozess erscheint, und so sehr die einzelnen Momente dieses Prozesses vom bewussten Willen und besonderen Zwecken der Individuen ausgehen, sosehr erscheint die Tota- Folia linguisica et literaria 19 lität dieses Prozesses als ein objekiver Zusammenhang, der naturwüchsig entsteht; zwar aus dem Aufeinanderwirken der Individuen hervorgeht, aber weder in ihrem Bewusstsein liegt, noch als Ganzes unter sie subsumierbar ist. Ihr eigenes Aufeinandertrefen produziert ihnen eine über ihnen stehende, fremde gesellschatliche Macht; ihre Wechselwirkung als von ihnen unabhängigen Prozess und Gewalt. Es sieht sogar aus, als habe Kaka mit seiner Parabel eine Kontrafaktur geschrieben zu einer ganz besimmten Spießbürgersaire mit beunruhigten Ruheständlern, die den sant manipulierten Paternalismus, die sante Dressur nicht durchschauen. Wie dem auch sei, die soziale Beziehung der Individuen zueinander als verselbständigte Macht über den Individuen, werde sie nun vorgestellt als Naturmacht, Zufall oder in sonst beliebiger Form, ist notwendiges Resultat dessen, dass der Ausgangspunkt nicht das freie gesellschatliche Individuum ist. Ein ani-subjekivisischer Grundzug besimmt hier die Erzählweise, welche die Rituale eines enindividualisierten Schurken-Ordens zelebriert, vor allem aber die Hillosigkeit des einzelnen gegenüber den Sprach- und Handlungsmustern der anderen, mit denen sie ihm begegnen, die sie ihm gestaten – als erhöben sie den Einspruch gegen das Subjekt, es wäre noch etwas gutzumachen von dem uralten Unrecht, ich überhaupt zu sein. Kaka lässt die „Handlung“ dieser stenopoeischen Kürzestgeschichte verschwinden in der mythischen Natur, in ihrer schlechthin ungeschichtlichen Form der riesigen Steinmassen − eine surrealisische Vorstellung, die, als Metapher verbrämt, zusammen mit dem Bild der Auferstehung zum Teil mythologisch inspiriert ist, zum Teil aber aus der säkularisierten christlichen Sphäre zu stammen scheint. Alles Vorherige ist, mit dem bloßen Sichwort des Absturzes darin aufgegangen, als wäre es nie gewesen. Doch der metaphysischen Realität der Subjektgemeinschat, diesem ins Mythische erhöhten Sozialmodell − das auch als eine Art Club auf Gegenseiigkeit funkioniert, in dem sich die Mitglieder auch in extremis zulüstern: Wir gehören zusammen, wir halten zusammen − dieser Sozietät also wird nun eine neue Form von Sein zugeschrieben: in der anorganischen, alles Geschichtliche überdauernden Form von Felsblöcken. Die Subjekt-Atome werden durch den unendlichen Raum zerstreut, jedes für sich, unzerstörbar, in sich gleicharig, begrenzt und unteilbar, bis ihr Zusammentreffen, so könnte man nach analoger atomisischer Vorstellung meinen, zur Bildung von Dingen und Welten führt. Aus dem Prinzip, dass nichts Seiendes vergehen könne, könnte man den Schluss ziehen, dass nur noch eine zeitliche Umkehrung denkbar wäre: die Gesellschat von Schurken trit aus den Felsen wieder hervor − in vollendeter Sündhatigkeit, wie wiederum Lukács gesagt häte − zwar im Blick auf ein Jenseits, aus dem sie aber wieder herausfällt und den alten Kreislauf nur aufs neue beginnt in einem unentrinnbaren ewigen Zirkel – gemäß jener Idee eines triadi- 20 Journal of Language and Literary Studies schen Rhythmus von Ursprung, Verfremdung und Wiedergeburt. Sich dieser interpretatorischen Freiheit völlig zu überlassen, verbietet zunächst die eschatologische Ironie, die über dem Ganzen zu liegen scheint. Das Bild des Zerfalls, vollends lachhat und ernsthat zugleich, enthält in sonderbarer Verschränkung das Unbedingte und Bedingte, das heiter Klare und das zerstörend Ungeheuere, es trägt eine auf den Unterschied von Erscheinung und Realität nicht angewiesene Evidenz und macht im Gewand des Es-war-einmal-Erzählens jeden Umweg um das Zentrum des Ernstes möglich. Wer könnte mit Sicherheit ausschließen, dass Kaka nicht auch ein wenig an die Titanenstürze gedacht häte? Unterschiede und Analogien liegen auf der Hand: Den Besucher etwa, der in der Sala dei Gigani im Palazzo Te in Mantua steht, erfasst dagegen ein leichter Schwindel angesichts des freskierten Dramas, das um ihn wogt und brandet und alles mitzureißen scheint. Säulen bersten, Torbögen stürzen ein, Architrave segeln durch die Lut. Und diejenigen, die diesen Untergang angezetelt haben, schweben drohend triumphierend über dem Desaster und kennen keine Gnade. Die Göter des Olymps zerstören die Titanen, die es gewagt haben, sich gegen Zeus und sein Reich zu erheben. Auch hier wird ein Herrschatsdiskurs abgebildet, denn die Giganten werden unter den Trümmern ihrer eigenen Architektur begraben. Allerdings: wenn Giulio Romano in seinem Panorama-Bild die Titanen unter der einstürzenden Architektur begräbt, dann ist das freilich auch jenseits der für die Gegenwartspoliik benutzten Mythologie und des lokalen Kunstprogramms, ein krätiger Hinweis in eigener poetologischer Sache. Zum Einsturz hat er die Architektur der Anike und Renaissance zwar nicht gebracht, aber er hat ihre Formen aufgebrochen und ihre Versatzstücke neu und spielerisch respektlos verwendet. Nicht anders bei Kaka, der die berühmte These Wilhelm von Humboldts – „Die Kunst besteht in der Vernichtung der Natur als Wirklichkeit und in ihrer Wiederherstellung als Produkt der Einbildungskrat“ – so ergötzlich pessimisisch-ironisch variiert. Kaka hat ein Modell entwickelt, das gesellschatliche Phänomene mit den Begrifen der Macht und der Zerstörung zu fassen sucht. Das Feld der Macht und ihrer Ausübungen wird dominiert von Zwang-Formen, die das principium individuaionis − in vielen Fällen kaum merklich, aber zielstrebig − untergraben, unausbleiblich zerstören. ,,Alle Tugenden sind individuell“, schreibt Kaka, ,,alle Laster sozial“. Als strukturierendes Thema des Denkens besimmen sie prakisch alle Modi des menschlichen Zusammenlebens und bedingen auf unterschiedliche Weise das Entstehen von Diskursen mit ausdiferenzierten persönlichen und sozialen Einlusspotenzialen. Kein Wunder, dass Kakas Oxymora und labyrinthische Denkmuster im Zeichen einer zynischen Kriik des eschatologischen Denkens postum eine exemplarische, globale Verbreitung gewannen: Die Welt anonymer Überwachung, Folia linguisica et literaria 21 „stehender Sturmlauf“ und atemloses Laufen nach einem Kreisel, das für die Philosophie steht, der Käig auf der Suche nach einem Vogel, die Ungeziefermenschen und überzählige Landvermesser, das Schloss als entorteter Ort, der die Enfremdung versinnbildlicht. „Es gibt im gleichen Menschen Erkenntnisse, die bei völliger Verschiedenheit doch das gleiche Objekt haben, so daß wieder nur auf verschiedene Subjekte im gleichen Menschen rückgeschlossen werden muß“ (Kaka 1970, 195–205) − − dies sind nur einige der Formulierungen und Gedanken, die zum Vorstellungsfundus ganzer Generaionen von Lesenden wurden. Denkt man etwa an die Kurzgeschichte Gemeinschat, die genau zwei Jahre nach der Schurken-Parabel entstanden ist, so fällt das analoge „fortwährende Beisammensein“ der fünf auf, die es gleichwohl hinnehmen, sich aber weigern, einem sechsten dasselbe Beisammensein zu gewähren, diese Paria-Situaion des Außenseiters, der sich anbiedern möchte. Die Skizze lässt wichige Strukturen anklingen, die deutliche Verbindungen zur Erzählprosa zeigen: Die Auseinandersetzung zwischen Einzelnem und Gesellschat, die Skepsis gegen die Idenität des Ich, das bildliche Umschlagen der Subjekivität in ihr Gegenteil, in die stumme und starre Objekivität der Dingwelt; auf der formalen Ebene aber die Neigung zur Parabolik und Chifrierung, der Versuch, alles Abstrakte, Gefühltes und Gedachtes, in visuelle Bilder zu verwandeln. In mancherlei Hinsicht dürte daher einleuchten, was Kaka den Schurken nachsagt. Im Lande herrsche eine Gemeinschat ohne feine Unterschiede, die große Versöhnung eben, Freund und Feind miteinander verschleimt. Einleuchtend auch, dass die repressive Struktur der herrschenden Moral der einzige Grund sein kann, weshalb sie „immer zusammenhalten“. Doch ihr „Aufsieg im Reigen zum Himmel“ ist nicht nur ein provokantes Moiv der Enindividualisierung. Im parabelarigen Text balanciert es zwischen Pathos und Lächerlichkeit und macht aus dem „alltäglichen Wunderbaren“ ein Rätsel – eine Methode, die viel mit Joyce’ Epiphanien, mit Benjamins „profaner Erleuchtung“ zu tun hat. Das poeisch surreale Bild besimmt zugleich das Feld der Zerstörung. Der Versuch nämlich, das Absolute zu erreichen, den Riss der Existenz zu schließen, endet als Zerstörung der sozialen Ordnung: der Bruch, der wörtliche Riss verhindert den falschen Einklang. Allzu gern, klagt Kaka, wird der Umstand übersehen, dass die soziale Welt eine wahnsinnige Welt ist und dass ihre ätherischen Formen nur eine dünne Schicht über infernalischen Abgründen bilden. Ofenbar interessiert auch hier die Grenzsituaion, das Sprengen des geschlossenen Systems, der Modus des Zerfalls und des Untergangs, bei dem die Blickwinkel und Größenverhältnisse unserer eingespielten Welt-Anschauung ungemütlich verwackeln. Das Phantasische wird als besimmtes Silmitel eingeführt, das dem Rezipienten zu erkennen gibt, dass das Geheimnis des »Zerfalls« – unausgesprochen – im innerlich zermürbten, ethisch zersetzten Zusammenhalten 22 Journal of Language and Literary Studies und der lugarigen Bewegung selbst liegt, den gefundenen »Standpunkt« immer wieder von neuem zu revidieren. Dabei bedient sich Kaka des Begrifs des Heiligen, des Himmels, der, aus dem Religiösen abgeleitet, ästheisch mit dem Begrif des ethisch Erhabenen, soziologisch und poliisch dagegen mit falschen Idolen und Mythen verglichen werden kann. Das Heilige parizipiert am erhöhten Profanen. Kakas Machtphantasie arbeitet mit Übertragung religiöser Phantasie, der einzigen Phantasie mit Absolutheitsanspruch. Ein Ort, an dem die Übertragung geschieht, ist auch der Mythos. Kaka amalgamiert im Grunde Mythologeme und ritualisierte Textbestände – ja sogar jenen Ein-Satz-Mythos bei Lukas: „Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz“ – wörtlich oder assoziaiv krypisch, auch wenn hier nicht genau feststeht, was in den Einzugsbereich der Verluchung fällt. – Das ist kein Novum bei Kaka. Zwar besteht bekanntlich der künstlerische Neuansatz dieser Schafensphase darin, dass er sagenhate und literarische Überlieferungen zu gleichnishaten Gebilden umformt, doch er behandelt die überlieferten Mythologeme fast durchgehend ironisch. Während die Sirenen und Odysseus – in den zur gleichen Zeit entstandenen Parabeln – Beispiele der Entmythologisierung der Überlieferung, der Auhebung des Mythos und zugleich eine paradoxe Deformaion des klassischen Moivs darstellen, wird hier das alltägliche Betragen, der Alltagsmythos gleichsam, nicht nur destruiert oder demoniert, sondern potenziert. Dergestalt verdeutlicht die Skizze das Zusammenwirken zweier totalitärer Bereiche mythischer Abhängigkeit des Einzelnen: von der über sein Schicksal waltenden Gemeinschat einerseits und von der übergeordneten, alles beherrschenden Natur andererseits. Durch die Enfremdung hindurch enthüllt sich das gesellschatliche Verhältnis als blind naturwüchsiges, und die „reinste Kinderunschuld“, welche der auliegende Reigen in dieser Beschreibung annimmt, ist die hofnungslose ihres Scheines. Sysiphos war, das wird ot vergessen, bereits tot, als er sich an sein sinnloses Unterfangen machte. Kaka deutet unterschwellig nicht nur die soziale Dimension der vergeblichen Anstrengung an. Die Fahrt zum Himmel gibt der Parabel eine Dimension der Entwicklung und Spannung, die den repeiiven Irrfahrten des Sinnlosen meist fehlt. Sie zeigt mit leichter Ironie, daß hier auch der Gedanke der Apokatastasis, der möglichen Wiederherstellung der alten Ordnung, ja der ganzen Schöpfung, lisig mitschwingt, einschließlich der Sünder, Verdammten und Dämonen. Er stellt einerseits ironisch den Gedanken der Apokatastasis in Frage und retet ihn zugleich durch eine Art ästheischen Gewaltakt.4 Ferne, getrennte Bereiche werden durch die Reigen-Metapher zusam4 So wird, diskursanalyisch, als Ergebnis nur festzuhalten sein, dass Kaka das Moiv des Verlöschens im „unerklärlichen Felsebirge“ aus der im Oktavhet unmitelbar vorhergegangenen Mythe vom Prometheus fortsetzt, variiert und auf unvergleichliche Weise inszeniert. Folia linguisica et literaria 23 mengebracht, ohne dass sie – und das macht die Wirkungskrat des sorgsam gewählten Bildes – wieder geschieden werden könnten. Zwischen dem Modell gesellschatlicher Modellierung und dem mythischer Transformaion konstruiert Kaka eine aninomisch grinsende analogia enis, aber der Platonische Chorismos, wie noch zu zeigen sein wird, klat noch weiter auseinander, denn die Herstellung einer vernüntigen Ordung auf Erden wäre für Kaka: „Wie ein Weg im Herbst: Kaum ist er rein gekehrt, bedeckt er sich wieder mit den trockenen Blätern“. (Kaka 1953, 80-81, Aphorismus Nr 15) Sucht man nun nach analogen Aussagen abseits dieser rücksichtslos eigensinnigen Imaginaion, so stößt man auf die Worte der Panthalis, der Begleiterin der schönen Helena, im zweiten Akt der Faust-Dichtung Goethes, am Schluss des zentralen Aktes; „Wer keinen Namen sich erwarb, noch Edles will,/ Gehört den Elementen an; so fahret hin“ (9981). – Das Diktum bezieht sich auf die Choreiden, die trojanischen Mädchen, die sowohl das Mitelmaß des Lebens als auch Mangel an Individualität und Fehlen der Gestalt verkörpern, und die, schon im Leben unpersönlich, elemenisch, wieder zum Element werden. Sie sind keine „Personen“ (9986), und sie werden zu Oreaden – von „Felswänden“ ist die Rede (9999) – weil sie keine Entelechie, keine emporsteigende organische Einheit darstellen. Steckt aber in unserem Text tatsächlich ein Relex der Lektüre Goethes? Es handelt sich ofenbar weder um eine einfache Rezepion dieses Mythologems, noch um ein mysisches Wiederautauchen uralter pelasgisch-tellurischer Mythen, die Kaka aus einem angeborenen, untergründig mythischen Ahnungswesen heraubeschworen und erneuert häte, sondern um den Versuch, die Geschichte in das Nicht-Geschichtliche einzubeten, in ihm aufgehen zu lassen. Noch weniger geht es Kaka um eine Redukion des Gegenwärigen aufs Uralte und Gleichbleibende; ganz gewiss zeiigt ihn keine Gier nach psychologischen Archetypen, sondern ist er insofern surrealisisch, als er das Verstehen selbst zum mysiizierten Gegenstand der Darstellung macht. Das Thema Zeitliches und Überzeitliches, Elementares und Geisiges, Natur und Entelechie erscheint bei Kaka anders beleuchtet und fokussiert − in neuer, andersariger Spiegelung. Es fehlt vor allem der ekstaische Untergang. Die Verwandlung der „gefallenen Geister“ ins Natürlich-Wüchsige geschieht ohne kosmisches Schaudern. Doch es geht um analoge Verwirklichungen des einen mythischen Schemas der Reinkartnaion, die das eine Mal aus den Elementen aufsteigt und – wie es bei Goethe heißt – „auf der heiteren Oberläche des Lebens“ bleibt (Eckerman, Gespräch vom 29. [25.] Januar 1827), das andere Mal den Alltag durch immer neue Verkörperungen des „Schurkenmäßigen“, und das heißt des „Üblichen“ und „Gewöhnlichen“, besimmt. Diese skepisch-ironische Aitüde foriiziert bei Kaka das Leben des Mythos in einem neuen Aggregatzustand, der in seiner trivialisierenden Beschrei- 24 Journal of Language and Literary Studies bung nicht nur märchenhate Züge annimmt, sondern auch infaniles Kolorit zeigt. Da vergisst auch der Pessimist, dass er einer ist. Denn einerseits kommt er in einem provozierend ironischen Zustand zur Erscheinung − als ein von der Welt unberührtes und doch aus ihr hinausgeborenes, ja hinausgefahrenes Sein, andererseits aber ist er von einer paradoxen Kollision gekennzeichnet. Das Pluralsubjekt, der Schurken-Orden nämlich, erscheint als Endprodukt und Keimzelle zugleich, als Anfang und Ende einer Geschlechterreihe, deren Auferstehung eigentlich als Verschwinden inszeniert wird. Damit will Kaka dem Leser gleichzeiig noch eine Einsicht vermiteln. Die Pointe ist zu ahnen: Was durch diese „Auferstehung“ verheißen wird, ist freilich nicht die Ankunt des Ewigen bei den Menschen, auch nicht der Eintrit eines wie immer gearteten Menschenschlages ins Ewige, sondern es ist die Wiederkehr der „vergeblichen, „uberlüssigen“ Existenz aus dem Anorganischen, aus dem Gestein, und zwar als Pathogenese des falschen Lebens. Dergestalt wird sie zur negaiven Ewigkeit. Wie also ist das perennierende Fortsetzen des Wechsels dieser einander herbeiführenden Besimmungen zu erklären? Dialekisch gesprochen: mit bemerkenswertem Nachdruck schildert Kaka die „schlechte“ oder „negaive Unendlichkeit“, die Negaion des Endlichen, welches aber „ebenso wieder entsteht, somit ebenso sehr nicht aufgehoben ist“ (Hegel §§ 93-94). Psychosozial gesprochen: Alles was in diesem anschaulichen narraiven Modell zum Vorschein kommt, themaisiert im Grunde eine psychosoziale Unaulösbarkeit. Poetologisch gesprochen: wenn von der alten Parabel gesagt wird, sie werde von ihrem Ende her konstruiert“ (Millerm202), so lässt sich für die Parabel Kafkas eher sagen, sie werde von ihrem Ende her zerstört – bildlich und sinngemäß (Horvat 225). Mythologisch gesprochen: dies ist kein Mythos der endgüligen Heimkehr ins Ursprüngliche, sondern der ewigen Widerkehr „des längst gewohnten, des alltäglich Gleichen“. Daher ist auch der Grund, weshalb an die Stelle des Alltagsmythos die spektakuläre kosmische Erscheinung trit, weder als Vordeutung auf nahe geglaubte apokalypische Ereignisse, noch etwa als bloßes Überhöhungsmitel und letzte Steigerung des Inhalts zu deuten. Mit Recht betonte schon Wilhelm Emrich, dass Kaka kein Wiederentdecker uralter Mythen, sondern Moralist im strengen Sinne sei (Mann/ Rothe 201). Obwohl der märchenhate Beginn den Eindruck erweckt, dass es nie viel anders war, enthält das ganze Bild mehr als den fatalen Befund menschlicher Determinaion, deren vorgegebenen Spielraum Handlungen gleichsam nur erfüllen. Es ist ein gegen die allgemeine Nivellierung durch den Alltag gerichtetes Geschehen, das als allgemeine Besimmung der condiion humaine ins Gleichnis überführt wird. Dies erklärt sich, erstens, aus Kakas Neigung, noch das unbedeutendste Alltagsdetail auf seinen möglichen Bezug zur Sinnesmite des Weltganzen hin zu untersuchen und zweitens aus seinem Bedürfnis, den erkenntnisproblemaischen Aspekt fast nur im Zusammenhang mit moralischen Überlegungen zu formulieren. Folia linguisica et literaria 25 „Die Nivellierung ist richig, vielleicht, aber eine so weitgehende Objekivierung hebt alle Lebensmöglichkeiten auf“, so lautet eine Eintragung in den Fragnmenten aus Heten und losen Blätern, und im selben Zusammmenhang heißt es noch: „Ich sagte: ‚Es ist nicht so arg, alle sind so‘, machte es aber noch ärger dadurch“ (Kaka 1953, 169). Idenisch oder verwechselbar ähnlich sieht dieser Satz jener Szene des Verhörens vor dem Schurkentribunal. Aber die phantasischen Formen, in denen Kaka seine Ansichten niederlegt, umhüllen auch den prinzipiellen Gedanken einer gesetzmäßigen Abfolge der Verwandlungen und einer fortwährenden Ausgleichung zwischen ihnen. Sie schlagen mehrere assoziaive Brücken vom betrübten Jetzt zum ebenso resignierten Vergangenheits- und Zukuntsaugenblick, der war und wiederkommen mag. In einem sich immer wiederholenden Rhythmus erzeugt sich das „Gewöhnliche“ aus dem Materiellen und lebt wieder auf, um, ein Pluralsubjekt, neu daraus zu entstehen. Auch in Faust II gibt es keine Charaktere mehr, vor allem im Helena-Akt, wo sich die verschiedensten Zeiten und Räume überschneiden und überlagern. Doch bei Goethe dominiert noch der Gedanke, eine Große Entelechie werde wohl auch nach dem Tode als solche weiterleben. Aus den Elementen hate sich einst auch Helena herausgehoben. Kakas Helden dagegen scheitern im „Versuch, hinter ihre Existenz zu kommen, zur Welt zu kommen, d. h. noch einmal geboren zu werden“ (Kurz/ Frank 202). Und das Ich, das zerstört werden muss, um zur Erkenntnis zu gelangen, stellt zugleich das Hindernis dar, sich zum ewigen Leben zu nähern: „Die Erkenntnis ist gleichzeiig beides: Stufe zum ewigen Leben und Hindernis vor ihm“, heißt es in einer späteren Eintragung, „so wirst du dich, das Hindernis, zerstören müssen, um die Stufe, das ist die Zerstörung, zu bauen“ (Kaka 1953, 169). Die Aufwärtsbewegung von den Elementenen zur Gestalt, die Seelenwanderung also, gelingt nur den „Gewöhnlichen“, den Schurken, dem Pluralsubjekt, das es zur Erkenntnis nicht bringt. Die Umwandlung, welche das Mythologem bei Kaka sowohl im Sinne der kosmogonischen Phantasie als auch in demjenigen der ethischen Deutung erfahren hat, drängt auf eine Zuspitzung hin, die wiederum ein Aphorismus zu veranschaulichen scheint. Kaka selbst deiniert, dass viele Tote der Ewigkeit keinen Schrit näher kämen, weil es ihnen nur um die Rückkehr ins Leben, nicht um ein höheres Leben zu tun sei: „Viele Schaten der Abgeschiedenen beschätigen sich nur damit, die Fluten des Totenlusses zu belecken, weil er von uns herkommt und noch den salzigen Geschmack unserer Meere hat. Vor Ekel sträubt sich dann der Fluß, nimmt eine rückläuige Strömung und schwemmt die Toten wieder ins Leben zurück“. Da vergisst auch der Opimist, dass er einer ist. Alles hat seinen Preis. Umsonst ist nur der Tod. Und der kostet das Leben. Derlei Binsenwahrheit führt 26 Journal of Language and Literary Studies uns zwanglos zu der Frage, auf welche Weise Kakas Machtphantasien in der neuen alten Welt den dunklen Grund der sozialen Existenz erhellen. Gleich wie Freud, sieht Kaka in der Negaion das Prinzip, das stärker airmiert als die Posiion selbst (Kurz/ Frank 96). Ziel dieser Technik ist die Auhebung der Posiivität alltäglicher Lebenerfahrung. Das wäre, für den, der sie braucht, die Botschat dieser Parabel. Doch damit nicht genug, denn weder Individuierung noch Verdinglichung gesellschatlicher Formen unterliegen in Kakas Werk einem geschichtsphilosophisch fassbaren Prinzip des höheren Ausgleichs. Bekanntlich denkt Kaka häuig in Konstellaionen, in denen gegensätzliche Elemente gleichzeiig da sind und in ihrem Zusammenhang und ihren Widersprüchen gesehen werden wollen. Auch hier organisiert er die mythischen Konstellaionen so, dass sich die alternaiven Entwürfe überlagern. Doch die Form der Vergesellschatung, welche die Geschichte vorantreibt, verselbständigt sich gegenüber Zwecksetzungen des persönlichen Willens. Kaka liegt es fern, eine notwendige Dialekik dieser Entwicklung zu postulieren. Für ihn indet keine Steigerung der Enfremdung, keine Zuspitzung der Krisen zun Umschlag in eine „humanisierte“ Gesellschat stat. Die Welt ändern? Die Gesellschat verändern? „Literatur kann die bestehende Ordnung nicht ersetzen, nur verletzen“, bemerkt Kaka in einem Aphorismus. Zumal das ohnehin in der symbolischen Dimension geschieht. Was hier den Schurken widerfährt, stützt nun gar aus kosmischer und aus mythologischer Warte die Behauptung, der Autor inszeniere hier im kindisch-märchenhaten Diskurs eine hintersinnige Parabel über die Macht. Folgerichig versucht Kaka, die selten ziierte Parabel gerade eben mit mythisierenden Miteln aus der suspekt gewordenen Höhe der mythischen Verkündigung herunterzuholen. Er hat sie im selben Zug − in dieser phantasmaischen Form − auf die Ebene einer grandiosen ‚ontologischen Struktur der menschlichen Welt‘ gehoben. Hierbei stellt sich heraus, dass die Macht auf einem symbolischen Pakt beruht. Das heißt, vereinfacht gesagt: Macht kann nur kommunikaiv entschieden werden. Zum akiven Engagement fühlte sich Kaka nicht berufen. Unverkennbar sind dagegen seine Prosa-Grimassen: ruckarige Mutaion und Umstellungen im Menschenbild, die Sprache des Körpers als Symbol für verfehltes Denken; seine poeisch surrealen Bilder mit subilen, sogar lautlosen und physisch versteckten Formen der Gewalt, die sich von keiner Inhaltsästheik aufschlüsseln lassen. Geschrieben in einer Zeit, in der die Kunst auf Bewusstseinserweiterung zielte, verknüpfen seine Texte Anipsychologie (Zum letzten mal Psychologie!) mit Revolte gegen jeglichen Intellektualismus, vorerst freilich gegen ein Schreiben, das mit Erklärungen psychoanalyischer oder sozialpoliischer Tradiion arbeitet. Was bleibt, ist das quälende Paradox, dass sich Kunst und Leben nicht ineinander übersetzen lassen: „Unsere Kunst ist ein von der Wahrheit Geblendet-Sein: Das Licht auf dem zurückweichenden Fratzengesicht ist wahr, sonst nichts“ (Kaka 1970, 195-205). Folia linguisica et literaria 27 Literatur: Eckerman, Johann Peter. Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens - Kapitel 79, Donnerstag abend, den 29. [25.] Januar 1827. Ehrenfels, Ch. v. System der Wertheorie, II Bd. (Grundzüge der Ethik), Leipzig, O. Reisland 1898. Hegel, G. W. F. Enzyklopädie § 93, § 94. Horvat, D. „Der kleinste Kaka“, in: Kaka−Nachlese, Stutgart 1988. Kaka, Franz. Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1953. Kaka, Franz. Betrachtungen über Sünde, Leid, Hofnung und den wahren Weg, Surkamp, Frankfurt am M. 1970. Kurz, Gergard / Frank, Manfred. „Ordo inversus“, in: Geist und Zeichen, Heidelberg 1977. Mann, O. / Rothe W. (Hrsg.) Dt. Literatur im 20. Jh. Strukturen und Gestalten, Bern-München 1967. Miller, N. „Moderne Parabel“. In: Akzente, 1959, Het 3. Origenes, De principis, III, 5, 4. In: F. Crombie, The wriings of Origenes, transl., Edinburgh 1871, I. Paracelsus, De meteoris, I, 5 (ed. Sudhof), XIII. Walser, M. „Verschollenes in einem Prager Aniquariat entdeckt. Kakas Sil und Denken“, in: Zeit, 26. Juli 1991. KAFKA’S FANTASY ABOUT POWER Power has become a far-reaching, structuring theme of thought in the literature of the 20th century. For Kaka the concept of power is “sociologically ambiguous”: among the transiions of the mythenes in the third octave-book, interspersed with aphorisms and epistemological theories, there is an entry from October 20, 1917, which has a fairytale begin “There was once“ and it ends similary: ‘’There was once a community of scoundrels, that is to say, they were not scoundrels, but ordinary people. They always stood by each other. If, for instance, one of them had made a stranger, someone outside their community, unhappy in some rather scoundrelly way—that is to say, again, nothing scoundrelly, but just what is usual, just the normal sort of thing—and he then confessed to the whole community, they invesigated the case, judged [72] it, imposed penances, pardoned, and the like. It was not badly meant, the interests of the individual members and of the community as a whole were strictly safeguarded, and he who was supplied with the complementary color to the color he had shown: 28 Journal of Language and Literary Studies “What? You mean you are upset about that? But what you did was a mater of course, you acted as you were bound to. Anything else would be incomprehensible. You are in a nervous condiion, that’s all. Pull yourself together and be sensible.” So they always stood by each other, and even ater death they did not desert the community, but rose to heaven dancing in a ring. All in all it was a vision of the purest childlike innocence to see them ly. But since everything, when confronted with heaven, is broken up into its elements, they crashed, true slabs of rock.’’ Key Words: Kaka, Aphorisms, Power, Myth, Parable, Goethe Folia linguisica et literaria 29 UDK 323.1(=112.2)(498) Rumäniendeutsche Schriftstellet im Visier des kommunistischen Geheimdienstes Securitate Stefan Sienerth, München, stefan.sienerth@web.de Abstract: Nachdem die Nobelpreisträgerin für Literatur Herta Müller 2009 ihre vom rumänischen Sicherheitsdienst angelegte Akte zunächst in der Wochenschrift DIE ZEIT und danach in ihrem Buch Cristina und ihre Attrappe oder Was (nicht) in den Akten der Securitate steht publik machte, ist die Observierung der rumäniendeutschen Schriftsteller durch den kommunistischen Geheimdienst zu einem beliebten Thema nicht nur der Medien, sondern auch der literaturwissenschaftlichen Forschung geworden. Der Autor schildert – nach einer kurzen Darstellung der Geschichte der deutschen Minderheit in Rumänien – in einem ersten Teil, wie es nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zur Gründung des rumänischen kommunistischen Geheimdienstes kam, der ofiziell den Auftrag hatte, die neue Gesellschaftsordnung gegen Feinde von außen und aus dem Innern zu schützen. In Wirklichkeit aber ging es den neuen Machthabern darum, kritische Äußerungen im Keime zu ersticken, Andersdenkende zum Schweigen zu bringen, und wenn nötig, sie wegzusperren oder gar zu eliminieren. Das geschah alles in der Absicht, ein allgemeines Klima der Angst und der Verunsicherung zu verbreiten, um jedes Aufbegehren gegen die politisch nicht legitimierte Obrigkeit zu verhindern. In einem zweiten Teil wird anhand von Fallbeispielen erläutert, wie die Bespitzelung bekannter rumäniendeutscher Schriftsteller (Oskar Pastior, Georg Hoprich, Herta Müller u. a) durch die Securitate geplant und durchgeführt wurde und welche Auswirkungen sie auf Biograie und Werk hatte. Schlüsselwörter: Rumäniendeutsche, Securitate, Oskar Pastior, Georg Hoprich, Herta Müller I. Die deutsche Minderheit in Rumänien, die sogenannten Rumäniendeutschen, wie sie heute bezeichnet werden, wird hauptsächlich von drei regional unterschiedlich siedelnden Gruppen gebildet (vgl. Sienerth 2008). In der geograischen Mite Rumäniens, im Innern des Karpatenbogens, in den Städten Hermannstadt/Sibiu, Kronstadt/Braşov, Schässburg/Sighişoara, Mediasch/Mediaş u.a. und in deren Umfeld waren und sind es noch zu einem sehr geringen 30 Journal of Language and Literary Studies Teil die Siebenbürger Sachsen, die seit fast neunhundert Jahren dieses Gebiet mitbewohnt und kulturell mitgeprägt haben. Diese Gruppe, die in ihren besten Zeiten etwas mehr als eine Viertelmillion Mitglieder zählte, war von den ungarischen Königen bereits im 12. Jahrhundert im Zuge ihrer Landnahme an den Grenzen des damaligen ungarischen Königreichs angesiedelt worden. Mit zahlreichen Privilegien, Rechten und Freiheiten ausgestatet, gründeten die Siedler, die aus verschiedenen Gegenden des Deutschen Reiches stammten, mehrere Städte und etwa 200 Dörfer. Neben zahlreichen wirtschatlichen, kulturellen und militärischen Einrichtungen, etwa den Kirchenburgen, die auch heute noch das Wahrzeichen einiger siebenbürgischer Städte und Dörfer ausmachen, hat diese Gemeinschat, die über die Jahrhunderte ihre deutsche Mutersprache bewahren konnte, auch eine eigenständige Literatur hervorgebracht. Ihr gehörte bis zu seiner Ausreise im Jahre 1968 auch der in Hermannstadt geborene Lyriker und Georg Büchner-Preisträger Oskar Pasior (1927–2006) an, dem Herta Müller in ihrem Roman Atemschaukel ein beeindruckendes literarisches Denkmal gesetzt hat und von dem in diesem Beitrag noch die Rede sein wird. Die zweite deutschsprachige Gruppe auf dem Territorium Rumäniens waren die Deutschen und die deutschsprachigen Juden der Bukowina. Das ist ein Landstrich im Nordosten Rumäniens, zwischen Rumänien und der Ukraine, der gegen Ende des 18. Jahrhunderts nach einem türkisch-russischen Krieg in den Besitz der Habsburger gelangte. Das geisige Zentrum war Czernowitz, rumänisch Cernăuţi, ukrainisch Tscherniwski, die Stadt so vieler bedeutender Schritsteller unterschiedlicher Sprachen, darunter auch der deutschjüdischen Autoren Rose Ausländer (1901–1988) und Paul Celan (1920–1970). Und schließlich die drite deutsche Gruppe, von Montenegro aus am nächsten, an der serbischen Grenze gelegen, die Banater Deutschen oder Banater Schwaben, wie sie noch genannt werden, die etwas früher als die Deutschen der Bukowina seit dem Anfang und während des gesamten 18. Jahrhunderts von den über die Osmanen siegreichen Habsburgern in dem Landstrich zwischen dem heuigen Ungarn, Serbien und Rumänien angesiedelt worden sind und deren geisiger Mitelpunkt die Stadt Temeswar/Timişoara, das ot auch als Klein-Wien bezeichnet wurde, bildete. Es ist die Stadt, in der die spätere Nobelpreisträgerin für Literatur Herta Müller Gymnasium und Hochschule besucht und in der sie – wie auch ihre Freunde von der „Akionsgruppe Banat“ – ihre unliebsamen Erfahrungen mit den Vertretern einer periden Diktatur machen sollte. Das Zusammenleben der unterschiedlichsten Ethnien auf dem Gebiet des heuigen Rumänien hat im Laufe der Geschichte vergleichsweise gut und allgemein friedlich funkioniert. Auch nachdem sich nach dem Ende Ersten Weltkrieges die Geopoliik und die Machtstrukturen geändert haten, als Siebenbürgen, das Banat und die Bukowina aus dem österreichisch-ungarischen Machtbereich in den dadurch größer gewordenen rumänischen Staat übertraten, ist dies größ- Folia linguisica et literaria 31 tenteils ohne besondere Zwischenfälle geschehen. Es ist zumindest zu keinen militärischen oder bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen gekommen. Dies vor allem weil die Siegermächte diese Prozesse begleiteten und Rumänien die Grundrechte seiner Minderheiten, die damals etwa dreißig Prozent seiner Bevölkerung ausmachten, garanierte. In Rumänien lebten in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen insgesamt rund 800 000 Deutsche, vorwiegend in den drei bereits erwähnten Regionen Siebenbürgen, Banat und Bukowina und etwa ebenso viele Juden. Ungarn dürte es damals fast 2 Millionen gegeben haben. Heute bekennen sich laut oiziellen Verlautbarungen etwa 30.000 rumänische Staatsbürger zur deutschen Naionalität, die Zahl der Juden ist noch niedriger. Im Allgemeinen gab es ein friedliches Mit- und Gegen-, vor allem aber ein auf Duldsamkeit beruhendes Nebeneinander von Akzeptanz und gegenseiigem Respekt, zu dem nicht zuletzt, obwohl unterschiedlich, die jeweiligen Religionen einen wesentlichen Beitrag geleistet haben. Auf dem Gebiete der Kultur lassen sich zahlreiche Interferenzerscheinungen und Austauschprozesse verzeichnen, die in der Literatur vor allem in einer reichen Übersetzungstäigkeit ihren Niederschlag gefunden haben. Die Autoren aus den Reihen der deutschen Minderheit waren der deutschen Schritsprache auf mutersprachlichem Niveau mächig, sie haben deutschsprachige Gymnasien und Hochschulen besucht und sich des Deutschen in den Familien- und Freundeskreisen wie im Alltag bedient. Auch beherrschten sie in der Regel die jeweilige Staatssprache – bis 1918 war es das Ungarische und danach das Rumänische – in Schrit und Rede. Sie haben viel zur Verbreitung dieser Literaturen im deutschen europäischen Sprachraum beigetragen. Rumäniendeutsche Übersetzer, die einen großen Teil ihres Lebens in Rumänien verbracht haben und heute in der Bundesrepublik Deutschland leben, gehören auch gegenwärig zu den bedeutendsten Übersetzern und Vermitlern der rumänischen Gegenwartsliteratur. Ebenso rumänische Germanisten, die den Großteil der Übersetzer deutscher Literatur ins Rumänische ausmachen. Sie sind beider Sprachen kundig und haben sich Deutsch auf hohem Niveau angeeignet, zum Teil im Kindergarten, in den Volksschulen und Gymnasien der deutschen Minderheit. II. Eine einschneidende Zäsur in der Geschichte der deutschen Minderheit, aber auch im Zusammenleben mit der rumänischen Mehrheitsbevölkerung stellt zweifellos der Zweite Weltkrieg dar.5 Da Rumänien an der Seite Hitlerdeutschlands am Krieg gegen die Sowjetunion teilnahm und erst am 23. August 1944 das Militärbündnis aulöste, dienten die Soldaten und Oiziere aus den Reihen der Rumäniendeutschen aufgrund eines Abkommens zwischen der deutschen 5 Zur Situaion der rumäniendeutschen Literatur im 20. Jh. vgl. vor allem Motzan (1998). 32 Journal of Language and Literary Studies und rumänischen Regierung größtenteils in der Wafen-SS, also nicht in den Militäreinheiten des eignen Landes, sondern im Heer eines anderen Staates, was nach dem Ende des Krieges zu großen Komplikaionen führte und nachhalige Folgen für das Leben und die Existenz der Deutschen in Rumänien haben sollte. So kam es u. a. dazu, dass nach dem 23. August 1944, nachdem Rumänien an der Seite der Sowjetunion und der Alliierten Deutschland den Krieg erklärt hate, rumäniendeutsche Soldaten, die in deutschen Heereseinheiten dienten, gegen ihr Vaterland kämpfen mussten, ein Umstand der freilich Konsequenzen nicht nur für die Betrofenen, sondern für die ganze Gruppe nach sich zog. Dazu kam noch die Tatsache, dass Rumänien davor, als es an engen Beziehungen zu Hitlerdeutschland interessiert war, seinen Deutschen Ende der 1930er und Anfang der 1940er Jahre eine ganze Reihe von Konzessionen und Sonderprivilegien eingeräumt hate. So war 1940 auf Druck des Driten Reiches ein „Volksgruppengesetz“ verabschiedet worden, das den Deutschen Rumäniens den Status einer Körperschat des öfentlichen Rechts einräumte. Es war die Geburtsstunde der „Deutschen Volksgruppe in Rumänien“, die alle Deutschen auf dem Gebiet Rumäniens umfasste und diese gegenüber dem rumänischen Staat und auch nach außen hin vertrat, eine Art Staat im Staat, die besonders durch das arrogante Autreten seiner Führung das Verhältnis zur Mehrheitsbevölkerung stark belastete und nach dem Ende des Krieges die Repressalien gegen alle Deutschen begünsigte. Es kam dann, auch als Reakion darauf, im Januar 1945, zur Deportaion der arbeitsfähigen Bevölkerung in die Sowjetunion, es begann eine durch widrige Umstände (Hunger, Kälte, Unterernährung, äußerst mangelhate medizinische Versorgung u. ä.) gekennzeichnete mehrjährige Lagerhat mit zahlreichen Todesfällen, die Herta Müller so eindringlich in ihrem Roman Atemschaukel beschrieben hat. Für die im Land Verbliebenen kam es – ebenfalls in der ersten Hälte des Jahres 1945 – zu Enteignungen des Feldbesitzes, der landwirtschatlichen Maschinen und Geräte, des Viehbestandes und der Häuser, zunächst nach hauptsächlich naionalen Kriterien. Hinzu traten ungewollte Einquarierungen und sonsige Repressalien, die sich mit dem Machtantrit der Kommunisten zunehmend auch gegen die Mehrheitsbevölkerung richteten. Am 30. Dezember 1947 wurde der rumänische König – er entstammte einem deutschen Königshaus, der von Hohenzollern-Sigmaringen und war über seine Familie sozusagen mit allen europäischen Dynasien verwandt – des Landes verwiesen, Juni 1948 sind Industrie, Gewerbe und Banken verstaatlicht worden. Rumänien wurde – wie die anderen osteuropäischen Staaten – nach und nach von einer machtbesessenen kommunisischen Diktatur regiert, die jede opposiionelle Regung im Keime zu unterdrücken in der Lage war. Die Beziehungen zur freien demokraischen Welt wurden gekappt, die demokraischen Länder als imperialisisches und kapitalisisches Ausland verteufelt, die Bevölkerung durch ideologische In- Folia linguisica et literaria 33 doktrinierung einer Hirnwäsche unterzogen, die Schafung eines neuen, sozialisischen Menschentypus angestrebt. Im Zuge dieser Veränderungen und zur Sicherung der neuen Gesellschatsordnung, die sich zunächst sozialisisch und danach kommunisisch autodeinierte, kam es August 1948 zur Gründung des rumänischen kommunisischen Geheimdienstes, der oiziell den Autrag hate, die neue Gesellschatsordnung gegen Feinde von außen und aus dem Innern zu schützen, in Wirklichkeit aber jede von der Obrigkeit dikierte und davon abweichende Meinung im Keime ersickte und gegen Andersdenkende brutal vorging, sie zum Schweigen brachte und wenn nöig auch durch Zuchthaus und Mord eliminierte. Laut oiziellen Schätzungen sollen etwa 200.000 Menschen im Zuge der Repressionsmaßnahmen ihr Leben verloren haben, es hat Säuberungswellen, Deportaionen, Schauprozesse, sogenannte Umerziehungsmaßnahmen gegeben, alles mit der Zielrichtung, ein allgemeines Klima der Angst und Verunsicherung zu verbreiten, um jedes Aubegehren, jede kleinste Aufmüpigkeit gegen die poliisch nicht legiimierte Obrigkeit im Keime zu ersicken. Bis zum Ende des Jahre 1989 war es Partei und Geheimdienst gelungen, im kommunisisch regierten Rumänien eine Friedhofssimmung zu erzeugen, wozu auch die katastrophale Wirtschatslage, in die das Diktatorenpaar und ihre Kamarilla das Land gebracht haten, der Hunger, die Kälte und die allgemeine Misere im Land, unter der mit wenigen Ausnahmen fast die gesamte Bevölkerung Rumäniens zu leiden hate, ihren unrühmlichen Beitrag geleistet haben (vgl. Securitate). Obwohl der Geheimdienst Securitate im Laufe der Jahre ihre Arbeitsweisen und Methoden änderte – in ihren Anfängen ging sie brutaler gegen Regimegegner vor, ab Ende der 1960er Jahre verwendete sie rainiertere, subilere psychologische Mitel – blieb sie im kommunisischen System des gesamten Ostblocks eine Konstante, die zwar Unterschiede in den einzelnen Ländern aufwies, sich aber an dem Muster des sowjeischen KGB orienierte und den Machterhalt einer poliischen Kaste bis zum Zusammenbruch aus dem Jahre 1989 sicherte. Ihr Ziel war die möglichst totale Überwachung und Kontrolle der Bevölkerung. Dazu war sie hierarchisch aufgebaut und verfügte über zahlreiche Abteilungen, die einzelne Gruppen und Segmente der Bevölkerung abdeckten. Der rumänische kommunisische Geheimdienst („Departamentul Securităţii Statului“) hate bei seiner Aulösung im Jahre 1990, laut amtlichen Angaben, etwa 40.000 oizielle und 400.000 inoizielle Mitarbeiter (vgl. ebd.). III. Was uns im Zusammenhang mit der Beobachtung der rumäniendeutschen Literaten interessiert, sind die Abteilungen, die für die naionalen Min- 34 Journal of Language and Literary Studies derheiten zuständig waren, die jenseits der allgemeinen Überwachung, der die gesamte Bevölkerung des Landes unterzogen wurde, zusätzlich als besondere Feinde des Regimes eingestut wurden. Im Falle der Deutschen, weil nicht wenige von ihnen, wie bereits erwähnt, in der Vergangenheit mit Nazideutschland sympathisiert haten und weil viele von ihnen Verwandte und Bekannte in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich haten und zu diesen weiterhin Kontakte unterhielten, ließ sie dieser Umstand in den Augen des kommunisischen Geheimdienstes als potenzielle Spione erscheinen. Verdächig waren der Securitate aber auch all jene, vor allem Intellektuelle, die sich als Lehrer und Kulturschafende für die Belange der Minderheit einsetzten, für den Erhalt der deutschen Mutersprache in den Schulen, für ein Kulturleben und eine Literatur in deutscher Sprache, für deutschsprachige Zeitungen, für deutsche Abteilungen an Staatstheatern in den Regionen mit deutscher Bevölkerung. All diese Rechte standen den Minderheiten laut Verfassung zu, es waren also nicht illegale und gegen den rumänischen kommunisischen Staat gerichtete Akionen, und dennoch wurden all diese Intellektuellen von der Securitate unter der Gesamtbezeichnung „Deutsche Faschisten und Naionalisten“ geführt, obwohl sehr viele, vor allem die jüngeren Schritsteller nach 1945 geboren worden sind, einige von ihnen sogar Mitglied der Rumänischen Kommunisischen Partei waren – sonst häten sie nicht an Hochschulen, bei Zeitungen oder im Verlagswesen arbeiten dürfen –, rumänische Ehepartner und enge rumänische Freunde haten und auch sonst durch ihr ganzes Verhalten und ihre Täigkeit alles andere als Naionalisten waren (vgl. ausführlicher hierüber Sienerth 2015). Angelegt wurden vom Geheimdienst entweder Sammelakten, sogenannte „Dosare de grup“, zu Gruppen bzw. Themen, Problemen und Insituionen oder aber, was den Großteil der Überlieferungen ausmacht, sogenannte „Dosare de urmărireindividuală“, operaive Einzelakten also, die hauptsächlich eine einzige Person betrafen. Im Laufe der etwas mehr als vier Jahrzehnte, solange die Securitate das Land im Grif hate, ist auf diese Weise, laut amtlichen Angaben, eine Papierschlange von etwa 24 Kilometern zustande gekommen, das wäre, wenn man die Dossiers aneinanderreihen würde, die halbe Strecke von Bar bis Podgorica (vgl. Leber 2011). Enthalten sind in diesen Mappen in der Regel, Berichte der Oiziere, die ihre Beobachtungen über einen verdächigen Vorfall oder eine verdächige Person festhalten, aber vor allem Berichte der zahlreichen Spitzel, die als „Quellen“ („surse“) oder „Agenten“ autauchen und meist aus unmitelbarer Nähe über die ins Visier genommene Person Auskunt erteilen. Sehr ot handelt es sich um Freunde und enge Bekannte, was diesen Akten mitunter eine besondere Brisanz verleiht. Verfolgt und beobachtet wurden nicht nur die sogenannten Feinde des Regimes, sondern auch die Spitzel selbst, die Zuträger von Informaionen für die Securitate. Sie wurden ihrerseits detailliert ausgespäht und unter Folia linguisica et literaria 35 Beobachtung gestellt, weil man ihnen nicht traute. Auch musste ihre informelle Täigkeit nach einer gewissen Zeitspanne geprüt und einer Analyse unterzogen werden. Das bedeutete einen enormen zusätzlichen Aufwand und weiteres Personal sowie eine Menge Papier. Zählt man darüber hinaus noch die Kosten, die für die Abhörtechnik, an der nicht gespart wurde und die aus modernster Apparatur bestand, die Kontrolle der Post und die zeitweilige Rund-um-Observierung, die recht ot angeordnet wurde, ausgegeben wurden, so waren das erhebliche Beiträge, die die inanziellen Möglichkeiten eines Staates, der nicht zu den wohlhabendsten in Europa gehörte, wohl arg strapaziert haben. IV. Der Anlass zur Eröfnung eines im Jargon der Securitate sogenannten operaiven Vorgangs und damit eines eignen Dossiers konnte recht unterschiedlich sein, in der Regel spielten dabei zwei Faktoren eine Rolle: a) eine Person, die eine Aufälligkeit beging – das konnten beispielsweise eine unüberlegt geäußerte Unzufriedenheit oder eine Aussage über einen Gemütszustand sein, die poliisch interpreiert werden konnten, oder im Falle eines Schritstellers oder Journalisten ein Text, der vom allgemeinen Schema der üblichen Muster des sozialisischen Realismus abwich oder gar dem Regime nicht genehme poliische Anspielungen enthielt. Und b): eine weitere Person, die zum Agentennetz gehörte, als Informeller Mitarbeiter täig war, und die bereit war, das Vorgefallene an den Verbindungsoizier, mit der sie sich in der Regel in Abständen von Tagen, Wochen oder Monaten traf, weiterzuleiten. Zum Verhängnis wurde ein solcher Vorfall beispielsweise einem jungen siebenbürgischen Lyriker, Georg Hoprich (1938–1969), einem Freund von Oskar Pasior, der ins Blickfeld der Securitate durch einen Hinweis ihres bewährten Agenten „Silviu“ gerückt war.6 Hinter diesem Pseudonym verbirgt sich der Bukarester Hochschullehrer und Literaturwissenschatler Dr. Heinz Stănescu (1921–1994), einer der leißigsten Literaturhistoriker, aber auch einer der eifrigsten Spitzel in der rumäniendeutschen Literaturszene jener Jahre (vgl. Sienerth 2014). „Silviu“ hate, während die Studenten auf ihren Aufmarsch im Rahmen einer 1. Mai-Feier warteten, die von der kommunisischen Parteiführung jährlich zur propagandisischen Selbsinszenierung genutzt wurden und an der teilzunehmen, Plicht war, Hoprich in ein längeres Gespräch verwickelt und einen Tag danach seinen Führungsoizier darüber informiert. Es sei ihm wahrlich nicht nach Marschieren und Feiern zumute, soll Hoprich zu „Silviu“ gesagt haben, lieber wäre er im Bet geblieben. Er habe sich regelrecht mit Schlaf „säigen“ wollen, zumal er, nachdem ihm das Sipendium wegen Nichigkeiten entzogen worden sei, in diesem Semester bloß fünfmal warm gegessen habe. 6 Siehe darüber (Sienerth 2011). Dort auch die Hinweise auf die entsprechenden Zitate. 36 Journal of Language and Literary Studies Die Folge war, dass der kommunisische Geheimdienst den Studenten Hoprich ins Visier nahm, ihn von Kommilitonen im Studentenheim beobachten und ausspähen ließ, die den Autrag haten, u. a. auch an seine unveröfentlichten Gedichte zu gelangen und diese nach Möglichkeit zu kopieren und an die Securitae weiterzuleiten. Nachdem die Securitate auch seine Korrespondenz einer Kontrolle unterzogen hate, fand sie heraus, dass Hoprich mit seiner Braut, die in einem siebenbürgischen Dorf als Lehrerin arbeitete, korrespondierte und seinen Briefen ot auch ein eigenes Gedicht beilegte, wie beispielsweise eines, das ganz und gar von den Dogmen des sozialisischen Realismus und der kommunisischen Ideologie abwich und kein opimisisches Zukuntsszenario entwarf, sondern ein düsteres Simmungsbild, das jenen Jahren eigen war, zeichnete: „Wir schweigen, was wir nicht vergessen, / Der Becher steht gefüllt mit Leid. / Wir schauen starr, wenn andere essen, / Wir bleiben fern und ausgereiht. / Das Nächste schleppt sich wie gebrochen. / Wir sind ein Weh, das bitend haucht. / Wir haben immer sill gesprochen, / Die wirre Nacht ist nicht verraucht. /Das schlichte Dasein, wie wir’s lernten, / Bleibt schwer wie Erde dumpf wie Geld. / Wir sind ein blasses Volk, wir ernten / Die Tränen auf dem Biterfeld.“ Nach weiteren Bespitzelungen und nachdem der Geheimdienst genügend belastendes Material beisammen hate, wurde Hoprich schließlich der Jusiz überantwortet, der Aufwiegelung gegen die sozialisische Gesellschatsordnung angeklagt und 1961 zu fünf Jahren Gefängnishat und Arbeitslager verurteilt, von denen er drei Jahre an dem berüchigten Donau-Schwarzmeer-Kanal verbrachte und 1964 aufgrund einer allgemeinen Amnesie freikam. In den Alltag hat er nicht mehr zurückinden können, obwohl sich die poliische Situaion nach dem Machtantrit Nicolae Ceauşescus etwas gelockert hate. 1968 hat er Selbstmord begangen. Böse Mäuler, darunter auch mehrere rumäniendeutsche Schritstellerkollegen, haten damals und auch danach behauptet, Oskar Pasior, ein Freund und Studienkollege von Hoprich, häte an dessen Bespitzelung, Verhatung und letztendlich wohl auch an seinem Freitod mitgewirkt, was jedoch eine böswillige Unterstellung ist. In den von der Securitate gehorteten Materialien gibt es keinen einzigen Hinweis in diese Richtung. V. Auf eine andere Weise hate Oskar Pasior die Aufmerksamkeit des rumänischen kommunisischen Geheimdienstes auf sich gelenkt.7 Es waren Verständnisschwierigkeiten im Umgang mit seiner Lyrik, die anfangs wohl mit dazu Über Oskar Pasiors Bespitzelung durch den rumänischen kommunisischen Geheimdienst und seine Verstrickungen mit der Securitate vgl. ausführlicher Sienerth (2010). Dort auch Hinweise auf die entsprechenden Zitate. 7 Folia linguisica et literaria 37 beigetragen haben, dass das Verhängnis seinen Lauf hate nehmen können. Im Sommer des Jahres 1955 hate Oskar Pasior, der später einer der bedeutendsten deutschen Lyriker des 20. Jahrhunderts werden sollte, auf einer kleinen Hermannstädter Jugendparty sein Gedicht Kassete vorgelesen. Da es sich um einen der ersten Autrite des jungen, noch vielfach verunsicherten Dichters gehandelt haben dürte, war er auf das Echo äußerst gespannt. Doch wie groß muss seine Entäuschung gewesen sein, als er feststellte, dass die Freundinnen und Freunde mit seinem Text nicht viel anfangen konnten. Das Gedicht sei zu verschlüsselt, haten sie ihn unmissverständlich wissen lassen, die Bildlichkeit, der es sich bediene, ihnen nicht geläuig. Verwundert über die ästheische Ignoranz seiner Zuhörerschat und wohl auch in seiner Ehre als junger ambiionierter Schritsteller gekränkt, hate Pasior darauhin weitere von ihm verfasste Verse vorgetragen, ‚verständlichere’ und weniger hermeisierte, darunter auch solche, in denen er seinen Zwangsaufenthalt in einem sowjeischen Arbeitslager themaisierte. Dahin war er als Siebzehnjähriger wie weitere 75 000 seiner rumäniendeutschen Landsleute im Januar 1945 deporiert worden und erst 1949 zurückgekehrt, nach einem fünfjährigen Martyrium, das die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, wie bereits erwähnt, in ihrem Roman Atemschaukel nicht zuletzt aufgrund der Erzählungen und Aufzeichnungen Pasiors literarisch so eindrucksvoll gestaltet hat. Die Gedichte, in die Pasior den Alltag in einem sowjeischen Lager hatte einließen lassen, haten den Zuhörern ausnehmend gut gefallen. Die Situaionen und Vorfälle, die sie festhielten, waren den Älteren unter ihnen, die wie Pasior in die Sowjetunion verschleppt worden waren, vertraut. Auch die Jüngeren, nicht unmitelbar Betrofenen wussten über die Vorfälle hinreichend Bescheid. Erzählungen über Ereignisse auf den Baustellen, in den Bergwerken und Kolchosen der Ukraine gehörten in rumäniendeutschen Familien jener Jahre, wenn auch bloß hinter vorgehaltener Hand und im Flüsterton mitgeteilt, weil öfentlich darüber nicht gesprochen werden durte, zu den häuigsten Gesprächsthemen. An der Hermannstädter Unterhaltung hate auch Grete Löw teilgenommen, Pasiors damalige Arbeitskollegin, die den charmanten und gebildeten Freund verehrte, ihn als klugen Gesprächspartner und talenierten Dichter schätzte. Ihr hate Pasior, bevor er im Herbst 1955 seine Heimatstadt verlassen und in Bukarest ein Studium der Germanisik aufgenommen hate, einen Stoß eigener Gedichte, darunter auch jene, in denen er seine Erfahrungen in der Sowjetunion festgehalten hate, übergeben, mit der Bite, sie aufzubewahren, um darauf zurückgreifen zu können, falls seine Abschriten verloren gingen. Grete Löw, die an Fragen der Literatur, der Philosophie und der bildenden Kunst interessiert war, hate das Konvolut wie einen Schatz gehegt, die Typoskripte bei einem ihr bekannten Buchbinder binden lassen und gelegentlich im vertrauten Kreis daraus vorgelesen. 38 Journal of Language and Literary Studies In den nächsten zwei Jahren ist es ofenbar zu keiner weiteren Begegnung zwischen Oskar Pasior und Grete Löw gekommen. Pasior hate geheiratet und sich in Bukarest einen neuen Bekanntenkreis aufgebaut. Er unterhielt freundschatliche Beziehungen zu literaturbelissenen Kommilitonen, verkehrte in Bukarester Literatenkreisen, publizierte erste Texte in der deutschen Presse Rumäniens und wurde sowohl von den jungen als auch von den älteren rumäniendeutschen Autoren als herausragendes lyrisches Talent geschätzt. An Grete Löw mag er in all dieser Zeit wohl kaum noch gedacht haben. Doch im Herbst des Jahres 1957 tauchte er plötzlich bei ihr in Hermannstadt auf. Veranlasst haten diesen unerwarteten Besuch die Verfolgungen und Verhatungen, die im Nachfeld der gescheiterten anikommunisischen Revoluion in Ungarn (1956) auch in Rumänien in vollem Gange waren. Sie markierten das Ende der von Chruschtschow nach Stalins Tod (1953) eingeleiteten Tauweterperiode und die Rückkehr zu verschärten Unterdrückungs- und Sozialisierungsformen. Pasior, bei dem Erinnerungen an seinen Aufenthalt in den Arbeitslagern der Sowjetunion noch lebendig waren, muss von panischer Angst ergrifen worden sein. Unter dem Vorwand, er habe ihr neue Texte zum Aubewahren gebracht, bat er Grete Löw beim Weggehen, sie möge die Gedichte, in denen Realitäten aus den sowjeischen Lagern aufscheinen, eigenhändig abschreiben, ihnen neue Titel geben und als Autor O(to) Hornbach eintragen, damit der Anschein erweckt werde, es handle sich um Texte eines jüdischen Autors, der seine Erfahrungen im KZ Buchenwald dichterisch verarbeitet habe. Die Originale solle sie danach vernichten. Grete Löw hate seinem Wunsch entsprochen, die von ihm empfohlenen Änderungen vorgenommen, die Gedichte weggesperrt und vorerst niemandem davon erzählt. Doch zwei Jahre später war Grete Löw selbst in Schwierigkeiten geraten, weil sie mit ihrem nach dem Ende des zweiten Weltkrieges in Österreich lebenden Bruder korrespondierte und diesem verschlüsselte Nachrichten über ihre Absicht, die Ausreise in den Westen zu beantragen, zukommen ließ. Der Bruder hate sie über einen gemeinsamen Bekannten wissen lassen, er werde von Österreich aus alles unternehmen, Grete Löws Ausreise zu beschleunigen und sie über seine Schrite in dieser Angelegenheit auf dem Laufenden halten. Das könne er jedoch nicht in einem gewöhnlichen Brief tun, weil dieser von den zuständigen rumänischen Behörden wahrscheinlich geöfnet und gelesen werde. Er werde deshalb diese und ähnliche Informaionen mit unsichtbarer Tinte in die Räume zwischen den Briefzeilen eintragen, sie brauche, um das alles lesen zu können, den Brief dann bloß anzufeuchten und über eine Lichtquelle zu halten. Sollte das nicht ausreichend sein, werde er seinen Briefen Zeitungsausschnite beigeben, in denen einzelne Buchstaben durch Nadelsiche gekennzeichnet wären, die in einer besimmten Reihenfolge gelesen, einen Sinn ergäben. Auf diese Weise könne auch sie ihm besondere Nachrichten zukommen lassen. Folia linguisica et literaria 39 Das hate die Securitate jedoch spitz gekriegt und weil sie vermutete, Grete Löw werde auf diese Weise auch Staatsgeheimnisse verraten, sie unter Druck gesetzt und sie zur Agenin gemacht, die u. a. auch ihren Bruder für den rumänischen kommunisischen Geheimdienst nun auszuspionieren hate. Dazu hatten die Oiziere nach langen aufreibenden Verhören Grete Löw auch eine Verplichtungserklärung zur Zusammenarbeit verfassen und unterschreiben lassen. Dieser Umstand hate aber Grete Löw seelisch ungemein belastet. Jetzt werde auch sie, hate sie einer Freundin anvertraut, sollte es in ihrer Heimatstadt Hermannstadt ruchbar werden, wie die anderen, denen der Ruf vorausging, Spitzel der „Securitate“ zu sein, von ihren Landsleuten gemieden. Die Freundin empfahl ihr, zunächst abzuwarten, bis ein Verwandter sie besuchen werde, der sei erfahren und in diesen Dingen bewandert und könne ihr besimmt helfen. Es stellte sich heraus, dass dieser Verwandte kein geringerer als Fritz Cloos (1909–2004), einer der rücksichtslosen Spitzel der Securitate war, der damals unter dem Pseudonym „Ioan Lăzărescu“ viele seiner Landsleute mitunter regelrecht ans Messer geliefert hat (vgl. Totok und Macovei 2016). In der Zeit des Naionalsozialismus war er ein Spitzenfunkionär der „Deutschen Volksgruppe in Rumänien“, jener bereits erwähnten, mit viel Autonomie ausgestateten Organisaion. Zeitweilig war er zweiter Propagandachef dieses Verbands und die rechte Hand des berüchigten Volksgruppenchefs Andreas Schmidt (1912– 1948), der verantwortlich für die Gleichschaltung der rumäniendeutschen Organisaionen mit jenen des „Driten Reiches“ und maßgeblich die Rekruierung banatschwäbischer und siebenbürgisch-deutscher Soldaten in die Einheiten der Wafen-SS veranlasst hate. Nach dem 23. August 1944 war Cloos untergetaucht, er versuchte aus dem Untergrund zusammen mit den in Rumänien verbliebenen naionalsozialisischen Amtswaltern den Widerstand gegen die sowjeischen Besatzer zu organisieren. Doch er wurde relaiv bald aufgegrifen, nach Moskau gebracht, dort verhört und in ein sibirisches Arbeitslager interniert, wo er bis 1956 einsaß. Nach seiner Freilassung kehrte er nach Rumänien zurück, wo er, nicht zuletzt weil er über ein breites Wissen über ehemalige Mitstreiter und Akteure verfügte, vom rumänischen kommunisischen Geheimdienst angeheuert, zunächst in Rumänien eingesetzt und danach, nachdem er sich als gewissenhater, geheimdienstreuer und zuverlässiger Zuträger erwiesen hate, für den Auslandsdienst vorbereitet. In der Bundesrepublik Deutschland hat er seit Mite der 1960er bis Ende der 1980er Jahre, bis zum Ende des Kommunismus, weiterhin der Securitate die Treue gehalten. Er hat vor allem die Leiter der Landsmannschaten und Vertriebenenverbänden ausgehorcht und die naionalkommunisische Poliik des Ceauşescu-Regimes zu verteidigen und zu verbreiten gesucht. Dafür ist er von den Securitate-Oizieren, mit denen er sich immer wieder traf (meistens in Wien) und ihnen seine Berichte aushändigte, inanziell recht ansehnlich und in DM belohnt worden (Totok und Macovei 201, 73). 40 Journal of Language and Literary Studies Grete Löw glaubte irrtümlicherweise – nicht zuletzt weil die Freundin ihr ihn empfohlen hate –, in „Lăzărescu“ einen ehrlichen Ratgeber gefunden zu haben, und hate ihm nicht lange danach ihr weiteres Geheimnis anvertraut, nämlich dass sie bislang unveröfentlichte Gedichte von Oskar Pasior verwahre. Nachdem die Securitate in den Besitz der Pasior-Texte gelangt war, setzte sie sowohl Grete Löw, der sie die Geheimhaltung und illegale Verbreitung von „feindlichen“ Texten vorwarf, als auch Pasior als deren Urheber unter Druck, mit dem Ziele, sie entweder zur Zusammenarbeit zu zwingen, oder wenn sie sich weigerten, sie der Jusiz zu übergeben und ins Gefängnis zu bringen. Im Falle von Grete Löw ist ihr Plan nicht aufgegangen, die willensstarke und charakterfeste Frau zog es vor, ins Gefängnis zu gehen und hat von den sieben Jahren Hat, zu der sie verurteilt wurde, zwei davon auch abgesessen. Im Gefängnis hat sie einen Sohn zur Welt gebracht, der zur Adopion freigegeben worden war, den aber, damit er der Muter nicht verloren gehe, eine Freundin adopiert und nach der Entlassung Grete Löws ihn ihr wieder zurückerstatet hate. Oskar Pasior, dem ein ähnliches Schicksal wahrscheinlich bevorgestanden häte, hat sich für die andere Möglichkeit entschieden, eine Verplichtungserklärung unterschrieben und in den Jahren 1961 bis 1968, als er von einer Reise nach Österreich nicht mehr nach Rumänien zurückkehrte, unter dem Pseudonym „Oto Stein“ ab und zu, eher harmlose als inkriminierende Berichte seinem Führungsoizier geliefert. Dennoch lässt sich, was „Stein Oto“ von Juni 1961 bis April 1968 an Informaionen für den rumänischen kommunisischen Geheimdienst geliefert haben mag, derzeit noch nicht feststellen. In seiner Akte ist hiervon verschwindend wenig vorhanden. Auch in den Unterlagen, die von der „Securitate“ über andere rumäniendeutsche Schritsteller (Alfred Margul-Sperber, Oscar Walter Cisek, Alfred Kitner, Paul Schuster, Georg Hoprich) gehortet wurde, fand sich bislang kein bzw. kaum relevantes Material, aus dem hervorginge, Pasior habe diese Schritsteller in irgendeiner Weise belastet. Verglichen mit den anderen IMs („Silviu“, „Florescu“, „Johann Wald“, „Marga“, „Dorina Gustav“ u. a.), die in den 1950er und 1960er Jahren in vielen „Securitate“-Dossiers deutscher Intellektueller aus Rumänien mit ihren ot inkriminierenden Berichten präsent sind, war „Stein Oto“ eine marginale Erscheinung und vermutlich wohl auch vorwiegend darauf bedacht, durch seine Berichte möglichst niemandem zu schaden. Trotzdem lässt sich in all den sieben Jahren kein einziger Versuch Pasiors verzeichnen, dem rumänischen Geheimdienst die Mitarbeit aufzusagen, irgendetwas zu unternehmen, um sich von dieser seelischen Last zu befreien. VI. Wie ist zur Anlegung der Akte von Herta Müller gekommen und was enthält sie für Materialien? Diese Frage lässt sich leicht beantworten, hat sich doch Folia linguisica et literaria 41 Herta Müller selbst in ihrem Büchlein Crisina und ihre Atrappe oder Was (nicht) in den Akten der Securitate steht (2009), mit ihren vom rumänischen kommunisischen Geheimdienst gehorteten Unterlagen auseinandergesetzt. Laut Aktenlage war es keine unangemessene poliische Aussage, kein ungebührliches Verhalten und keine besondere Aufälligkeit, die die individuelle Beobachtung von Herta Müller durch die „Securitate“ in Gang setzten. Es war – und wie häte es gerade bei dieser Schritstellerin anders sein können – ein Text, den die am 17. August 1953 in Nitzkydorf im Banat geborene, damals in Temeswar als Übersetzerin in einem Industrieunternehmen für Maschinenbau wirkende Autorin an die in Bukarest in deutscher Sprache erscheinenden Zeitschrit des Rumänischen Schritstellerverbandes Neue Literatur zugeschickt hatte und der in Het 12 des Jahres 1980 veröfentlicht wurde. Die Dorfchronik, so der Titel, sollte rund ein Jahr später als einer der zentralen Texte in den zunächst in Bukarest bei Kriterion und unmitelbar danach in einer verbesserten Aulage im Berliner Rotbuch Verlag herausgegebenen Debütband Niederungen aufgenommen werden, der den frühen Ruhm der später mit vielen bedeutenden deutschen und internaionalen Preisen und 2009 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichneten Schritstellerin begründete. Die inhaltlichen und künstlerischen Besonderheiten der Dorfchronik waren auch dem literaturwissenschatlich geschulten Informellen Mitarbeiter (IM) „Barbu“ aufgefallen, der mit beeindruckender Regelmäßigkeit einzelne Hete der Bukarester Literaturzeitschrit für die Temeswarer Abteilung des rumänischen Innenministeriums zu rezensieren und diese vor allem auf poliische Unbotmäßigkeiten in einzelnen Texten aufmerksam zu machen hate. In einem handschritlich sauber aufgesetzten Bericht, der zweieinhalb Seiten umfasst und am 26. März 1981 einem Hauptmann übergeben wurde, hate „Barbu“ dem Text der jungen banatschwäbischen Autorin mehrere Passagen gewidmet. Die in der Bukarester Zeitschrit acht Seiten einnehmende Dorfchronik beziehe sich auf aktuelle Aspekte des Dorlebens in einem auch von Deutschen bewohnten Dorf des Banats. In dem silisisch sehr gelungenen Text versuche sich die Autorin, durch Verfremdung, Ironie und Saire vom Dargestellten zu distanzieren. Nach Wiedergabe des Inhaltes und der Aulistung einiger ideologisch problemaischer Stellen des Textes (die Verfasserin würde u. a. behaupten, die Gebäude seien verfallen, die Beamten korrupt, im Dorf gäbe es nur noch wenige deutsche Schulkinder), schlussfolgert „Barbu“, die Schritstellerin würde mit ihrem Text zweifellos auch Sachverhalte vermiteln, die es wahrscheinlich hie und da in einigen Dörfern Rumäniens gäbe, doch ihr Fehler sei es, dass sie diesen „negaiven Erscheinungen“ allzu große Bedeutung beimesse. Damit hate sich „Barbu“ – hinter dem Pseudonym verbirgt sich einer der Hochschullehrer von Herta Müller – seiner unangenehmen Aufgabe entledigt, er hate, um sich wohl auch selbst gegenüber seinen Autraggebern zu schüt- 42 Journal of Language and Literary Studies zen, zwar einige von der Autorin aufgeworfene, ideologisch anrüchige Themenfelder erwähnt, doch, um ihr auch nicht übermäßig zu schaden, den Sicherheitsorganen keine besondere poliische Interpretaionshilfe geliefert und die ganze Problemaik auf die künstlerische Ebene verlagert. Man werde das Ganze noch prüfen, hate der Verbindungsoizier am Ende des Berichtes noiert und gegebenenfalls die Parteiorgane informieren. „Barbus“ Text hate vorerst keine unmitelbaren Folgen. Auch jene Berichte, die IM „Mayer“ und „Voicu“, zwei der eifrigsten Spitzel in der Temeswarer Literaturszene jener Jahre, mehr als ein Jahr später am 16. Januar bzw. am 16. März 1982 verfassten, obwohl nachhaliger und eindeuiger in den Hinweisen auf die ideologische Fragwürdigkeit der Texte von Herta Müller, blieben zunächst folgenlos. „Mayer“, der gelissentlich jede auf den ersten Blick auch noch so unscheinbar wirkende Informaion seinen Führungsoizieren zukommen ließ, teilte mit, er habe von einem Redakteur der Temeswarer deutschsprachigen Radiosendung telefonisch erfahren, dass auf einer Sitzung des Literaturkreises Adam Müller Gutenbrunn Herta Müller sechs Texte vorgelesen habe, die wohl für immer in der Schublade verbleiben müssten. In einem der Prosastücke sei in ironischer Überhöhung von einer Busfahrt die Rede, während derer im Radio ständig Nachrichten über ein Präsidentenehepaar gesendet würden. Die Anspielungen seien unverkennbar, wie übrigens auch in einem anderen Text, in dem sich die Autorin lusig mache über die allenthalben im Lande stafindenden Friedensveranstaltungen, zu denen die Menschen nur hingehen würden, weil sie müssten. Schärfere Töne schlägt „Voicu“ in einer Kurzbesprechung der Niederungen an, die in den Temeswarer Buchhandlungen auliegen würden. Die aus der Sicht eines Kindes konzipierte Darstellung sei eine Verzerrung der Dorfrealitäten, denen die Autorin, die sich lauter Klischees bediene, keine posiiven und opimisischen Züge abgewinnen könne. Kein Wunder, dass die Leser der Neuen Banater Zeitung bereits gegen die in der Zeitung vorabgedruckten Fragmente dieses Buches, beispielsweise gegen den Text Schwäbisches Bad, Sturm gelaufen wären. Er frage sich, wozu und wieso solche Texte überhaupt veröfentlicht würden. Solche Urteile haten die Aufsichtsbehörde irriiert, ihren Mitarbeitern zu denken gegeben und sie zum Handeln gezwungen. Die niedrigen Chargen der Temeswarer Kreisstelle des Geheimdienstes wurden beautragt zu eruieren, ob Herta Müller weitere solche Texte veröfentliche bzw. im Adam Müller Gutenbrunn Kreis vorlese. Um ihren Fall an die Parteibehörde weiterleiten und die Genehmigung für die Eröfnung eines informell-operaiven Einzelvorgangs einholen zu können, brauchte die Securitate mehrere solcher Texte als Beweisstücke, die übers Agentennetz aufzutreiben den niederen Oiziersrängen oblag. Ein Jahr später glaubte ein Leutnant der Temeswarer Sekion des rumänischen Innenministeriums, der mit diesem Fall betraut war, über genügend Folia linguisica et literaria 43 belastende Materialien zu verfügen, die die Eröfnung eines Dosar de urmărire individuală, eines individuellen Beobachtungsvorganges, rechferigen könnten. Er verfasste am 24. Februar 1983 einen Bericht für seine Vorgesetzten, die wahrscheinlich auf dieser Grundlage um die Erlaubnis bei der Kreisparteibehörde ansuchten, die Eröfnung einer individuell angelegten Akte über Herta Karl, geborene Müller, zu erlauben. Die verheiratete Frau sei am 17.08.1953 in „Niţchidorf“, so die rumänische Bezeichnung ihres Geburtsortes Nitzkydorf, im Kreis Temesch als Tochter des Ehepaares Josef und Katharina Müller geboren. Sie habe die Philologiefakultät der Temeswarer Universität absolviert, arbeite als Lehrerin an einem Lyzeum der Lebensmitelindustrie und sei poliisch nicht integriert, d. h. sie sei kein Mitglied der Kommunisischen Partei Rumäniens. Sie verkehre in einem Kreis junger deutschsprachiger Autoren, die durch „feindliche Haltung“ gegenüber dem rumänischen Staat aufgefallen seien. In ihren Schriten, in denen ein ähnliches Verhalten wie bei ihren Dichterfreunden zum Ausdruck gelange, behandle sie gesellschatlich-wirtschatliche Themen, verzerre durch die Schilderung in düsteren Farben die Realität in den banatschwäbischen Dörfern, stelle die Rolle der Familie in der sozialisischen Gesellschat negaiv dar. In ihre Bücher schleuse sie zweideuige Aussagen und tendenziöse Ideen gegen den rumänischen sozialisischen Staat ein. Danach führt der Bericht mehrere Beispiele an, die zum Großteil den Beiträgen von „Barbu“ und „Voicu“ entstammen, und erwähnt die empörenden Reakionen, die einzelne Texte unter den Banater Schwaben hervorgerufen häten. Um ihre Täigkeit in ihrer Gesamtheit kennen zu lernen, schlägt der Oizier vor, eine individuelle Beobachtungsakte anzulegen. Was auf diese Weise zustande kam und in den nächsten fünf Jahren zu einem Konvolut von fast tausend Seiten anschwellen sollte, ist die mit dem Decknamen „Crisina“ versehene Beobachtungsakte der Schritstellerin, die im Archiv des rumänischen Geheimdienstes aubewahrt worden ist und 2008 im Rahmen der Recherchen zum Forschungsprojekt des Insituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas e. V. an der Ludwig-Maximilians-Universität München (IKGS) entdeckt und der Schritstellerin ausgehändigt wurde. Herta Müller hat in ihrem Beitrag vor allem auf die lückenhate Überlieferung als Folge bewusster Manipulaion durch den kommunisischen Geheimdienst „Securitate“ und dessen Nachfolgeorganisaion SRI („Serviciul Romȃn de Informaţii“) hingewiesen. Die Akte sei „entkernt“ worden, aus ihrer Sicht fehlten darin besonders die „zentralen Dinge“, die „geilgt worden seien“, und ebenso „alles, wodurch die hauptamtlichen Securisten sich selbst belasten würden.“ (Müller 2009, 15) Möglich ist aber auch, dass dieser Teil ihrer Akte in einem anderen Konvolut gelandet ist, und, sollte er im Nachhinein nicht bewusst vernichtet worden sein, irgendwann mal autaucht. Es könnte aber auch sein, das der rumänische Geheimdienst damals noch keine separate Akte über Herta Müller angelegt hat, 44 Journal of Language and Literary Studies nicht zuletzt weil der Versuch, sie als Spitzel anzuwerben, gescheitert ist, und der mit dem Vorgang betraute Oizier sein Scheitern nicht dokumeniert haben wollte. Es wäre seiner berulichen Beförderung nicht dienlich gewesen. Dass ein individueller Bespitzelungsvorgang recht spät in die Wege geleitet wurde, wirkt auf den ersten Blick auch bedenklich, kann aber wohl auch dem Umstand zugeschrieben werden, dass sie bis dahin in einem Gruppenvorgang eingebunden war und in jenen Dossiers präsent ist, die der damals im Lichtkegel der Securitate stehenden „Akionsgruppe Banat“ gewidmet sind, zu deren Mitgliedern sie nahe Kontakte plegte. Erst als sich die Anzeigen der Spitzel häuten, und es aus der Sicht der Securitate genügend Anzeichen gab, dass hier etwas „Staatsfeindliches“ sich abspiele, ging man daran, die Schritstellerin auch individuell gezielt zu verfolgen. Aus der Akte ihres damaligen Lebenspartners und späteren Ehemannes in den Jahren 1984–1991, des Schritstellers Richard Wagner, des führenden Mitglieds der „Akionsgruppe Banat“, geht hervor, dass die Securitate durch eine eingebaute Abhöranlage die Wohnung des Ehepaares rund um die Uhr über eine längere Zeitspanne ausspionierte. Herta Müller schreibt: „In der Wohnung unter uns wurde die Decke und bei uns der Fußboden durchgebohrt. Die Wanzen waren in beiden Zimmern hinter den Schränken […]. Dass alles, was wir reden, dass sogar das Schlafzimmer abgehört wird, dachten wir nie […]. Doch angesichts der furchtbaren Armut und Rückständigkeit Rumäniens glaubten wir, moderne Abhörtechnik könne sich die Securitate gar nicht leisten. Genau genommen dachten wir auch, dass wir zwar ihre Staatsfeinde, aber diesen Aufwand nicht wert sind. In all der Angst blieben wir dennoch naiv, über den Grad der Überwachung haben wir uns gründlich getäuscht.“ (27f.) Herta Müller gehört zu jenen deutschen Schritstellern aus Rumänien, die konsequent den Zugang zu den vom kommunisischen Geheimdienst gehorteten Überlieferungen und deren wissenschatliche Aufarbeitung gefordert haben. Jeder Betrofene habe das Recht, war die Meinung mehrerer Schritsteller aus diesem Raum, zu wissen, wer sich unbefugt in ihr Leben eingemischt habe. William Totok beispielsweise, ein prominentes Mitglied der „Akionsgruppe Banat“ und Mitstreiter von Richard Wagner und Herta Müller, der mehrere Monate im Gefängnis saß, betonte, er sei vom letzten Jahr am Gymnasium bis zum Fall des Kommunismus rund 20 Jahre lang bespitzelt worden und habe „sämtliche Varianten der Securitate-Repression kennengelernt.“ (Totok 195) Diese habe darauf abgezielt, „einen als Regimegegner eingestuten Menschen zum Schweigen zu bringen, ihn zu kompromiieren und seine kriische Simme verstummen zu lassen.“ (195) Als dann im Vorfeld des EU-Beitrits Rumäniens mit dem „Consiliul naţional pentru studierea Arhivelor Securităţii“ (CNSAS) in Bukarest eine ähnliche Insituion wie die Gauck-Behörde in der Bundesrepublik Deutschland ins Leben Folia linguisica et literaria 45 gerufen wurde, hat der Großteil der rumäniendeutschen Autoren Einsicht in ihre Akten nehmen können. Das IKGS hat ab 2009 mehrere Tagungen organisiert, die auch in den überregionalen Medien Aufmerksamkeit gefunden haben, worauf in diesem Rahmen nicht eingegangen werden kann. Literatur: Leber, Peter-Dietmar. „Das deutsche Problem war für die Securitate bis 1989 sehr wichig“. Gespräch mit Dr. Virgil-Leon Ţȃrău, stellvertretender Leiter des Naionalen Rates für das Studium der Securitate-Archive (CNSAS). Banater Post, 20. Mai 2011 Müller, Herta. Crisina und ihre Atrappe oder Was (nicht) in den Akten der Securitate steht. Göingen: Wallstein, 2009. 15 Motzan, Peter. Die vielen Wege in den Abschied: Die deutsche(n) Literatur(en) in Rumänien (1919–1989). In: Florstedt, Renate (Hg.). Wortreiche Landschat. Deutsche Literatur aus Rumänien – Siebenbürgen, Banat, Bukowina. Ein Überblick vom 12. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Leipzig: BlickPunktBuch 1998. 108–116. „Securitate“. Wikipedia. Die freie Enzyklopädie. htps://de.wikipedia.org/wiki/ Securitate. 8. April 2017 Sienerth, Stefan. „Operaive Vorgänge der Securitate im Problemfeld „Deutsche Faschisten und Naionalisten“. Anmerkungen zu den Akionen „Epilog“ und „Scutul“ in den Jahren 1971–1976“. In: Csejka, Gerhardt und Sienerth, Stefan (Hg.). Vexierspiegel Securitate. Rumäniendeutsche Autoren im Visier des kommunisischen Geheimdienstes. Regensburg: Friedrich Pustet, 2015. 17–29. Sienerth, Stefan. Zielstrebig, leidenschatlich, übereifrig. Zur Securitate-Akte des Literaturhistorikers Heinz Stănescu. In: von Putkammer, Joachim, Sienerth, Stefan und Wien, Ulrich A. (Hg.). Die Securitate in Siebenbürgen. Köln: Böhlau, 2014. 308–341. Sienerth, Stefan. „’Die Wirrnis wurde Lebenslauf’. Zur Securitate-Akte des Dichters Georg Hoprich“. In: Spiegelungen 6(60). H. 3. München: IKGS, 2011. 231–263. Sienerth, Stefan. „’Ich habe Angst vor unerfundenen Geschichten’. Zur „Securitate“-Akte Oskars Pasiors“. In: Spiegelungen 5(59) H. 3. München: IKGS, 2010. 236–271. Sienerth, Stefan. „Die deutsche Literatur Siebenbürgens, des Banats und der Bukowina. Von ihren Anfängen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts“. In: Sienerth, Stefan. Studien und Aufsätze zur Geschichte der deutschen Literatur und Sprachwissenschat in Südosteuropa. Bd. I. München: IKGS, 2008. 57–78. 46 Journal of Language and Literary Studies Totok, William. „’Es werden andere Zeiten kommen.’ Zwanzig Jahre lang im Visier der Securitate.“ In: Csejka, Gerhardt und Sienerth, Stefan (Hg.). Vexierspiegel Securitate. Rumäniendeutsche Autoren im Visier des kommunisischen Geheimdienstes. Regensburg: Friedrich Pustet, 2015. S. 195. Totok, Wiliam/ Macovei, Elena-Irina. Intre mit şi bagatelizare. [Zwischen Mythos und Bagatelisierung]. Iaşi: Editura Polirom, 2016. 193-218. ROMANIAN-GERMAN WRITERS AND SECURITATE Ater the Nobel laureate for literature Herta Müller 2009 publicized their iles, which were commissioned by the Romanian security service, in the weekly DIE ZEIT and then in their book Crisina and their dummy or what (in the iles of the Securitate), the observaion of the Romanian - the Communist Intelligence became a popular subject not only of the media, but also of literary research. According to a brief account of the history of the German minority in Romania, the author describes in a irst part how, ater the end of the Second World War, the Romanian communist secret service was founded, which oicially commissioned the new social order against enemies from outside and protect from the interior. In reality, however, the new rulers were concerned with siling criical uterances in the germ, silencing other thinkers, and, if necessary, shuing them down or even eliminaing them. All this was done with the intenion of spreading a general climate of fear and uncertainty to prevent any rebellion against the poliically unauthorized authority. In a second part we will discuss case histories of how the spoing of famous Romanian-German writers (Oskar Pasior, Georg Hoprich, Herta Müller, and others) was planned and carried out by the Securitate, and the efects it had on biography and work. Key Words: Rumäniendeutsche, Securitate, Oskar Pasior, Georg Hoprich, Herta Müller Folia linguisica et literaria 47 UDK 32:008(430) Politische Machtstellung oder kulturelle Insellage der Literatur. Leidlich kämpft Plenzdorfs junger W. um seine Charlie. Miodrag Vukčevič, Belgrad, mvukcevic@fil.bg.ac.rs Abstract: Als Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. 1973 in beiden deutschen Staaten erschien, da gehörten Mauer und Stacheldrahtzaun schon zum deutschen Alltag. Wertet man die deutsch-deutsche Teilung als Ergebnis einer in beiden Staaten nach den Jahren des Wiederaufbaus jeweils stattgefundenen kulturellen Revolution, so wird dem Buchtitel sowohl eine Vorbild- als auch Symbolfunktion zuteil. Erstere wird durch intertextuelle Bezüge deutlich, die mit dem Titel, den Zitaten und inhaltlich hergestellt werden. Im Vordergrund stehen dabei kulturelle Identiikationsmerkmale. Aber gerade die zweite Bestimmung war wohl der Auslöser für die Furore, die das Werk seinerzeit ausgelöst hat. Durch den Bezug zu historischen Kerngebieten deutscher Kultur wenden sich beide Faktoren einer kulturpolitischen Funktion zu. Die Untersuchung stellt vorab die in den beiden deutschen Staaten jeweils hergestellten Gesellschaftssysteme in kurzen Zügen gegenüber, um daraus auf die Bedingungen für kulturelle Praktiken zu schließen. Aufgezeigt wird, wie das Werk einerseits Vorstellungen der kulturellen Abgeschiedenheit im Osten anspricht, des Verlusts an kultureller Identität im Westen. Mit dem Handlungsmittelpunkt in Berlin und den zahlreichen Verbindungen zum englischsprachigen Gebiet, intertextuell und sprachlich, projiziert sich das Werk in der Metatextebene hingegen in die Rolle einer Insellage, die der Lage West-Berlins entsprach. Durch eine so geartete Konstellation gelang es Plenzdorf zum einen, die Literatur in ihrer autonomen kulturtragenden Rolle aufzuzeigen, zum anderen Kultur über die politische Blockteilung hinweg als entscheidenden gesellschaftsbildenden Faktor. Schlüsselwörter: Deutsch-deutsche Teilung, Gesellschaftssysteme, Intertextualität, kulturelle Identität, Kalter Krieg, Kulturpolitik, Kulturraum, Ulrich Plenzdorf Charlie. Für den Namen selbst sollte es an Signiikanz nicht mangeln. Natürlich ist er auch im Deutschen vertreten, und damit sollte zunächst nichts sonderlich Bewegendes festgestellt worden sein. Weit hergeholt dürte es aber sein, ihn als Vorgrif auf eine Jahrzehnte später enfachte Gender-Diskussion zu sehen. Ob in einen ökonomischen oder poliischen Zusammenhang gestellt, von marktgerecht entworfenen Strategien bis hin zu in ideologischem Rahmen 48 Journal of Language and Literary Studies sich bewegenden Zuweisungen, eine sprachliche Verwandtschat mag den Rufnamen in einen kulturellen Bezugszusammenhang stellen, welcher dergestalt ausgeformt seine Banden eher ausdrückt als Karel oder Slobodan. Doch die relaiv kleingehaltene Zahl an Untersuchungen zu Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. indet im Vergleich zur weitaus umfangreicheren Spannbreite der Besprechungen zum Werk im Feuilletonwesen ihre Freude mehr am gesellschatspoliischen Ansatz denn als an einem kulturkriischen. Anders als die Fülle der erschließenden Titel zu Plenzdorfs Aufsehen erregendes Werk in der Zeit vor der deutschen Wiedervereinigung, aber auch in den daraufolgenden Jahren, dürte eine mitlerweile zu verzeichnende historische Distanz zur deutsch-deutschen Teilung heute eine Interpretaion ermöglichen, die sich von ideologischen Vorzeichen loslöst. Aus diesem Grund soll im Folgenden ein Deutungsansatz vorgestellt werden, der versuchen soll, aus dem Verhältnis zwischen ideologisch geleitetem Interesse einerseits und literarischer Relexion andererseits Rückschlüsse zu ziehen, die am Beispiel der deutsch-deutsche Erfahrung einer Spaltung des eigenen kulturellen Wesens Aufschlüsse über kulturbildende Prozesse bieten. 1. Gesellschatssysteme in den deutschen Staaten Unabhängig von der erfolgten deutsch-deutschen Teilung und der einhergehenden Erstellung einer Regierungsverwaltung in beiden deutschen Teilstaaten, die dem jeweils herrschenden ideologischen gesellschatspoliischen Konzept der Besatzungsmacht nach entworfenen wurde, blieb die Wahrnehmung des eigenen Wesens ein doch der eigenen Kultur zugehöriges. Das lässt sich an der Problemstellung der terminologischen Diferenzierung bei der Eingrenzung des Gegenstandes als deutsche Literatur zzt. der deutsch-deutschen Teilung erkennen. Eine ‚sozialisische Naionalliteratur‘, die sich seit 1949 auf dem Gebiet der einsigen Ostzone, dann der DDR herausbilden sollte, maß sich an der Vorgabe der Repräsentaion eines real exisierenden Sozialismus. Trotz anfangs nicht wahrgenommener Akzentverschiebungen, wurden, nach einem Jahrzehnt von bundesdeutscher Seite aus betrachtet, dann doch verschieden gelegte Entwicklungsbahnen erkannt. Als ausschlaggebend für die Zuordnung des Bezugsgefüges in literarischen Produkten galt jedenfalls stets der Wohnsitz ihrer Schöpfer. Abgegrenzt wurde es durch einerseits „marktwirtschatliche“ Verhältnisse und andererseits durch eine „staatlich reglemenierte Literaturöfentlichkeit“ (Zimmermann 18), was allerdings den Rezepionsrahmen im Voraus um die kulturpoliische Komponente minderte. Selbst der vermeintliche Gegensatz zwischen liberaler oder sozialer Gesellschatspoliik konnte durch das Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe über mögliche Koniskaion von „staatsgefährdenden Druckerzeugnissen aus der DDR“ (Zimmermann 18) über diesen Eindruck nicht hinwegtäuschen. Folia linguisica et literaria 49 Im innerdeutschen Austausch gestaltete sich der jeweils der Gegenseite zugewandte Aussagewert folglich nicht nur begrenzt in seinem Wirkungsvermögen, sondern entwarf vielmehr ein hypotheisches Bild, dessen relaive Gewichtung ein undeutlich gehaltenes Ergebnis nach sich zog. Selbst bei Texten zu Plenzdorfs Neue Leiden des jungen W., die nach der Wiedervereinigung entstanden sind, und deren erschließender Ansatz sich von einem systemaisch-theoreischem Interesse geleitet sieht, scheinen sich durch unzureichend ausgebildete zeitliche Distanz vorgeprägte Deutungsmuster nicht umbilden zu lassen. Ein indiferentes Meinungsbild in beiden deutschen Staaten selbst nach Willy Brands Kniefall von Warschau, verwies jedenfalls auf die Funkion, welche die deutsch-deutsche Teilung mitels tagespoliischer Themengewichtung wahrnahm, nämlich kulturpoliische Fragen auszuklammern. Meinungsbildende Sprachrohre in Westmedien charakterisierten Edgar dementsprechend als „sozialisischen Neuerer auf romanischem Ego-Trip“ (Schneider 14). Umso mehr verwundert es, wenn Verweise auf projizierte Ebenen heute trotz Entleihung und Einführung einer fachterminologisch begrilichen Ausdiferenzierung, wie Michael Ahlers‘ von Benjamin Harshaw (227-251) abgeleiteter Ansatz, den vorgezeichneten Argumentaionsstrategien konzeptuell verplichtet bleiben. Verschiebungen innerhalb sog. „texinterner Bezugsfelder“ werden am Beispiel Plenzdorf nicht als solche dargestellt, die vom Schritsteller entworfen wurden, sondern als ideologischer Rahmen, in welchem „Autor und Leser in der intertextuell wahrgenommenen Textstruktur“ in ihren Posionen verharren (Ahlers 63). In diesem Zusammenhang wirt sich natürlich die Frage nach dem rezepiven Rahmen auf. Eine systemkonforme Rezepion entsprechend der poliischen Gesellschatseinrichtung lässt in diesem Fall das Werk Plenzdorfs dichotomisch als Einwegspiegel zwischen pluralisischer Individualität und sozialisischem Kollekivdenken erscheinen. Die einzige Entscheidung, vor die man gestellt wird, möchte man sich in die über Jahrzehnte einsimmigen Ansichten wie Ilse Reis’ oder Marcel Reich-Ranickis einreihen, ist entweder die Posiion des Einzelgängers als sozialutopischen Gegenentwurfs einer individuellen Enfaltung anzunehmen oder eine sozialhistorisch besimmte, die von einem Integritätsgedanken gezeichnet ist. Vereinzelte literaturkriische Stellungnahmen lassen sich dennoch nicht von der Hand weisen. Während man im Westen zwischen gesellschatlicher Realität und poliischem Gesellschatssystem stand, was an einer Generaion abzulesen war, die zwischen den „schon mythisierten Daten 1968 und 1977, zwischen APO, Punk und militantem Widerstand angesiedelt“ (Kühn 26) war, warnten die vom Osten her kommende Wahrnehmungen vor „qualitätsfeindlicher Rouine“ in der Literatur, sprachen von „vorfabrizierten Einsichten“, welche Geschichten konstruieren, d.h. in Schablonen einer vorgegebenen Welterklärung einpassen (Kühn 27). Andererseits gehört ein marktstrategisch gelenktes 50 Journal of Language and Literary Studies Denken im Westen fast schon zum Habitus, und solches führte früher dazu, Plenzdorfs Intenion in der Befriedigung einer Publikumsnachfrage dingfest machen zu wollen. Hinweise darauf wurden von Fachkundigen auf sprachlicher Ebene aber auch auf der gesellschatlicher Bedürfnisse konstaiert. Solch eine Änderung der Rahmenbedingungen wirkte sich auf das Bestehen einer kriischen Intenion zwar nicht aus, führte jedoch unvermeidlich zu einem Wechsel der Perspekive, die sarkasisch untermalt, „Paient auf dem Transportweg verstorben“ (Lut 20) Hinweise auf Wahrnehmungsgrenzen hier und da bietet. 2. Bedingungen für kulturelle Prakiken Die Veränderungen im gesellschatlichen Gefüge nach dem 2. WK erfolgten plötzlich. Kulturelle Prakiken passten sich dem jeweils herrschenden ideologischen Rahmen an, der die sog. sozialen Milieus zersetzte. Einerseits wirkte eine „kulturelle Amerikanisierung im Westen vor allem auf subkulturelle Segmente in der Gesellschat, die sich als unter- und ani-bürgerlich dünkten“ (Ketelsen 135), was gleichzeiig die konservaiven Einlüsse dämmte, wobei man andererseits trotz liberaler Kulturpoliik unter dem Sichwort ‚Biterfelder Weg‘ bei der Befürwortung einer sozialisischen Naionalkultur in der DDR weiterhin ordnungsgemäß den Zensor bemühte. Dergestalt auseinander divergierende kulturpoliische Richtungen verieten sich in der Gegenüberstellung vorgegebener Wertevorstellungen (Thurich 55). Die Deutungsmöglichkeiten eines gesellschatlich gegebenen Handlungsraumes sind dabei nicht zwangsläuig eingeengt. Gerade am Beispiel der Diskussion um Edgar Wibeaus Schicksal zeigt sich, inwieweit ein ‚Einzelgängertum‘ als Gegenstück zu sozialisisch gelenkten Gesellschatsstrukturen zu verstehen sei oder doch eine komplementäre Erscheinung zur gesellschatlichen Produkion ist (Biele 1288 – 1293). Unter diesen Vorzeichen leitete sich die Kriik allerdings erneut aus einem ideologisch besimmten Rahmen ab. Insofern ist es eine Frage des Bedarfs, Plenzdorfs Intenion außerhalb des Spannungsfeldes einer vermeintlichen Kriik am sozialisischen Gesellschatssystem zu suchen. Trotz einer inzwischen eingetretenen zeitlichen Distanz und eines gesellschatlichen Umfeldes, dessen Ausgangssituaion sich grundsätzlich verändert hat, scheinen die vormals geltenden Rezepionsvorgaben sich aber weiterhin in ihrer Güligkeit bestäigen zu müssen. So halten Forschungsansätze in der Gegenwart koninuierlich an Argumentaionssträngen der überkommenen Gesellschatslage fest. Die Darstellung der Zeitschrit Sinn und Form in der Funkion eines Sprechrohrs der oiziellen vertretenen Wertmaßstäbe (Parker/ Phillots) zeigt, inwiefern die Entbehrung einer ausgewogenen Analyse mitels Ansätzen eines Wechsels der Perspekive, statdessen die Argumente in ihrer Posiion verhärtet. Im Vergleich zur weltbewegenden und die sie teilenden ideologischen Frage erscheinen Plenzdorfs Anmerkungen nicht nur konnotaiv abgeschwächt bis belanglos son- Folia linguisica et literaria 51 dern, obwohl im Kontext zwar gesondert betrachtet, erscheint seine Aussage: „die Wirklichkeit nach ihrer Deckung mit den Idealen immer wieder befragen“ zu müssen (Plenzdorf 1974, 24), doch mehr als ein Hinweis auf einen gesellschatlich generierten Generaionskonlikt denn eine konkrete Kriik am sozialisischen Regierungssystem. Anders dagegen die Simmen in der Bundesrepublik. Marcel Reich-Ranickis sarkasisch untermalter Verweis auf den Fundort deutscher Hochkultur (2) erkennt zumindest eine Nische, die eine bedarfsweise Umdeutung des öfentlichen Tenors erlaubt häte. Zumal sich seine Feststellung eng an den Text hält. Ist es doch Edgar selbst, der im Gespräch mit Charlie das Exemplar des deutschen Kultursymbols in den Rahmen prosaischer Zwecke stellt (Plenzdorf 1976, 70). Welche schwerwiegenden Folgen die intertextuellen Bezüge haben, lässt sich ferner am Zusammenhang ablesen, den Ahlers in der ursprünglich geführten Debate rund um die Frage der „ästheischen Gesichtspunkte“ und im Blickwinkel der „’Erbe’-Problemaik in der DDR“ ausmacht (Ahlers 61). Wie es bei der Schafung von Bedingungen für das Entstehen einer Hochkultur bekanntermaßen immer an besonderen Umständen bedarf, galt solches natürlich auch für das kulturelle Erbe der bürgerlichen Hochkultur. Diese in Verbindung gesetzt mit dem Kulturverständnis nach der sozialisischen Kulturrevoluion wird durch den vorstehend dargelegten Zusammenhang dabei in indiferenter Weise mit dem Verhältnis zum poliischen Gesellschatssystem in eine Waagschale gelegt, was die Abwertung von Goethes Werk durch die „Art des Rückbezugs auf ihn in Plenzdorfs Text“ (62) zur Folge hat. Solche Absichten sollten allerdings keinem der Vorgenannten unterstellt werden. Betrachtet man jedoch den Beitrag Reich-Ranickis im Zusammenhang der Begrifsbildung zur Umschreibung von literarischen Tendenzen der 70er Jahre, so ergeben sich letztlich Tendenzen, die sich den ideologischen Prämissen entziehen. Der von Reich-Ranicki geprägte Gedanke des Rückzugs in die Subjekivität stellte die Diskussionen um literarisch gestaltete Themen nunmehr unter einen Leitsatz der Neuen Subjekivität. Damit im Zusammenhang hielt Plenzdorfs Beschreibung eines in sich zurückgezogenen Teenagers den Schrit mit einer Zeit, die otmals als „Dezennium neuer Sensibilität und Subjekivität“ bezeichnet (Matenklot und Pickerodt) wurde. Als ob sich zeitlich ein Pendant zur Mitte des 18. Jh. abgebildet häte. Jeweils symbolisch in der Figur des Titelhelden vereint, lassen sich die der Gesellschat zur Diskussion gestellten Themen in den soziokulturellen Verhältnissen ablesen. Reich-Ranickis Parallele, „der Fänger im DDR-Roggen sei ein deutscher Bürstenabzug der DDR von Jerome David Salingers Catcher in the Rye“ (2), ist allerdings ebenso dann auf zwei Ebenen zu interpreieren. Robinson Crusoe diente in der Rezepion in Deutschland ab 18. Jh. zz. der Empindsamkeit zwar zur Ausbildung einer Grundlage für den Aufsieg einer bürgerlichen Kultur als Hochkultur, was sich durchaus mit der Wirkung 52 Journal of Language and Literary Studies von J. D. Salingers Werk unmitelbar zum Ende des 2. WK als amerikanischer neuer Kultur vergleichen lässt. Ein zusätzliches Vergleichspaar ergibt sich jedoch anhand der kulturellen Zuweisungen Reich-Ranickis. Mit der Verbindung von Prozessen der Herausbildung deutscher Hochkultur zu kulturellen Prozessen in der US-amerikanischen Gesellschat, gebrochen im Spiegel der DDR-Gesellschat, erscheint die Dichotomie, überträgt man sie auf die damals bundesdeutsche Kulturperspekive, vom Spannungsverhältnis zwischen Idenitätsverlust, Verlustgefühlen wegen abgeschiedenem kulturellen Ideniikaionsbezug, und fremdem Kultureinluss gekennzeichnet. Es ist eine Gegenüberstellung zweier Grundsätze. Das mitels intertextuelle Verweise aufgebaute Spannungsverhältnis zwischen einerseits dem sozialutopischen Gegenentwurf einer individuellen Entfaltung, das Holden Cauield in gedämpter Simmung, „prety damp out“, mit dem „old huning hat“ (Salinger 122) beim Gedanken an seine jüngeren Schwester Old Phoebe relekiert während seines sonnabendlichen Museumsbesuchs und andererseits dem sozialhistorisch konvenionell besimmten Integritätsgedanken, dem Edgar W. nachhängt. „An Herrn Edgar Wibeau, den ollen Hugenoten. Jeder Blöde häte gemerkt, daß ich eben nichts wissen sollte über meinen Erzeuger, diesen Schlamper, der sof und der es ewig mit Weibern hate. Der schwarze Mann von Mitenberg. Der mit seiner Malerei, die kein Mensch verstand, was natürlich allemal an der Malerei lag.“ (Plenzdorf 1976, 21) So ist es unverständlich, wie aus westdeutscher Sicht eine „sozialisisch-realisische Schreibweise, die mit einer eindeuigen Leserlenkung arbeitet“, als Ursache für eine in der DDR vermeintlich nicht genügend wahrgenommene „Mehrschichigkeit des Werkes“ (Jäger), atesiert werden kann, stellenweise gar als „Simpliizierung“. Demgegenüber wirt sich natürlich das Dilemma auf, ob dann Deutungsmöglichkeiten eines formalisischen Denkens als Form des Denkens oder auf Formen ausgerichtetes Denken begrifen werden können und sollen, was an eben exempliiziertem Rückschluss scheinbar den Selbstbezug an sich problemaisiert. Insofern hält sich Georg Jägers Diskussionsbeitrag an die Lesart, wie sie sonst im allgemeinen öfentlichen Diskurs steht, nämlich der Rückführung von poeischen Fragen an poliische Zusammenhänge. Einerseits verweist er kulturkriische Fragestellungen wie z. B. „die moralische Provokaion“ zwar „auf die poeische Geschlossenheit“, doch indem er eine „konsequente Beschränkung auf eine Perspekive“ reduziert (Kohlhaase 248), verlässt er wieder das Terrain und verharrt in der tagespoliischen Diskussionsebene. So ist es auch um die an manchen Orten erkannte „Subjekivität des Autors zum Helden und des Helden zur Welt“ (Jäger) gestellt, die als Argument in den Zusammenhang mit der „einseiigen Verletzung des sozialisischen Realismus“ Folia linguisica et literaria 53 (Kerndl) verlegt wird, was sich als objekive Kategorie wiederum aus dem Blockdenken ableitet. Solches wird in Plenzdorfs Werk stellenweise durchaus unterstützt, nimmt man den entsprechenden Passagen jedoch die innewohnende ironische Anspielung, wie beispielweise an kriegstakische Manöver der russischen Armee im Ersten WK unter General Brussilow (Plenzdorf 1976, 115). Auf diese Weise erhält man eine Erzähltechnik, welche die Perspekive, die Aussichten in eine vereinsamte Individualität verlegt. 3. Vorstellungen der kulturellen Abgeschiedenheit im Osten Die Einführung von sog. „Nicht-Orten“ in der erschließenden Literatur (Augé), die zu ständigen Orienierungsmarken berufen werden, stehen für die ausbleibende Möglichkeit Erfahrungen zu sammeln, welche Erinnerungen schafen. Nach der überwundenen ideologischen Teilung Europas dürte heute dem nun nichts entgegenstehen, diese allgemeinen, für gegenwärige Zustände geltenden Erkenntnisse auch auf Verhältnisse anzuwenden, deren Erscheinungsformen früheren Zeiten angepasst waren. Was in einen Raum projiziert wird, der Werner Jung zufolge „von einsamer Individualität von Vorübergehendem, Provisorischem und Flüchigem geprägt ist“ (11), also von den zeitgenössischen Symbolen der konsumierenden Verkehrsgemeinschat gezeichnet ist, steht allerdings ebenso in Korrelaion zum Kommunikaionsraum, in dem der Teilnehmer eine „Simultanerfahrung der ewigen Gegenwart und der Begegnung mit sich selbst“ (11) macht. Insofern zieht sich der Mensch wegen ausbleibenden Raum und Zeitkoordinaten in sich selbst zurück, kann also, „weder eine charakterisische Idenität noch eine Beziehung“ aufrechterstellen und bleibt in „Einsamkeit und Ähnlichkeit“ verhatet (11). Das Verhältnis zwischen Erzählen und Kommunikaion entwirt sich demzufolge analog zum Verständnis vom historischen Gedächtnis, das dem Austausch in der Gegenwart gegenübersteht. Es ist zweifelfrei zunächst der deutsche literaturgeschichtliche Zusammenhang, in dem die intertextuellen Bezüge Der neuen Leiden zu suchen sind. Zum einen stehen Plenzdorfs Allusionen auf die deutsche Literaturgeschichte dadurch im Konnex historischer Erfahrungen, die kulturgeschichtlich zu umreißen sind. Doch aufgrund Edgars gedanklichen Austauschs, der seine Kommunikaion in einen zeitgemäßen intertextuellen Rahmen stellt, tauchen die Bezüge als Form einer Diskussion auf, die den aktuellen geschichtlichen Zusammenhang der deutschen Gesellschat aufgreit. Parallelen zu Salingers The Catcher in the Rye projizieren ein Bild der individualisierten Gesellschat, deren soziale Verhältnisse eine Aussteiger-Mentalität erlauben, gar unterstützen oder fördern, sei es Edgars Leben in der Laube oder seine Gedanken zum Bruder eines Filmhelden, von dessen Rolle eines Begleiters Holden Cauield fasziniert ist, da jener letztlich vom Clowndasein träumt, um die Welt zu bereisen. Im Text ebenfalls enthalten, sieht Mark-Oliver Carl das Gefüge einer sozialisischen Gesellschat als Gegen- 54 Journal of Language and Literary Studies stück zu der individualisierten Gesellschatswahrnehmung. Eine aus dem Kollekivdenken abgeleitete Perzepion kann ihm zufolge für den ostdeutschen Bürger ein Anhaltspunkt sein, Tschingis Aitmatow (1928-2008) wiederzuerkennen, womit „sein westdeutscher Bekannter mit dem Hinweis im Paratext vielleicht nicht viel anfangen“ kann (Carl 10). Abgeleitet aus einer Erziehung in kulturellen Zusammenhängen, die im Kontrast stehen zum gesellschatpoliischen Gefüge, wird dadurch das Wesen menschlichen Seins themaisiert, sich am Umfeld orienierend in die Lebensabläufe einzufügen. Beides ist sowohl in Aitmatows Prosaerzählung Der erste Lehrer (1962) als auch in Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. zu erkennen. Ist es einerseits eine soziale Entwurzelung, die das Heranwachsen der Protagonisin Altynai Sulaimanowa in einem gesellschatlichen Gefüge erschwert, so ist es andererseits die soziale Zerspliterung, welche den Fortgang koninuierlicher kultureller Entwicklung hemmt. Edgars Vater erscheint schließlich symbolisch für die Erziehung in einem kulturellen Umfeld, dessen historische Verbindungen sich für den Sohn mosaikarig verschlüsseln. Aber erst durch das Kennenlernen des Sohnes entschlüsseln sich für den Vater dann die gesellschatlichen Verhältnisse, die jeweils zur Abgeschiedenheit geführt haben. Für Edgar ist Kulturgut jedenfalls der Reihe nach geordnet: „Ich weiß nicht, was er alles hate. Garaniert alle diese guten Bücher. Reihenweise Marx, Engels, Lenin. Ich hate nichts gegen Lenin und die. Ich hate auch nicht gegen den Kommunismus und das, die Abschafung der Ausbeutung auf der ganzen Welt. Dagegen war ich nicht. Aber gegen alle andere. Daß man Bücher nach der Größe ordnet zum Beispiel. Den meisten von uns geht es so. Sie haben nichts gegen den Kommunismus. Kein einigermaßen intelligenter Mensch kann heute was gegen den Kommunismus haben. Aber ansonsten sind sie dagegen. Zum Dafürsein gehört kein Mut. Muig will aber jeder sein. Folglich ist er dagegen.“ (Plenzdorf 1976, 81) Unabhängig von ideologischen Einlüssen und terminologischen Kategorieseirungen, realgeschichtlicher oder marxisischer Geschichtsaufassung nach, das Spannungsverhältnis zwischen historisch ererbter Kultur und ihrer Zukuntsperspekive entwirt ein beklemmendes Bild der Unbeholfenheit. Einen Ausgang aus dieser Situaion bietet die Möglichkeit, sich ideniikaionssitende Merkmale zu schafen: „Anschließend kroch ich wieder in meine Laube, wie immer. (…) Ich analysierte mich kurz und stellte fest, daß ich sofort damit anfangen wollte, meine Spritze zu bauen. Mein NFG [nabelloses Farbspritzgerät, M. V.]. Und dann, wenn sie funkionierte, meine Spritze, wollte ich lässig wie ein Lord bei der Truppe aukreuzen“ (Plenzdorf 1976, 109). Folia linguisica et literaria 55 Schlussendlich lässt sich festhalten, dass jeglicher Eindruck kultureller Aussonderung in einem System zur Idenitätsindung also nöigt. 4. Verlust an kultureller Idenität im Westen Als gemeinsames kulturgeschichtliches Ideniikaionsmerkmal ist der grundsätzliche intertextuelle Bezug zum Symbol deutscher Hochkultur ein Anhaltspunkt, der unweigerlich zunächst integraiv gekennzeichnet ist. Durch die inhaltlich aufgefächerten intertextuellen Verweise auf literaturgeschichtlich abgeleitete Ideniikaionsmerkmale wird in Plenzdorfs Werk allerdings auf kulturelle Ideniikaionsmerkmale verwiesen, die erst im literarischen Diskurs selbst an Form gewinnen. Prinzipiell lassen sich darauf aubauend die Hinweise auf Texte mit besonderem Status in jeweils einem der ideologisch disinkten Kulturkreise als literarisch geübte Diskussion zur Ausbildung kultureller Ideniikaionsmerkmale ablesen. In scheinbarer Unkenntnis oder etwa einem quasi gebildeten Stand überlagern sich zwar Georg Friedrich Händel, Sebasian Bach und Felix Mendelssohn Bartholdy in einem „Händelsohn Bacholdy“, doch wird die zum Einen von Händel als in Abstand haltende Beziehung und zum Anderen von Bach sich um Annäherung bemühte im Klassischen durch einen gemeingeschichtlichen Ansatz, wie es Bartholdy zueigen war (Großmann-Vendrey 124), miteinander versöhnt. Zu einem wenn nicht ausschlaggebenden, dann doch aber sehr wichigen Gesichtspunkt, zählt vor allem der Lebensabschnit des Helden. Der Eintrit und das Aufwachsen in einem gesellschatlichen Gefüge verlangt es insbesondere von Adoleszenten, sich den normaiven Vorgaben zu stellen. Ähnlich wie es sein namenloses literarisches Vorbild im Brief vom 19. Juni 1771 schildert, als Werther nämlich bei gesellschatlicher Unterhaltung im Tanz von einem Unwetter unterbrochen wurde, und er die Reakionen qualitaiv wertet, muss Edgar ebenso eine Meinung zu den Erscheinungen ausbilden, von denen seine Interessen geleitet werden. Analog dazu stehen die eingenommenen Posiionen von Vertretern der jeweiligen Staatsführung im geteilten Deutschland. Ob es einerseits Annäherungsversuche sind oder das Bestehen auf eine nachkriegspoliische Tradiion andererseits, die „Mitelstellung zwischen Ideniikaion (Verständnis) und Distanz (Kriik), die das Beurteilungs- und Wertungspotenial des Lesers akiviert“ (Brinker-Gabler 90), wird über eine aktuelle Jugendsprache überbrückt. Aber ungeachtet ihrer integraiven Funkion, steht sie dennoch für eine Posiionseinnahme, die im Heranreifen Adoleszenter für ihre Idenitätsindung steht. „Für Jeans konnte ich überhaupt auf alles verzichten, außer der schönsten Sache vielleicht. Und außer Musik. Ich meine jetzt nicht irgendeinen Händelsohn Bacholdy, sondern echte Musik, Leute. Ich hate nichts gegen Bacholdy oder einen, aber sie rissen mich nicht gerade vom Hocker. Ich 56 Journal of Language and Literary Studies meine natürlich echte Jeans. (…) Echte Jeans dürfen zum Beispiel keinen Reißverschluß haben vorn. (…) Was nicht heißt, daß jeder, der echte Jeans trägt, auch echter Jeansträger ist.“ (Plenzdorf 1976, 26/27) Während der Nachkriegsära gehörte das ideologisch geteilte Blockmodell zur Grundlage, um eine Scheidelinie zwischen den deutschen Teilstaaten zu bilden. Von westdeutscher Seite aus betrachtet, konnte Edgars Lebensweg dementsprechend nicht vom Gesellschatsmodell losgelöst betrachtet werden. Den Neuen Leiden schien das Schicksal dadurch vorgezeichnet. Jegliche Interpretaion bewegte sich im Rahmen vorgegebener gesellschatlicher Verhältnisse. Es überrascht daher nicht, dass systemkonformes Denken, von ideologischer Grundlage gestützt, im Westen als Ausgangspunkt für die Rezepion wahrgenommen wird. Was im Rückkehrschluss allerdings auf die Rezepionsgrundlage verweist. Von westdeutscher Seite aus gesehen, lässt sich ergo eine Verhärtung der projizierten Gegensätze erkennen, die an dem zweifelsohne kulturell näherstehenden äußeren Einluss ansetzt. Diese Herangehensweise sollte im Folgenden auch die Disinkionen besimmen. Daher blieben die Interpretaionsprobleme im Westen weiterhin auf theoreische Kenntnisse über den Rezepionsrahmen im Osten beschränkt. Selbst eine Aufächerung der Kommunikaionswege in verschiedene mediale Formen vermochte es nicht, den Diskurs umzuleiten. Auf Brenners Feststellung, das Werk häte Erfolge verzeichnet, weil es die „eigentliche ‚poliische‘ Leistung (…) im Ofenhalten, nicht im dogmaischen Statuieren von Möglichkeiten“ suchte (Brenner, 11-68), entgegnete Mews in Zusammenhang mit der jeweiligen Entstehungssituaion von Texfassungen für DDR, Theater, Film, Hörfunk und BRD, sie gehörten eher in die „Schublade“ (Mews, 34). Demzufolge verhärtet sich der Hinweis auf die Notwendigkeit der poliischen Leseweise, die sich aus „vorgängigen Aussagen (im zeitpoliischen Kontext) ergeben und zu weiterführenden ästheischen Überlegungen im engeren Sinne im Hinblick auf die Rezepionsbedingungen (aufgrund des Medienwechsels) führen (Brenner, 11-68). Mag sein, dass sich die Umstände für Plenzdorf glücklich gestalteten, dadurch, dass das disinkive Merkmal für die Dichotomiebildung als erfasst erschien. Es sollte sich alsdann im Rahmen eines organisierten Literatur- und Mediensystems abspielen. Verweise darauf enthält das Werk selbst. Edgars Welt ist ebenfalls auf mediale Vermitlung angewiesen und wird durch den Medienwechsel auf neuen Relexionswegen geleitet. Vom Abenteurer eines Robinson Crusoe, der sich sein eigenes soziales System entwirt, über den sozialen Außenseiter Charlie Chaplin und seine Integraionsprobleme, Sidney Poiier, den Melonenilmen oder Tropenhelmen (Plenzdorf 1976, 38) – die im Mediendiskurs symbolisch dargestellten sozialen Verhältnisse werden zu zukuntsträchigen Orienierungsposten. Im Gegensatz dazu erkennt Holger Helbig die Konstruki- Folia linguisica et literaria 57 on des Textes als wegweisend. Obgleich man zu seiner Problemstellung weitere Überlegungen anstellen sollte. Überdenkt man nämlich die Ansicht, es wäre „müßig zu fragen, ob es wahrscheinlich oder gar realisisch ist“, dass Edgar „der Name Werther nichts sagt und Charlie (…) beim Blätern des Reclam-Hetchens auch nichts“ (Helbig 81) aufällt, kennt doch jeder den Werther, dann wird die Frage zur Kulturverbundenheit ambivalent. Vom Aspekt der Funkion einer kulturellen Ideniikaion her betrachtet, bot die Lage um die deutsche Kultur nach dem 2. WK weniger aussichtsreiche Perspekiven. Insofern verschließt Helbigs Umdeutung von Brenners Ansatz der Zukunt nicht die Tür. Schreibt er diesem doch eine erkannte „Appellstruktur“ zu, die sich an einen impliziten Leser wendet (93) und nach Brenner als in „Bewegung beindliche Auseinandersetzung“ mit der gesellschatlichen Wirklichkeit zu interpreiert wäre, „deren Ergebnis noch nicht vorentschieden ist“ (43), so war es mit der poliischen Lösung noch nicht getan. In der Person Edgars sublimiert, lässt sich seine Perspekive als eine auf das menschliche Leben übergreifend gestaltete Perspekive erkennen, die zukuntsweisend die Möglichkeit einer selbstgesteuerten Überprüfung eigener Leistungen eröfnet. In der Textkonstrukion wird diese Symbolik unterstützt. Die Jahreswechsel stehen gleichzeiig für den Wechsel von Zeiten. Helbigs Bestäigung dieser Kenntnis, „am Umgang mit der Vorlage wird die neue Zeit sichtbar“ (Helbig 82), sagt jedoch nichts darüber aus, woran sich der Wechsel ausmachen lässt. Solches würde eine Koninuität voraussetzen, und gerade daran lässt sich die Sonderstellung von Plenzdorfs Werk festhalten, denn bei der Zuordnung von Plenzdorfs Roman lassen sich Schwierigkeiten vor allem an der Zuweisung von Koninuitäten erkennen. Während für Brenner Plenzdorfs Werk eine „endgülige Abwendung von tradierten Posiionen der Literaturtheorie und Poliik in der DDR“ (46) darstellt, sieht Raddatz in Edgars Lebenslauf jedoch einen höheren Grad von Anpassung an die bestehende Gesellschat (...) oder sogar als systemkonform“ (1175). Auch Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung lassen sich die Auswirkungen des vorher beabsichigten Bruchs mit einer koninuierlichen Kulturentwicklung weiterhin deutlich wahrnehmen. Edgars Jeans symbolisieren zweifelsohne den aufrührerisch-pubertären Selbsfindungsprozess; sie sind aber gleichzeiig ein Symbol für die kulturelle Trennung, ein erstrebenswertes Symbol, das Freiheit projiziert, da sie im Osteil als Bückware schwer zu beschafen waren. Die Entscheidung, welcher Argumentaionsstrategie man sich letztlich zuneigen möchte, hängt auch damit zusammen, ob genügend Bereitschat zu einer Neuorienierung oder dem Überdenken früherer Standpunkte besteht. Wird der Bezug eines verhaltensgestörten Jugendlichen zum klassischen Erbe im Zusammenhang mit dem VIII. Parteitag 1971 und der problemaisierenden Darstellung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschat gestellt sowie mit einer Monographie zum Werther als wissenschatlicher Vorlauf zu Plenzdorfs Werk 58 Journal of Language and Literary Studies (Gille 145), dann weiß sich der Ansatz noch immer systemkonformen Argumentaionsstrategien verplichtet. In der Nachwendeära scheint das Unvermögen, kulturelle Inhalte ohne ideologische Vorzeichen zu erkennen, sich hartnäckig gegen neue Vorzeichen zu wehren. 5. Handlungsmitelpunkt Berlin: englischsprachiges Gebiet und Metatextebene in einer Insellage Aus dem Handlungsort heraus, Berlin, einer längsgeteilten Stadt, deren westlicher Teil durch Mauerbau und Umzäunung als ausgesondertes Element in einer Insellage erscheint, indet die Kommunikaion scheinbar autark von ideologisch beeinlusster Indoktrinaion stat. Zum einen steigert sich dadurch zwar der Eindruck großstädischer Verfremdung, den die Erzählprosa im inneren Monolog, mitels Assoziaionen und Montage als Realitätsverlust eng an die großstädische Lebenswelt bindet (Delabar 102). Ein Deutungsrahmen, der sich aus dem allgemeinen Phänomen des Zivilisaionsfortschrits ergibt, wird jedoch um die aus westdeutscher Perspekive geographisch wahrgenommene Insellage ausgeweitet, was zusätzlich den Eindruck verstärkt, es projiziere sich ein Symbols kultureller Abgeschiedenheit. Dieters Arbeitsumfeld und Haltung selbst verweisen jedenfalls in eine derart gestaltete Raumwahrnehmung: „Wenn einer nur ein Zimmer hat, in dem er auch noch arbeiten muß, dann muß er sich irgendwie abschirmen. Und Dieter machte das mit dem Rücken. Sein Rücken war prakisch eine Wand.“ (Plenzdorf 1976, 117) Charlotes Reakion beim Versuch, die zwei jungen Männer in einem Gespräch zusammenzuführen, „Dreh dich mal um“ (Plenzdorf 1976, 117), eröfnet Aussichten auf einen möglichen Ansatz, das eigene zwischen Koninuität und neuer sozialer Wirklichkeit gespaltene Wesen zu vereinen. Dieter, kurz für Dietrich, der durch seine Vokaion, die intellektuelle Täigkeit, auf einen geisigen Bereich und damit einen der kulturellen Entwicklung verweist, welcher sich aus historisch abgeleiteten Verhältnissen ergibt, verwehrt sich im Übrigen der Konfrontaion mit Edgar, dem Symbol für neue soziale Verhältnisse. Das Vorgehen Charlotes erscheint nicht lediglich als Suche nach Lösungen, sondern vielmehr als Aufruf zur Kehrtwendung in der Suche nach neuen Kulturmerkmalen. Edgar verwirt dabei den Schmerz ausmalenden Laut in seinem Nachnamen und besteht auf den interkulturellen Ursprung: „Von dir häte ich das am allerwenigsten erwartet, Wiebau! […] Wie das klingt: Edgar Wiebau! – Aber Edgar Wiebeau! Kein Aas sagt ja auch Nivau stat Niveau. Ich meine, jeder Mensch hat schließlich das Recht, mit seinem richigen Namen richig angeredet zu werden.“ (Plenzdorf 1976, 13/14) Folia linguisica et literaria 59 Was als Kulturverlust erscheint, bewegt zum Auinden neuer Wiedererkennungsmerkmale. Eine äußerlich-konzeptuelle bzw. formale Erscheinungsform stellt Parallelen her, die sich auf inhaltlich-moivische übertragen lassen. Unabhängig von der Altersgrenze, obwohl sie mit Edgar und den sozialen Bezügen, die für seine Altersgruppe unmitelbar von Bedeutung sind, für seine soziale Legiimaion, ist die Herausbildung von Ideniikaionsmerkmalen gleichzeiig ein Ausdruck sozialer Kommunikaion. Durch die Lektüre der Helden, die ihre Anschauungen wiedergibt, ist es gleichfalls die Kleidung, und sie halten Kleidung für ein Medium, ihr Verhältnis zur Gesellschat auszudrücken (Helbig 81), verarbeiten sich nicht lediglich ihre eigenen sozialen Erfahrungen; sie beziehen gleichzeiig Stellung zu Problemen, die sie in der Gesellschat vorinden. Intertextuell fällt Salingers The Cather in the Rye daher eine Schlüsselrolle anheim. Helbig zufolge stellt die Bezugnahme zu Salingers Werk eine Erhebung dieses zum Kultbuch dar, dessen Lektüre nicht nur zum Leser spricht, „sondern auch für ihn“ [den Leser, M. V.] (86), indem er durch die Lektüre, der Auseinandersetzung mit dem Werk eine öfentlich wahrnehmbare Haltung einnimmt. Charlotes alias Charlies Forderung wird in Edgars Einladung an Holden Cauield relekiert, er solle ‘rüberkommen’. Die zwischen Anonymität im Großstadtleben und Kollekivdenken divergierende Wahrnehmungsweise, „Mitenberg war natürlich ein Nest gegen New York, aber erholt häte er sich hervorragend bei uns“ (Plenzdorf 1976, 33), indet letztlich ihren Ausdruck im vom Blockdenken moivierten Aufruf zum Seitenwechsel. Kulturelle Idenität bleibt bei Plenzdorf demzufolge unabhängig von historischen Konsequenzen. Von Edgars Lebensweg, seinem Heranwachsen her betrachtet, versetzt Plenzdorf die Sozialisierung der Gesellschat in einen Raum ohne sozialen Rückhalt, und „daß man einen Jungen auch sehr gut ohne Vater erziehen kann“ (Plenzdorf 1976, 23), kommt der Absage an die Tradiion gleich. Berlin wird zu diesem Zweck zum Exempel statuiert. Ohne die Möglichkeit, an tradierte Werte anzuschließen, sie weiter zu veriefen, wurde er doch an der Kunsthochschule in Berlin abgelehnt, wird an Edgars Schicksal deutlich, in welchem Maß die Vorstellung vom Kulturverlust unterstützt wurde. Der Handlungsmitelpunkt eignet sich vor allem als „speziische Lebensform der Moderne“ (Delabar 104), um Neuorienierungen aufzuzeigen. Ein Umdenken indet seine Anknüpfungspunkte nun in neuen sozialen Werten, das in „konkreten Metropolen“ mit ihrem „besonderen, extraordinären Charakter mit Mythos- und Marktwert“ (104) eine Umstrukturierung der Mythen hin zum Verbraucherkonzept einleitet. Anstat der ideologischen Systemkonfrontaion entwirt Plenzdorf ein Bild der Systemlosigkeit als Gegenprojekion: „Ich verstreute also zunächst mal sämtlichen Plünnen und Rapeiken möglichst systemlos im Raum. Die Socken auf dem Tisch. Das war der Clou. Dann grif ich zum Mikro, warf den Recorder an und ing mit einer mei- 60 Journal of Language and Literary Studies ner Privatsendungen an: Damen und Herren! Kumpels und Kumpelinen! Gerechte und Ungerechte! Entspannt euch! (…) Ich ing meinen Bluejeans-Song an, den ich vor drei Jahren gemacht hate und der jedes Jahr besser wurde.“ (Plenzdorf 1976, 29) Sofern man Edgars Bestäigungsversuche gegenüber Charlie als Moivaion aufasst, eröfnet sich zugleich die eindeuige Kriik an der Zukuntsperspekive. Jegliche eingleisig ausgerichtete Kriik einer „scheinliterarisch aufgepulverten (…) banalen Handlung kunstvoll mit Zitaten aus Goethes ’Werther’ verschlungen“, scheint sich der Metapher der auf sich selbst ausgerichteten Werther-Pistole zu verschließen. Stellt man das nach dem Krieg konstruierte, geteilte Staatengebilde in den Konnex literarischer Moive, die einen Zustand von Umbrüchen sozialer Werte projizieren, gelangt man zu den Aussichten, die in literarischen Genres vorgegeben werden. Das Symbol der Teilung und der versprecherisch anmutend gelegten Entwicklungsbahnen verdichtet sich synekdochisch zum Bild eines Cultural-turns, das mit „kriminalisierten Studenten in Gesellschat eines marxisisch-leninisischen ’Lumpenproletariats’ bestehend aus Arbeitslosen, Huren und Klein-Kriminellen in Kreuzberg“ den Grund für „den Bewegungs- und Spielraum von sozial Stärkeren“ (Delabar 109) gelegt hat. 5. Literatur in ihrer autonomen kulturtragenden Rolle, Kultur als gesellschatsbildender Faktor Aus dem Tenor des Interpretaionsrahmens heraus, der von den geläuigen gesellschatspoliischen Kategorien besimmt ist, ließ sich zum Leidwesen der kulturtragenden Aspekte eine ausbleibende Moivaion verzeichnen, das Werk im Bezugsgefüge einer autochthonen Kulturentwicklung zu betrachten. Weder die vorangestellten Dokumente, Zeitungsnoizen, Todesanzeigen reg(t) en dazu an, einen kulturkriischen Ansatz herauszulesen, oder die in der dialogisiert inszenierten Erinnerungsperspekive der Eltern und Arbeitskollegen, noch haben Edgars Kommentare aus dem „of, ’von jenseits des Jordans’“ und „die Brechung und Verfremdung der gesellschatlichen Beziehungen des Helden im Spiegel des Werther-Zitats und der Werther-Fabel“ (Helbig 225-226) dazu verholfen, einen Rückgrif auf einen kulturkriischen Ansatz zu bieten. Ein gewiss nicht unbedeutender Aspekt, der im Deutungsansatz literarischer Werke verbleibt, ist gewiss die Funkion, die literarischen Werken zugeschrieben wird. Unterstützt von der Vielfalt unterschiedlicher technischer Formen, in denen das Werk seinen Ausdruck verleiht bekam – die Wahrnehmung des unterhaltenden Werts war stets gegeben. Betrachtet man diesen Gesichtspunkt allerdings im Zusammenhang mit Goethes eigener Aussage zum Werk Folia linguisica et literaria 61 vom 2. Januar 1824: „Es müßte schlimm sein, wenn nicht jeder in seinem Leben einmal eine Epoche haben sollte, wo ihm der Werther käme, als wäre er bloß für ihn geschrieben“, (Wapnewski 340) dann stellt sich zwangsläuig die Frage der Rolle des Rezipienten. Wird Literatur nämlich „zwangsläuig ’selbstrefereniell’ – selbstbezüglich“ deiniert, „daß Literatur eben Literatur und nur Literatur ist“ (Jung 11), dann wird auch die „Zeitlosigkeit und Zeitbedingtheit seiner Werther-Figur“ (Wapnewski 540) fraglich. Mindert man den Aussagewert sowohl von Goethes Musterwerk als auch von Plenzdorfs Relexion darauf um den Aspekt der Selbstrelexion, verbleibt es also, die Literatur lediglich in ihrem kulturellen Unterhaltungsbeitrag zu deinieren. Demgegenüber lässt sich der selbstrelekierende Unterhaltungswert als kulturelle Leitung werten, wenn man Plenzdorfs Vorgehen als eine Kommunikaion versteht, die innerhalb eines literarischen Bezugsystems steht. Durch die Themaisierung eines tradierten Wertesystems und seiner Perspekive anhand derer sich das literaturgeschichtliche Vorbild und sein moderner Kommentar zusammenführen lassen, wird zudem die kommunikaive Funkion der Literatur zu ihrem Publikum deutlich. Ist es doch jeweils der Romanheld selbst, der die Entwicklung der Gesellschat symbolisiert und ihr kulturelles Fundament einer Kriik unterzieht; mit ihm avancieren die nach ihm benannten Romane zu einem Meta-Genre, das mit dem Bildungsroman eines gespaltenen Wesens seine Kulturleistung im historischen Rückblick gewährleistet. Hate sich Werther beim Anblick der Gewässer umgebenden Ufer dem von Naturgewalten beherrschten ästheischen Eindruck, der das menschliche Schicksal lenkt, nicht entziehen können, wird er sich dabei der Rolle des Menschen in der natürlichen Ordnung schmerzlich bewusst. „o meine freude / warum der strom des genies so selten ausbricht / so selten in hohen luten hereinbraust und eure staunende seele erschütert – liebe freunde / da wohnen die gelassenen herren auf beiden seiten des ufers / denen ihre gartenhäuschen / tulpenbeete und kraufelder zugrunde gehen würden / die daher in zeiten mit dämmen und ableiten der künfig drohenden gefahr abzuwenden wissen – das alles / wilhelm / macht mich stumm – ich kehre in mich selbst zurück und inde eine welt – ende.“ (Plenzdorf 1976, 19) Plenzdorfs ironischer Bezug zu Werthers ‘Wahlheim’ hebt sich in den historischen Gegebenheiten seiner Gegenwart auf. Er stellt der auferlegten Wahl zwischen dem Sich-fügen und Werthers Freiheitsbegrif den Prozess entgegen, in dem ‘Steher’, jemand der sich nicht ergibt, wie in etwa Addi der Brigadeleiter oder Zaremba, sich dem Bücken auferlegter Wertegefüge nicht fügen. Widerstand beindet sich dementsprechend im Selbstwertgefühl der Menschen, 62 Journal of Language and Literary Studies das sie zu Kulturträgern erhebt. Die Frage nach dem Kulturwert beantwortet Plenzdorf mit „Schiller und Goethe und die, das waren vielleicht wertvolle Menschen. Oder Zaremba“ (Plenzdorf 1976, 87). Mit der Entscheidung im hochsommerlichen August eine unüberbrückbare Wand zwischen zwei Lagern zu errichten, sah man den Grundstein gelegt, sie zur Ausbildung eines jeweils eigenen Kulturkreises bewegt zu haben. Im Zusammenhang mit der nachträglichen Erkenntnis, dass „die Vorgänge von ’89 auch ein Produkt der Medien sind, ein Sieg der in Echtzeit ausgestrahlten Bilder,“ indet Jung selbst „die Marxsche Ansicht bestäigt, die große Revoluion indet ’überall und gleichzeiig’ stat“ (10). Daher bewegt sich die Frage nach einerseits „kulturellen Codes, wie Jazz, Jeans und langen Haare oder der Sprache, mit denen Jugendliche auch im Westen sich von der Welt der Erwachsenen absetzen“ (Gille 131), hin zum kulturellen Kontext, der andererseits sich durch die Blöcke besimmende Teilung deiniert sieht. Eine Kriik der Faktoren, welche zum Grundsatz der Teilung erhoben wurden, wendet sich folglich gegen dieselben Inhalte, die letztlich gegen das Selbstwertgefühl gerichtet sind. Eine stoische Haltung, die die Entscheidung der Zeit überlässt, „Ich hate was gegen Selbstkriik, ich meine: gegen öfentliche. Das ist irgendwie entwürdigend. (…) Ich inde man muß dem Menschen seinen Stolz lassen.“ (Plenzdorf 1976, 15), ist folgerichig gegen sich selbst ausgerichtet. Man mag deshalb einen Versuch, der dem Zeitgeist abseits steht, als kulturkriisch werten können, wie beispielsweise Joachim Nawrockis moderate Tonlage. Allerdings sind solche allein stehenden kriischen Versuche airmaiver Annäherung an die Neuen Leiden der Mehrheit vermeintlich theoreischer Stellungnahmen gegenüber gestellt. Deren Nischen, die entweder auf abgegrifene literaturkriische Kategorisierungen verweisen oder sich aus kulturkriischer Selbstbetrachtung herleiten, scheinen sich der Haltung von Edgars Kollegen Zaremba nicht annähern zu wollen: „Das war endlich mal wieder Old Werther. Zaremba riß seine Schweinsritzen auf und knurrte: NO! Das sag du nicht! Er war der erste, den dieses Althochdeutsch nicht aus dem Satel warf“ (Plenzdorf 1976, 99). Der unauhörliche Zeifluss mag diesen Behauptungen widersprechen und Marc-Oliver Carls Ansichten bestäigen, die Neuen Leiden würden den Zugang zu Goethes Werther erleichtern (228), damit ein ständig rückläuiger Anklang der historischen Leiden bei Schülern und sogar Studenten die Distanz zwischen ihnen und den Zeitgenossen Edgars eventuell überbrücken könnte. Folia linguisica et literaria 63 Literatur: Ahlers, Michael. Die Simme des Menealos. Intertextualität und Metakommunikaion in Texten der Metaicion. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1993 Augé, Marc. „Wenn Orte zu Texten werden und Menschen sich in Magnetkarten verwandeln…“ In: Der Alltag. Ich ist ich – Über Idenitäten. 62, 1993. 53-68. Biele, Peter. „Nochmals - ”Die neuen Leiden”.“ In: Sinn und Form. 6, 1973. 1288 – 1293. Brenner, Peter J. “Die alten und neuen Leiden. Kulturpoliische und literaturhistorische Voraussetzungen eines Textes in der DDR.“ In: Peter J. Brenner (Hg.) 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The focus is set on the ideniicaion features. But just the second determinaion was the trigger for the furor the work was seing of. By referring to historical core areas of German culture both features turn towards taking a funcion of cultural policy. The paper starts with seing against in short strokes the two diferent social systems established in one German state each, in order to come to a conclusion on the condiions for cultural pracices. On the one hand Plenzdorf’s work addressed ideas of cultural seclusion in the East part while on the other hand a loss of idenity was discerned in the West. With Berlin being the centre of acion and the numerous connecions to the English language area either intertextual or linguisic, the work creates on a metatext level a projecion of insularity which was corresponding to the locaion of WestBerlin. By such a kind of constellaion Plenzdorf succeeded on the one hand in showing the autonomous role of literature in culture-supporing, and on the other hand he pointed out the crucial meaning of culture as a feature creaing social relaions beyond the poliical block division. Key Words: German-German division, social systems, intertextuality, cultural idenity, Cold war, cultural policy, cultural space, Ulrich Plenzdorf Folia linguisica et literaria 67 UDK 821.163.4.09 UDK 141.72 Das Patriarchat als Ort männlicher Macht in den Erzählungen von Marie von Ebner-Eschenbach Eldi Grubišić Pulišelić, Split, eldi@pmfst.hr Abstract: In der patriarchalen Gesellschaft ist die Frau ein Objekt, das der Macht und Gewalt des Mannes untergeordnet ist, ohne Rechte und ohne Bedeutung als Individuum. Marie von Ebner-Eschenbach zeigt in ihren drei Erzählungen „Die Totenwacht“, „Mašlans Frau“ und „Das tägliche Leben“ verschiedene Formen des Patriarchats als Ort männlicher Macht auf. Die Fraueniguren kommen aus unterschiedlichen sozialen Schichten: Anna aus der Erzählung „Die Totenwacht“ kommt aus einer armen Bauernfamilie und ist nicht nur der männlichen Dominanz, sondern vor allem seiner Tyrannei unterworfen und wird Opfer einer Vergewaltigung. Für den Mann ist der Status der Frau auf Besitz reduziert und er glaubt, dass sein Verbrechen mit einer Ehe korrigiert werden kann, aber die Heldin ist ihm moralisch überlegen und schlägt das Angebot einer Ehe aus. Evi, eine reiche Bauerntochter aus „Mašlans Frau“ lehnt sich gegen die Doppelmoral auf und ist entschlossen, die Verletzung weiblicher Würde nicht zu vergeben. Frau Gertrude aus der Erzählung „Das tägliche Leben“ stammt aus einer gutbürgerlichen Familie und ihr Selbstmord am Tag der silbernen Hochzeit erscheint als Mittel einer Selbstdeinition. Die Lüge über das ideale Familienleben, in dem die Frau in Wirklichkeit keine Individualität besitzt, bekommt durch den alles entscheidenden und doch zugleich nichts verändernden Tod der Mutter ein jähes Ende. Die Fraueniguren aus den drei Erzählungen leben in völlig unterschiedlichen Lebensbedingungen und wehren sich gegen die traditionellen sozialen Strukturen, um sich von der männlichen Dominanz zu befreien und eine eigene autonome Welt aufbauen zu können. Schlüsselwörter: Marie von Ebner-Eschenbach, Patriarchat, Erzählungen, Macht, Gewalt, Doppelmoral, Individualität, Ehe, Familie Marie von Ebner-Eschenbach (1830-1916) wurde als „die größte deutschsprachige Schritstellerin“ bezeichnet (Kord 1), bislang aber nicht ausreichend als Emanzipaionsautorin rezipiert. (Seeling, 233) Die Autorin zählt nicht zu den militanten Vertreterinnen der Frauenbewegung, aber rezipierte und verarbeitete deren Ideen und Anliegen. (Tanzer, 5) Der feudal-patriarchalischen Gesellschat zum Trotz, drang sie in die tradiionell männliche Welt der Literatur ein. Ihre Familie stellte sich ihren literarischen Ambiionen entgegen und hielt es nicht für angebracht, dass sich eine Frau und Aristokrain mit schritstelle- 68 Journal of Language and Literary Studies rischer Arbeit befasst. (Rossbacher, 366) Gegen Ende ihres Lebens galt sie als die bedeutendste deutsche Erzählerin des 19. Jahrhunderts. (Koopmann, 158) Man bezeichnete die Autorin als Dichterin der Güte und des Mitleids (Cella, 183), aber betonte auch ihre Rolle als Sozialreformerin. (Rossbacher, 263) Es wurde auf das poliische Bewusstsein der Autorin hingewiesen, sowie auf sozialkriische Aspekte. (Aichinger, 483) Marie von Ebner-Eschenbach glaubte an die Möglichkeit einer Versöhnung von Ideal und Wirklichkeit und an die Krat des einzelnen Menschen. (Lohmeyer, 9) Da man die Frau als passives Wesen betrachtete und den Mann als denjenigen, der durch Krat, Energie und Intellekt Menschheitsgeschichte machte, bedeutete jeder Versuch, die bestehenden Geschlechtsstereotypen zu relaivieren, ein Abweichen vom gesellschatlich Akzeptablen hin zum gesellschatlich Inakzeptablen. (Duden, 134) Die Autorin unterstützte die Kämpferinnen für die Frauenemanzipaion, doch sie bekannte sich nicht öfentlich zu ihnen. (Strigl, 17) In ihren literarischen Werken kriisiert Marie von Ebner-Eschenbach häuig das Patriarchat und stellt es als einen Ort des Machtmissbrauchs dar. In der patriarchalen Gesellschat ist die Frau ein Objekt, das der Macht und Gewalt des Mannes untergeordnet ist, ohne Rechte und ohne Bedeutung als Individuum. (Gorla, 50) Alleine durch den Akt der Geburt steht den Männern das Recht der Dominanz über die Frauen zu und dieses Recht bleibt ihnen ohne Rücksicht auf ihre moralischen Eigenschaten erhalten, während Frauen eine untergeordnete Rolle einnehmen und zu Opfern einer solchen Machtkonstellaion werden. Ein solches Verhältnis zwischen den Geschlechtern beruht nicht nur auf gesellschatlichen Normen, der Staat unterstützt dies mit all seinen Mechanismen, wodurch sich die männliche Dominanz jederzeit in Tyrannei ausarten kann. (Gorla, 51) Die patriarchale Macht verwandelt sich damit in eine Art poliische Macht, deren Missbrauch weitreichende Folgen für die menschliche Zivilisaion hat. Aber die Autorin ist nicht nur Kriikerin der Geschlechterverhältnisse ihrer Zeit, sie ist auch Visionärin, die ihren Heldinnen moralische Krat verleiht, um akiv an den Veränderungen mitzuwirken, deren Früchte die europäischen Frauen ernst nach dem Tod der Autorin ernten werden. Der Blick der Autorin ist auf die poliisch marginalisierten Gesellschatsgruppen des 19. Jahrhunderts gerichtet, seien dies die Armen, Angehörigen ethnischer Minderheiten oder Frauen. Marie von Ebner-Eschenbach kann daher auch als soziale Reformerin gesehen werden, deren Rolle darin besteht, die Welt und die von Tradiion geprägten zwischenmenschlichen Beziehungen zu verändern. Marie von Ebner-Eschenbach zeigt in ihren Erzählungen Übergrife männlicher Gewalt und Formen weiblichen Widerstands auf. In ihren Erzählungen erweist sich die Frau als dem Mann moralisch überlegen und fungiert als Trägerin von Werten wie Treue und Würde. (Tanzer, 207) Anhand dreier Erzählungen untersucht die vorliegende Arbeit die Beziehung der Autorin zum Patriarchat, Folia linguisica et literaria 69 in dem die männliche Macht angesiedelt ist. In „Die Totenwacht“ zeigt sie die schwierige Lage der Frauen der unteren Gesellschatsschichten, aber auch ihre bemerkenswerte moralische Krat. Die Autorin themaisiert das Leben der Frauen aus armen Dorfamilien, deren Leben vor allem von schwerer Arbeit und materieller Not, ot aber auch von unterschiedlichen Formen der Gewalt besimmt ist, wobei die Gewalt unmitelbar aus dem Patriarchat resuliert. (Gorla, 53) Den Mitelpunkt der Erzählung bildet die tragische Lebensgeschichte einer jungen Frau, die allen Schicksalsschlägen zum Trotz einen unermüdlichen Lebenswillen und Humanität an den Tag legt. Obwohl zweifach ihrer Rechte beraubt, als Frau und Angehörige der unteren Gesellschatsschicht, verkörpert Anna eine seltene physische und seelische Krat sowie Schönheit. Die Geschichte beginnt die Autorin mit der Schilderung der prekären materiellen Situaion, in der die Heldin lebt, das Haus ihrer Familie beschreibt sie als das armseligste im Dorf: Es war am Ende eines kleinen Dorfes im Marchfeld, das letzte, das ärmlichste Haus. Seine niedrigen Lehmmauern schienen jeden Augenblick aus Scham über ihre Blöße und all ihre zutage gekommenen Gebrechen in sich zusammensinken zu wollen. Das schiefe Strohdach bot nur noch einen sehr mangelhaten Schutz gegen Hitze und Kälte, Sturm und Schnee. Die Eingangstür, die des Schlosses entbehrte, war mit Stricken an den verrosteten Angeln befesigt, klate von allen Seiten und hate längst aufgehört, eine feste Schranke zu bilden zwischen der Straße und dem einzigen Wohnraume der Hüte. (Ebner-Eschenbach, DTW, 4)1 Die ganze Handlung spielt sich in einer Oktobernacht in einem einzigen Raum der heruntergekommenen Hüte in Marchfeld ab, von den Ereignissen aus der Vergangenheit erfahren wir aus den Erinnerungen der Protagonisin. Anna, die Tochter der Verstorbenen, hält Totenwache neben dem leblosen Körper der Greisin und betet für das Seelenheil ihrer Muter: Die Wacht am Sarge hielt die Tochter der Verstorbenen, ein nach dörflichen Begrifen altes Mädchen. Dreißig Jahre der Entbehrung und der Arbeit wiegen schwer; aber sie schien ihre Last nicht zu fühlen. Eine trotzige Leidensfreudigkeit sprach aus ihrem dunklen, noch schönen Gesichte; ihre Gestalt war schlank und geschmeidig geblieben. (Ebner-Eschenbach, DTW, 4) Die auktoriale Erzählweise wird durch eine personale Sicht unterbrochen, die die Gedanken der Heldin verdeutlicht. (Tanzer, 209) Wir erfahren von dem Plan der jungen Frau, nach der Beerdigung das Heimatdorf zu verlassen und in die Fremde zu ziehen, um sich – von ihm – zu befreien: „Eine letzte, schwerste Trennung noch und dann: Leb wohl, Heimat! Grüß Got, liebe Fremde, in der es keinen Huber Georg gibt, in der man ihm nie begegnen, in der sein blankes Haus einem nicht entgegenprunken kann und man seine verwöhnte Kuh nicht brüllen zu hören braucht.“ (Ebner-Eschenbach, DTW, 5) In diesem inimen und schmer1 „Die Totenwacht“ (DTW) 70 Journal of Language and Literary Studies zerfüllten Augenblick erscheint an der Schwelle ihres Hauses Georg Huber, der Mann, der ihr in der Vergangenheit so viel Böses und Unrechtes zugefügt hat. Die Autorin beschreibt ihn als vom Äußeren her atrakiven und gut angezogenen jungen Mann, der in seiner Erscheinung vom Ambiente der ärmlichen Hüte absicht: Er war groß und breitschulterig und hate einen kleinen Kopf und ein hübsches Gesicht mit niedriger Sirn und schlanker, gerader Nase. Seine blauen, ein wenig vorstehenden Augen schauten unsicher und betrofen drein; trotzdem aber nahm er sich aus recht wie ein Herr in seinen städischen Kleidern, und seine neuen Siefel knarrten gar vornehm. (Ebner-Eschenbach, DTW, 5) Schüchtern begrüßt er die junge Frau, die ihm gegenüber von Anfang an eine feindliche Haltung einnimmt und ihm deutlich zu verstehen gibt, dass sie diese letzte Nacht neben der verstorbenen Muter alleine verbringen möchte. Es schlägt ein Uhr nachts und der Dialog zwischen der Heldin und ihrem ungebetenen Gast nimmt die Züge eines Traums an, der mit der elenden und qualvollen Wirklichkeit verwischt. Georg bitet die Verstorbene um Vergebung und die Heldin um ihre Hand und ist der Ansicht, mit der Ehe als einer legalisierten Form der männlichen Dominanz alle existenziellen Probleme der jungen Frau zu lösen und gleichzeiig die eigenen Sünden auf wundersame Weise in christliche Barmherzigkeit und Großzügigkeit zu verwandeln: Schweig einmal!ʻ sprach er. ̦ Warum mußt mich so niederdonnern? Ich will alles gutmachen, wie g’sagt. Ich nehm dich. Ich hät dich schon lang g’nommen; aber hat’s denn sein können? Ich hab warten müssen, bis dein Vater nimmer is. Wie der war, hät er uns an den Betelstab ‘bracht. Dein Vater hat halt zu lang g’lebt.ʻ (...) Georg räusperte sich so gewiß ablehnend und überlegen: ̦ No ja, freili. Jetztunter aber sein’s beide tot, und ich nehm dich also. Der Herr Pfarrer verkündigt uns am nächsten Sonntag zum erstenmal, und in drei Wochen hol ich dich zur Trauung. ‘s is höchste Zeit, daß d’ fortkommst. Der Gersthofer, der den Krempelʻ – er sah sich geringschätzig um – ̦gekaut hat, kann’s eh nit erwarten, daß er leer wird und daß er ihn niederreißen kann.ʻ (Ebner-Eschenbach, DTW, 15) Die Posiion, aus der er handelt, ist vom Machtgefühl besimmt, das auf seiner zweifachen Dominanz beruht, da er sich durch seinen sozialen Status sowie durch seine gesellschatliche Rolle, die ihm sein Geschlecht zusichert, in einer übergeordneten Posiion sieht. Zu seiner großen Überraschung zeigt die junge Frau, die er ihr ganzes Leben lang auf unterschiedliche Weise misshandelt hat, eine unerwartete moralische Krat und Entschlossenheit, nie wieder und in keiner Hinsicht sein Opfer zu sein. Anna spricht über ihre Kindheit, die einerseits von materieller Not und dem gewaltäigen Vater, andererseits von Georgs Misshandlungen geprägt war. Sie erinnert sich an das geschenkte neue Kleid, das der Vater in Geld umgesetzt hat, um die Schulden beim Wirt zu bezahlen (Tanzer, 209): Folia linguisica et literaria 71 Er wollte alles auf einmal nehmen, aber das gelang ihm nicht. Sie kratzte und biß und verteidigte jedes einzelne Stück ihres köstlichen Eigentums mit verzweifeltem Mute. Aus den Händen, aus den Zähnen mußte der Vater es ihr reißen und tat’s, und als sie sich an das letzte, das er ihr abrang, das große Tuch, festklammerte und im Kampfe niederiel, schleite er sie unbarmherzig hinter sich her, bis ihre Krat versagte und sie das Tuch fahren ließ. Blutend und zerschlagen richtete sie sich auf die Knie auf, streckte den Hals und schaute. Der Vater stand wieder unter der Laterne vor dem Wirtshause, klopte an und rief mit dem Selbstbewußtsein eines Kapitalisten: „Heda, Jud, abrechnen! Ich bring was! Ich bezahl!“ Man öfnete, man ließ ihn ein, den Dieb und Räuber! Annerl stürzte ihm nach, sie schrie sich heiser, sieß dem Vater abgelernte Flüche vor, polterte in sinnloser Wut mit ihren kleinen Fäusten an die Tür, bis sie endlich aufging und ein Fußtrit, gut gezielt, einer von der wohlbekannten Art, das Kind zum Schweigen brachte. Aber nicht zum Weichen. Annerl blieb auf der Schwelle sitzen, an der Unglücksstäte, wo ihr höchstes, noch kaum genossenes Gut verschachert wurde. Empörung kochte in ihrem Herzen; ihr verzweilungsvoller Schmerz schrie zum Himmel aus ihrem leisen Weinen, ihrem unterdrückten Schluchzen und wurde nicht gehört, nicht damals – und nie! (Ebner-Eschenbach, DTW, 10) Mit Wehmut erinnert sich die Heldin an Georgs Schläge: „Herr Jesus! da stehst auf einmal du hinter dein’m Zaun und schreist mich ganz pamsig an: ̦ Was schaust? Hast nit zu schaun! Schau nit!ʻ, und ich ärger mich: ̦ Dummer Bub, jetzt just!ʻ und seh noch, daß du den Arm hebst, und dann seh ich nix mehr, fühl nur, daß mir was Warmes über mein G’sicht laut und daß ich hinfall wie ein recht Müdes in sein Bet.” (Ebner-Eschenbach, DTW, 12) Kleine Streiche unter Kindern und die ständigen Streiigkeiten kulminieren in einer schrecklichen Vergewaligung im Jugendalter: „Damal’n hast dich an mir versündigt, schrecklich, fürchterlich... nicht zum Sagen! Just wie ich Vertrauen g’faßt hab, just wie ich g’meint hab: so arg bös is er doch nicht, bist über mich herg’fallen wie ein wildes Tier, daß ich mir nicht hab helfen können, mich nicht hab reten können vor dir und deiner Krat, deiner verluchten Krat, Verluchter!” (Ebner-Eschenbach, DTW, 14) Aus den Erinnerungen der jungen Frau geht hervor, dass Georg sich weigerte, die Verantwortung für seine Tat zu übernehmen, die Tat sogar leugnete, auch nachdem Anna seinem Vater die Wahrheit erzählte, als sie erfuhr, dass sie schwanger ist. So wälzte er die ganze Last der eigenen Sünde auf die junge Frau ab, die sich nicht nur mit dem Schmerz und der Schande durch die Vergewaligung, sondern auch mit den Folgen der Geburt eines unehelichen Kindes alleine durchringen musste: „Weißt was? Wie das Kind gekommen is, das arme, unglückselige, hab ich, trotz Schand und allem, eine Freud an ihm gehabt. Ich hab nix, hab ich 72 Journal of Language and Literary Studies mir gedacht, aber dich hab ich, und dir zulieb will ich leben und mich plagen, und meine Plag soll von jetzt an meine Freud sein. Und mit jedem Tag is meine Lieb zu dem armen Wurm g’wachsen und g’siegen. Aber es hat schon zu viel g’liten g’habt, bevor’s noch g’wußt hat, was leiden heißt. Eh ‘s Jahr um war, is ‘s g’storben... Da liegt mein Muterl auf dem Schragen, mein altes, liebes Mutterl. Mein ganzes Inwendige is nur eine Wunden, und doch sag ich – wie mein Kind g’storben is, war mir ärger, und ich hab Got verklagt: Hast mir’s gegeben gegen meinen Willen in Not und Verzweilung, und jetzt, nachdem’s mein einzig’s Glück worden is, reißt mir’s weg! Unbarmherzig hab ich ihn g’scholten, den Höchsten, vor dem ich heut auf die Knie fall und zu dem ich ruf: Barmherziger! Allgüiger, du weißt, was du tust! Sei gelobt und gepriesen!... Du hast mein Kind zu dir g’nommen, es ist ein Engel im Himmel, und ich darf – Got sei Lob und Dank! -, ich darf zu dem Menschen dort sagen: Ich nehm dich nicht; lieber in die Höll als in dein schönes Haus!” (Ebner-Eschenbach, DTW, 17) Die Heldin schlägt sein Angebot mit Verachtung aus und zeigt die Entschlossenheit, einen eigenen Lebensweg zu suchen und sieht selbst den Tod des eigenen Kindes in diesem Zusammenhang als ein Zeichen der Gnade Gotes. Lieber schreitet Anna tapfer in eine ungewisse Zukunt als den Heiratsantrag anzunehmen und setzt auf die Krat ihrer eigenen Hände. Mit dieser Tat lehnt die Heldin es ab, die gesellschatlich bedingte untergeordnete Rolle der Frau anzunehmen, mit dieser Tat bezeugt sie, dass sie sich selbst nicht in der Posiion der Machtlosen und Schwachen sieht, sondern schat dank ihrer moralischen Größe, Ehrlichkeit und Würde, die sie trotz der schwierigen Lebensumstände aufrechterhalten hat, eine eigene autonome Welt, in der kein Platz für einen Mann ist, der sich obgleich seines materiellen Reichtums und seiner äußeren Schönheit als Übeltäter und Feigling erweist. Im Bewusstsein, dass dies der einzige Weg ist, Frieden mit sich selbst zu schließen und ein neues Leben zu beginnen, vergibt sie ihm alles Böse, was er ihr zugefügt: „Verzeihn tu ich dir – in Gotes Namen. Ich bin ja ferig mit’m Leben hier daheim; was vorbei is, is vorbei. Wie wenn eins die Tür von sein’m Haus absperrt, eh’s in die Fremd geht, so mach ich’s. Abg’sperrt! Aus is mit jeder Lieb und Freundschat, und mit unserer Feindschat auch.“ (Ebner-Eschenbach, DTW, 18) Georg ist weder in der Lage, die Essenz ihrer Entscheidung zu begreifen noch ihre moralische Größe zu erkennen, so demaskiert ihre Stärke seine Schwäche, ihre Großzügigkeit im Vergeben zeigt die ganze moralische Armut seiner Persönlichkeit. Bereit, schwere Arbeit und alle Widrigkeiten des Lebens, Verzicht auf Freude und Vergnügen hinzunehmen, moiviert sich diese junge Frau selbst durch das Vertrauen in die eigene Macht, die Macht ihres Körpers, Geistes und reinen Herzens. Dem Opfer gelingt es auf diese Weise, über die angeborene Rolle hinauszugehen. Die patriarchale Gesellschat ist in dieser Erzählung Schauplatz männlicher Macht und die Männeriguren werden als unan- Folia linguisica et literaria 73 tastbare Tyrannen dargestellt, trotz ihrer moralischen Unterlegenheit, aber ot dank der streng geregelten sozialen Struktur. (Gorla 53) Ihre Macht wird durch die Lehren der Kirche gestärkt, sodass die untergeordnete Posiion der Frau und ihre Opferrolle als Aufrechterhaltung der natürlichen Ordnung gesehen werden: „Was dein Vater tut, muß dir recht sein, hab ich immer von der Muter g’hört, und vom Herrn Pfarrer: was der liebe Got tut, muß uns recht sein.“ (Ebner-Eschenbach, DTW, 7) Die Heldin ist von Geburt an prädesiniert, die Opferrolle einzunehmen, sie erträgt die Misshandlungen durch ihren alkoholsüchigen Vater, der das Fehlen seines gesellschatlichen Ansehens mit Macht über die weiblichen Familienmitglieder kompensiert. Er ist der Herr der Familie und er missbraucht seine Macht, weshalb sich die Beziehung, die auf Liebe beruhen sollte, in reine Tyrannei verwandelt. Frauen sind wehrlose Opfer solch konstruierter familiärer und gesellschatlicher Verhältnisse und von ihnen erwartet man, dass sie fügsam ihr Schicksal hinnehmen und vollständig ihre Individualität aufgeben, um die Stärkung der männlichen Idenität zu fördern. Die Protagonisin wird in ihrem Umfeld wegen ihrer Armut verachtet, die einzige Lebensfreundin indet sie in ihrer Muter, die als Beispiel für die vergebliche Hofnung in die Möglichkeit irgendeiner Veränderung steht, aber diesem Beispiel zum Trotz oder vielleicht gerade deswegen entschließt sich die Heldin, die Kontrolle über die eigene Zukunt zu übernehmen. (Gorla, 55) In der Erzählung „Mašlans Frau“ lehnt es die Protagonisin ebenfalls ab, die untergeordnete Rolle der Frau hinzunehmen und anstat sich mit der Opferrolle zufrieden zu geben, besimmt sie selbst über ihr Leben. Die Handlung spielt in einem mährischen Dorf: Der neue Pfarrer möchte von Doktor Vanka darüber aufgeklärt werden, warum der todkranke Müller Matej allein lebt. Um die Frage zu beantworten, erzählt Doktor Vanka die Geschichte des Ehepaares Mašlan. „Die Erzählung umfasst zwei Handlungsebenen, eine auktorial erzählte Rahmen- und eine die Vergangenheit einbeziehende Binnenhandlung.“ (Seeling, 235) Evi und Matej werden aus der Perspekive des Arztes dargestellt: Nach einem kurzweiligen Eheglück muss sich das Ehepaar Mašlan erst mit dem Verlust der einjährigen Tochter und dann mit der Trennung abinden. Im Herbst begibt sich Matej in Begleitung des Grafen auf eine Reise nach Wien, wo er sich fern der Augen seiner Frau auf außereheliche Liebesbeziehungen einlässt. Auch der Tod des zweiten Kindes zwingt ihn nicht zu einer früheren Heimkehr, er kehrt erst im Frühling zurück. Doktor Vanka erzählt: „Bald darauf ist, trotz aller Vorsicht, was ich fürchtete, doch eingetreten. Ich habe dem Mašlan schreiben müssen, daß seine Frau eine Fehlgeburt getan hat (diesmal wär’s ein Bub gewesen), (...).“ (Ebner-Eschenbach, MF, 54)2 Evi erfährt von seinem Ehebruch und tut sich schwer, die Wahrheit zu akzepieren, doch vergibt sie ihm nach einiger Zeit trotzdem. Matej fängt an, sein Doppelleben zu genießen: Die Winter 2 „Mašlans Frau“ (MF) 74 Journal of Language and Literary Studies verbringt er in schöner Uniform stolzierend in Wien und im Sommer spielt er den Gutsherrn des Besitzes seiner Frau. Jede neue Abreise fällt der treuen und immer noch verliebten Evi umso schwerer, schließlich verlangt sie entschlossen von ihm, zwischen ihr und den Reisen nach Wien zu wählen. Da Matej ein egoisischer und unreifer Mensch ist, versteht und respekiert er nicht den Wunsch seiner Frau und verlässt erneut sein Zuhause, nun zum letzten Mal. Seine Frau betrachtet er als Person, die sich auf natürliche Weise für sein Glück und seine Vergnügungen opfert, er glaubt nicht, dass sie ihr Versprechen halten und ihn vor die Tür setzen wird. Aus Wien erhält Evi Post von einer unbekannten jungen Frau, die ihr Mann verführt, betrogen und schwanger sitzengelassen hate, doch dieser Brief besiegelt nur ihren Entschluss: Es war ein Brief von einem Frauenzimmer, Hochwürden, von einem jungen Mädchen, das der Mašlan niederträchig betrogen hate. Es scheint, daß die Person bis dahin brav und unschuldig gewesen ist. Aber dem Mašlan widerstand nicht leicht eine. In diesem Falle wendete er überdies eine falsche Vorspiegelung an, ab sich für ledig aus und versprach seiner Geliebten das Heiraten. Wie sie hinter den Betrug gekommen ist, war schon alles hin, Ehr’ und Reputaion und ihre Stelle in einem guten Haus. Eingestellt aber haben sich die Folgen von dem Verhältnis. Was hat die Unglückliche anfangen sollen? Mašlan war der letzte, bei dem sie Rat und Hilfe gefunden häte. In ihrer Verzweilung, was tut sie? Sie schreibt an die Frau – eben den rief, von dem ich Hochwürden sagte. (Ebner-Eschenbach, MF, 56) Anders als ihr scheinheiliger, selbstsüchiger und verantwortungsloser Ehemann empindet Evi eine moralische Verantwortung der unglücklichen jungen Frau gegenüber und schickt ihr einen Umschlag voller Geld. (Tanzer, 210) Wie jedes Jahr kehrt Matej im Frühjahr zurück, doch diesmal steht er vor der verschlossenen Tür seines ehemaligen Hauses. Beleidigt durch die Zurückweisung und den Ungehorsam seiner Frau, wovon auch andere Männer aus dem Dorf, die gerade in der Nähe waren, Zeugen werden, schwört er patheisch, nie im Leben ihr Haus zu betreten: „Wenn du nicht aufmachst, gleich – verstehst mich, gleich? –, komm ich über diese Schwelle nimmer, und wenn du auf den Knien liegen tätest, wie ich vorhin gelegen bin, und wenn du mich mit ausgebreiteten Armen biten tätest: Komm! Das schwör ich, Evi, bei Got dem Allmächigen, und mög er mich in meiner letzten Stund verlassen, wenn ich den Schwur breche.“ (Ebner-Eschenbach, MF, 58) Matej zieht in die Mühle und die Eheleute leben weiterhin getrennt. Obwohl sie beide wegen der Einsamkeit leiden, möchte keiner von ihnen den Eid brechen. Evi lebt nach ihren moralischen Überzeugungen und wird als eine selbstbewusste und prinzipientreue Frau geschildert. Als reiche Bauerntochter ist sie Folia linguisica et literaria 75 wirtschatlich unabhängig und überschreitet die Grenzen der Geschlechtsrollen. (Seeling, 244) Aus der Sicht des Arztes Vanka wehrt sich Evi zu Recht gegen die Demüigungen durch ihren Mann. Ihr Stolz wird aus seiner Perspekive posiiv gezeichnet, aber der Pfarrer bewertet ihr Verhalten negaiv. (Seeling, 243) Doktor Vanka verkörpert hinsichtlich der Geschlechterproblemaik eine sehr fortschritliche Einstellung und solidarisiert sich aufrund seines Geschlechts nicht mit Matej. Auch wenn von der Frau erwartet wird, ohne Widerrede ihrem Mann zu gehorchen und das Unrecht zu ertragen, nur um so ihre „natürliche“ Funkion auszuüben, gibt sich Evi nicht mit der Rolle als Opfer und Dulderin ab. Die Autorin betont schon zu Beginn der Erzählung, dass es sich um eine intelligente und selbstbewusste Frau handelt, wodurch Evi einen Standpunkt einnimmt, der unvereinbar ist mit dem Frauenideal der damaligen Zeit: „Die Evi hat nie etwas von einem Kappzaum gewußt; es ist immer alles nach ihrem Kopf gegangen. Es war im Grund ein ganz guter Kopf, sie ist in der Schule immer die Erste gewesen; daß sie’s auf dem Tanzplatz war, versteht sich von selbst.“ (Ebner-Eschenbach, MF, 50) Stat dem Glück des Mannes zu dienen, ohne seine Rechte und Moive zu hinterfragen, entschließt sie sich, eine eigene Integrität aufzubauen und keine erniedrigenden Kompromisse einzugehen. Evi übernimmt eine typisch männliche Rolle und regiert mit harter Faust über ihren Besitz, auf dem, wie auch der Evi feindlich gesinnte Pfarrer zugeben muss, alles einwandfrei funkioniert: Der Pfarrer trat in das Vorgärtchen. Es war von einem grün angestrichenen Latenzaun umgeben, und am Eingang standen zwei riesige Sonnenblumenstauden wie ein paar Wächter. Ein breiter, gut besandeter Weg führte zwischen Gemüsebeeten geradehin zu den gemauerten Stufen der Haustür, teilte sich dort und lief dem Obstgarten hinter dem Hause zu. Junge Birn und Aprikosenbäume, an Traillagen gezogen, breiteten ihre mit Früchten behangenen Zweige zwischen den sechs Fenstern der Fronte aus. Große Fenster mit blinkenden Scheiben und vorspringenden Simsen, auf denen ein farbenheiterer Flor von Rosen, Geranien und Nelken dutete und prangte. (Ebner-Eschenbach, MF, 61) Der Pfarrer vertrit ausgesprochen konservaive Ansichten über die Beziehung zwischen Mann und Frau und ist sogar bereit, die Sünde des Mannes zu relaivieren, um die Verplichtung der Frau in den ersten Plan zu rücken. Im Gegensatz zum Pfarrer hat der Arzt Vanka sehr fortschritliche Ansichten und ohne seine Sympathie zu verstecken, beobachtet er die emanzipierte Frau. (Seeling, 243) Obwohl die männlichen Figuren im Text mehrmals die ausgesprochen konservaive und für die patriarchale Gesellschat typische Meinung hervorheben, wonach die Frau ihrem Mann den Gehorsam schuldet, überschreitet Evi bewusst die vorgegebenen Grenzen und schat ihre eigene autonome Welt: „Da waren viele Männer entrüstet: ̦ Hoho!ʻ hat man durcheinanderrufen gehört, ̦ du hast nicht zu schwören, du hast zu gehorchen, und der Mann hat zu befehlen, so steht’s im Gesetz.“ (Ebner-Eschenbach, MF, 59) Obwohl sie eine sehr emo- 76 Journal of Language and Literary Studies ionale und moralisch verantwortungsbewusste Person ist, deren Leben vom Gefühl der Plicht besimmt ist, möchte sie ihre Rolle als Opfer und Dulderin nicht akzepieren, sondern reißt durch ihr Verhalten teilweise die Grenzen des Patriarchats ein. Dennoch hegt die Heldin nicht die Ambiion, weder in der Ehe noch in der Gesellschat die Posiion des Mannes einzunehmen, sie ist bereit, wieder ihre „natürliche“ Rolle anzunehmen, unter der Bedingung, dass der Mann sich öfentlich zu seiner Sünde bekennt. In seinem poteniellen Geständnis sieht sie die Möglichkeit, die eigene Integrität aufzubauen und die Zuversicht in die Veränderung der Verhältnisse zwischen Mann und Frau. Demnach können wir schlussfolgern, dass Evi eine Art aufgeklärtes Patriarchat anstrebt, wobei jeder seine natürliche Rolle annimmt und dabei die Würde und die Gefühle des anderen achtet. (Gorla, 61) Die patriarchale Gesellschat erweist sich als Ort, wo die Stärke der Frau der Macht des Mannes gegenübergestellt wird und wobei die Frau als moralische Gewinnerin aus dem Kampf hervorgeht. Anders als die weibliche Heldin, die im Laufe der Erzählung an Reife gewinnt, kann der Mann den Staionen, die er durchläut, nichts abgewinnen und ist keineswegs in der Lage, die eigenen Moive und Taten kriisch zu hinterfragen. Obwohl der Pfarrer auf Vergebung und Frieden zwischen dem schon todkranken Matej und seiner Frau drängt, bestehen die Eheleute auf dem, was sie geschworen haben. Evi öfnet die Tür ihres Hauses für den Mann erst als er auf der Totenbahre zu ihr gebracht wird. In einer sehr gefühlsgeladenen, aber nicht patheischen Szene, küsst die Heldin den Mund und die Hände des toten Ehemannes und hält einen kurzen Dialog, aus dem deutlich wird, dass sie das Festhalten an ihren Prinzipien nicht bereut. Erst als man den Toten hingestellt unter das Mutergotesbild in der großen Stube und sie mit ihm allein gelassen hate, zog sie das Bahrtuch herab, sank in die Knie, küßte seinen Mund und die Hand, die noch den Trauring trug, und sprach zärtlich und liebevoll zu ihm: ̦ Hast mich nicht gerufen, hast deinen Schwur halten wollen. Hast recht gehabt. Es war kein so heiliger Schwur wie der meine, aber ein Schwur! Mein Matej, hast dich nach mir gesehnt? Nicht so, wie ich mich nach dir, o lang, lang nicht, aber doch gesehnt; und jetzt bin ich dein und bist du mein für die Ewigkeit.ʻ (Ebner-Eschenbach, MF, 73) Auch in dieser Erzählung zeigt die patriarchale Gesellschat den Missbrauch der männlichen Macht auf, wobei die Protagonisin nicht bereit ist, die Opferrolle zu akzepieren, sondern mit einer akiven Lebenseinstellung die eigene moralische Integrität aubauen möchte. Die Simme der Frau, die mit ihrem Platz in der Gesellschat nicht zufrieden ist, macht sich in vielen Werken Marie von Ebner-Eschenbachs bemerkbar. Ein Beispiel dafür ist das Schicksal der Frau Gertrude aus der Erzählung „Das tägliche Leben“. (Grubišić Pulišelić, 140) Die Autorin eröfnet die Erzählung mit einem kurzen Bericht über das Geschehen: „Am Vorabend der silbernen Folia linguisica et literaria 77 Hochzeit eines allverehrten Ehepaares, die von einem großen Familien- und Freundeskreise festlich begangen werden sollte, erschoß sich die Frau. Es war ein ganz unerklärliches Ereignis. Die Selbstmörderin hate in den glücklichsten Verhältnissen gelebt und war von allen, die in Beziehung zu ihr standen, innigst geliebt und hochgeschätzt worden.“ (Ebner-Eschenbach, DTL, 624)3 Die Simme, die die Autorin der Muterigur verleiht, ist jedoch von besonderer Wirkung, denn sie wird durch den Selbstmord, laut. Es ist nicht die Verzweilungstat eines Vaters oder eines Kindes, die diese Figur veranlasst, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Der Selbstmord der Muter stellt die Gefühle dieser in den Vordergrund, er lässt erkennen, dass sie eine eigene Geschichte hat. (Gorla, 95) Obwohl die Erzählung mit dem Tode anfängt, liegt der Hauptakzent nicht auf dem Endpunkt, sondern auf der Entwicklung der Katastrophe. Die Simme der Heldin kommt durch den Akt des Selbstmordes zum Ausdruck. (Grubišić Pulišelić, 140) Ihr Leben wird durch eine Freundin, aus der Perspekive des Ich-Erzählers analysiert: Tausenden zum Heil hat sie gewirkt, ein großariges Herrschertalent mit liebenswürdiger Weisheit ausgeübt; sie war das Haupt und die Seele unseres Vereins, und wir waren stolz darauf gewesen, mitarbeiten zu dürfen an dem groß angelegten Werke der genialen und starkmüigen Frau. Besonders als solche und als unerreichbares Beispiel für mich schwache und nachgiebige Person hate ich Gertrud bewundert. Aber als ich sie in ihrem eigenen Hause sah, verschob sich mir das Bild. Unsere klare und krätige Führerin erschien zerstreut, unsicher, beinahe schüchtern. (Ebner-Eschenbach, DTL, 629) Gertrude, eine starke und vernüntige Frau, konnte das ihr „täglich gereichte Leidensbrot“ nicht mehr ertragen: „Täglich – darin besteht’s. Das ihr vom Schicksal täglich gereichte Leidensbrot wurde ihr endlich ungenießbar, ihre jahrelang geübte Seelenstärke versagte plötzlich, und sie erlag.“ (Ebner-Eschenbach, DTL, ) Die ganze Misere ihres Lebens kommt zum Ausdruck - ihre „lange Lebenslüge“ wird vernichtet. (Klein, 930) Die Reakion der Familienmitglieder enthüllt die Wirklichkeit und Wahrheit des Lebens: den schwachen Ehemann, der sich in eine imaginäre Welt zurückgezogen hat, die gefühllosen Eltern, die Töchter, die „so nahe mit ihr verwandt wie ein Paar Paradiesvögel mit einer Löwin“ sind (Tanzer, 9): „Du hast mich zur Tochter einer Selbstmörderin gemacht. Gewiß, das waren die Gedanken der schönen Frau mit dem stahlharten Herzen. Sie hate nur Vorwürfe für ihre Muter, sie fragte nicht: Was hat dich fortgetrieben von uns? Was hat dir, du Arme, dein Leben unerträglich gemacht?“ (Ebner-Eschenbach, DTL, 626) Die Feier der silbernen Hochzeit häte für Frau Gertrude eine Lüge bedeutet. Die ihr auferlegten Plichten hat sie stets, wie von ihr erwartet, treu erfüllt, aber vor aller Welt zu bekunden, dass sie dabei glücklich war, ging ihr zu weit. (Gorla, 96) 3 „Das tägliche Leben“ (DTL) 78 Journal of Language and Literary Studies Gertrude begeht ihren Hochzeitstag auf ihre Weise: Der Selbstmord ist das Bekenntnis, nicht glücklich gewesen zu sein. Bei der Tat handelt es sich nicht um einen Verzweilungsakt, sie hate gerade noch ihre tägliche Arbeit in den Rechnungsbüchern beendet und das Wirtschatsgeld für den nächsten Tag bereit gelegt: Sie mußte in den Tod gegangen sein, wie man von einem Zimmer ins andere geht. Auf ihrem Schreibisch lagen die Rechenbücher, in die sie noch die Ausgaben des letzten Tages eingetragen, das Küchengeld für den nächsten Tag eingelegt hate. Daneben eine vor wenigen Augenblicken eingetrofene Huldigung des Vereins, dessen Präsidenin sie gewesen war, fünfundzwanzig La-France-Rosen in schöner silberner Schale, und ein Paket zum Teil schon eröfneter Telegramme, lauter warme Lobpreisungen und herzlich dargebrachte Glückwünsche. (Ebner-Eschenbach, DTL, 624) Die Hand, die den Revolver bedient hate, war eine ruhige gewesen und der Schuss ein gut berechneter: „Und die Frau, der sie galten, war tot in ihrem Sessel am Schreibisch gefunden worden und neben ihr auf dem Boden der Revolver, mit dem sie sich ins Herz geschossen hate. Miten ins Herz. Ein gut berechneter Schuß, den eine ruhige Hand geführt haben mußte.“ (Ebner-Eschenbach, DTL, 624 ) Die Frau handelt auf ihre Weise wohl bedacht, sie nimmt sich das Recht, die Familie und ihren Aufgabenbereich zu verlassen, wobei sie die Entscheidung ohne jegliche Rechferigung trit. Sie sieht sich in keiner Weise mehr ihrer Familie gegenüber verantwortlich und lässt dieser keine andere Wahl, als mit ihrem Entschluss ferig zu werden. Ihre Handlungsweise ist ein Protest gegen die Gesellschat, die von ihr verlangt, bedingungslos zu lieben und zu leiden (Tanzer, 10) . „Ich bin überzeugt, daß sie früher nie an Selbstmord gedacht hat. Aber es kam der Tag, an dem ihr häusliches Glück gefeiert werden sollte und an dem sie es preisen und Got und den Ihren dafür danken sollte... und davor schrak sie zurück. Selbstüberwindung bis an die äußerste Grenze des Möglichen... Heuchelei – nein!“ (Ebner-Eschenbach, DTL, 634 ) Die Protagonisin gehört der höchsten gesellschatlichen Schicht an, ist aber ihrem sozialen Status zum Trotz als Frau dennoch in allen wichigen Belangen vollkommen machtlos. Als Frau ist sie gezwungen, sich mit ihrer Funkion als Ehefrau und Muter zu begnügen, d.h. allen Verplichtungen nachzukommen, welche ihr die patriarchale Gesellschat auferlegt. Der Selbstmord kann daher nur als Schrit in die Freiheit gesehen werden, ihre Tat zeigt, dass sie ein Wesen mit eigener Denkweise ist. Nach vielen Jahren der Unterwerfung entschließt sie sich, dagegen anzukämpfen und in dem verzweifelten Selbstmord die ganze Absurdität ihres Lebens zu arikulieren: Vielleicht wäre es nicht zum Äußersten gekommen, wenn sie weniger Selbstbeherrschung geübt häte; vielleicht würde ein zeitweises Versagen ihrer Standhatigkeit sie geretet haben. – Aber ihr Schweigen, ihr heroisches Schwei- Folia linguisica et literaria 79 gen, ihr Stolz, den sie häte brechen müssen, um mir oder einem andern treuen Menschen zu sagen: Sieh her, es sind nur Nadelsiche, doch trefen sie immer dieselben Wunden. Ich halte es nicht mehr aus! Wenn man die Hände ringt und schluchzt und schreit: Ich halte es nicht mehr aus! – dann hält man’s aus. Aber stumm bleiben, der Ungeduld, dem Zorn, dem Schmerz nicht ein Venil öfnen, heißt sündigen auf seine Krat. Es ist, wie wenn einer den Staub, der während des Tages gefallen, sill fortschöbe, Abend für Abend, gegen eine Wand – soweit sein Arm reichen kann... Und an der Mauer häut sich die Masse und steigt und steigt und wird zum Walle, der einzusinken droht, wenn neue, immer neue Anstöße ihn erschütern, lange nur droht, am Ende jedoch das Gleichgewicht verliert und über seinem Erbauer zusammenstürzt. (Ebner-Eschenbach, DTL, 633) Während sie sich nach außen als Frau mit starker Integrität gibt, ist sie sich im privaten Umfeld ihrer begrenzten Möglichkeiten bewusst. Von verständnislosen Menschen umgeben, die sie eigentlich gar nicht kennen, und gezwungen, sich der Illusion von einem glücklichen Familienleben zu unterwerfen, warnt die Protagonisin durch ihre Autodestrukion vor der unerträglichen Unterwerfung. Auch wenn wir ihren Ehemann nicht wie die Männeriguren aus anderen Erzählungen Marie von Ebner-Eschenbachs als Tyrannen ansehen können, so macht er seine Dominanz durch eine gewisse Distanz deutlich. Als Ehefrau und Muter ist die Heldin gänzlich von der Liebe anderer abhängig, doch die Familienmitglieder sind im Grunde Fremde, die sich nicht die Mühe machen, sie als Mensch kennenzulernen, was bei ihr zusätzlich zur Unzufriedenheit führt. Obwohl von den weiblichen Familienmitgliedern erwartet wird, Solidarität mit der Hauptigur zu zeigen, machen diese durch ihr herzloses und distanziertes Verhalten Gertrudes Einsamkeit nahezu greibar. Die Erzählung wurde vor mehr als einhundert Jahren geschrieben, doch sie löst trotz aller Fortschrite in Bezug auf die Geschlechterverhältnisse und Frauenrechte bei den Leserinnen und Lesern heute noch eine starke Reakion aus. Das Lebensbild einer Fremden zeigt sich als Illusion, die aus dem Konzept der (veränderbaren) poliischen Korrektheit hervorgeht und in der die Frau in zyklischen Abständen so lange in die Opferrolle gedrängt wird, bis sie unter der Last ihres Leids zusammenbricht. Aus dieser Sicht gilt Gertrude als zeitlose Heldin, die durch die Geschichte nur ihre Daseinsformen, aber nicht auch ihr Wesen ändert. Die Erzählungen Marie von Ebner-Eschenbachs schlagen einen kratvollen Ton an, wenn es um den Missbrauch der Macht der Männer geht und sind somit auch heutzutage hochaktuell. Das männliche Subjekt erweist sich als Träger der patriarchalen Macht und ist unmitelbar für das Unglück der Fraueniguren verantwortlich. Die Frauen können die Gewalt der Männer auf zwei Arten erwidern: durch Revolte oder Autodestrukion. Obschon die Protagonisinnen unterschiedlichen Gesellschatsschichten angehören und eine völlig andere 80 Journal of Language and Literary Studies Lebensweise haben, sind Anna, Evi und Gertrude, jede auf ihre eigene Weise, Opfer der männlichen Dominanz und sie alle versuchen, den Teufelskreis aus Aufopferung und Selbstmitleid zu durchbrechen. Ihre Müter dienen als Beispiel der unveränderbaren Beziehungen zwischen Mann und Frau, in einer Welt, in der Staat und Kirche von den Frauen Gehorsam und nicht moralische Integrität verlangen. Trotz dieser Gegebenheiten entschließen sich die Fraueniguren aus den drei Erzählungen Marie von Ebner-Eschenbachs, mit der gängigen Praxis, nach der sie sich naturgemäß der männlichen Autorität unterwerfen, zu brechen und sie stellen ihre Stärken den Schwächen der Männer gegenüber, ihre hohen ethischen Prinzipien bilden den Kontrast zur Prinzipienlosigkeit und zum Opportunismus der Männer. Die autonome Welt, die sie dabei erschafen, gibt ihnen inneren Frieden und moralische Integrität, ohne die sie nicht leben konnten; einige von ihnen führen den Kampf fort, einige inden Trost in den Weiten der Ewigkeit und andere wählen den Freitod, um von ihrem Leben zu zeugen. Literatur: Aichinger, Ingrid. „Harmonisierung oder Skepsis? Zum Prosawerk der Marie von Ebner-Eschenbach“. 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PATRIARCHY AS A PLACE OF MALE POWER IN STORIES OF MARIE VON EBNER-ESCHENBACH In a patriarchal society, a woman is an object subordinated to the power of men, without any rights and without signiicance as an individual. Marie von Ebner-Eschenbach shows various forms of patriarchy as a space of male power in her three short stories “Die Totenwacht”, “Mašlans Frau” and “Das tägliche Leben”. The female igures come from diferent social backgrounds: Anna from “Die Totenwacht” comes from a poor family and is subjected not only to male dominance, but above all to its tyranny and becomes a vicim of rape. For the man, the status of the woman is reduced to possession and he believes that his crime can be corrected by marriage. The heroine is morally superior to him and she refuses his marriage proposal. Evi, a rich peasant daughter from “Mašlans Frau” rebels against double mourning and is determined not to forgive the violaion of female dignity. Gertrude from “Das tägliche Leben” comes from a well-bourgeois family and her suicide on the day of her silver wedding 82 Journal of Language and Literary Studies anniversary appears as a means of self-determinaion. The lie about the ideal family life, in which the woman does not really have any individuality, comes to an abrupt end because of the mother’s death. The women’s igures from the three short stories live in completely diferent living condiions and defy the tradiional social structures in order to free themselves from male dominaion and to build up their own autonomous world. Key Words: Marie von Ebner-Eschenbach, patriarchy, short stories, power, violence, double moral standard, individuality, marriage, family Folia linguisica et literaria 83 UDK 821.112.2.09 Literatur vs. Engagement Einige Anmerkungen zu Peter Handkes Elfenbeinturm Anđelka Krstanović, Banja Luka, kandelka@gmail.com Abstract: Das Ziel dieses Beitrags ist, den programmatischen Essay von Peter Handke Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms im Zusammenhang mit dem darin thematisierten Verhältnis zwischen Literatur und Engagement näher zu beleuchten. Handkes feste Positionen sind in der Überzeugung von der Macht der Literatur erkenntlich, die auf eine Veränderung des Bewusstseins des Menschen gerichtet ist. Sie bilden einen kontinuierlichen Leitfaden im ganzen Œuvre des Autors. Deshalb wird an dieser Stelle das besondere Interesse der Stellung zur engagierten Literatur gelten, die laut Handke als willkürliche Haltung ein wertendes, normatives Bild von der Wirklichkeit entwirft. Handke setzt ihr eine relexiv-deskriptive Poetik entgegen, welche die authentischen Erfahrungen festhält. In diesem Zusammenhang wird auch die Triade Selbstrelexion–Sprache–Form als Mechanismus der Literatur zum Entwurf einer neuen Lebensmöglichkeit besprochen. Schlüsselwörter: engagierte Literatur, Peter Handke, normatives Bild, authentisches Bild, Selbstrelexion, Sprache, Form Der Begrif Engagement kommt bekannterweise aus dem Französischen (engagement) und markiert die Verplichtung. Unter engagierter Literatur versteht man alle Formen von Literatur, die ein poliisches, soziales, religiöses oder ideologisches Engagement vorweisen (Wilpert 234). In der Auseinandersetzung mit sozialen und poliischen Erscheinungen verplichten sich also die Autoren, durch den Gewinn und die Wiedergabe der kriischen Einsichten in die genannten Probleme an der akiven Mitgestaltung der Umwelt teilzunehmen. Durch eine Stellungnahme zu zeitgenössischen Fragen und Parteinahme im Meinungsstreit treten die engagierten Schritsteller in erster Linie für die gesellschatlichen, bzw. poliischen Veränderungen in ihrer Umwelt ein (Opitz, 190). Die engagierten Dichter marxisischer Prägung wie Brecht und Piscator haben in ihren Werken gezeigt, wie man durch literarische Mitel die Widersprüche in der Gesellschat enthüllen kann, um das kriische Bewusstsein im Zuschauer zu erwecken. Indem der Zuschauer eine Lehre aus dem literarisch Präsenierten 84 Journal of Language and Literary Studies gewinnen konnte, wurde er zum eingreifenden Handeln zwecks der Veränderung der gesellschatlichen Verhältnisse bewegt. Eine solche Literatur ist damit immer auf eine Kriik und Veränderung der Gesellschat aus. Die akive Stellung des Autors gegenüber der Welt, in der er lebt und wirkt, zeigt sich in der engagierten Literatur vor allem durch die Schicht der Bedeutung. Es wurde also wichig, was man zu den poliischen, sozialen, religiösen oder ideologischen Fragen sagt und schreibt, weniger, wie und durch welche ästheische Werte man das tut. (Wilpert 234) Aus der Bedeutung musste dementsprechend eine Tendenz hervorgehen, aus der Tendenz ein normaives Bild von der Wirklichkeit. Der Begrif „engagierte Literatur“ wurde 1945 von J.P. Sartre geprägt (Wilpert 234), der im Rahmen des Existenzialismus die Aufgaben der engagierten Literatur theoreisch ausgearbeitet hat. Peter Handke ist einer von jenen Schritstellern, dem es in seinem Werk gelungen ist, ein authenisches Bild von der Wirklichkeit zu entwerfen. Diese Bilder lassen sich in Handkes Werken als Vorschläge und Möglichkeiten lesen, welche den ixierten gesellschatlichen Modellen andere Lebenskonzepte entgegensetzen und somit eine akive Rolle der Literatur in der Umwelt, in der sie entsteht, unterstreichen. Bei Handke setzte eine lange erfolgreiche literarische Karriere in den 60er Jahren ein. Kennzeichnend für diesen Anfang ist, dass er schon zu Beginn seines Schreibens klare Posiionen über die Rolle der Literatur vertreten hat. Nach Handkes Kunstaufassung hat die Literatur in der Umwelt eine akive Funkion. Er distanziert sich aber zugleich von einer engagierten Literatur im herkömmlichen Sinne. In diesem Beitrag wird deshalb der Frage nachgegangen, inwiefern Handkes Aufassung von der mitgestaltenden Rolle der Literatur von einer engagierten Literatur in ihrer üblichen Bedeutung abweicht, und zwar angesichts der Tatsache, dass beide Arten von Literaturverständnis auf der akiven Rolle der Kunst in der Gesellschat bestehen. Für ein klareres Erfassen dieses Zwiespalts ist Handkes Programmschrit Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms sehr aufschlussreich, deren Titel als eine ironische Aulehnung gegen die damalige sogenannte „realisische Literatur“ verstanden werden kann. In ihr wird eine poetologische Basis in Bezug auf die Stellung der Literatur in der Gesellschat festgehalten, die von Handke in folgenden Jahren in dieser Richtung konsequent entwickelt wurde. Dieser Autor kann insofern als ein konsequenter Schritsteller bezeichnet werden. Handke hat seine Posiionen bei dem öfentlichen Autrit in Princeton geäußert, wo es allerdings zu einem Missverständnis kam, da Handke nicht wie üblich über den gerade gelesenen Text geredet hatte, sondern über die Posiionen der zeitgenössischen Literatur im Allgemeinen. Dieses Missverständnis erklärt Handke selbst später: „Ich kenne die Gruppe 47 wenig und kann also nichts Umwerfendes über sie sagen. In Princeton bin ich zum ersten Mal dabei gewesen ... Ich möchte Folia linguisica et literaria 85 keine Genrebilder von der Tagung geben, sondern nur die Einwände genauer fassen, die ich schon während der Tagung ausgesprochen habe. Man hat mir später gesagt, ich häte mit einer meiner Äußerungen eine sillschweigende Gruppenregel gebrochen, die verlange, daß nur über den gerade gelesenen Text gesprochen werde. Ich habe von dieser Regel nichts gewußt. Häte ich davon gewußt, so häte ich vielleicht nichts gesagt, und der Vorwurf, ich sei `muig` gewesen, wäre mir erspart geblieben ...“ (Handke 1972, 29) Er hat damals seine Aulehnung gegenüber der zeitgenössischen Literatur geäußert, die sich nach Handke einer klischeehaten Sprache bediene und verbrauchten Erzählstrategien, die schemaisiert sind, und dabei behaupte, sie hätte ein getreues Bild von der Wirklichkeit entworfen, und könnte als „realisische Literatur“ bezeichnet werden. Handke hat schon damals die Posiion vertreten, die Literatur müsse man nach der Sprache werten, da sie „mit der Sprache gemacht wird“ (Handke 1972, 30). Und wenn man die Sprache als ihr eigentliches Medium durchschaut hat, kann man auch ihre falschen Spiele dekonstruieren, die man für die Wirklichkeit ausgibt. Er setzte sich damit für eine mitgestaltende Literatur ein, die aber auf authenischen Bildern basieren würde, die auch eine authenische Sprache hervorrufen, und nicht auf vorgegebenen Schablonen. Handke hat mit dieser Beurteilung der zeitgenössischen Literatur darauf hingewiesen, dass man aufmerksamer gegenüber der Sprache sein sollte, um die sprachlichen Konstrukionen nicht unbedacht für Wirklichkeit zu halten. In diesem Zusammenhang war es ihm auch wichig, die neuen sprachlichen Modelle herauszuinden, um die Erfahrungen authenisch vermiteln zu können, ohne Anspruch auf endgülige Bewertungen. Um die Posiionen dieses Schritstellers im richigen Licht zu verstehen, ist es nöig, seine Schriten unmitelbar zu lesen, so die Programmschrit Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, die - unter anderem - auch seine Stellung zur engagierten Literatur umreißt. Im Elfenbeinturm noiert Handke: „Literatur ist für mich lange Zeit das Mitel gewesen, über mich selber, wenn nicht klar, so doch klarer zu werden.“ (Handke 1972, 19) Und an einer weiteren Stelle: „So bin ich eigentlich nie von den oiziellen Erziehern erzogen worden, sondern habe mich immer von der Literatur verändern lassen ..., von ihr sind mir Sachverhalte gezeigt worden, deren ich nicht bewußt war oder in unbedachter Weise bewußt war. Die Wirklichkeit der Literatur hat mich aufmerksam und kriisch für die wirkliche Wirklichkeit gemacht. Sie hat mich aufgeklärt über mich selber und über das, was um mich vorging.“ (Handke 1972, 19) Aus der Erfahrung der Konsituierung des eigenen Bewusstseins durch die Literatur etabliert sich bei Handke die Vorstellung von einer akiven mitgestaltenden Funkion der Literatur, denn, wie es aus dem genannten Zitat her- 86 Journal of Language and Literary Studies vorgeht, sie weitet das Bewusstsein und verhilt, die Erfahrungswelt in und um das Subjekt durch ein Innehalten aufmerksamer und einen Erkenntnisgewinn kriischer zu betrachten als die von den gesellschatlichen Mechanismen auferlegten Denkmuster das erlauben würden. Aus dieser Posiion erwächst auch Handkes Anspruch an die Literatur: „Ich erwarte von einem literarischen Werk eine Neuigkeit für mich, etwas, das mich, wenn auch geringfügig, ändert, etwas, das mir eine noch nicht gedachte, noch nicht bewußte Möglichkeit der Wirklichkeit bewußt macht, eine neue Möglichkeit zu sehen, zu sprechen, zu denken, zu exisieren ... Ich erwarte von der Literatur ein Zerbrechen aller endgülig scheinenden Weltbilder.“ (Handke 1972, 19, 20) Die kriische Posiion der Literatur gegenüber der Wirklichkeit ergibt sich bei Handke vor allem aus ihrer Macht, dem Leser durch das Zerbrechen des Vorbesimmten - „der endgülig scheinenden Weltbilder“, die vor allem durch Sprache, d.h. durch ixierte Begrife einen unmitelbaren Zugang zur Welt versperren, eine noch nicht gedachte Möglichkeit in Form von alternaiven Denkweisen erschließt. Eine solche Poeik ist nicht auf eine abgeschlossene Weltsicht aus, sondern auf Bedachtsamkeit gegenüber den Einzelheiten. Ihre Aufgabe ist zu zeigen, dass man mit jeder einzelnen Erfahrung, ob die Erfahrung mit Bräuchen und Tradiionen, die Erfahrung mit Medien, poliischen Programmen, modernen Kommunikaionsmiteln oder sonsigen tagesaktuellen Erscheinungen in der dargegebenen Welt stat eingespielt und unrelekiert bewusster umgehen muss. Daraus schöpt Handke die Grundposiion seiner eigenen Literatur: „ ... weil ich erkannt habe, daß ich selber mich durch die Literatur ändern konnte, daß ich durch die Literatur erst bewußter leben konnte, bin ich auch überzeugt, durch meine Literatur andere ändern zu können. Kleist, Flaubert, Dostojewski, Kaka, Faulkner, Robbe-Grillet haben mein Bewußtsein von der Welt geändert.“ (Handke 1972, 20) Der Autor entwickelt in den nächsten fünf Jahrzehnten eine Literatur, die wirken will, eine Literatur, deren Engagement sich in der Absicht zeigt, das Bewusstsein der Menschen, die auf klischeehate und vordeinierte Lebensweisen, von der Gesellschat gerade durch Sprache als das einzig Legiime auferlegt, allzu gewöhnt sind, aufzurüteln und zu ändern. Er versucht durch sein ganzes Œuvre eine parallele Wirklichkeit zu der Menschheitsgeschichte - um Handkes Begrif zu verwenden - als ein alternaives Konzept des Denkens und Handelns zu entwerfen. Zu Handkes parallelen Welten als Räumen von alternaiven Lebensmöglichkeiten noiert Susanne Himmelbauer folgendes: „Dort, wo die Mechanismen der wirklichkeitsschafenden Machtdiskurse (in unserer westlichen Welt sind das vor allem die Diskurse und Denkmuster Folia linguisica et literaria 87 der Ökonomie, die langsam in alle Lebensbereiche hineingreifen) den Lebensraum einschränken, schat Handke durch sein Schreiben neue Lebensmöglichkeiten in der Wirklichkeit. Sein Anspruch an die Literatur ist es, in unserer Welt `Auswege` in eine andere Lebensmöglichkeit zu inden, Räume zu erschafen, in denen andere Lebensmöglichkeiten versucht werden können als jene, die uns von der Ökonomie als scheinbar alles regelnder Instanz aufgezwängt werden.“ (Himmelbauer 2006, 59) Handkes Aufassung von einer akiven Rolle der Literatur, die eine Veränderung von Denk- und Verhaltensweisen des Menschen anstrebt, steht im Widerspruch zu der Literatur, die auf die Vermitlung des Normaiven, des zu Ende Gedachten im Sinne von „endgülig scheinenden Weltbilder“ aus ist. Denn sie zwängt den Einzelnen durch den Entzug der alternaiven Lebensmöglichkeiten in ixierte Denkmuster ein und beabsichigt zugleich tendenziös zu wirken. Handke verzichtet auf die Vermitlung der ferigen Lösungen für tagesaktuelle Probleme, er will über authenische Erfahrungen schreiben. Er distanziert sich dabei auch von dem Fikiven, das dem Leser eine dem Leben abgewandte Geschichte vermitelt. Die Phantasie und deren Geschichten lenken nach Handke von der wirklichen Erfahrung ab. (Handke 1972, 23) Indem er die wirkliche Erfahrung themaisiert, erlaubt er sich eine unmitelbare Auseinandersetzung mit der Umwelt, die stets alternaive Relexionen zu typischen Sichtweisen zum Ergebnis hat. Diese Literatur zeigt dem Leser, dass er durch persönliche Erfahrungen zu einer primären Wahrnehmung der Wirklichkeit gelangen kann, und damit zu einem authenischen Erlebnis der Welt, das sich durch ein komplexes Wechselspiel von Empinden und Denken in abstrakten und eindeuigen Begriffen schwerlich vermiteln lässt. Damit macht sich eine solche Literatur nicht ein poliisch-gesellschatliches Engagement zur Aufgabe, sondern eine Veränderung der allgemeinen Denk- und Verhaltensmuster, die unkriisch nachgeahmt werden. Dementsprechend setzt sich Handke in der genannten Schrit auch mit den engagierten Schritstellern seiner Zeit auseinander, welche die kriische Dimension der Literatur in einem unmitelbaren Bezug zu der gesellschatlich-poliischen Wirklichkeit erfassen. Diese normaive Literatur bewertet Handke auf folgende Weise: „Eine normaive Aufassung von den `Aufgaben` der Literatur verlangt außerdem in recht unbesimmten, unklaren Formeln, daß die Literatur `die Wirklichkeit` zeigen soll, wobei diese Aufassung jedoch als Wirklichkeit die konkrete gesellschatliche Wirklichkeit jetzt, ... meint. Sie verlangt: wahrhatig; verlangt eine Darstellung dieser poliischen Wirklichkeit, sie verlangt, daß `Dinge beim Namen genannt werden`... Dieser Aufassung von der Wirklichkeit geht es um eine sehr einfache, aufzählbare, daierbare, pauschale Wirklichkeit. Sie hält es mit der Genauigkeit der Daten, die die Dinge stumpf beim Namen nennen, aber 88 Journal of Language and Literary Studies nicht mit der Genauigkeit der subjekiven Relexe und Relexionen auf diese Daten. Sie übersieht den Zwiespalt zwischen der subjekiv, willkürlich erfundenen Geschichte, die sie von der Literatur immer noch erwartet, und der dieser erfundenen Geschichte notwendig angepaßten, damit schon verzerrt gezeigten gesellschatlichen Wirklichkeit.“ (Handke 1972, 24) Aus dieser Aussage geht hervor, dass die literarische Wirklichkeit, die eine poliische Tendenz aufweist, eher fragwürdig ist, da sie die Wirklichkeit auf einen Begrif bringt und sie zugleich je nach dem subjekiven Gestaltungsmuster iltriert. Sie bleibt stets ein subjekives Produkt des Bewusstseins. Dieser in Anführungszeichen gesetzten Wirklichkeit sollte man sich nach Handke eher durch eine genauere Relexion annähern. Und diese genauere Relexion kann erstens durch Hinterfragung der Sprachmechanismen, die als Mitel für Auferlegung der gesellschatlichen Normen fungieren, gelingen, und zweitens durch eigene Erfahrung. Auf diese Weise erreicht man eine authenische Wahrnehmung der Wirklichkeit, die den pauschalen Begrifen entgegengesetzt sei. Die Aufgabe der Literatur besteht nach Handke daher nicht in der Erzeugung von vorgeferigten normaiven Modellen der gesellschatlichen und poliischen Wirklichkeit, sondern in einem genaueren Betrachten der Dinge, das auf ein Zersprengen der ixierten Weltbilder durch eigene Relexionen aus ist, oder mit Handkes Worten: „Jedenfalls erscheinen mir gesellschatliche oder poliische Dinge in der Literatur, naiv beim Namen genannt, als Silbruch, es sei denn, man nimmt die Namen nicht als Bezeichnungen dieser Dinge, sondern als Dinge für sich und zerstört dabei die festgesetzten Bedeutungen dieser Wörter. (...); Was die Wirklichkeit betrit, in der ich lebe, so möchte ich ihre Dinge nicht beim Namen nennen, ich möchte sie nur nicht undenkbar sein lassen. Ich möchte sie erkennbar werden lassen in der Methode, die ich anwende.“ (Handke 1972, 25) Seine kriische Stellung zu der Sprache, mit der man die Wirklichkeit nicht buchstäblich abbilden kann, führte auch zur kriischen Beurteilung der Kriiker der Gruppe 47, die nach Handke das gesellschatliche Engagement des Schritstellers nach den Gegenständen messen, die er beschreibt, und nicht nach der Sprache, mit der diese Gegenstände beschrieben werden. Die genannte Posiion lässt sich durch stete Hinterfragung der Sprache, mit der eine Wirklichkeit konstruiert wird, aufrechterhalten. Durch diese Methode bleiben die Dinge nicht „undenkbar“, und indem man bei einzelnen Sachverhalten innehält und sie aufmerksamer durchdenkt, enthüllt man die alternaiven Welten, andere Möglichkeiten der Wirklichkeit, die sich hinter der Kruste der ixierten Sprache der gesellschatlichen Diskurse frei zeigen. Es wird somit eine Literatur des Innehaltens oder, wie es bei Jun Xi´an heißt, der Langsamkeit festgelegt (Nie Jun Xi’an 2013, 149-158), welche die Relexionen über die konkre- Folia linguisica et literaria 89 ten Erfahrungen außerhalb der dargegebenen Sprache erlauben kann, um sich genauer, bedachtsamer, aufmerksamer der Wirklichkeit anzunähern. Denn die Aufgabe der Literatur ist die Dinge „nicht undenkbar sein lassen“, d.h. nicht zu normieren, sondern die alternaiven Relexionen zu iniiieren. Sie fungiert somit als ewiger Opponent zu den normaiven Weltbildern der engagierten Literatur im herkömmlichen Sinne, welche die dargegebenen Gesellschatsnormen als falsch bewertet, um sie durch ein anderes normaives Weltbild zu ersetzen. Handke hält dieses Oposiionelle ganz explizit fest: „Ein engagierter Autor kann ich nicht sein, weil ich keine poliische Alternaive weiß zu dem, was ist, hier und woanders, (höchstens eine anarchisische). Ich weiß nicht, was sein soll, ich kenne nur konkrete Einzelheiten, die ich anders wünsche, ich kann nicht ganz anderes, Abstraktes, nennen.“ (Handke 1972, 26, 27) In diesem Zusammenhang geht Handke auf Distanz zu den Schritstellern, die mit Hilfe der Literatur poliische Veränderungen anstreben. Er führt am Beispiel von Peter Weiss und Bertolt Brecht vor, wie sie unter Engagement eigentlich eine akive Handlung durch die Literatur anstreben, die aus dem „Willen zur Änderung der Gesellschatsform“ (Handke 1972, 35,36) hervorgeht (z.B. eine individualisische, kapitalisische Gesellschatsform in eine universalisische, sozialisische, totalitäre umzuändern). Ein solches Engagement ist mit Bewertungen der gesellschatlichen Umstände eng verknüpt. Der Schritsteller vertrete ideologische Bilder, werte ein Weltbild als falsch, um es durch ein neues zu ersetzen, das wieder seine wertende Vorstellung von der Welt darstelle. Sein literarisches Streben sei damit zweckbewusst. (Handke 1972, 39) Handke bestreitet, dass diese Schritsteller solche Vorsätze durch die Literatur verwirklichen können. Indem er Sartres Aussage einbezieht, die Schritsteller seien dazu da, die Zustände zu enthüllen, und sie dadurch zu verändern, führt er vor, dass sie nur vorgeformte und subjekiv wertende Bilder entwerfen können. „Das Weltbild dessen, der sich engagiert, ist demnach kein ontologisches, kein Bild von dem, was ist, sondern von dem, was sein soll.“ (Handke 1972, 38) Außerdem sollte die engagierte Literatur, da sie in Sartres Sinne ein zweckbewusstes Handeln ist - und keinen spielerischen Umgang bedeutet, auch ohne literarische Mitel auskommen, und kann dadurch keine Kunsform sein, sondern allerhöchstens, wie es an einer Stelle heißt, „reine Manifeste, Theorien, Programme, Aufrufe“ (Handke 1972, 42) darstellen. Aufgrund seiner Interpretaion des Begrifs Engagement fasst Handke zusammen, dass es keine engagierte Literatur geben könne, sondern nur engagierte Menschen. Das Engagement ist für Handke auch insofern unliterarisch, da es durch die literarische Form verändert wird und an Eindeuigkeit verliert. (Handke 1972, 44) Das Engagement wird durch die Literatur zur Form und dadurch enfremdet. Der Leser nimmt das Spiel der Form wahr, nicht den Ernst der Botschat. Das so entwirklichte Engagement wird zum Sil. 90 Journal of Language and Literary Studies Handke hat sich durch diese Posiionen von einer gesellschatlich engagierten Literatur klar distanziert, aber nicht von einer engagierten Literatur, die auf die Art und Weise der Wahrnehmung der Welt einen Einluss ausüben kann. Skepisch gegenüber all den ixierten Deutungsmustern der Wirklichkeit, vertrit er in seinen Werken eine persönliche und authenische Erfahrung der Wirklichkeit. Überzeugt auch davon, dass alles Normaive, das die Gesellschat dem Einzelnen auferlegt, durch Sprache durchgesetzt wird, bleibt er immer kriisch gegenüber den geschlossenen Sprachsystemen, die in unserer Welt die Individualität verilgen.1 Ein gutes Beispiel für diese Posiionen ist seine Erzählung Wunschloses Unglück, in der er den Selbstmord seiner Muter als Konsequenz der ersickenden Sprache betrachtet. Sie fungiert als ein souveränes Machinstrument der Gesellschat, die unter Sichworten und Floskeln über die Bewahrung der „wahren“ tradiionellen Werte jedes Frauenleben zwanghat zu einem Typ ohne Anspruch auf individuelle Entwicklung reduziert. Wie die Gesellschat die Menschen durch die Sprache determiniert, wird aus üblichen Phrasen erkenntlich. Man verbietet beispielsweise den Mädchen, ihre Gefühle auszuleben. Wenn so ein Versuch auch unternommen wird, werden sie mit der Mahnung „Du sollst dich schämen!“ (Handke 2003, 26) zum Schweigen gebracht. Auf den Versuch der Frau, etwas Freude zu zeigen, wird mit dem Satz „Sei doch vernüntig!“ (Handke 2003, 28) reagiert. Jede Art der Arikulierung des Persönlichen, ob Erlebnisse, Träume oder Wünsche, wird schon im Keim ersickt. So werden die gesellschatlichen Mechanismen, die jede Frau für ein bedürfnisloses Leben als Hausfrau vorbereiten, mitels der Sprache durchgesetzt. Dass in einer solchen Gesellschat auch die Religion ihre eigentliche Rolle für den Menschen – Vermitlung von Glauben, Hofnung, Liebe, Moral, Freude, Halt - verloren hat, wird wieder durch Sprachvorrat erkenntlich. Ihre Ausprägung zeigt sich in kitschigen Phrasen, die sie von ihrer ursprünglichen Bedeutung in eine verkümmerte umgewandelt haben: „ ... das süße Grab, das süße Herz Jesu, die süße schmerzensreiche Madonna verklärten sich zu Feischen für die eigene, die täglichen Nöte versüßende Todessehnsucht; ...“ (Handke 2003, 38) Man verharrt also in einer materiellen Welt der mechanischen Täigkeiten, in der auch die Religion zum Gegenständlichen geschrumpt ist. So werden die Normen aller gesellschatlichen Instanzen, die zu einer Enindividualisierung führen, durch ein genaueres Relekieren auf Sprachformeln, mitels deren sie durchgesetzt werden, entlarvt. Handke zeigte ferner in seinen Werken, wie die zwischenmenschliche Kommunikaion in der Nachkriegsgesellschat, welche die Sprache zu einem Handkes Sprachkriik wird auch in einer neueren Untersuchung als ein konsituiver Teil seiner Poeik hervorgehoben, die konsequent, auch in seinen späteren Werken, wiederkehrt. Vgl. Leopold Federmair: „Schock, Bruch, Finte. Handkes Beitrag zum Fortschrit des Bildersehens“. Handke-online, 2014. 1 Folia linguisica et literaria 91 knappen Formelvorrat reduziert hat, überlüssig geworden ist, bzw. sie wird nur auf einer formalen Ebene ausgetragen: „Man erwartete endgülig keine persönlichen Auskünte mehr, weil man kein Bedürfnis mehr hate, sich nach etwas zu erkundigen. Die Fragen waren alle zu Floskeln geworden, und die Antworten darauf waren so stereotyp, daß man dazu keine Menschen mehr brauchte, Gegenstände genügten: ...“ (Handke 2003, 38) Die Verdinglichung des Menschen auch durch Mediensprache als Gesellschatsinstrument wird von seinem Protagonisten Gregor Keuschnig entlarvt: „Im Büro las er die Zeitungen, die jetzt erst angekommen waren. Es iel ihm auf, wie ot in den Überschriten auf einer einzigen Seite stand: ´Immer mehr ... ´: ´Immer mehr Babys werden überfütert.´ - ´Immer mehr Kinderselbstmorde.´ Beim Lesen von TIME bemerkte er auf vielen Seiten den Satz ´I dig my life´. ´I dig my life´, sagte ein Basketballstar. ´We are a happy family´, sagte ein Kriegsveteran. ´I am very glad´, sagte eine Countrysängerin. ´Now I dig my life´, sagte ein Mann, der ein neues Hatpulver für sein Gebiß verwendete.” (Handke 2012, 23) Eine Konsumgesellschat erlegt ihre sozialen Normen also auch durch die Instanz der Mediensprache auf. Innerhalb dieser Sprache operiert man mit Begrifen, welche die Verkaufswaren in den Vordergrund der menschlichen Existenz stellen und deren Besitz mit dem menschlichen Glück gleichsetzen. Manfred Mixner spricht in diesem Zusammenhang von einem „begrilichen Bezugssystem“ (223), d.h. das menschliche Leben wird mitels der klischeehaten Begrife, deren sich eine Zeitungssprache bedient, in ein normaives Bezugssystem aufgenommen, das als Maßstab für eine legiime Lebensform proklamiert wird. Dieser Gefangenschat im Netz der durch Sprachmechanismen auferlegten gesellschatlichen Normen widersetzt sich Keuschnig mit dem Anspruch auf ein persönliches Erlebnis: „Dann hate er ein Erlebnis – und noch während er es aufnahm, wünschte er, daß er es nie vergessen würde. Im Sand zu seinen Füßen erblickte er drei Dinge: ein Kastanienblat; ein Stück von einem Taschenspiegel; eine Kinderzopfspange. Sie haten schon die ganze Zeit so dagelegen, doch auf einmal rückten diese Gegenstände zusammen zu Wunderdingen. - ´Wer sagt denn, daß die Welt schon entdeckt ist?´ - ... Ich habe an ihnen kein persönliches Geheimnis für mich entdeckt, dachte er, sondern die IDEE eines Geheimnisses, die für alle da ist! ´Was Namen als BEGRIFFE nicht vermögen, leisten sie als IDEEN.´ Wo hate er das gelesen?“ (Handke 2012, 82) In diesen Worten, die Handke seinen Protagonisten aussprechen lässt, erkennen wir Handkes Anspruch auf das „Zersprengen aller endgülig scheinen- 92 Journal of Language and Literary Studies den Weltbilder“ und die Behauptung des Rechts auf eine authenische Existenz, in der alle Namen für Gegenstände als Ideen erfasst werden, und somit jedem Menschen erlauben, sein eigenes Bild von der Welt zu konsituieren. Einen solchen authenischen Bezug zur Welt als Opposiion zu normaiven Denkmustern arikuliert auch der Erwachsene, der Protagonist der Kindergeschichte. Indem er seine Abneigung gegen poliische Versammlungen und Programme, die die Welt auf einen allgemein verbindlichen Begrif bringen, ausspricht, fasst er auch näher zusammen, was er unter einer anderen Möglichkeit der Wirklichkeit versteht: „Das Kind kam ihm dann vor wie seine Arbeit: als seine Ausrede vor der aktuellen Weltgeschichte. Denn er wußte, daß er, auch ohne Kind oder Arbeit, von Anbeginn weder willens noch fähig war, sich auf diese als Handelnder einzulassen. So nahm er halbherzig an ein paar Versammlungen teil, wo jeder dort gesprochene Satz eine geistötende Untat war, und hielt die Flammenrede, mit der er ihnen ein für alle Male das Wort verbieten wollte, immer erst für sich beim Weggehen. Einmal schloß er sich sogar einer Demonstraion an, aus der er freilich nach einigen Schriten wieder verschwand. Sein Hauptgefühl in den neuen Gemeinschaten war eine Unwirklichkeit, schmerzhater als zuvor in den alten: diese haten noch die Phantasie einer Zukunt ermöglicht – jene traten selber als das einzig Mögliche, als Zwangszukunt auf.“ (Handke 2002, 17,18) Handke bekennt sich durch die Simme des Erwachsenen zu einer anderen Weltgeschichte. Er unterstreicht immer wieder die Opposiion zwischen der Menschheitsgeschichte, unter welcher er die gesellschatliche und poliische versteht, und deren schemaisierte Weltbilder er so gern entlarvt, und einer Weltgeschichte, die dem Menschen jene Existenz ofenbart, die ihm von der Natur als Vorbild verleiht ist. In diesem Fall ist das das Bekenntnis zum Kind, das als eine der Formen des Urgeistes fungiert. Das Kind ist der Wegweiser für die eigentliche Existenz. Das Betrachten seines sorglosen Spiels, seiner Freude, seiner zeitlosen Augen oder der Übereinsimmung der Bewegungen seiner Haare mit dem Wind, ist für Handke eine alternaive Wirklichkeit, welcher der Mensch durch authenische Erfahrung habhat wird. (2002, 23, 24, 27) In diesem Zusammenhang spielt die Natur eine große Rolle in Handkes Werken, weil sie immer als Korrekiv und Wegweiser für die eigentliche Existenz fungiert. Allerdings nicht die Enfremdung, bzw. Flucht in die Natur bringe die Befreiung vom normaiven Leben, sondern ein stetes Aublicken zu ihr als Maßstab für die wahre Existenz. Seine Protagonisten verbringen viel Zeit in der Natur, auf langen Wanderungen, und vermiteln die Empfänglichkeit für die ursprünglichen Formen des menschlichen Lebens. Sie stellen stets, wie es in der neueren Untersuchung von Jan Röhnert festgehalten wird, eine Opposiion zu Medien des modernen Lebens her, und erfahren in der Natur verweilend „die Reinigung Folia linguisica et literaria 93 in einer entzivilisierten Umgebung“ (2015, 4). Durch ein genaueres Relekieren auf die Naturphänomene wie Bäume, Himmel, Jahreswechsel, Wind oder Schnee stellen sie wieder einen verloren gegangenen unmitelbaren Bezug zur Welt her, und vergewissern sich dadurch ihrer eigentlichen Existenz. Die Landschaten in Handkes Werken sind ein konsituiver Teil der alternaiven Lebensform, weil in denen, wie das Mireille Tabah festhält, „Urelemente der Natur vorherrschen“ (2006, 20), die „im Menschen noch die ‘Zukuntserinnerung‘ ... an den ursprünglichen Zusammenhang der Welt und die utopische Vision einer in universeller Liebe versöhnten Menschheit wecken.“ (2006, 25) In der Natur besinnt sich der Mensch wieder der Schönheit der Welt, der Gewissheit über stete Verwandlungen und ewige Gesetze, der Gewissheit über die Freiheit und den Zusammenhang, die aus der Erkenntnis hervorgeht, dass der Mensch nicht gegenüber der Natur posiioniert ist, sondern sesshat in ihr verweilt, und deren Schönheit als Wegweiser für die Menschheitsgeschichte nur zu erkennen braucht. Deshalb unterstreicht Handke auch an einer weiteren Stelle, dass es wichig ist, „ ... mehr Zeit für die Farben draußen zu haben; genauer die Formen zu sehen; und in der Folge iefer – nicht bloß in Simmungen – den Ablauf der Jahreszeiten an einem sich entrollenden Farn, einem zunehmend ledrigen Baumblat oder den wachsenden Ringen eines Schneckenhauses zu empinden.“ (2002, 104, 105) Die Berufung des Menschen besteht nach Handke nicht darin, das Weltbild nach tagesaktuellen Geschehnissen zu formen, sondern in den ewigen Gesetzen der Weltgeschichte friedlich zu verweilen. Handke ist immer darum bemüht, in dieser Welt, so wie sie seit ewig da steht, in Einzelheiten die Schönheit und das Gute zu erkennen, wobei unter Schönheit und Gutem die Urformen des Menschlichen erfasst werden. Deswegen lobt er in seinen Werken jene Schritsteller, die die Natur als Vorbild hochgepriesen haben, so einen Siter und sein „santes Gesetz“ oder einen Wagner und seine „Evangelien der Natur“. Er glaubt daran, dass alle wahren Gesetze, d.h. einem Menschenleben inhärente, in der Natur geschrieben stehen. Diese Botschat vermitelt sein Protagonist Nova: „Ja, die Verneigung vor der Blume ist möglich. Der Vogel im Gezweig ist ansprechbar, und sein Flug macht Sinn. So sorgt geduldig in der mit künstlichen Farben feriggemachten Welt für die wiederbelebenden Farben einer Natur. Das Bergblau i s t – das Braun der Pistolentasche ist nicht; und wen oder was man im Fernsehen kennt, das kennt man nicht. Geht in der ausgestöpselten freien Ebene, als Nähe die Farben, als Ferne die Formen, die Farben leuchtend zu euren Füßen, die Formen die Zugkrat zu euren Häupten, und beides eure Beschützer ... Die Natur ist das einzige, was ich euch versprechen kann – das einzig sichhalige Versprechen. In ihr ist nichts ´aus´, wie in der bloßen Spielwelt, wo 94 Journal of Language and Literary Studies dann gefragt werden muß: ´Und was jetzt?´ Sie kann freilich weder Zuluchtsort noch Ausweg sein. Aber sie ist das Vorbild und gibt das Maß: dieses muß nur täglich genommen werden.“ (Handke 1992, 444) Ein Leben im Einklang mit der Natur bedeutet für Handke auch ein friedliches Leben mit anderen Menschen. In seinem Werk Versuch über die Müdigkeit schildert er eine solche harmonische Gemeinschat im Bild der Menschen, die von der Feldarbeit zurückgekehrt, in einer wohltuenden Müdigkeit das Gemeinschatsgefühl genießen. In diesen alternaiven Erfahrungen sieht Handke die Zukunt der Menschheit, wie es auch im Beitrag von Harald Baloch unterstrichen wird: „Doch Handke sieht Geschichte nicht allein aus der poliischen Perspekive. Seine Kunst ist es, aus einer Selbstbeobachtung heraus zu erfassen, wie die realen Schrecken der Menschheitsgeschichte jeden einzelnen von innen her erfassen, erschütern, an menschlicher Enfaltung hindern, sprachlos werden lassen. Und umgekehrt: wie sich in anderen Erfahrungen eine Form friedlichen Lebens abzeichnet – in einer anderen Zeit und einem anderen Raum.“ (2014, 200) Handke plädiert für eine geistesofene Lebensform, die er in seinen Werken als Schwelle zu einer banalen, von Vergänglichkeit der tagesaktuellen Geschehnisse erfüllten Existenz, abgrenzt. Er versteht darunter eine alternaive Lebensform, die in alltäglichen Erfahrungen, z.B. die gemeinsame Zeit mit dem Kind oder das genaue Betrachten des Jahreswechsels, die Urformen des Menschlichen erkennt, ein Verfahren, das Bartmann mit Goethes Verfahren vergleicht. (241) Er besteht „auf großen Worten“ (Handke 2002, 51) wie Liebe, Nähe, Schönheit, Friede, und beklagt, dass sie in unserem „blechernen Zeitalter“ (Handke 2002, 52) als überlüssig und veraltet abgestempelt werden. Er zeigt in seinen Werken, dass eine sinnvolle Existenz mit der Erkenntnis der Formen des ursprünglichen Geistes verbunden ist. Die andere Wirklichkeit, die Wirklichkeit des Schönen und Guten, wird bei Handke immer als ein großes Erlebnis, ein epiphanischer Augenblick dem Leser vermitelt, in dem die Besinnung auf das ursprünglich Menschliche im „Hier und Jetzt“ festgehalten wird. Durch diese qualitaiven Momente im menschlichen Leben hält er sich fern von rasendem Tempo der Chronologie der Menschheitsgeschichte. Besonders seit den 80er Jahren werden die Bilder des Schönen und Guten, wie es der Analyse von Norbert Gabriel zu entnehmen ist, zunehmend zu einem „Glauben an das Gute und Schöne als Gemeinschatssitendes.“ (496) Und im Gemeinschatssiftenden relekiert sich wiederum die Absicht, durch die Literatur in der Umwelt mitgestaltend zu wirken, und zwar durch die Rückbesinnung auf unmitelbare Wahrnehmung. Der Mensch komme zu authenischen Einsichten, indem er au- Folia linguisica et literaria 95 ßerhalb des von gesellschatlichen Normen konstruierten unrelekierten kollekiven Bewusstseins zu einer Relexion wieder fähig wird. Handke überführt diese Erfahrungen durch Sprache in die literarische Form – in die Erzählung. Indem er solche Bilder durch eine ästheische Form vermitelt, bewahrt er die authenischen Erlebnisse als eine andere Möglichkeit der Lebensform auch für andere. Handke vermitelt diese Erlebnisse als ein komplexes Wechselverhältnis zwischen Erkenntnis und Empinden, das sich nicht in eindeuige Begrife aufnehmen lässt. In diesem Zusammenhang wählt er auch eine entsprechende Form für die Arikulierung solcher Momente, er vermitelt sie durch eine relexiv-deskripive Poeik, in der sich die authenischen Erfahrungen zu Erlebnissen hochsteigen. Da Handke kein normaives, sondern ein deskripives Schreibverfahren vertrit, vermitelt er „das lange, ausführliche, schwingende, mäandernde und dann wieder lakonische Erzählen“ (Handke 1990, 128) dem Leser immer als seinen Lebenstraum, in dem die Kunsform mit Lebenserfahrungen harmonisch zusammenließt. Handke arikuliert somit seine alternaiven Lebensformen nicht durch eine operaive, eindeuige und wertende Sprache, sondern sieht das Ideal des Schreibens in einem ästheisch fundierten Zusammenspiel zwischen Form und Inhalt, zwischen Deskripion und Relexion. Die authenische Erfahrung innerhalb einer Kunsform erzählerisch zu vermiteln, hält er zugleich „für das schwierigste Menschenwerk überhaupt“, wie die folgende relexiv-deskripive Passage, die illustraiv für Handkes Schreibverfahren stehen könne, verdeutlicht: „... Der Sonnenuntergangshimmel ist silbrig, einzelne Bläter und auch ein ganzer Zweig sind weit ins Leere hinaufgewirbelt. Die Uferbüsche unten wehen jetzt in einer wunderbaren Übereinsimmung mit dem kurzen Kinder-Haar im Vordergrund. Der Augenzeuge leht einen Segen auf dieses Bild herab und bleibt zugleich nüchtern. Er weiß, daß in jedem mysischen Augenblick ein allgemeines Gesetz beschlossen ist, dessen Form er zum Vorschein bringen soll und das nur in seiner gemäßen Form verbindlich wird; und er weiß auch, daß, die Formenfolge eines solchen Augenblicks freizudenken, das schwierigste Menschenwerk überhaupt ist.“ (Handke 2002, 27) Handkes Absicht ist, mit seiner Literatur in der Umwelt mitgestaltend zu wirken, da er den Menschen durch seine Werke andere Möglichkeiten den Denkens und Handelns zeigen will. Er indet diese anderen Möglichkeiten der Wirklichkeitserfahrung nicht in der von ideologischen und poliischen Machtdiskursen beeinlussten Wirklichkeit, sondern in einer dem Menschen von Natur aus dargeschenkten Weltgeschichte, die man durch primäres Wahrnehmen und Empinden erfährt. Somit legt seine Literatur andere Bewusstseinsinhalte frei. Handke ist in diesem Sinne überzeugt von einer akiven Rolle seiner Literatur, weil sie immer wieder darauf hinweist, dass der Mensch die Möglichkeit 96 Journal of Language and Literary Studies hat, eine Wahl zwischen einerseits normaiven Weltbildern und andererseits authenischen Erfahrungen zu trefen. Er muss nicht der Gefangene der von der Gesellschat konstruierten Weltsichte sein, da er sich durch Besinnung auf alternaive Lebensformen, d.h. durch Besinnung auf ursprüngliche Formen der Existenz, einen freien existenziellen Raum erschafen kann. Indem Handkes Literatur den Menschen zeigt, dass der Anspruch auf freies Bewusstsein zu verwirklichen ist, vermitelt er auch seine Überzeugung, dass mit jedem neuen Bewusstsein die immergleichen Möglichkeiten beginnen (Handke, 2002, 100), und daher die Chance für eine friedliche Zukunt nie ausgeschöpt werden kann. Das Engagement seiner Literatur besteht somit nicht darin, dem Leser normaive Botschaten über die Gesellschat und Poliik zu vermiteln, sondern alle konstruierten Weltbilder durch ein genaueres Relekieren auf Sprache als Machinstrument zu entlarven, und gleichzeiig stets außerhalb der poliischen Wirklichkeit andere Möglichkeiten des Exisierens freizulegen und präsent zu halten. Die primäre Wahrnehmung, welche die daraus konstruierte Weltsicht durch ein persönliches Erlebnis steuert, ist der konsituive Teil von Handkes Lebensform und der daraus schöpfenden Poeik, die über die aktuellen gesellschatlich-poliischen Gegebenheiten hinwegschaut. Sie zeigt, dass die Dinge, die von der Gesellschat als „endgülige Weltbilder“ präseniert werden, durch einen geistesofenen Zugang zur Welt in einem unmitelbaren und ursprünglichen Licht erscheinen können. Daher lässt sich zusammenfassen, dass diese poetologische Basis, die schon im Elfenbeinturm verankert ist, als ein koninuierlicher Leifaden in Handkes ganzem Œuvre zu betrachten ist. Literatur: Baloch, Harald. „Sich erzählen in Raum und Zeit. Zu einer poeischen Struktur bei Peter Handke“ In: Bieringer, Andreas / Tück, Jan-Heiner (Hg.): Verwandeln allein durch Erzählen. Peter Handke im Spannungsfeld von Theologie und Literaturwissenschat. Freiburg: Herder, 2014, S. 200 Bartmann, Christoph. Suche nach Zusammenhang. Wien: Braumüller, 1984 Federmair, Leopold: „Schock, Bruch, Finte. Handkes Beitrag zum Fortschrit des Bildersehens“. Handke-online, 2014, URL: htp://handkeonline.onb. ac.at/forschung/pdf/federmair-2014.pdf Gabriel, Norbert: „Das ‘Volk der Leser‘. Zum Dichtungsbegrif in Peter Handkes Tetralogie Langsame Heimkehr“ In: Deutsche Vierteljahresschrit für Literaturwissenschat und Geistesgeschichte 3/1984, S. 496 Handke, Peter. Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1972 Handke, Peter. „Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen. Ein Gespräch geführt von Herbert Gamper“. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1990 Folia linguisica et literaria 97 Handke, Peter. Über die Dörfer. Theaterstücke in einem Band. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992 Handke, Peter. Versuch über die Müdigkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992 Handke Peter. Kindergeschichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002 Handke Peter. Wunschloses Unglück. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003 Handke, Peter. Die Stunde der wahren Empindung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2012 Himmelbauer, Susanne: „Auswege in die Erzählung. Das Märchen Die Abwesenheit“ In: Haslinger, Adolf / Gotwald Herwig / Freinschlag Andreas (Hg): Abenteuerliche Gefahrvolle Arbeit. Erzählen als (Über) Lebenskunst. Vorträge des Salzburger Handke – Symposions. Stutgart: Heinz, 2006, S. 58-73 Mixner, Manfred. Peter Handke. Kronberg: Athenäum Verlag, 1977 Nie, Jun (Xi’an). “Die Ästheik der Langsamkeit in Peter Handkes Erzählkunst”. In: Wei, Liu / Müller, Julian (Hg.) Österreich im Reich der Mite (Österreichische Literatur in China 1). Wien: Praesens, 2013, S. 149-158 Opitz, Michael. „Engagierte Literatur“ In: Dieter Burdorf et al.: Metzler Lexikon Literatur: Begrife und Deiniionen. 3. Aulage Stutgart: J.B. Metzler, 2007, S. 190 Röhnert, Jan. „Die Anwesenheit der Abwesenheit der Anwesenheit. Medium und Wahrnehmung in Peter Handkes `Die Abwesenheit` und ihrer Verilmung“. Handke-online, 2015, URL: htp://handkeonline.onb.ac.at/ forschung/pdf/roehnert-2015.pdf Sergooris, Gunter. Peter Handke und die Sprache. Bonn: Bouvier, 1979 Tabah, Mireille. „Landschat als Utopie? Ästheische Topographien in Peter Handkes Werk seit der Langsamen Heimkehr“ In: Haslinger, Adolf / Gotwald, Herwig / Freinschlag, Andreas (Hg.): Abenteuerliche, gefahrvolle Arbeit. Erzählen als (Über)Lebenskunst. Vorträge des Salzburger HandkeSymposions (Salzburger Beiträge 44; Stutgarter Arbeiten zur Germanisik 432). Stutgart: Heinz, 2006, S. 19-30 Wilpert, Gero von. Sachwörterbuch der Literatur. Stutgart: Alfred Kröner, 1989 98 Journal of Language and Literary Studies LITERATURE VS ENGAGEMENT. SOME REMARKS ON PETER HANDKE’S ELFENBEINTURM The aim of this paper is to elucidate the programmaic essay of Peter Handke`s I Am a resident of the Ivory Tower in the context of the relaionship between literature and engagement. Handke’s irm posiions are recognizable in his convicion of the power of literature, which is directed towards a change in man`s consciousness. They are an all-encompassing guide to the author’s oeuvre. For this reason, a paricular interest here is commited to the posiion of Engaged Literature, which, according to Handke, as an arbitrary aitude creates a judging, normaive image of reality. Finally, the triad self-relecionlanguage-form is to be discussed as a literary mechanism for the design of a new way of life. Key Words: Engaged literature, Peter Handke, normaive image versus authenic image, self-relecion, language, form Folia linguisica et literaria 99 UDK 821.112.2(436)-992 Die poetische Darstellung der Macht im Werk Das Land zwischen den Katarakten des Nil von Anton Prokesch von Osten Martina Lučić, Zadar, mmlucius@gmail.com Abstract: Das Thema dieses Beitrages ist die poetische Darstellung der Macht im Reisebericht Das Land zwischen den Katarakten des Nil von Anton Prokesch von Osten, eines österreichischen Diplomaten und Reiseschriftstellers aus dem 19. Jahrhundert. Diesen Reisebericht kann man heute aus verschiedenen Gründen für wichtig und interessant halten. Zuerst, der Reisebericht Das Land zwischen den Katarakten des Nil ist reich an detaillierten Beschreibungen und ausführlichen historischen, bildnerischen imagologischen, ethnographischen und geographischen Angaben zum Land, welches Prokesch von Osten im Jahre 1827 bereiste und in seinem Reisebericht bis ins Detail beschrieb. Zweitens, Anton Prokesch von Osten, Autor dieses Reiseberichtes, war ein Diplomat und General, welcher in Europa und in »Levante« eine sehr erfolgreiche militärische und diplomatische Karriere machte, und sich daher in seinen Werken mit der Darstellung von Macht und Politik sehr gerne und häuig beschäftigte. Drittens, der Reisebericht Das Land zwischen den Katarakten des Nil ist besonders vom imagologischen Standpunkt ein interessantes Werk; so beschrieb Prokesch von Osten in seinem Reisebericht nicht nur das körperliches Aussehen, die Bekleidung, die Lebensweise und Gebräuche der Nubier und Ägypter, sondern auch ihre Religion, Geschichte und Kunst. In diesem Beitrag wird man vor allem die imagologische Methode nutzen; mit Hilfe einiger literaturwissenschaftlichen, imagologischen Theorien wird man erklären was „Macht“ in dem Reisebericht Prokeschs bedeuten kann und wie sie in diesem Werk dargestellt wurde. Man wird vor allem versuchen das komplexe Verhältnis zwischen den Ägyptern und Nubiern (Äthiopiern) zu beschreiben, das ein sehr häuiges Motiv in der Kunst des Landes zwischen den Katarakten des Nils ist. Ebenso wird man in diesem Beitrag erklären, was man unter dem historischen Begriff „das Land zwischen den Katarakten des Nil“ versteht und welche Rolle der Vizekönig Mehmed-Ali in der damaligen politischen Situation in Ägypten und Nubien spielte. Schlüsselwörter: Anton Prokesch von Osten, Ägypten, Nubien, Reisebericht, Imagologie, Macht, Politik 100 Journal of Language and Literary Studies Der Reisebericht Das Land zwischen den Katarakten des Nil von Anton Prokesch von Osten, einem österreichischen Diplomaten und Reiseschritsteller, dient laut Prokesch nicht der Unterhaltung. Er soll den Lesern vielmehr die Topographie des damals wenig bekannten Landes zwischen den Katarakten des Nils näherbringen: „(...) Auch ist der Zweck desselben nicht Unterhaltung. Bekannt machen soll es den Leser mit der Topographie eines bis jetzt nur wenig bekannten Landes, die Monumente einer großen, und ich möchte sagen, unbegreiflichen Vergangenheit aufzählen, und so ein leeres Blat der Erdbeschreibung mit sicheren und eines der Geschichte mit wahrscheinlichen Angaben füllen. (...)“ (Prokesch von Osten, aus dem Vorwort) Prokesch von Osten war vor allem ein Staatsmann mit einer sehr erfolgreichen militärischen und diplomaischen Karriere.1 Aus diesem Grund haben die Poliik und andere mit ihr verbundene Themen einen großen Einluss auf sein Opus. In dem Reisebericht Das Land zwischen den Katarakten des Nil beschreibt Prokesch von Osten das Verhältnis zwischen den Ägyptern und Nubiern (Äthiopiern), ein sehr häuiges Moiv in der Kunst dieses Landes. Diese Darstellungen lassen sich gut aus der Sicht der literarischen Imagologie beschreiben. Es gibt zwei dominante Richtungen der literarischen Imagologie: 1. Forschung der Primärdokumente, nämlich der Reiseberichte; und 2. Forschung der ikiven Werke, in denen die „Fremden“ dargestellt wurden, oder die als Ergebnis eines mehr oder weniger stereotypisierten, naionalen Fremdbildes entstanden sind.2 (Dukić 151) Die Hauptaufgabe der imagologischen Forschung der Literatur ist es, die Wichigkeit und die Rolle der naionalen Fremd- und Eigenbilder in der künstProkesch von Osten, Anton, Freiherr (seit 1845), Graf (seit 1871), österreichischer Diplomat, geboren am 10. Dezember 1795 in Graz, gestorben am 26. Oktober 1876 in Wien. Anfangs Oizier; im milit. Rang sieg er bis zum Feldzeugmeister (1863) auf. Frühzeiig wurde er zu verschiedenen diplomaischen Sendungen, besonders im Orient, verwendet. 1834-49 war er Gesandter in Athen und in Berlin, im 1853 Präsidialgesandter am Deutschen Bundestag in Frankfurt am Main und im 1855 kaiserl. Internunzius (seit 1861 Botschater) in Konstaninopel. Im 1871 trat er in den Ruhestand. Schriten: „Erinnerungen aus Ägypten und Kleinasien“ (3 Bde., 1829-1931), „Denkwürdigkeiten und Erinnerungen aus dem Orient“ (hg. von E. Münch, 3 Bde., 1836), „Geschichte des Abfalls der Griechen vom türk. Reich“ (6 Bde., 1867), „Kleine Schriten“ (7 Bde., 184244).) (Der Große Brockhaus 153). 2 Imagologie ist ein Forschungszweig der Vergleichenden Literaturwissenschat, der naionale Fremd- und Eigenbilder in der Literatur untersucht. Der Begrif „Imagologie“ ist in den späten 60er Jahren des XX. Jahrhunderts entstanden und wird vom lateinischen Wort «Imago» abgeleitet ( „Bild“, „Vorstellung“) und dem griechischen Wort «Logos» ( „Begrif“, „Wort“, „Diskurs“). (Dukić 5). 1 Folia linguisica et literaria 101 lerischen, sozialen und historischen Sphäre zu analysieren. (Dukić 81) Da das Thema dieses Beitrages vor allem die naionalen Fremd- und Eigenbilder in einem Primärdokument (Reisebericht) ist, wird hier als Methode die literarische Imagologie verwendet. Prokesch von Osten schreibt in seinem Reisebericht Das Land zwischen den Katarakten des Nil, dass man unter dieser Bezeichnung die Region von Nubien versteht, die sich damals zwischen den Wasserfällen von Assuan und Wadi-Halfa, oder den großen und den kleinen Katarakten des Nils erstreckte und die Prokesch von Osten im Jahre 1827 bereiste und in seinem Reisebericht beschrieb: „(...) Unter der Bezeichnung des Landes zwischen den Katarakten plegt man die Strecke von Nubien zu verstehen, welche zwischen den Wasserfällen von Assuan und Wadi-Halfa, oder zwischen den kleinen und großen Katarakten des Nil liegt. (...)“ (Prokesch von Osten 9) Die zwei oben erwähnten Katarakte bildeten in ältester Zeit zusammen mit dem Tempel von Philä die Grenze zwischen Ägypten und Nubien. Das Land zwischen den Katarakten des Nils war nämlich ein Teil Äthiopiens und in vier Bezirke aufgeteilt: „(...) Ich habe nur die Strecke zwischen den Katarakten von Syene und jenen von Wadi-Halfa, d.i. zwischen den kleinen und großen durchgereiset, noch vor kurzem ein schwer zu betretender Boden, nun ein geöfnetes Feld. Dieses Land, dermalen zu Ägypten geschlagen, war ein Theil Äthiopiens, denn die Katarakten und Philä machten in ältester Zeit die Gränze zwischen beiden Ländern (Diod. I. 22.), wie sie für die Bewohner beider noch heut zu Tage diejenige zwischen Ägypten und Nubien machen. (...) Das genannte Land zerfällt dermalen in vier Bezirke: Kelabsche, Dör, Ibrim und Wadi-Halfa. Diese Bezirke sind dem Kaschef von Assuan untergeordnet, der seinerseits wieder von dem Nazir von Esne abhängt. (...)“ (Prokesch von Osten 3-12) Weiter schreibt in seinem Reisebericht Prokesch von Osten, dass laut Diodor von Sizilien, Äthiopien „ein Ursitz frühester Kultur“ ist und das pharaonische Ägypten vielleicht nur seine „glücklich begabte Tochter“ wurde: „(...) Äthiopien ist ein Ursitz frühester Kultur, und das pharaonische Ägypten vielleicht nur die glücklich begabte Tochter desselben (Diod. III. 3.) (...)“ (Prokesch von Osten 3-4) Die Äthiopier haten zuerst ein großes Gefühl der Religion, da ihre Opfer als die den Götern angenehmsten bezeichnet wurden. Als Belohnung gaben ihnen die Göter die zwei größten Geschenke: Eintracht und Freiheit. Im Laufe der Geschichte wurde das äthiopische Volk häuig fremden Herrschern unterworfen: dem ägypischen König Sesostris, dem persischen Kambyses und der assyrischen Königin Semiramis. Die Äthiopier gelten als die „urältesten Ansiedler Ägyptens“, was die Ähnlichkeit der Gebräuche und der Schreibweise zwischen den Äthiopiern und den Ägyptern erklärt: 102 Journal of Language and Literary Studies „(...) Ihnen [den Äthiopiern] schrieb man auch zuerst das große Gefühl der Religion und die Anordnung des Gotesdienstes zu. Ihre Opfer, noch rein, noch von unverfälschter Dankbarkeit und Liebe durchglüht, noch Gaben des Herzens, galten für die den Götern angenehmsten. (...) Als ofenbaren Lohn seiner Tugend soll dies Volk niemals das Joch fremder Herrschat empfunden haben. Die Göter gaben ihm die zwei größten, alle Bedingungen bürgerlicher Glückseligkeit in sich vereinigenden Geschenke, Freiheit und Eintracht. (Diod. III. 2.) Doch sagt uns die Geschichte, daß sie, theilweise wenigstens, selbst in alter Zeit Fremden unterworfen waren, so dem Sesoosis oder Sesostris (Diod. I. 55), der Semiramis (Diod. II. 14.) und dem Kambyses, weßhalb sie an die persischen Könige, noch zu Herodot‘s Zeiten, Tribut entrichteten. (Herodot‘s III. 97.) Sie brachen als Eroberer zu verschiedenen Malen bis an das Mitelmeer und bis nach Syrien herab. (II. Chronik 14. – II. Könige. 19.). Sie galten überhaupt als die urältesten Ansiedler Ägyptens, indem sie unter eben dem Osiris, der später als Got verehrt wurde, in das aus dem äthiopischen Schlamme erwachsene Land niedergesiegen waren. Daher die Ähnlichkeit der Gebräuche zwischen dem Äthiopier und Ägypter, der heiligen sowohl als der anderen; daher auch bei beiden Völkern die gleiche Schreibweise. (Diod. III. 4) (...)“ (Prokesch von Osten 4-5) Obwohl diese zwei Völker in vielerlei Hinsicht ähnlich scheinen, wurde ihr Verhältnis auf den Bildern der berühmten altertümlichen Tempel im Land zwischen den Katarakten des Nils auf verschiedene Art und Weise dargestellt. So erscheinen die Ägypter unter der Führung ihrer mächigen Pharaonen und Göter immer als Sieger und die Äthiopier als besiegtes und den Ägyptern untergeordnetes Volk. Die besten Beispiele dafür sind die in diesem Reisebericht beschriebenen Bilder, die Prokesch von Osten in den Tempeln von Abu Simbel, Kelabsche und Hamada indet. Die Wände des berühmten ägypischen Felsentempels von Abu Simbel sind mit Bildern bedeckt, die Opferhandlungen, Sieges- und Schlachtszenen darstellen. Prokesch von Osten erzählt in seinem Reisebericht, dass die Besiegten auf den Bildern des Tempels von Abu Simbel „Völker aus dem inneren Afrika scheinen“ und von einem siegenden Pharaon „mit Bogen und Pfeil“ verfolgt worden sind: „(...) Die Bilder an den Wänden geben Schlacht- und Siegesszenen und Opferhandlungen. Die Besiegten scheinen Völker aus dem inneren Afrika. Ihre Niederlage ist völlig; ihre Flucht trägt alle Zeichen der Vergeblichkeit. Mit Bogen und Pfeil jagt ihnen der siegende Pharao nach und erstürmt ihre festen Orte. Die Geschichte der Größe Ägyptens blickt in solchen Darstellungen aus dem Dunkel der Vergessenheit. (...)“ (Prokesch von Osten 145) Folia linguisica et literaria 103 Von der Pharaonenmacht zeugen auch die sechs Bilder die Prokesch von Osten im Tempel bei Kelabsche entdeckt. Die zentralen Figuren der Bilder sind die furchterregenden und siegenden Könige und Krieger, die ihre Feinde am Haarbusch fassen und sie mit Pfeil und Bogen oder einem Messer in der Hand töten. Auf einem von den Bildern wurde dargestellt, wie der König mit einem Messer in der Hand das Haupt eines Feindes opfert. Laut Prokesch belegen diese Bilder die Macht der Pharaonen und stellen daher „ein Blat der Weltgeschichte“ dar: „(...) Die Wand zur Rechten zeigt im ersten Bilde gebundene Feinde, dann eine Frauenschaar, die sich bitend vor den König drängt. Das zweite Bild stellt einen Krieger vor, der mit dem Bogen in der Linken einen Überwundenden am Boden niederhält, mit dem kurzen, krummen Messer in der Rechten aber den Todesstreich führt. Im Ausdruck beider Gestalten lebt eine furchtbare Wahrheit. Im driten Bilde kämpt der König vom Streitwagen herab miten im Gewühl des Volkes, das mit Bogen, Lanze und Messer gegen einander wüthet. Einige sinken und Andere treten sie nieder. Wieder andere sind schon gefallen und recken die Glieder noch im Schmerz und Wuth empor. Der König aber faßt mit seiner Linken mehrere Feinde am Haarbusch zusammen, indeß die Rechte das Messer schwingt. - Im vierten Bilde opfert der König eines Feindes Haupt. Er hält noch das Messer triesend in der Hand. Im Hintergrunde steht ein Tempel, von dessen Zinnen Volk in die Tiefe gestürzt, wird. - Das fünte Bild gibt einen Zweikampf mit Bogen und Pfeil. - Das sechste und äußerste ist undeutlich. Diese Bilder sind ein Blat der Weltgeschichte. Sie belegen die Macht der Pharaonen. (...)“ (Prokesch von Osten 100-101) Im Tempel von Hamada, der sich in der Wüste und auf nur „ein paar hundert Schrite vom Nil“ befand (Prokesch von Osten 132), entdeckt Prokesch von Osten ein Bild, auf dem ein rotbrauner und ein schwarzer Mann den Götern auf demselben Altar sehr reiche Gaben opfern. Prokesch von Osten sieht dieses Bild als Darstellung der freundschatlichen Verbindung zwischen den „rotbraunen“ Ägyptern und den „schwarzen“ Äthiopiern: „(...) Ein Bild im letzten Gemache zur Rechten fesselte mich durch die Bedeutung, die ich demselben zutraue. Ein rothbrauner Mann und ein schwarzer opfern auf demselben Altar gemeinschatlich sehr reichliche Opfer. Weiset dieß nicht auf eine freundschatliche Verbindung zwischen Ägypten und Äthiopien? (...)“ (Prokesch von Osten 134-135) Aus solchen Darstellungen der Ägypter und Äthiopier wird deutlich, dass auch die Körperfarbe als ein Unterscheidungsmerkmal zwischen den zwei Völkern betrachtet wurde. Auf fast allen Bildern, die Prokesch von Osten in seinem 104 Journal of Language and Literary Studies Reisebericht beschreibt, werden die Ägypter als „rotbraune“ und die Äthiopier als „schwarze“ Figuren dargestellt. Ein gutes Beispiel dafür sind die Wandbilder im Tempel von Seboa, auf denen ein Fest auf dem Fluss Nil dargestellt wird. Die „Untergeordneten“ - die Fährleute von einer der Barken und die Tiere – haben schwarze, während die Personen an Bord, unter denen auch ein Priester ist, die rotbraune Körperfarbe. Merkwürdig auf diesem Bild ist aber die Darstellung von Isis und der Fährleute auf der zweiten Barke, die „wie Abyssinier“ eine gelbe Körperfarbe haben. Das ist nämlich das einzige von Prokesch beschriebene Bild in diesem Reisebericht, auf dem die „gelben“ Figuren erscheinen: „(...) Im rechten der drei Hintergemächer erscheinen Isis und Osiris, die Arme sich gegenseiig um den Nacken schlingend, gelb, im Mitelgemache sie gelb, er rothbraun. Die Wandbilder dieses Gemaches stellen ein Fest auf dem Nil vor. Zug und Spitz der einen Barke sind mit dem Sperberhaupte, jene der anderen mit dem eines Widders geschmückt; über beiden schwebt der Diskus. Die Fährleute der einen Barke sind Neger, wolligen Haares und mit einem Tuch um die Mite wie heut zu Tage; die der andern gelbe Leute, wie Abyssinier. Die übrigen Personen am Bord, unter denen ein Priester als Leiter erscheint, sind rothbraun. Auf jeder Barke ist ein schwarzer Afe oder Hund mit einer Doppelhaube auf dem Haupte. (...)“ (Prokesch von Osten 130) Aus Prokeschs Reisebericht erfahren wir, dass Abessinien „ein christliches Reich“ ist: „(...) Habesch, oder wie wir es zu nennen plegen, Abyssinien ist, wie bekannt, ein christliches Reich. (...)“ (Prokesch von Osten 177) Es kann sein, dass die gelben Fährleute eigentlich Christen darstellen. Andererseits kann die Körperfarbe von der Göin Isis nicht als gelbe, sondern als goldene betrachtet werden, weil die goldene Farbe eng mit Königreich, Reichtum und Gotheit verbunden ist. Sehr interessant ist die Darstellung des Gotes Osiris, der auf dem Bild als rotbrauner Mann dargestellt wird. Osiris war nämlich der lokale Got, welcher nach dem Tod zum Got der Unterwelt wurde.3 Im Alten Reich wurde Osiris als der wichigste Totengot bezeichnet, welcher „ursprünglich nur der König“4 war. Die „rotbraune“ Körperfarbe könnte (…) The origin of Osiris is obscure; he was a local god of Busiris, in Lower Egypt, and may have been a personiicaion of chthonic (underworld) ferility, or possibly a deiied hero. By about 2400 bce, however, Osiris clearly played a double role: he was both a god of ferility and the embodiment of the dead and resurrected king. This dual role was in turn combined with the Egypian concept of divine kingship: the king at death became Osiris, god of the underworld; (...). (The New Encyclopædia Britannica 1026). 4 Osiris [lat. <gr. <äg.], ägypt. Hirten-, Fruchtbarkeits- und Herrschergot; Gemahl der Isis, Vater des Horus, von seinem Bruder Seth ermordet; wurde im Alten Reich zum wichigsten Totengot. In Osiris verwandelten sich alle Toten (urspr. nur der Konig) und erlangten damit Unsterblichkeit. Hauptkultorte waren Abydos, Busiris und Philae. S.a. 3 Folia linguisica et literaria 105 in diesem Sinne die irdische Herkunt des Gotes Osiris bezeichnen. Auf anderen Darstellungen sind die ägypischen Göter und Göinnen als blaue, violete oder grüne Figuren dargestellt, wie zum Beispiel auf einigen anderen Bildern in dem schon erwähnten Tempel bei Kelabsche: „(...) Die Decke ist blau mit goldenen Sternen besäet; die opfernden Personen rothbraun, die Göter bald blau, bald violet, bald grün. Alle sind bekleidet, doch tragen die Göinnen den Busen bloß, den die schönen Kleider schließen mit prachtvollen Gürteln unter der Brust. Priester erscheinen da, in weiten Röcken, in der Hand eine Insul, auf dem Haupte eine Mithra, ganz den Mützen unserer Bischöfe ähnlich. Die Throne, worauf die Göter sitzen, sind von sehr geschmackvoller Zeichnung und Ausführung, bald geschuppt wie von Silber, bald mit Lotus und Sternen verziert. Alles athmet Pracht, Genuß und Fülle. (...)“ (Prokesch von Osten 94-95) Daher ist es fast unmöglich, den Begrif Macht in Zusammenhang mit diesem Reisebericht zu erklären, ohne die Darstellungen von Osiris, dem Got der Fruchtbarkeit und der Verkörperung des toten und auferstandenen Königs (New Encyclopædia Britannica 1026) und von seiner Gemalin Isis, der „Liebes-, Mutter- und Totengöin“5, auf den Bildern des Tempels Nubiens zu beschreiben. Auf den Bildern und Statuen in den nubischen Tempeln wurde Osiris ot mit der Sperbermaske und mit einem Stab mit dem Schakalkopf in der Hand, und Isis mit Mondescheibe und Kuhhörnern auf dem Kopf und dem Nilschlüssel in der Hand dargestellt, welches als Symbol des Reichtums und Segens bezeichnet wurde: „(...) Isis erscheint da mit dem gehörnten Diskus, der Schlangenhaube und hat in der Hand den Nilschlüssel, das Sinnbild des Segens und des Reichthums. (...)“ (Prokesch von Osten 67) Andere Göter wurden auch sehr häuig mit Löwen-, Sperber- und Widderhäuptern und dem Stab mit dem Schakalkopf in den Händen dargestellt, während die Göinnen mit Schlangenköpfen, mit Nilschlüsseln oder einem Lotusstab in den Händen dargestellt werden, wie zum Beispiel auf den Bildern im Tempel bei Dabot: „(...) In zwei Reihen stehen sechs Bilder zur Rechten, eben so viele zur Linken, und vier an den Thorseiten. Isis, mit Diskus und Hörnern, — Horus, mit dem Sperberhaupte, — eine Göinn mit Nilschlüssel und Lotusstab in den Händen und mit einer Schlange auf dem Haupte, - Amon mit dem Widderkopfe. – Osiris, in jugendlicher Gestalt, ohne Bart, mit einer hohen in eine Kugel endenden Haube, Geißel und Krummstab in den Händen, - und endSerapis. (BI – Universallexikon in 5 Bd 1987, 126). 5 „Liebes-, Muter und Totengöin, Schwester und Gemalin des Osiris, Muter des Horus.“ (BI – Universallexikon in 5 Bd. 1986, 27). 106 Journal of Language and Literary Studies lich zwei andere Göinnen mit den Außenzeichen der Isis, empfangen, bald sitzend bald stehend, die Opfer, welche aus Früchten, Broten, kleinen Vasen und Näpfen, Fahrzeugen, Schalen, aus denen eine Schlange sich hebt, und Szeptern bestehen. Die Göter haben jedesmal in der einen Hand einen Stab mit dem Schakalkopfe zu oberst, die Göinnen einen Nilschlüssel. Die Opfernden sind rothbraun, und tragen ein Schwert an der Seite und verschiedene Kopbedeckungen. (...)“ (Prokesch von Osten 79-80) Anhand von den oben erwähnten Beispielen können wir feststellen, dass die naionalen Fremd- und Eigenbilder im Reisebericht Prokeschs vom Autor nicht „direkt“ beschrieben werden, sondern lassen sich diese durch Darstellungen der nubischen Kunst erkennen. Von der imagologischen Ansicht können wir in diesem Sinne von „Bildern in Bildern“ sprechen. Da in der nubischen Kunst das historische, bzw. metaphorische Verhältnis zwischen den Nubiern und den Ägyptern dargestellt wurde, ist Prokesch von Osten kein Beobachter und damit kein Zeuge des „realen“ Verhältnisses zwischen den zwei Völkern, doch anhand der Bilder in den nubischen Tempeln kann er trotzdem schlussfolgern, dass die Ägypter mächiger waren als die Nubier. Im Reisebericht Das Land zwischen den Katarakten des Nil lassen sich die Suche nach Idenität und das Selbstbesimmungsproblem bei den Nubiern erkennen, da sie in der Kunst ihres eigenen Landes als untergeordnetes Volk, während das fremde Volk, nämlich die Ägypter, in derselben Kunst als übergeordnet dargestellt wurden. Im Reisebericht Prokeschs indet man keine Angaben dazu, wer der Autor der Bilder in den nubischen Tempeln ist – die Ägypter, die Nubier oder vielleicht beide – so dass sich hier die Frage stellt, ob vielleicht die Nubier sich selbst gegenüber den Ägyptern als untergeordnetes Volk angesehen haben. „Der Fremde“ und „der Andere“ spielen in den imagologischen Werken eine Schlüsselrolle. Laut Wolfgang Müller-Funk gehört die Beschätigung mit den Fremden „zum unverzichtbaren Bestandteil gegenwäriger kultureller, sozialer sowie poliischer Diskurse und Debaten“. (Müller-Funk 15) Müller-Funk beschätigt sich in seinem Buch Theorien des Fremden mit dem Begrif der Alterität, welche laut dem Autor „alle Formen eines Außerhalbs meiner Selbst“ umfasst. Obwohl man unter dem Begrif „Alterität“ verschiedene Phänomenlagen verstehen kann, beschätigt sich der Autor in seinem Buch besonders mit den Begrifen „der Ausländer“, „der Fremde“ und „der Andere“ (Müller-Funk 17) und schreibt, dass zwischen diesen drei Alteritätsphänomenslagen ein „innerer und unkündbarer Zusammenhang“ besteht, da „alle drei relaional sind“ und sich auf etwas beziehen, „das sich als widerständig oder irriierend erweist“. (Müller-Funk 22) Der Begrif „der/die/das Fremde“ bezeichnet immer etwas Unbekanntes und Unheimliches und trägt gleichzeiig Irritaion und Furcht in sich. (Mül- Folia linguisica et literaria 107 ler-Funk 18) Reinhard Lauer schreibt in seinem Arikel Slika o drugome s gledišta književnog istraživanja (Das Bild des Anderen vom Standpunkt der Literaturforschung), dass der „Fremde“ in der Literatur in verschiedenen Formen erscheint; so kann ein Fremder ein gern gesehener Gast, Freund, Geschätspartner, Kollege, aber auch ein Konkurrent, ein Feind, oder einfach eine Person sein, die uns nur kennenlernen möchte. (Lauer 156-157) In diesem Sinne inden wir in dem Reisebericht Das Land zwischen den Katarakten des Nil zwei Formen des Fremden; auf der einen Seite Anton Prokesch von Osten, Autor des Reiseberichtes, der nach Nubien reist, um das Land und das Volk dort besser kennenzulernen und ihre Lebensweise zu dokumenieren. Prokesch von Osten ist ein Freund der Nubier (Äthiopier); andererseits sind die Ägypter und der Vizekönig Mehmed-Ali ihre Feinde. Im Adjekiv „ausländisch“ lässt sich die naionalstaatliche Zuordnung erkennen: „Der Ausländer, bzw. die Ausländerin, beindet sich, symbolisch markiert, auf der anderen Seite“, das heißt „jenseits des eigenen Raumes“. (Müller-Funk 18) Der Begrif „der Andere“ ist laut Müller-Funk eine „abstrakte Kategorie“, die mehrere Bedeutungen umfasst. Der Andere kann u.a. „ein Zweiter“, „eine Zweite“ oder „ein Zweites“ sein, „der/die/das mir gegenübertrit“, aber auch ein kultureller Fremde. So könnte der Andere etwas sein, „was weder im herkömmlichen Sinn unbekannt noch ausländisch und exterritorial, das heißt Teil einer anderen Kultur ist.“ (Müller-Funk 20) Es gibt drei Grundhaltungen, die die Vorstellungen über „die Anderen“ besimmen: Philia, Mania und Phobia. Unter dem Begrif „Philia“ versteht man die gegenseiige Achtung und Wertschätzung beider, der eigenen und der fremden Kultur. Dies bedeutet, dass sowohl die fremde als auch die eigene Kultur als posiiv betrachtet und akzepiert wird. „Mania“ bedeutet, dass man die fremde Kultur als übergeordnete Kultur in Bezug auf die eigene, ursprüngliche Kultur betrachtet, und „Phobia“ ist das Gegenteil von Mania, was bedeutet, dass die eigene Kultur in Bezug auf die fremde Kultur übergeordnet ist. Mania und Phobia führen zur Entstehung der sogenannten „verzerrten“ Bilder oder zu Vorstellungen über „die Anderen“, die nicht die Realität widerspiegeln. (Dukić 142-143) In dem Reisebericht Das Land zwischen den Katarakten des Nil äußert sich Philia in der Beziehung Prokeschs gegenüber Nubien und dem Volk, welches dort lebt. Prokesch von Osten stellt sich auf keine Seite; er dokumeniert nur, was er auf seiner Reise sieht, hört und entdeckt. Andererseits ist es schwierig zu sagen, ob die nubische Kunst ein Ergebnis von Phobia, Mania oder vielleicht von beiden Grundhaltungen ist, da wir, wie schon erwähnt, leider nicht sicher sind, wer der Autor von den Darstellungen in den Tempeln Nubiens ist. Die Phobia ist deutlich erkennbar im Verhältnis Mehmed-Alis gegenüber dem nubischen Volk. Im Bezug auf das nubische Volk erfassen Anton Prokesch von Osten, die Ägypter und auch Mehmed-Ali alle drei Phänomenslagen der Alterität: sie sind die Fremden, die Ausländer und die Anderen. 108 Journal of Language and Literary Studies Prokesch von Osten beschrieb sein Verhältnis zum Vizekönig im Werk Mehmed Ali, Vize-König von Ägypten. Aus meinem Tagebuche. 1826–1841. Während seines Aufenthaltes in Ägypten begegnete Prokesch von Osten häuig zwei Männern namens Mehmed-Bey und Abdyn Kaschef: „(...) Während meines Aufenthaltes in Ägypten sah ich häuig zwei Männer, welche die Truppen des Vizekönigs in das Innere von Afrika geführt haten, den Schwieger desselben, Tesderdar Mechmed Bey, und Abdyn Kaschef, beide sehr unterrichtet und von dem Bestreben sich zu unterrichten beseelt. (...)“ (Prokesch von Osten 160-161) Der wirkliche Grund dieses Kriegszuges Mehmed-Alis war, die Mamelucken6 zu verfolgen, die Schätze der Länder der Afrikaner an sich zu nehmen und Krieger für seine Truppen zu inden, die er zu einem unbedingten Gehorsam zwingen konnte: „(...) Was ich sonst von beiden erfuhr, ist mehr poliischer Natur; ich will es dennoch hieher setzen: „Der Grund, womit Mechmed-Ali den Kriegszug beschönigte, war hauptsächlich, die weitere Verfolgung der Mamelucken, welche sich bis nach Darfur gelüchtet haten. Die eigentlichen Gründe bestanden darin; die Schätze der Länder der Schwarzen an sich zu bringen; die Nothwendigkeit, sich seiner ungehorsamen Soldaten zu entledigen, und der Wunsch, Leute für seine neuen Truppen zu haben, die er zu einer unbedingten Anhänglichkeit zwingen konnte. (...)“ (Prokesch von Osten 161) Nachdem die Mamelucken den Sohn des Vizekönigs, Ismail-Pascha, verbrannt haten, hat Mehmed-Bey als Sühnopfer einige tausend Afrikaner „über der Asche Ismail Pascha´s verbrannt“. Das Land der Afrikaner wurde später in vier Provinzen aufgeteilt: „(...) Ismael Pascha wurde zu Schendy, das nördlich der Insel Senaar liegt, aber dazu gehört, von den empörten Negern, durch die Meleck oder Fürsten ihres Hauses hiezu angeregt, verbrannt. Mechmed Bey mußte das Beispiel einer Blutrache geben; er verheerte das Land, verilgte das Fürstenhaus bis auf einen einzigen Sprossen desselben, der nach Habesch entkam, und verbrannte einige tausend Neger, gleichsam als Sühnopfer, über der Asche Ismael Pascha´s. Ihm folgte Osman-Bey als Staathalter in den Ländern der Schwarzen. Nach dessen Tode theilte der Vizekönig dieselben in vier Provinzen: 1. Nubien und Dongola. 2. Berber. 3. Senaar. 4. Kordusan. (...)“ (Prokesch von Osten 162) Duden Rechtschreibung: „Mamelucken: Militärsklave islamischer Herrscher“ (Internet, den 10. März 2017). 6 Folia linguisica et literaria 109 Prokesch von Osten berichtet noch in seinem Reisebericht, dass die Ägypter seit 1821 ca. 40,000 Afrikaner nach Ägypten gebracht haben, wovon die drei Vierteile starben: „(...) Seit dem Jahre 1821 sind etwa 40,000 Neger nach Ägypten gebracht worden, wovon drei Viertheile starben. Die Blatern machen ungeheure Verwüstungen unter ihnen; sie entvölkerten ganze Länderstrecken. Der Vizekönig sandte zu meiner Zeit mehrere Ärzte nach Senaar und Kordusan, um die Impfung einzuführen. (...)“ (Prokesch von Osten 164-165) Diesbezüglich erzählt Prokesch von Osten von einem vierzehnjährigen Mädchen aus Darfur, das der französische General Fernig aus einer Karawane kaute. Nach den Worten Prokeschs hate dieses Mädchen „feste Anhänglichkeit, sehr lebhaten Geist und eine hohe Krat der Ergebung“. Das Mädchen erzählte ihm sehr gerne von ihrer Heimat und Prokesch von Osten kam zu der Schlussfolgerung, dass „das Herz von Afrika ein Paradies der Glückseligkeit“ war, bis die Ägypter dorthin durch die Eroberung Kordusans kamen und seitdem dort nur „Schrecken verbreiteten“: „(...) An einem Mädchen aus Darfur, das einer meiner Reisegefährten, der französische General Graf Fernig, aus einer Karavane von etwa zwei hundert, welcher wir in der Wüßte begegneten, kaute, bemerkte ich sehr lebhaten Geist, sitliches Schweigen, feste Anhänglichkeit und eine hohe Krat der Ergebung. Dies liebe Kind, von etwa vierzehn Jahren, erzählte uns gerne aus seiner Heimath, die ihr schöner als die blühende Flur Ägyptens schien. Sie wußte uns viel von dem Könige Muhammed-el-Fatl und seinem Hofe zu sagen; von seinen Truppen, die an 30,000 Mann betragen sollen; von seinem Harem; von den Oasen el-Fartyn. Nach ihrer Schilderung war das Herz von Afrika das Paradies der Glückseligkeit, bis die Ägypter, durch die Eroberung Kordusans, bis dahin Schrecken verbreiteten. (...)“ (Prokesch von Osten 164) Am Ende dieses Beitrages können wir schlussfolgern, dass der Begrif „Macht“ im Reisebericht Das Land zwischen den Katarakten des Nil eng mit den Begrifen „Herrschat“, „Poliik“, „der Fremde“, „der Andere“, „der Übergeordnete“ und „der Untergeordnete“ verbunden ist. Besonders interessant ist die Idee von einem „Anderen“, welcher die Rolle eines kulturellen Fremden spielt, was nämlich im Reisebericht Das Land zwischen den Katarakten des Nil der Fall ist; ein Europäer, bzw. ein Österreicher reist nach Nubien, um die ihm bis dahin fremde Kultur dieses Landes besser kennenzulernen. Prokesch von Osten begegnet auf seiner Reise Darstellungen (Bilder) von den Ägyptern und ihrer Machtausübung über die Nubier. Da die Machtausübung darin besteht, jemanden anderen mit Hilfe der Gewalt unterzuordnen, tragen häuig die Begrife wie 110 Journal of Language and Literary Studies „Macht“, „Poliik“, „der Fremde“, „der Andere“ usw. eine negaive Konnotaion. Im Reisebericht Prokeschs lässt sich dies in den kolonialisischen Absichten Mehmed-Alis erkennen, welcher sich aus Afrikanern eine Armee zusammenstellen möchte und die Schätze ihres Landes plündern. Laut Wolfgang Müller-Funk ist „der Kolonialismus die maßgebliche Ursache dafür, dass die Begegnung mit fremden Kulturen von einer kulturellen Schielage, von einem asymmetrischen Verhältnis geprägt ist, in der brutale Machtausübung, militärische Expansion, Ausbeutung und menschliche Geringschätzung Hand in Hand gegangen sind.“ (Müller-Funk 37) Die Macht und Poliik, sowie die mit ihnen verbundenen Begrife des Fremden und des Anderen sind immer ein aktuelles Thema in der Literatur, egal ob es sich um die Werke handelt, die im XXI., XIX. oder irgendeinem anderen Jahrhundert entstanden sind und der Reisebericht Das Land zwischen den Katarakten des Nil von Anton Prokesch von Osten dient als echter Beweis dafür. Literatur: Primärliteratur Prokesch von Osten, Anton. Das Land zwischen den Katarakten des Nil. Wien: Gerold, 1831. Sekundärliteratur BI – Universallexikon in 5 Bd., 3. Inte-Moi. Leipzig: VEB Bibliographisches Insitut, 1986. BI – Universallexikon in 5 Bd., 4. Moto-Seil. Leipzig: VEB Bibliographisches Insitut, 1987. Der Große Brockhaus. Handbuch des Wissens in zwanzig Bänden. Fünfzehnte, völlig neubearbeitete Aulage von Brockhaus´ Konversaions-Lexikon. Pos-Rob. Leipzig: F.A. Brockhaus, 1933. „Mameluck“. Duden Rechtschreibung, htp://www.duden.de/ rechtschreibung/Mameluck 10. März 2017. Dukić, Davor/ Blažević, Zrinka/ Plejić Poje, Lahorka/ Brković Ivana. Kako vidimo strane zemlje: Uvod u imagologiju. Zagreb: Srednja Europa, 2009. Fried, István: „Imagološka pitanja“. In: Oraić Tolić, Dubravka/ Kulcsár Szabó, Ernő (ur.): Kulturni stereoipi: koncepi ideniteta u srednjoeuropskim književnosima. Zagreb: FF press, 2006. 71-81. Lauer, Reinhard: „Slika o drugome s gledišta književnog istraživanja“ in: Književna revija: [časopis za književnost i kulturu]. [Josip Cvenić glavni i odgovorni urednik]. Osijek: Maica hrvatska. 38 (1998), 3/6. 154-160. Müller-Funk, Wolfgang: Theorien des Fremden. Tübingen: Narr Francke Atempto Verlag GmbH, 2016. Folia linguisica et literaria 111 Prokesch von Osten, Anton Graf, Indexeintrag: Deutsche Biographie, htps:// www.deutsche-biographie.de/gnd118596713.html 29. Januar 2017. The New Encyclopædia Britannica (Micropædia), Volume 8, 15th Ediion. THE POETIC PORTRAYAL OF „POWER” IN THE TRAVELOGUE DAS LAND ZWISCHEN DEN KATARAKTEN DES NIL BY ANTON PROKESCH VON OSTEN The main subject of this aricle is the poeic portrayal of „Power” in the travelogue Das Land zwischen den Katarakten des Nil (in English: The Land Between the Cataracts of the Nile) by Anton Prokesch von Osten. Prokesch von Osten was an Austrian diplomat and travel writer in the 19th century. There are many reasons why this travelogue today should be considered an important and interesing literary work. Firstly, the travelogue Das Land zwischen den Katarakten des Nil is rich in detailed descripions and historical, imagological, ethnographical and geographical informaion about the land to which Prokesch von Osten traveled in 1827 and that he described in his travelogue. Secondly, Anton Prokesch von Osten was a diplomat and a general, who had a very successful military and diplomaic career in Europe and in the Levant. Power and the poliics are therefore a very common moif in his literary works (not only his travelogues, but also the many other works that he wrote). Thirdly, the travelogue Das Land zwischen den Katarakten des Nil is a very interesing literary work from the imagological point of view; Prokesch von Osten doesn’t only describe the physical appearance, clothing, lifestyle, and customs of the Nubians and the Egypians, but also their religion, history, and art. Therefore, we try to explain in this aricle what the term “Power” means in this travelogue of Prokesch by applying some of the common imagological theories. Above all, we will try to describe the complex relaionship between the Egypians and the Nubians (Ethiopians), which is a very common moif in the art of the land „between the cataracts of the Nile“. In the end, we will also try to explain what territory the historical “land between the cataracts of the Nile” included and what the role of Viceroy Mehmed-Ali in the then poliical situaion of Egypt and Nubia was. Key Words: Anton Prokesch von Osten, Egypt, Nubia, Travelogue, Imagology, Power, Poliics Folia linguisica et literaria 113 UDK 323.1(=112.2)(498)"1945/1949" Macht versus Ohnmacht. Die Problematik der Deportation, exemplarisch dargestellt anhand ausgewählter Werke rumäniendeutscher Autoren Maria Sass, Sibiu, maria.sass@ulbsibiu.ro Abstract: Die Deportation ist in der Geschichte der deutschen Minderheit Rumäniens das wohl folgenreichste Ereignis. Das Geschehen hat schon in der Periode 19451949 stattgefunden, doch konnten wegen des zensurierten Literaturbetriebs im kommunistischen Rumänien keine Arbeiten zu diesem Thema veröffentlicht werden. Nach der politischen Wende von 1989 ist sehr viel Erinnerungsliteratur zum Thema geschrieben und veröffentlicht worden, auch wurden die Ereignisse wissenschaftlich in historischen und soziologischen Studien dokumentiert. Die vorliegende Arbeit setzt sich zum Ziel, die literarischen Strategien zeitgenössischer rumäniendeutscher Autoren an Texten zu untersuchen, in denen die Deportation als historisches Ereignis thematisiert und literarisch verarbeitet wird. Die Analyse soll an einem aus drei Romanen gebildeten Textkorpus - Januar‘ 45 oder die höhere Plicht (1998) von Erwin Wittstock, Bestätigt und besiegelt (2003) von Joachim Wittstock und Atemschaukel (2009) von Herta Műller – durchgeführt werden. Methodisch situiert sich der Aufsatz im Bereich einer kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft. Die drei Autoren behandeln die Deportationsproblematik aus verschiedenen Blickwinkeln. Von besonderer Bedeutung ist für das behandelte historische Ereignis die Überlagerung zweier Diktaturen. Schlüsselwörter: rumäniendeutsche Literatur, Deportation, kommunistisches Rumänien, zeitgenössische rumäniendeutsche Autoren, Kollektivtrauma, Macht, Ohnmacht, kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft Einleitung Die Entwicklung der rumäniendeutschen1 Literatur außerhalb des binnendeutschen Sprachraums, unter speziischen historisch-poliischen, sozialen Der Begrif “rumäniendeutsche Literatur” bezeichnet das deutsche literarische Schrittum auf dem Gebiete Rumäniens und umfasst die schritstellerischen Produkionen aller Provinzen (Siebenbürgen, Banat, Bukowina), in denen Deutsche gelebt haben. 1 114 Journal of Language and Literary Studies und kulturellen Bedingungen, hat ihr ein eigenes Proil verliehen. Die Vertreter dieser Literatur schöpfen ihre Stofe und Themen aus einem regionalen Repertoire, doch in ihrer Darstellungsweise ist die Tendenz zur überregionalen Geltung zu gelangen und im deutschsprachigen Raum Anerkennung zu inden, nicht zu übersehen. Das instere Kapitel der kommunisischen Ära (1945–1989) bietet für rumäniendeutsche Schritsteller zahlreiche Stofe zum Thema Poliik und Macht, die Deportaion zählt wahrscheinlich zu den folgenreichsten historischen Ereignissen dieser Gemeinschat. Das Geschehen hat schon in der Periode 1945-1949 statgefunden, doch konnten wegen des zensurierten Literaturbetriebs im kommunisischen Rumänien keine Arbeiten zu diesem Thema veröfentlicht werden. Nach der poliischen Wende von 1989 ist sehr viel Erinnerungsliteratur zum Thema geschrieben und veröfentlicht worden, auch wurden die Ereignisse wissenschatlich in historischen und soziologischen Studien2 dokumeniert. In der vorliegenden Arbeit sollen die literarischen Strategien untersucht werden, mit denen zeitgenössische rumäniendeutsche Autoren in ihren Texten die Themaik der Deportaion verarbeiten und vermiteln. Neben der Darstellung des Kollekivtraumas von einem Autor, der als Zeitzeuge dieses historische Ereignis erlebt hat, soll nach exemplarischen Schreibweisen einer Autorengeneraion der Nachgeborenen gefragt werden. Methodisch situiert sich der Aufsatz in den Bereich einer kulturwissenschatlichen Literaturwissenschat, die literarische Texte nicht bloß als „Dokumente für etwas anderes”, sondern als „Gegenstände der kulturellen Selbstwahrnehmung und Selbsthemaisierung” (Nünning/Sommer 160) aufasst. Der Titel Macht versus Ohnmacht bezieht sich auf zwei Kategorien, die in der Deportaionsliteratur reichlich verwendet werden: Der aus der Soziologie entlehnte Begrif Macht bezeichnet die Fähigkeit von Personen oder Interessengruppen, auf das Verhalten und Denken einzelner Personen oder sozialer Gruppen einzuwirken, um einseiig festgelegte Ziele zu erreichen. (Dicionary of Sociology, 515) Demgegenüber bedeutet Ohnmacht das Gefühl von Hillosigkeit und mangelnden Einlussmöglichkeiten im Verhältnis zu den eigenen Wünschen, subjekiv angenommenen und objekiven Notwendigkeiten oder dem Überlebenswillen. Ohnmachtsgefühle stehen mit Angst, Wut und Frustraion in Beziehung. Georg Weber, Renate Weber-Schlenther, Arnim Nassehi, Oliver Sill, Georg Kneer: Die Deportaion von Siebenbűrger Sachsen in die Sowjetunion 1945-1949. Köln, Weimar, Wien. Böhlau, 1995. Band III: Quellen und Bilder; Bd. I: Die Deportaion als historisches Geschehen; Hannelore Baier: Russland-Deporierte erinnern sich. Schicksale Volksdeutscher aus Rumänien 1945-1990. Bukarest, Verlag der Zeitung “Neuer Weg”, 1992; Gheorghe Oniṣoru: Das Drama der rußlandeporierten Deutschen aus Rumänien in der Erinnerungsliteratur. In: Deutsche und Rumänen in der Erinnerungsliteratur.Memorialisik als Geschichtsquelle. Hrsg. Krista Zach und Cornelius R. Zach. IKGS Verlag, Műnchen 2005 u.a. 2 Folia linguisica et literaria 115 Historischer Hintergrund Rumänien, das bis zum 23. August 1944 Bündnispartner Hitlerdeutschlands gewesen war, hate im Unterschied zu anderen südosteuropäischen Staaten (Polen, Tschechoslowakei, Ungarn) seine Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges nicht vertrieben. Obwohl viele Rumäniendeutsche (Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben) ihren Heeresdienst bei der Wafen-SS und der Wehrmacht geleistet haten, legte Rumänien die These von der Kollekivschuld der Deutschen anders aus als die anderen kommunisischen Staaten. Die Rumäniendeutschen wurden zwar nicht vertrieben, doch Repressalien, die undifferenziert angewandt wurden, standen auf der Tagesordnung der damaligen Regierungen. Zu den bekanntesten Formen der Repression ist die Deportaion vom Januar 1945 zu zählen, innerhalb derer die arbeitsfähigen Deutschen im Alter von 17 bis 45 Jahren in die Sowjetunion zur Wiederaubauarbeit verschleppt wurden; eng damit verknüpt war die Enteignung, die schon 1945 (mit der Agrareform) einsetzt und in deren Verlauf bis 1948 alle Unternehmen verstaatlicht werden. Der Ablauf der Deportaion begann schon 1944 mit einem Abkommen zwischen Churchill und Stalin, das die Länder des Balkans in Einlusszonen aufteilte, Rumänien kam laut dieser Vereinbarung zu 90% unter den Einluss der UdSSR. Demnach konnte die Deportaion nicht mehr verhindert werden. „Am 6.1.1945 ist als Note Nr. 031 im Namen der Alliierten Kontrollkommission für Rumänien die Auforderung an die rumänische Regierung ergangen, alle in Rumänien lebenden deutschen Einwohner (…) zur Arbeit zu mobilisieren.” (Breihofer 15) Die Regierung Rădescu (letzte nichtkommunisische Regierung) hat gegen die Deportaionsforderung protesiert. In einem Brief an Winston Churchill schätzte der Leiter der Naionalliberalen Partei, Dinu Brăianu, die Deportaion “als eine krasse Verletzung der rumänischen Souveränität und als einen Rückfall in jene Rassendiskriminierung [ein], deren Abschafung eine Bedingung des Wafensillstandes war.” (17) Die sowjeische Seite hate kein Ohr für die Proteste; es wurde behauptet, dass “die deutsche Minderheit in ein ausgedehntes Spionagenetz einbezogen sei.” (17) Demnach konnte die Deportaion nicht mehr verhindert werden; es war “eine wahllose Aushebung zur Zwangsarbeit, da Schuldige und Unschuldige gleichermaßen genommen wurden.” (20) Deportaion als literarisches Thema Die Deportaion von Rumäniendeutschen zur Zwangsarbeit konnte erst nach der Wende von 1989 in Rumänien zur Sprache gebracht werden. Bis zu diesem Zeitpunkt war dieses Thema ein von der kommunisischen Zensur streng überwachtes Tabu, danach entstanden ganz unterschiedliche Textsorten, ikionaler und nicht-ikionaler Art, die die Problemaik der Deportaion 116 Journal of Language and Literary Studies zum Gegenstand haben. Das Phänomen “Lager” und seine Wirklichkeit wurde beschrieben, relekiert und kommeniert. In diesem Kontext sollen bloß zwei prominente rumäniendeutsche Literaturwissenschatler, die in den letzten Jahren das Thema erneut aufgegrifen haben, erwähnt werden: Michael Markel und Georg Aescht, die nach der Legiimität der schönen Literatur fragen, dieses traumaische Ereignis, nach beinahe sieben Jahrzehnten, erneut aufzunehmen, nachdem das Thema Verschleppung und Zwangsarbeit in Gelegenheitsliteratur (im Lager entstandene Gedichte und Lieder) und Erinnerungsliteratur, an die junge Generaion vermitelt worden ist. Ein aus drei Romanen gebildetes Textkorpus – Januar‘ 45 oder die höhere Plicht (1998) von Erwin Witstock, Bestäigt und besiegelt (2003) von Joachim Witstock und Atemschaukel (2009) von Herta Müller – stellt die Grundlage der Analyse in der vorliegenden Arbeit dar. Das Textkorpus ist nicht aleatorisch aufgestellt, keiner der drei ausgewählten Autoren hat Lagererfahrung. Sie schreiben vor demselben geschichtlichen Hintergrund, doch bearbeiten sie die Problemaik der Deportaion aus verschiedenen Blickwinkeln: Erwin Witstock, beschreibt als knapp über der Altersgrenze liegender Nichtdeporierter die “Aushebung”, die letzten Tage vor der eigentlichen Verschleppung; der 1939 geborene Joachim Witstock3 erlebte als Kind die Deportaion – er wurde nicht deporiert – und schreibt über die Daheimgebliebenen; Herta Műller (geb. 1953) gehört zu der Generaion der Nachgeborenen, in ihrem Roman berichtet ein deporierter Ich-Erzähler über die Lagererfahrung in Transnistrien. Alle drei Autoren gehen in ihren Schilderungen auf Gewalt, auf staatlichen Terror und Repression in totalitären Staaten ein. Erwin Witstock: Januar `45 oder Die höhere Plicht Der 1899 in Hermannstadt geborene, 1962 in Kronstadt gestorbene Erwin Witstock, widmet sich in seinem umfassenden Werk (Novellen und Romane) der siebenbürgischen Geschichte. Die Beschätigung mit der Themaik der Deportaion kann seit Ende der 1940er Jahre nachgewiesen werden (J. Witstock 352) und, als Mite der 1950er Jahre der Roman abgeschlossen wurde, konnte dieser im kommunisischen Rumänien wegen der Zensur nicht publiziert werden. Der Deportaionsroman Januar‘45 oder Die höhere Plicht wurde in der Bukarester Zeitung Neuer Weg (heute Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien) in mehr als hundert Folgen (ab 13. Juni – bis 20. November 1991) und in Buchform im ADZ-Verlag erst 1998 (2. Aulage, 2002) posthum veröfentlicht. Die Deportaion als Individualgeschehen, exemplarisch an der Familie Fellner dargestellt, ist das zentrale Thema von Erwin Witstocks Roman, doch Joachim Witstock (geb. 1939) ist der Sohn des Schritstellers Erwin Witstock (18991962). 3 Folia linguisica et literaria 117 in Parallelhandlungen werden poliische Umbrüche und Wirtschatstransformaionen des Übergangs zur kommunisischen Diktatur aufgenommen. Aspekte siebenbürgisch-sächsischer Geschichte werden in die vielschichige Struktur eingeblendet, besondere Aufmerksamkeit wird dabei den sächsischen Tradiionen gewidmet. Die Deportaion, die eine verheerende Wirkung auf die weitere Existenz der Rumäniendeutschen hate, wollte Erwin Witstock als Augenzeuge an die nachkommende Generaion vermiteln. Der siebenbürgische Autor wählt, nach dem Vorbild von Honorẻ de Balzacs Roman Vater Goriot, die narratologische Struktur des Gesellschatsromans. In 59 Kapitel detaillierter Schilderung bewegter Zeitgeschichte der unmittelbaren Nachkriegszeit, wird die Vorbereitung zur Deportaion dargestellt, die letzten Kapitel des Romans zeigen das „Verladen“ der Sachsen in Viehwaggons, die von Angehörigen bis Jassy (rum Iaṣi) begleitet werden. Die Spannung wird von dem Verhältnis zwischen individuellem und kollekivem Schicksal gegeben, die Handlung trägt sich in allen Sozialschichten zu, im Mitelpunkt beindet sich der Tuchfabrikant Marin Fellner, der versucht, seine Kinder den Massenverhatungen zu entziehen. Der Protagonist hat den Höhepunkt seiner gesellschatlichen Existenz erreicht, in Rückblenden wird beschrieben, wie er es vom einfachen Arbeiter zur wohlhabendsten und einlussreichsten Persönlichkeit der Stadt gebracht hat. Doch wird auch sein Verfall gezeigt und, am Ende des Romans, sein Tod suggeriert, der symbolisch den Untergang der sächsischen Gemeinschat darstellt. Die letzten Seiten des Romans umfassen eine in einen Brief an Stalin aufgenommene eingehende Charakterisierung der siebenbürgisch-sächsischen Gemeinschat, der Autor vertrit die Meinung, dass zu den Haupteigenschaten seiner Landsleuten das Plichtbewusstsein gehört und somit den Unteritel des Romans “die höhere Plicht” begründet. Dieser Brief wird von Wiegand, einer Romangestalt, am Sterbebet Fellners gelesen. Als Besonderheit der Erzählkunst Erwin Witstocks ist die silisische und perspekivische Programmaik, mit der Wahl eines allwissenden Erzählers zu nennen, der eine als wahr proklamierte Geschichte vermitelt: eine grenzenlose, ad absurdum geführte Vaterliebe, die in einer auf moralische Unwerte wie Egoismus, Skrupellosigkeit, Eitelkeit und natürlich Geldgier gegründeten Gesellschat in den Ruin führen muss. Erwin Witstocks Protagonist passt sich an das unmoralische soziale Chaos an, wenn er beispielsweise den Polizeiquästor besicht, um die eigenen Söhne von der Deportaion zu befreien, und Peter, einen Bauernsohn, der im Haus des Protagonisten wohnt, in der rumänischen Armee gedient hat und deshalb nicht deporiert wird, überredet, sich zusammen mit seiner schwangeren Frau, an Stelle von Gustav, dem jüngsten Sohn der Hauptgestalt, deporieren zu lassen. Die ot schonungslose Darstellung der siebenbürgischen Gesellschat mündet schließlich in eine scharfe Kriik, denn die meisten Sachsen passen sich 118 Journal of Language and Literary Studies an die auf Korrupion basierende Gesellschat an, um die eigenen Ziele zu erreichen. Fellner erkennt zwar, dass die Geldixiertheit und Unersätlichkeit des Polizeiquästors, als Vertreter der rumänischen Behörden, seinen moralischen Aufassungen zuwiderläut, doch nimmt er diese an, in der Hofnung, dass seine Familie verschont bleibt. Zahlreiche Episoden zeigen den Protagonisten auf die “untere Stufe der menschlichen Würde” (E. Witstock 263) herabsinken. Doch gibt es auch mehrere Szenen, in denen Fellner über die proklamierte moralische Integrität der Siebenbürger Sachsen und seine Bereitschat zu korrumpieren, um die Söhne zu reten, kriisch relekiert. Das „realisische“ Erzählen E. Witstocks verlicht sich stellenweise, wenn auf die ethischen Werte der Siebenbürger Sachsen angespielt wird, mit einer stark mythologisierenden Komponente. Während der ganzen Handlung entpuppt sich der Autor als gesellschatlicher Analyst, Kriiker und Visionär zugleich, seine Gestaltungsweise charakterisiert sich durch Authenizität, die hauptsächlich vom Zusammenspiel von Fakizität (z.B. historisch genaue Orts- und Zeitangaben: “Mitwoch, dem 10., auf Donnerstag, den 11. Januar 1945, in winterlicher Sille…”; (226) und Fikionalität gesichert ist. Trefend charakterisiert Stefan Sienerth die Schreibweise Erwin Witstocks: Der Autor verfügt über die Fähigkeit der psychologischen Feinzeichnung, der Poinierung, der mehrfachen Begründung von Konliktsituaionen, er kann einen Handlungsverlauf streng komponieren, ihn nach Bedarf verdichten, verzögern oder beschleunigen. (…) Dabei verwendet der Autor eine Sprache, die fähig ist zur diferenzierenden Schilderung von Gefühlen, zu Charakterzeichnungen, zur Landschats- und Naturbeschreibung wie zur Wiedergabe von Relexionen und Zustandaufnahmen. Sie ist überwiegend nüchtern - auch dort, wo mythische Bereiche berührt werden – und um authenische Detailtreue bemüht. (Sienerth 329) In Erwin Witstocks Roman wird die Koexistenz von Elementen zweier Diktaturen deutlich hervorgehoben: sächsische Sympathisanten der Naionalsozialisten und im Gebirge versteckte deutsche Soldaten – “Marodeure der deutschen Armee” – (252) hofen auf das Wiederkommen der Deutschen, während die Städte von der russischen Armee besetzt werden. Kurze Kapitel zeigen das schnelle Tempo der Ereignisse: in Hermannstadt gibt es eine dominierende Atmosphäre der Angst – “Die Häuser sind dunkel. Die Villen liegen mit toten Fenstern in ihren Gärten. Die Tore sind versperrt. Kein Mensch ist zu sehen. Die Stadt, die Straßen, die Häuser machen schon den Eindruck des Verlassenen, des Ausgestorbenen” (68). Die Sachsen leiden an einer “fürchterlichen, nervenfressenden Angst” (70) und Vertrauenslosigkeit – ”Fürchte dich vor allen! Fürchte den Quästor, die Köchin, das Mädchen, den Peter, die Sophie und hundert ande- Folia linguisica et literaria 119 re. Fürchte jeden, mit dem du sprichst!”– (54); junge Leute sprechen von Selbsmord, Opportunisten, die der ausgehenden Macht angehört haben, beispielsweise der Polizeiquästor Florescu – “Der oberste Chef aller Kanalraten!”(34) –, beinden sich wieder an der Macht, jetzt mit den neuen Herren. Nach Meinung des Autors wird die erwähnte Situaion irgendwann aufgedeckt werden, denn “Niemand kann zwei Herren dienen!” (44); “Die Deutschen Siebenbürgens sind zur Zeit das passive Objekt eines durch die Presse geschürten Feldzuges [geworden]”– (150), sie leben wie Tiere – “Wir leben wie das Vieh!”–, (195) und dürfen keine Meinung haben: „Es ist ein natürliches Recht der Menschen, ihre Meinungen […] zu äußern. Wenn aber eine Diktatur durch eine andere abgelöst wird, geraten alle, die während ihrer Dauer nicht geschwiegen haben, in eine gefährliche Sackgasse, aus der zu entrinnen nur wenigen gelingt. Die einen sprechen im Sinne des Gewaltherrschers aus Überzeugung, andere aus Ehrgeiz und Machtgier, die nächsten, weil sie dem auf sie ausgeübten Zwang unterliegen oder aus Not oder Beschränktheit, weil ja jene, die niemals eine Meinung haben können, fremden Einlüssen am ehesten zugänglich sind und die Tatsache, daß die Diktatur keinen Widerspruch duldet.“ (157) Joachim Witstock: Bestäigt und besiegelt (2003) Joachim Witstock, Sohn des Schritstellers Erwin Witstock, 1939 in Hermannstadt geboren, lebt auch heute als freischafender Schritsteller in seiner Geburtsstadt. Er hat Germanisik in Klausenburg (1956-1961) studiert, war eine kurze Zeit als Deutschlehrer und Bibliothekar täig und hat dann in einem Forschungsinsitut der Rumänischen Akademie als Literatur-wissenschatler (19711999) gewirkt. Er debüierte mit Lyrik und widmete sich dann hauptsächlich der Prosa (Erzählungen und Romane). Die unmitelbare Nachkriegszeit und das “verfängliche” Thema der Deportaion in die Sowjetunion und in andere Orte der Verbannung Rumäniens (Tg.Jiu, Sighet/Maramuresch, Turda u.a) behandelt Joachim Witstock in dem Roman Bestäigt und besiegelt (2003). Die Deportaionsproblemaik ist nicht die einzige, die im Roman anklingt, sie ist mit anderen Stofen und Moiven verknüpt, die durch Vor- und Rückblenden in das Romanganze eingebetet sind. Die Dokumentaion wurde vor 1989 bewäligt und einige Teile des Romans vor der poliischen Wende in Rumänien verfasst, doch ist Bestäigt und besiegelt “im Großen Ganzen ein Nach-Wende-Produkt, glücklicherweise, weil nach 1990 das Zu-Sagende besser sagbar wurde.” (Schuller 59) Gatungsmäßig ist das Werk als Zeit- und Gesellschatsroman einzustufen, die Handlung beschränkt sich auf ein einziges Jahr (von Herbst 1945 bis Sommer 1946), und bietet auf 416 Seiten einen starken epischen Text, der nicht nur die Epoche der unmitelbaren Nachkriegszeit charakterisiert, sondern auch Aktualitätsbezüge hat. 120 Journal of Language and Literary Studies Anregungen für die Analyse inden sich in einem vom Autor gezeichneten Vorwort zum Roman, in dem die behandelte Problemaik als Tabu-Thema der kommunisischen Gesellschat gedeutet und auf die im Roman gebotene Perspekive hingewiesen wird: „Nicht das Geschehen in der Ferne, auf dem Schauplatz der Verbannung, wird geschildert, sondern fast ausschlieẞlich jenes daheim, in den Stäten der Aushebung. Erzählt wird von Trennung und von dem Wunsch nach Rückkehr.“ (J. Witstock 6) Joachim Witstock folgt der Erzähltradiion von Th. Fontane und Th. Mann (Sass 103). Kennzeichnend für seine Erzählweise ist die Verschränkung von Faktum und Fikion, doch ist es allseits bekannt, dass Dichtung nicht auf Fakten referiert, “sondern nutzt für den Aubau einer präzisen Unpräzision, einer besimmten Vagheit, einer polyvalenten Bedeutung, einer unantastbaren eigenen ästheischen Wahrheit” (Schuller 58). Bei Joachim Witstock gibt es für die eigentümliche Fikionalisierung, die Formel “dezent magisch” (58), denn in seiner Sicht will Literatur “traumhat Wahrscheinliches” darstellen. Es gibt im Roman zwei Haupfiguren, den Heltauer Notar Böhm und den Konsumschreiber Heinrich Schirmer, die aus unserer Perspekive als komplementäre Alter-ego-Figuren des Autors gelten. Der Notar Böhm, ein “Fossil altbürgerlicher Epoche” (286), erscheint einerseits als Brief-Chronist, andererseits als handelnde Gestalt und bürgt für die Einheitlichkeit des Erzählten. Demgegenüber ist Schirmer derjenige, der über das “verfängliche” Thema der Deportaion spricht. In den nie verschickten Briefen an seinen nach Russland deporierten Sohn, beschreibt der Notar Böhm die siebenbürgische Gesellschat gleich nach dem Zweiten Weltkrieg. Er will als “moralischer” Diagnosiker der Zeit aufgefasst werden und relekiert mit “notariellem Bedacht” objekiv über Ereignisse, die in dieser Zeitspanne ablaufen. Er beklagt die Zerstörung der sächsischen Gemeinschat aus Heltau bzw. Hermannstadt, doch vor dem Hintergrund lokaler Problemaik werden generell-menschliche Existenzprobleme angesprochen, beispielsweise die Klärung des Schuldhaten der Sachsen, unter denen es auch Verbrechen und Verbrecher gegeben hat. Es sei hier zumindest die Figur des NS-Arztes Dr. Detlef Lupini erwähnt, der unter Freunden und Verwandten Lussi (von Luzifer) genannt wurde, “ein dämonischer Verbreiter der Finsternis” (47), der sächsische Arzt, der in Wien als Euthanasiegutachter und an “mit deutscher Gründlichkeit abgewickelten Säuberungsakionen in den Spitälern und in den Asylen” (31) beteiligt und in “Tötungs-Afären” verwickelt war. Bei der Darstellung solcher Schuld-problemaik kann herausgelesen werden, dass die Grenze zwischen Schuld und Unschuld ot ließend ist. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die durch Rückblenden zu erfahren ist, veranlasst den Autor auch über die gestörte deutsch-jüdische Beziehung, über Anisemiismus in der Nachkriegszeit und über Judenverfolgung während des Krieges zu sprechen. Folia linguisica et literaria 121 Es gibt in Joachim Witstocks Roman zwei Moive, die als strukturbildend fungieren, jenes des Wartens und Finis Saxoniae bzw. Finis Transsilvaniae. Das Moiv Finis Saxoniae gilt als Konstante des Werkes Joachim Witstocks, es wurde unter verschiedenen Variaionen auch in anderen Werken aufgenommen und im Roman Bestäigt und besiegelt wird ihm große Aufmerksamkeit geschenkt. Der Autor erwähnt mehrere Faktoren, die am Zugrundegehen der sächsischen Gemeinschat mitgewirkt haben: an erster Stelle stehen die Naionalsozialisten, die die Sachsen ins Verderben geführt haben: “Der verhängnisvolle Naionalsozialismus hat dem Bauernvolk und auch den Städtern den Got genommen und ihnen dafür einen Götzen gegeben.” (41) Das von den Nazis Begonnene wird von dem “neuen Regime” durch Deportaion und Enteignung weitergeführt: “Man hat unten in der Ortschat schon viele aus ihren Wohnungen hinausgetan, und auch hier wolle man eindringen. Nichts ist heute vor der Habgier der neuen Herren sicher.” (313) Zur Zerstörung der sächsischen Idenität sollten auch der Verrat der sächsischen Opportunisten, “die Liquidierung der sächsischen Tagespresse” (313) und, nicht zuletzt, die Kirche, der vom Staat vorgeworfen wurde, “sie habe als naionalisische Insituion gewirkt” (99), eine Rolle spielen. Zur Sprache gebracht werden auch das Moiv des “Mitläufertums” und die Schuldproblemaik – „Man indet im Sachsenvolk kaum jemanden, der völlig unbelastet den vorangegangenen Zeiten mit ihren korporaiven Zwängen entronnen wäre, es kann sich eigentlich nur um eine möglichst geringe Belastung handeln. […] Die Sachsen, in ihrer Mehrheit des Mitläufertums in der Epoche naionalsozialisischer Parolen schuldig geworden […]“ (86/87), sowie die Beschreibung eines beinahe tragischen Bildes der Nachkriegsgesellschat: „Ein Winter naht, den wir so bald nicht vergessen werden. Lebensmitel sind beinahe nur im Schwarzhandel zu haben. Beheizung und Beleuchtung wurden so teuer, das viele Tausende die nächsten Monate in kalten, insteren Zimmern zubringen müssen.“ (78) Das Moiv des Wartens zeigt die seelische Krise der Daheimgebliebenen, die Deportaion – was neu ist an dieser Bewäligungsliteratur –, wird aus der Sicht der vor der Verschleppung, der Zwangsmigraion Verschontgebliebenen, erzählt und kommeniert. “Das Grundproblem ist die Verständigung und Selbstverständigung in einer Zeit, wo es um Leben und Tod geht, wo Nachricht und Gerücht nicht mehr unterscheidbar sind…” (Schuller 64), wenn eines gesagt und etwas anderes gemeint wird. Schirmer versucht durch verschiedene Wege mit den Verschleppten im Gespräch zu bleiben, wo der direkte Kontakt unmöglich ist, greit man zu anderen Miteln: Briefe, die nie verschickt werden, Tagebü- 122 Journal of Language and Literary Studies cher, Horoskope, Hellseherei, Telepathie, Traum-deutung, Wahrsagerei. Die Hauptbetonung fällt auf die Abwesenheit der Betrofenen, die Deportaion wird viel mehr als Leiderfahrung und Kollekivbuße für schuldhate Verstrickungen in den Kriegsjahren dargestellt. Meisterhat wird das Wartenkönnen geschildert: “Eine ganz besondere Leistung des Autors liegt in der erzählperspekivischen Fülle und genau gehörten Diferenziertheit sprachlichen Ausdrucks.” (Schuller 65) Diesbezüglich verdient auch die Sprache des Romans Erwähnung: neben der gehobenen Sprache und einem perfekten Satzbau sind die dialektale Färbung und die Verwendung fremdsprachiger Ausdrücke aus dem Rumänischen zu verzeichnen. (Einige Beispiele sind: „Und haben mich b o i c o t a t [boykotieren]“; „Sie haben mit Chlor die Amputaion gebrannt, den B o n t [stumpfer / ampuierter Fuẞ]“ (378); „Die Geheimnis-Polizei, ja, die S i g u r a n ṭ a, sie wusste viel über mich...“; „Und ich habe das a p r o b a t [einen Vorschlag billigen], und dann ist sie gegangen...“ (379) Herta Müller (geb. 1953): Atemschaukel (2009) Die heute bekannteste rumäniendeutsche Autorin, die die Deportaionsproblemaik in dem im Hanser Verlag publizierten Roman Atemschaukel aufgegrifen hat, ist Herta Müller, Nobelpreisträgerin für Literatur im Jahr 2009. Ihr Deportaionsroman ist das Buch einer Nachgeborenen, doch kannte sie Elemente der Lagerwirklichkeit schon aus der Familie (ihre Muter gehörte auch zu den Deporierten), auch führte sie Gespräche mit anderen Zwangsverschleppten und besuchte 2004, zusammen mit dem Dichterfreund Oskar Pasior (1927-2006) und dem Literaturkriiker Ernest Wichner (geb. 1952) Orte der Verbannung. Das Buch ist vor demselben poliisch-historischen Hintergrund geschrieben, wie die anderen beiden oben analysierten Romane, doch dieser spielt in diesem Lager-Buch kaum eine Rolle. Müllers Roman schildert Zwangsverschickung und Lagerwirklichkeit – Zwangsarbeit und Anstrengung bis zum Tod – aus der Sicht eines jungen Protagonisten und Ich-Erzählers, Leo Auberg. Der von Müller dargestellte Ort ist ein durch Hunger, mangelhate medizinische Betreuung, Todesnähe, durch Hass, Zynismus und Gewalt charakterisiertes Vernichtungslager aus Nowo-Gorlowka in der Sowjetunion, in dem die Inhatierten zu Arbeitssklaven herabgewürdigt werden. Der Roman umfasst 64 Kapitel, von denen nur das erste und die letzten sechs das Leben Leopold Aubergs außerhalb des Lagers beschreiben. Die Handlung setzt im Januar 1945 in Hermannstadt ein und endet 1950, nach der Entlassung aus dem Arbeitslager. Leopold spricht über seine traumaischen Erfahrungen mit niemandem, nicht einmal mit seiner Frau, die er nach der Entlassung heiratet. Die Ehe scheitert, der Protagonist emigrierte zuerst nach Wien, anschließend nach Deutschland, von wo er nicht mehr zurückkehrt, doch psy- Folia linguisica et literaria 123 chisch erholt sich Leo nie von diesem Trauma. Die meisten Kapitel sind sehr kurz und beschreiben episodenhat das Lagerleben. Mit großer Prägnanz werden Vor- und Rückblenden aufgenommen, die Rückblenden betrefen zwei Themen: einerseits familiäre Aspekte, andererseits den Umgang des Protagonisten mit seiner Homosexualität, die in der kommunisischen Gesellschat selbst Probleme verursachte. Die Vorblenden beziehen sich auf das Leben nach der Lagerzeit. Der junge Ich-Erzähler berichtet am Anfang des Romans, dass er von einer neuen Erfahrung, weit von der heimatlichen Enklave geträumt habe, doch was ihm dann geboten wird, ist eine krasse Wirklichkeit, die ihn das ganze weitere Leben begleiten wird: “Ich wollte weg aus der Familie und sei es ins Lager (…). Ich ging dümmlichtapfer und gefügig meinen Kofer packen.” (Müller 11) Er verabschiedet sich von der Familie, doch er merkt sich den letzten Satz der Großmuter, der im Text mit Großbuchstaben graphisch markiert ist und im Roman leitmoivische Funkion hat: “ICH WEISS DU KOMMST WIEDER!”, ein Satz, der, trotz aller Schwierigkeiten, ihm Hofnung macht, am Leben zu bleiben: “So ein Satz hält einen am Leben.” (14) Leopold wird zusammen mit anderen Siebenbürger Sachsen in einem Lastauto zur Messehalle der Stadt gebracht, der Deportaionsbefehl hate auch die Falschen getrofen, darunter Frauen mit Säuglingen, ältere Männer, Jugendliche, die noch im Kindesalter waren: “Wir waren in keinem Krieg, aber für die Russen waren wir als Deutsche schuld an Hitlers Verbrechen.”(44) In den Viehwaggons ahnen die Deporierten nicht, was auf sie zukommt: “Dass man nicht längst an die Wand gestellt und erschossen worden war, wie man es aus der Nazipropaganda von zu Hause kannte, machte uns beinahe sorglos.” (18) Hauptmoive des Romans sind Hunger, Heimweh, Idenitätsverlust und Entmenschlichung, diese sind meistens miteinander vernetzt. Zu Beginn des Romans, während des Transports, kennen die Verschleppten den gewaligen Hunger noch nicht, denn von Zeit zu Zeit werden ihnen nackte, blau gefrorene Ziegen in den Waggon geschmissen, die zuerst als Brennholz, dann auch als Nahrung verwendet werden. Die Beschreibung des Hungerleidens setzt im zweiten Kapitel ein: “Wie läut man auf der Welt herum, wenn man nichts mehr über sich zu sagen weiß, als dass man Hunger hat?” (25) Der Hungerengel begleitet die Hätlinge im Lager wie ein Schutzengel, doch ist er keinesfalls als Gesandter Gotes, sondern als Dämon aufzufassen. Ein zweites, durchgehendes Moiv des Romans, ist Heimweh, das auf komplexe Weise mit dem Hungermoiv verknüpt wird, denn “Heimweh nährt sich aus eingeblendeten Heimaterinnerungen und hält Heimkehrhofnungen in Traumprojekionen am Leben.” (Markel 58) Somit wird Heimweh ein Gegenspieler des Hungerengels: “(…) mein Heimweh [ist] nicht mehr empfänglich für Sehnsucht. Dann ist mein Heimweh der Hunger nach dem Ort, wo ich früher sat war.”(191) 124 Journal of Language and Literary Studies Erzählstrategisch werden einzelne Moive zu Moivketen gebündelt, die zur Darstellung der Lagerwirklichkeit beitragen sollen. Zum Hunger treten, beispielweise der Tod -“…die Todesursache heißt bei jedem anders, aber mit ihr dabei ist immer der Hunger”(90), der Idenitätsverlust und die deformierte Todeswahrnehmung. Das Kapitel Zement beschreibt wie sich der Hunger auf die Idenität auswirkt: “Der Hunger reißt die Poren auf und kriecht hinein. Wenn er drin ist, klebt der Zement zu; man ist zemeniert.”(39) An einer weiteren Stelle wird der Idenitätsverlust dargestellt: „Denn in der Dreieinigkeit von Haut, Knochen und dystrophischem Wasser sind Männer und Frauen nicht zu unterscheiden und geschlechtlich sillgestellt. Man sagt zwar weiter DER und DIE, wie man auch der Kamm oder die Baracke sagt. Und so wie diese sind auch Halbverhungerte nicht männlich oder weiblich, sondern objekiv neutral wie Objekte – wahrscheinlich sächlich.“ (158) Eine weitere Stufe der Degradierung, nach dem Idenitätsverlust der Insassen, ist die Enthumanisierung. Im Kapitel Eintropfenzuvielglück für Irma Pfeifer wird die im Lager erworbene seelische Kälte schmerzhat konkreisiert. Die Frau versinkt im Mörtel und es wird festgestellt: “Manch einer hat besimmt an Irma Pfeifer gedacht und an ihre Mütze und den guten Wateanzug, (…) weil Tote keine Kleider brauchen, wenn Lebende erfrieren.” (69) Allgemein hate sich ein Gleichgüligkeitsgefühl den Toten gegenüber eingestellt: „Wenn der Tote kein persönlicher Bekannter ist, sieht man nur den Gewinn (…) man muss ihn rasch nackt machen, solang er biegsam ist und bevor sich ein anderer die Kleider nimmt (…) Man handelt in stabiler Gleichgüligkeit, vielleicht in mutloser Zufriedenheit (…) Das Lager ist eine prakische Welt.“ (148) Die dargestellte Welt des Lagers wirkt umso bestürzender, wenn man als Leser feststellt, dass die Menschen auch gegenüber dem eigenen Tod abgestumpt sind: „Es war die Nacht vom 31. Dezember zum 1. Januar, die Neujahrsnacht im zweiten Jahr. Wir wurden um Halbnacht vom Lautsprecher auf den Apellplatz befohlen (…) Wir dachten, das ist die Nacht der Erschießung. Ich drängte mich in die vordere Reihe, dass ich unter den ersten bin, nicht vorher noch Leichen auladen muss – denn das Lastauto wartete am Straßenrand.“ (71) Keine Empathie, Regression in den Urzustand, Kampf ums Überleben, eine starke Degradierung des Moralgefühls, alles charakterisiert die Lagerinsassen. Der Advokat Gast, beispielsweise, isst das Essen seiner Frau, bis diese Folia linguisica et literaria 125 verhungert, danach sieht er sich um eine andere Frau um: “Mite Januar trug unsere Sängerin Ilona Mich den Mantel [seiner Frau].” (222) Die Einzigarigkeit dieses Romans ist nicht das “Was”, sondern das “Wie”: die knappe, präzise Sprache, ihre Bilder und die Moivverknüpfungen schafen eine eigene Sprachwelt für diese Welt des Inhumanen und der Zerstörung. Die reine poeische Erindungskrat der Autorin ermöglicht ihr den Schrecken und das Schreckliche in Bilder zu fassen. Das Schreckliche umfasst Angst, Hunger, Kälte, die „Hautundknochenzeit“, den „Hungerengel“, und lässt Herta Müller „zu den wichigsten Chronisinnen staatlichen Terrors“ (Paterno 101) werden. Fazit Die drei rumäniendeutschen Autoren beziehen sich in ihren Romanen auf den Zeitabschnit 1945 – 1949, der, obwohl sehr kurz, folgenreich für die Geschichte der deutschen Minderheit ist. Die aus verschiedenen Blickwinkeln dargestellte Problemaik der Deportaion wirt ein bezeichnendes Licht auf die grauenhate Macht zweier Diktaturen. Schwerwiegend erscheinen jedoch, die von Willkür und Eigennutz besimmten “Maßnahmen” gewesen zu sein, der an die Macht gekommenen proletarischen Herrschat, von der man weder die Strukturen, noch die Absichten kannte und die nicht bereit war, zwischen Schuld und Unschuld zu unterscheiden. Das brachte den Untergang der rumäniendeutschen Gemeinschat mit sich, denn die überwiegende Mehrheit der nach Deutschland Ausgewanderten berichtet, dass zu ihrem Entschluss, das Land zu verlassen, der Vertrauensverlust in die rumänischen Machthaber oder die rumänische poliische Elite nach Verschleppung in die Sowjetunion, Enteignungen und Diskriminierungen geführt habe. Literatur: Primärliteratur: Müller, Herta: Atemschaukel. Carl Hanser Verlag, München: 2009 Witstock, Erwin: Januar `45 oder Die höhere Plicht. ADZ-Verlag Bukarest: 2002. Witstock, Joachim: Bestäigt und besiegelt. Roman in vier Jahreszeiten. ADZ Verlag Bukarest: 2003 Sekundärliteratur: Baier, Hannelore: Russland-Deporierte ebreitrinnern sich. Schicksale Volksdeutscher aus Rumänien 1945-1990. Verlag der Zeitung “Neuer Weg”, Bukarest: 1992 Breihofer, Fritz (Hrsg.): Die Deportaion der Schäßburger in die UdSSR. Schäßburger Nachbarschat, Heilbronn: 1994. Dicionary of Sociology. Edited by John Scot and Gordon Marshall. 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Schuller, Horst: Fikion und Fikionalisierung in der Prosa von Joachim Witstock. In: Germanisische Beiträge. 25 (Sonderband). Universitätsverlag Sibiu/Hermannstadt: 2009. Weber, Georg/Weber-Schlenther,Renate/ Nassehi, Arnim/ Sill,Oliver/Kneer, Georg: Die Deportaion von Siebenbűrger Sachsen in die Sowjetunion 19451949. Bd. I: Die Deportaion als historisches Geschehen. Band III: Quellen und Bilder. Böhlau Verlag, Köln, Weimar, Wien: 1995. Witstock, Joachim: Erwin Witstock. Das erzählerische Werk. Dacia Verlag, ClujNapoca: 1974. Witstock, Joachim: Nachwort zum Roman Januar `45 oder Die höhere Plicht von Erwin Witstock, ADZ-Verlag Bukarest: 2002 Internetadressen: Aescht, Georg: “Literatur als Mitel gegen die Ratlosigkeit vor der Zeitgeschichte.” Siebenbürgische Zeitung, vom 3. Februar 2014. htp://www. siebenbuerger.de/zeitung/arikel/altearikel/1681-georg-aescht-literatur-als-mitel.html: 12.05.2016 Nünning, Ansgar und Sommer, Roy: “Kulturwissenschatliche Literaturwissenschaf.” htps://search.yahoo.com/search?p=N%C3%BCnning%2C++Ansgar+und+Sommer%2C+Roy++&ei=UTF-8&fr=chr-greentree_f&ilc=12&type=902615: 15.Mai. 2016 Folia linguisica et literaria 127 POWER VERSUS POWERLESSNESS. THE ISSUE OF DEPORTATION, EXEMPLIFIED BY SELECTED WORKS FROM ROMANIAN-GERMAN AUTHORS. Abstract: In Romanian-German history, deportaion is probably the most momentous event for the representaives of the German minority of Romania. The events are set in the period 1945-1949, but no work on the subject could be published because of the censored literature scene in communist Romania. Ater the poliical turn of 1989, a vast number of literature on the theme of deportaion has been writen and published, the events have also been scieniically documented in historical and sociological studies. The aim of the present work is to analyze the literary strategies which contemporary Romanian-German authors use in their texts to process and mediate the theme of deportaion. The analysis is to be carried out on a text corpus consising of three novels: -- Januar‘ 45oder die höherePlicht [January ‘45 or the higher duty] (1998) by Erwin Witstock,Bestäigtund besiegelt [Conirmed and Sealed] (2003) by Joachim Witstock and Atemschaukel [The Hunger Angel] (2009) by HertaMűller. Methodologically, the essay is situated in the ield of cultural studies literature. The three authors deal with the problem of deportaion from diferent points of view. For the historical event treated, the superposiion of two dictatorships is severe. Key Words: Romanian-German literature, deportaion, communist Romania, contemporary Romanian-German authors, collecive trauma, power, powerlessness, cultural studies literature Folia linguisica et literaria 129 UDK 821.112.2(436)(091) Andreas Okopenko, die österreichische Nachkriegsliteratur und das Politische Arno Herberth, Wien, arno.herberth@univie.ac.at Laura Tezarek, Wien, laura.tezarek@onb.ac.at Abstract: Kunst und Literatur hatten und haben in autokratischen Herrschaftsformen vorrangig eine dienende Funktion im Sinn einer Stärkung der von einer zentralen Macht vorgegebenen Doktrin. In den literarischen Epochen der Aufklärung, der Romantik und der Klassischen Moderne zeigten sich in den Künsten starke eruptive Kräfte, die gegen die Formvorgaben der „klassischen repräsentativen Ordnung“ (Rancière) opponierten. Die Sprachspielereien surrealistischer Prägung trieben diese Gegenbewegungen auf die Spitze, indem für die sprachlichen Zeichen ungeachtet ihres semantischen Gehalts Egalität beansprucht wurde. Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs wurde im deutschsprachigen Raum vor allem in Österreich an diese radikalen Konzepte der Klassischen Moderne angeknüpft. Die Position Andreas Okopenkos (1930-2010), der im Mittelpunkt dieses Beitrags steht, ist jedoch keine klar festlegbare und nicht unter eine konkrete literarische Strömung oder Gruppierung zu subsumieren. Von einer radikaleren Avantgarde wie der „Wiener Gruppe“ distanziert er sich zwar, grenzt sich aber deutlich von konservativen und reaktionären Tendenzen der österreichischen Literatur der 1950er- und 60erJahre ab. In seinen literarischen Texten provoziert er in formaler Hinsicht und zeigt gleichzeitig sozialkritisches wie politisches Bewusstsein. Der 1970 erstmals erschienene Lexikonroman steht paradigmatisch für Okopenkos Innovationsfreudigkeit und subtile Weltbeobachtung. Eine konventionelllineare Lektüre wird ad absurdum geführt, indem verschiedene Einträge dem Lexikon vergleichbar alphabetisch aneinandergereiht werden, eine Handlung nur andeutungsweise erkennbar ist und selbstreferentielle Passagen in bedeutender Anzahl aufzuinden sind. Verschiedene Eingänge und Wege werden in bzw. durch das rhizomartige Textmaterial ermöglicht. Worin liegt aber der speziisch politische Gehalt dieses Textes begründet? Der Beitrag verfolgt einen historisch-komparatistischen Ansatz und versucht, das subversive Potential von Andreas Okopenkos Lexikonroman vor der Folie historischer Beispiele, die moderne Schreibverfahren vorwegnehmen, besser zu proilieren. Schlüsselwörter: Avantgarde, österreichische Avantgarde, experimentelle Schreibverfahren, Montage, Aleatorik, Alinearität, Tristram Shandy, Andreas Okopenko 130 Journal of Language and Literary Studies Einleitung Es gibt keine unschuldige Dichtung. Ob intendiert oder nicht – literarische Produkion verhält sich immer in irgendeiner Weise zu jenen poliischen Verhältnissen, die im Umfeld künstlerischen Schafens wirksam sind. Literatur kann dabei einerseits als airmaive Krat autreten und hegemoniale bzw. autokraische Herrschatsformen fesigen helfen. Literatur kann andererseits aber auch dem poliischen Mainstream opponieren und durch ihr eigene Verfahrenstechniken auf formaler Ebene das, was gemäß einer poliischen Doktrin verborgen bleiben sollte, sichtbar machen (vgl. Rancière 14). Diese Gegenüberstellung steckt behelfsmäßig das Feld ab, innerhalb dessen Literatur und ihr poliischer Gehalt jeweils verhandelt werden. Zwischen diesen Polen sind zahlreiche Schatierungen und Mischungen vorstellbar, die etwa u.a. der Tatsache geschuldet sind, dass in poliisch stark restringierenden Systemen Zensurbesimmungen kunstvoll umgangen werden müssen. Seit der Zeit des Barock sind insbesondere formale Verfahrensweisen in der Literatur in Erscheinung getreten, die abseits einer klassischen Ästheik angesiedelt sind und die die teilweise sehr rigiden Gatungskonvenionen hinter sich lassen. In den Avantgarden zu Beginn und zur Mite des 20. Jahrhunderts werden solche Verfahrensweisen in radikalisierter Form aufgegrifen. Zusammen mit diesen gatungsbezogenen Innovaionen vollzieht sich auf der semanischen Ebene eine Wegbewegung von sinnzentrierten Inhalten und eine Hinwendung etwa zu sprachspielerischen Experimenten. Der österreichische Schritsteller Andreas Okopenko (1930–2010) ist zwar nicht der radikaleren Avantgarde zuzuordnen. Mitnichten verfolgt er jedoch ein Programm, das im Kontext der sehr massiven reakionären Strömungen der österreichischen Literatur der Nachkriegszeit stünde. 1970 publiziert er mit dem Lexikon-Roman einen Text, der ein bezeichnendes Beispiel für die Entgrenzung der Gatung „Roman“ darstellt. Moderne Gestaltungsprinzipien wie das der A-Linearität, der Montage oder der Reduzierung eines herkömmlichen Erzählzusammenhangs mit Figuren als HandlungsträgerInnen müssen jedoch radikaler umgesetzt werden, als es noch moderne Vorläufer dieser literarischen Schreibverfahren getan häten. Zu klären bleibt, worin der konkrete poliische Gehalt von Okopenkos Lexikonroman liegt und worin der Hang, den Bezug zur Wirklichkeit nicht gänzlich zu suspendieren, begründet liegt. Subversive Verfahren in der Literatur – Beispiele aus der Literaturgeschichte Ein frühes Beispiel aus der Literaturgeschichte, welches das provokaive Potenial literarischer Formen bestens veranschaulicht, ist Tristram Shandy von Laurence Sterne. Der als Ich-Erzähler eingesetzte Tristram versucht, seine Auto- Folia linguisica et literaria 131 biographie samt seiner Ansichten und Meinungen zu Papier zu bringen. Anstat jedoch mit der Geburt als selbstverständlichem Beginn eines Lebenslaufs anzufangen, verheddert sich der Erzähler durch diverse assoziaiv aneinandergeknüpte Abschweifungen immer mehr, sodass die Geburt bis ans Ende des Textes hinausgezögert wird. Die assoziaive Abschweifung wird in Tristram Shandy geradezu zum Bauprinzip erhoben und in zahlreichen LeserInnenansprachen auch selbst zum Thema gemacht. Der Roman ist krat dieses Spiels mit den LeserInnen als ein ani-teleologischer Erzähltext zu begreifen, der sich in parodisischer Manier von einem Gros der Romane des 18. Jahrhunderts abhebt. Diese haten laut Wolfgang Iser die Absicht, die Geschichte eines Helden als große „history“ zu erzählen und die „Bewährung von Normen und Idealen in der Zeit“ (Iser 12) zu veranschaulichen. „Ein solcher Bedeutungsträger ist Tristram nicht mehr; er schreibt folglich keine history, sondern nur ein Life, das nicht einer Vollendung zustrebt (…). Das Life bildet einen Umkehrkontrast zur history: stat alle Ereignisse des Lebens in das am Ende sinnfällige Ergebnis einzubinden, wird jedes Ereignis in seine Vorgeschichte ausgefächert, um seinen Ereignischarakter dadurch herauszustellen, daß es so, wie es gekommen ist, nicht unbedingt häte kommen müssen.“ (Iser 13) Was in Tristram Shandy auf formaler Ebene radikalisiert wird, ist ein typisch modernes Erzählverfahren, das einer a-linearen Erzählweise folgt. Dieses auf die Spitze getriebene Moment der A-Linearität ist jedoch nicht ein bloßer Selbstzweck poeischer Formgebung, sondern kann in poliischer Hinsicht so verstanden werden, dass damit der Fortschritsgläubigkeit einer Gesellschat eine Absage erteilt wird. Die geschichtsphilosophische Aufassung, dass eine Gesellschat bzw. die Menschheit zu immer größerer Vervollkommnung gelange und durch Produkiv- und Schöpfungskrat eine Verbesserung in allen Lebensbereichen erzielen könne (vgl. Rohbeck 14), wird durch eine mäandernde, die Koningenz der Ereignisse betonende Erzählanlage konterkariert. Bemerkenswert ist, dass dieser Befund nicht interpretatorisch gesitet werden muss, sondern von Tristram Shandy selbst suggeriert wird: „[S]o ist es durch langsames Vorwärtsschreiten auf dem Wege zufälligen Wachstums so weit gekommen, daß unsere physikalischen, metaphysischen, enigmaischen, technischen, biographischen, romanischen, chemischen und hebammischen Kenntnisse, nebst weiteren fünfzig Gatungen, die meistens auch auf ischen endigen, in diesen letzten zwei Jahrhunderten und etwas darüber, sich allmählich jener Aκμɳ1 ihrer Vervollkommnung genähert haben, von der wir, wenn wir nach dem Fortschreiten dieser letzten sieben Jahre schließen dürfen, nicht mehr weit enfernt sein können. Wenn wir sie aber erreicht haben, ist zu hofen, daß damit 1 = Akme, altgriech. für Höhepunkt. 132 Journal of Language and Literary Studies allen Arten von Schreibereien ein Ende gemacht werde − der Mangel an Schriten aber wird allem Lesen ein Ende machen; und das muß − wie Krieg Armut erzeugt, Armut aber wieder Frieden − natürlich wieder in Kürze jeder Art von Wissenschat ein Ende machen − und dann − müssen wir alle wieder von vorn anfangen; oder mit anderen Worten wir sind dann wieder da angelangt, von wo wir ausgegangen waren.“ (Sterne 75f.) Die Ablehnung eines Telos wird an dieser Stelle noch durch den Entwurf eines zirkulären Geschichtsverständnisses unterstrichen. In formaler Hinsicht ist jedoch die radikale A-Linearität der wesentliche Agent bei der Infragestellung eines teleologischen Weltverständnisses. Ein weiteres, aus der Klassischen Moderne bestens bekanntes Verfahren, das in Tristram Shandy zum Einsatz kommt, ist die ingierte Montage von suggeriertem Fremdtext, der in den Erzählverlauf integriert wird. Der Ich-Erzähler hält fest, dass er zunächst geboren werden müsse, bevor er getaut werden könne. Daran anknüpfend gibt er in einer Fußnote zu Protokoll, dass die römisch-katholische Kirche die Taufe von Noch-Nicht-Geborenen bei risikoreichen Geburten zulasse, sofern schon ein Teil des Körpers des zu Taufenden sichtbar sei. Die Doktoren der Sorbonne häten jedoch diese Besimmung dahingehend erweitert, „daß wenn auch kein Teil von dem Körper des Kindes sichtbar sein sollte, die Taufe desselben gleichwohl mitels Einspritzung – par le moyen d’une peite canulle – zu Deutsch, mitelst einer kleinen Spritze, zu geschehen habe.“ (Sterne 71) In weiterer Folge wird in derselben Fußnote noch der angebliche Originaltext der Anfrage an die Doktoren der Sorbonne und deren Antwort wörtlich – in französischer Sprache – ziiert. Anhand dieser Fingierung verschiedener Sprechweisen wird der Roman gleichsam qua suggerierter Montage geöfnet hin auf ein dialogisches bzw. polyphones Prinzip. Ein weiteres modernes Produkionsverfahren der Literatur, das schon im Barock prakiziert wird, folgt einem aleatorischen Prinzip und indet Ausdruck in der sogenannten Würfellyrik, wie sie z.B. Georg Philipp Harsdörfer in Deliiae Mathemaicae et Physicae propagiert: Einem Würfel sind auf dessen Seiten verschiedene Buchstaben bzw. Laute (z.B. sch, ch, ä, ö, Diphthonge, siehe Harsdörfer 513) aufgeprägt. Wörter werden auf diese Weise per Zufallsprinzip erwürfelt. Ist hier der Zufall ganz auf die Produzenten-Seite verlagert, so wird im 19. Jahrhundert das Prinzip des Zufalls auf der Rezipientenebene situiert, indem Texteile so angeordnet werden, dass keine klare, lineare Verlaufslinie den Rezepionsprozess vorgibt. Ein Beispiel dafür aus der französischen Moderne ist Stéphane Mallarmés Gedicht Un coup de dés. Folia linguisica et literaria 133 Abb. 1 aus Mallarmé 256f. Mit Hilfe dieser innovaiven Form werden die Lesenden zu Souveränen im Rezepionsprozess, da sie frei entscheiden können, welchen Weg und welche Sinnbildungen sie im Lesevorgang vornehmen. (Vgl. dazu auch Ernst 42) Der Roman des 19. und mehr noch des 20. Jahrhunderts wird durch die Anwendung diverser sich in der Klassischen Moderne weiterentwickelnder Verfahren wie etwa die Montage externen Textmaterials, a-lineare Erzählweisen, selbstreferenielle und essayisische Einschübe oder aleatorische Prinzipien gleichsam zu einem Sammelbecken, das ohne Rücksicht auf überkommene Gatungskonvenionen alles in sich aufnehmen und in dem sich alles mit allem vermischen kann. (Vgl. Rancière 31f.)2 Diese Mischungsverhältnisse werden im Verbund mit den hier proilierten Verfahren in Gatungshybriden der Avantgarde der Nachkriegszeit und auf spezielle Weise in Okopenkos Lexikon-Roman in innovaiver Form fortgeführt. 2 Rancière demonstriert diesen Umstand anhand des Balzac-Romans Verlorene Illusionen. 134 Journal of Language and Literary Studies Radikalisierung des Verhältnisses von literarischer Form und poliischer Aussage in der österreichischen Nachkriegsavantgardeliteratur Will man die europäischen Avantgarden zeitlich näher klassiizieren, so stößt man vor allem bei Peter Bürgers Theorie der Avantgarde und im späteren Diskurs sehr häuig auf eine Diferenzierung der Avantgarden in jene der 1910er und 1920er Jahre – ot als „historische Avantgarden“ bezeichnet – auf der einen Seite und auf die sogenannten „Nachkriegs-“ oder „Neoavantgarden“ um 1950 und 1960 auf der anderen. Abgesehen von der Tatsache, dass diese These in den vergangenen Jahrzehnten generell in Frage gestellt wurde (u.a. bei Foster und Van den Berg), so stellt sich die Situaion in Österreich auch insofern als eine spezielle dar, da es hier nie zu einer ausgeprägten literarischen Avantgardebewegung vor oder zwischen den beiden Weltkriegen kam (vgl. Kastberger 2009, 35), was wiederum als eine Erklärung für die beispiellose Produkivität der Avantgarden in den 1950er und 1960er Jahren herangezogen werden könnte. Eine Rolle wird auch der Umstand gespielt haben, dass durch die konservaive österreichische Kulturpoliik eine Rückbesinnung auf Geschichte und Kultur des Landes zur Schafung und Stärkung einer gemeinsamen Idenität nach 1945 gefördert werden sollte (vgl. u.a. Matl 32f. u. 37): Alles, was von diesem Österreichbild abwich oder auf eine Zersetzung und Zertrümmerung der deutschen Sprache abzielte, wurde schnell als minderwerig klassiiziert oder gar zensuriert. Am 31. März 1950 trat überdies das „Bundesgesetz über die Bekämpfung unzüchiger Veröfentlichungen und den Schutz der Jugend gegen sitliche Gefährdung“ in Krat, dessen Anwendung auch auf die Texte der Nachkriegsavantgarde mehrfach gefordert wurde, und gegen welches die jungen progressiven SchritstellerInnen natürlich hetig opponierten (vgl. Okopenko, „Die schwierigen Anfänge“ 24f.). Andreas Okopenko spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Vernetzung dieser jüngeren AutorInnengeneraion, nicht zuletzt wegen seiner Täigkeit im Redakionsteam der Zeitschrit Neue Wege, die der Kulturvermitlung an SchülerInnen dienen sollte, und als Herausgeber seiner eigenen Zeitschrit publikaionen einer wiener gruppe junger autoren (1951–1953). Aus seinen Essays und noch unveröfentlichten Tagebüchern geht hervor, wie sich ein Netzwerk junger AutorInnen (u.a. Okopenko, H.C. Artmann, Ernst Kein, Friedrich Polakovics) ab Jänner 1950 rund um das Redakionsteam der Neuen Wege entwickelte. So heterogen die in diesem Umfeld entstandenen Texte auch sind, und so unterschiedliche literarische und poliische Haltungen diese jungen AutorInnen auch haben, so simmen sie doch darin überein, dass sie ihre Literatur als „progressiv“ oder vielmehr „modernisisch“ verstehen und sich gegen die oben erwähnte „Praxis der Restauraion“ (Schmidt-Dengler 46) richten. Unter den jungen österreichischen NachkriegsavantgardeautorInnen bildet sich eine Gruppierung, die radikalere Wege geht. Okopenko beschreibt Folia linguisica et literaria 135 sie als „die Avantgardisten der sprachlichen, typographischen und dramaturgischen Spiele in Nachbarschat der poésie concrète und des Absurdismus“ und, im engeren Sinne, als „die damals noch nicht so genannte ‚Wiener Dichtergruppe’“ oder „Wiener Gruppe“. (Okopenko, „Die schwierigen Anfänge“ 35) Durchaus in der Tradiion der europäischen Moderne – auf die Lautpoesie im Dadaismus und vor allem auf den Surrealismus zurückgreifend – wird, auf formalen literarischen Experimenten basierend, in der „Wiener Gruppe“ und ihrem Umfeld zu Beginn der 1950er Jahre ein „intellektuell vertretbares allgemein güliges prinzip zur produkion von kunstwerken“ (Adrian 107) gesucht. Die hier diskuierte Dichtung fußt auf egalitären Grundsätzen: Es handelt sich um „eine methodische hervorbringung von literatur, die es jedem ermöglichen sollte, zu dichten“ (Rühm, „Die Wiener Gruppe“ 14) und die damit zur „gebrauchsanweisung“ (ebd.) wird. In Zusammenarbeit mit Marc Adrian und dem chilenischen Dichter und Künstler Ivan Contreras-Brunet wird der sogenannte „methodische Invenionismus“ entwickelt, ein Schreibverfahren, das auf der Verbindung von mathemaischen Ordnungsprinzipien (z.B. der Fibonacci-Reihe oder den Prinzipien des Goldenen Schnits) und Zufall basiert; u.a. aus Wörterbüchern werden Wörter ausgewählt, die beispielsweise nach Wortarten gelistet und mit Füllwörtern ergänzt in Sätze gefügt werden (vgl. Rühm, „methodischer invenionismus“ 760) oder nach „Ordnungsprinzipien wie (…) Alphabet, Zahlenreihen, Algorithmen, staisische[n] Häuigkeiten und Wahrscheinlichkeiten“ (Kastberger 2009, 38) gereiht werden. Der Fokus auf Sprachrelexion und Sprachzerstörung und die Radikalisierung der Form, die ot als kennzeichnende Merkmale der österreichischen Nachkriegsavantgardeliteratur herangezogen werden (vgl. Schmidt-Dengler 50f.), sind hier auf die Spitze getrieben. Die Posiionierung Andreas Okopenkos und seines Lexikon-Roman Mit diesem Beispiel wurde im Spannungsfeld der österreichischen Nachkriegsliteratur das eine Extrem radikaler Formgebung in Form von Spielen mit Zufall und mathemaischen Ordnungsmustern, die „das sprachliche material (…) in einen semanischen schwebezustand“ (Rühm, 14) bringen sollen, angesprochen. Andreas Okopenko ist formalen Experimenten gegenüber durchaus aufgeschlossen. Trotz aller Lust am Spiel, die seinen Texten ebenfalls in hohem Maße eigen ist, steht er jedoch Verballhornung und Parodie – wie etwa in Gerhard Rühms bundeshymne, um einen schrit weiter, in der jedes Wort der österreichischen Bundeshymne durch das ihm im Wörterbuch nachfolgende Wort ersetzt wird – durchaus auch kriisch gegenüber und bezeichnet derlei Texte als bloße „Spielerei“, um „die Bürger (…) vor den Kopf zu stoßen“ (Nachlass Okopenko, LIT 399/W151/5). Im Jänner 1953 noiert er, nachdem er für den polii- 136 Journal of Language and Literary Studies schen Wirklichkeitsbezug seiner Gedichte von den radikaleren Avantgardisten kriisiert worden war, in sein Tagebuch: „Diese kriegerische Form ohne Inhalt …“ (Nachlass Okopenko, LIT 399/W163). Was ihn von den oben genannten Avantgardisten somit unüberbrückbar trennt, ist der Umstand, dass für ihn „immer die Übertragung erlebter Primärwirklichkeit im Mitelpunkt“ (Okopenko, „Konkreionismus“ 64, Hervorh. i. O.) steht: Er gibt damit ein Bekenntnis zum Realismus ab, d.h. dazu, dass es „eine von unserem Bewusstsein unabhängige Wirklichkeit“ (ebd.) gebe, die wir mit unseren Sinnen und unserem Gehirn erfassen können und die in konkreter Weise begrifen werden solle (vgl. ebd. 67). „[A]us der Lektüre in die Welt“: Diese konkreionisisch-realisische Posiion, mit der er sich von der „Wiener Gruppe“ deutlich abgrenzt, kommt nicht nur in seiner Lyrik zum Ausdruck, sondern auch in der Prosa, unter anderem im 1970 erschienenen Roman Lexikon einer senimentalen Reise zum Exporteurtrefen in Druden, der, in einem formalen Sinne, ein höchst experimentelles Werk darstellt. Was kann man sich unter einem „Lexikonroman“ vorstellen? Das Material des Romans, die knapp 800 Textbestandteile (vgl. Waid-Cuchnal 64), sind mit Schlagwörtern versehen, und, wie in einem Lexikon, alphabeisch geordnet. Auch ihnen ist eine Gebrauchsanweisung vorangestellt. In den Lexikoneinträgen inden sich Hinweispfeile, die mögliche Lesepfade anzeigen und beherzigt oder übergangen werden können. Wie bei Mallarmé kommt den Lesenden eine konsituive Funkion zu, da es keinen linearen, vorgegebenen Leseweg mehr gibt: Sie entscheiden, welchen Weg durch den Text sie wählen, und werden vom Autor in der Gebrauchsanweisung angehalten, sich aus dem Buch selbst einen Roman zu basteln (vgl. Okopenko, „Lexikon-Roman“ 5), den Verweispfeilen zu anderen Einträgen zu folgen, kreuz und quer – „so wie Sie sich ja auch an Ihren Feldwebel, Ihre erste Flaschenmilch und Ihr küntiges Zimmer im Altersheim durcheinander erinnern können“ (ebd. 7) – oder von A bis Z lesend: Der Lexikonroman wird zum „Spiel, das nicht nach einmaligem Gebrauch ausgespielt ist“. (Ebd.) Das aleatorische Prinzip, das die LeserInnen zu obligaten MiterschaferInnen der literarischen Welt des Lexikonsromans macht, bringt Okopenko in der Gebrauchsanweisung explizit ins Spiel: „Blätern Sie später wahl- und gedankenlos in dem Buch oder benützen Sie das Würfelspiel Ihres Kindes. (‚Man überschlage drei Kapitel’ oder ‚man kehre zum Ausgangspunkt zurück’.)“. (Ebd.) Die sich dadurch ergebende a-lineare Erzählstruktur bildet ein rhizomariges oder hypertextuelles Textgewebe, das sich „der realen Wahrnehmung des Reisens und seiner Möglichkeiten verplichtet sieht“ (Kastberger 1998, 92). Demnach wird auch das Exporteurtrefen in Druden, auf das die Reise im Unteritel des Romans hinauszulaufen scheint, nicht eingelöst. Ein solcher, auf ein Ziel hin angelegter Handlungsverlauf, würde nicht „die Welt in ihrer Möglichkeitenstruk- Folia linguisica et literaria 137 tur, mit all den denkbaren Verzweigungen“ (Teilvorlass Okopenko, LIT 439/W3) zeigen, die Okopenko erzählen will: „Das ist Welt. In vorgeschriebener Reihenfolge vorgeschriebene Blicke zu werfen, ist hingegen klassische Lektüre oder vortauweterlicher Ost-Tourismus. Ich will Sie – versuchen wir es einmal – aus der Lektüre in die Welt befreien.“ (Okopenko, „Lexikon-Roman“ 7, Hervorh. i. O.) In der ständig wechselnden Erzählperspekive kommt auch im Lexikonroman ein polyphones Prinzip zum Tragen: Eine Haupfigur ist auch nur noch ansatzweise vorhanden; es handelt sich um den Chemiekaufmann J., der manchmal als Erzähler autrit, „manchmal personal angesprochen wird“ (Kastberger 1998, 93) und in vielen Einträgen auch gar nicht vorkommt: Es gibt keinen Helden, der eine sinnsitende Rolle spielt. Häuig meldet sich auch scheinbar der Autor selbst zu Wort, der manchmal von sich selbst in der driten Person Singular als „Der Autor“ spricht, manchmal in der ersten Person Singular durchaus auch fakisch nachprübare Details aus Okopenkos Leben wiedergibt und so Authenizität ingiert. Auch über Okopenko in der driten Person wird im Lexikonroman gesprochen („Okopenko etwa häte gesagt …“, Okopenko, „Lexikon-Roman“ 39) und sogar Figuren, die im Text vorkommen, erwähnen ihn: „ich verstehe eigentlich nicht, wieso Künstler (…) oder Poeten wie dieser Okopenko einen Narren an Kunststofen gefressen haben“ (137). Hier ist der montagearige Charakter des Textes unübersehbar und spiegelt sich vor allem auch im Entstehungsprozess des Romans wider, zu dem Okopenko sein Vorgehen dokumeniert hat: „Materialsammlungen: Abgehen der Auen, Yachthäfen, Schuthalden etcetc. mit dem Stenogrammblock. Langes Sammeln aller ‚nöigen’ Details zu ‚Hunde’, ‚Fischer’ usf. Heranziehen alter Zetelsammlungen und Zeitungsausschnit-Archive zu vielen Arikeln des Romans. Besonders Gesprächsfetzen, Material zu Werbung, Sprachklischee, Geschlechtermisere.“ (Teilvorlass Okopenko, LIT 439/W3) Die Parizipaion der Lesenden geht jedoch noch über die Wahl des jeweiligen Lektürewegs hinaus, sie sollen auch akiv täig werden und den Roman mitgestalten, denn ihnen werden unter besimmten Sichwörtern Anweisungen gegeben wie „Raum für einschlägige Erinnerungen des Lesers“ (Okopenko, „Lexikon-Roman“ 12), „Raum für die Eintragung durch den Leser“ (365), „Raum zum Einkleben eines Gedichtes voll lauter Abstracis oder Pseudoconcreis“ (40) oder aber auch „Raum zum Einkleben eines wasserbeschlagenen Glases“ (351), auf die jeweils einige Leerzeilen folgen. Dementsprechend wird im Eintrag „Burg 5“ angemerkt: „Der Autor soll dem Leser nicht jede Arbeit wegnehmen“. (54) Außerdem wird vorgeschlagen, jedes Sichwort auch in einem tatsächlichen Lexikon, in „einer Etymologie oder auch sinngemäß in Kompendien der Technik, Eroik, Völkerkunde, Psychiatrie etcetc, bei Marx, Wit- 138 Journal of Language and Literary Studies genstein oder in der Bibel nachzuschlagen“ (120), d.h. die Lektüre eigenständig mit Fremdtexten anzureichern. Andere Einträge wiederum bestehen aus essayisischen Einschüben – manche durchaus in ironischem Ton –, die Okopenko im Begleitschreiben zum Lexikon-Roman „Mini-Essays“ nennt, die „dem Roman eingegliedert“ (Teilvorlass Okopenko, LIT 439/W3) werden sollen in Notwehr gegen Missverstehen (vgl. Okopenko, „Lexikon-Roman“ 30), so z.B. zu „airmaiver Dichtung“ oder „Poliik“: „Poliik. Um Rätselraten zu sparen: Der Autor des Lexikonromans möchte eine Menschheit, die unter den Kondiionen von LIBERTÉ EGALITÉ FRATERNITÉ bestandfähig ist, zum Sozialismus nicht geprügelt zu werden brauchte, in ihm die Individualität und alle anderen Wert- und Lusfaktoren höchst entwickeln könnte, keine Repression mehr kennt und alle Intelligenz an Stabilisierung und Intensivierung des Lebens wendet. Der Autor des Lexikonromans ist also poliisch unzufrieden, “ ungebildet, “ ungläubig “ unentschlossen, “ unwirksam.“ (Okopenko, „Lexikon-Roman“ 276) All diese Faceten ergeben gemeinsam einen höchst heterogenen avantgardisischen Text, der auf der einen Seite dem reakionären kulturpoliischen Mainstream opponiert, indem mit tradiionellen Lesegewohnheiten gebrochen wird: der Autor will, wie es im Lexikonroman heißt, „sich und die Leser aus dem Schnarchluß stören. Darum immer wieder Stromschnellen: Gedankensprung, Blicksturz, Afektwechsel, Phrasenverstellung, Neologismus.“ (86) Übertreibungen und Verdrehungen sollen dabei helfen, „die ausgeleierten Gleise im Leser zu umfahren“ (86) und damit Erwartungsmuster zu unterlaufen. Darüber hinaus werden die Lesenden zur Parizipaion eingeladen, die sie zu miterschafenden KomplizInnen des Autors macht. Gleichzeiig aber trit Okopenko auf formaler Ebene radikaleren avantgardisischen Diskursen, die etwa Egalität aller sprachlichen Zeichen beanspruchen und keine Form von Erzählen mehr zulassen, entgegen, indem er einen noch in Ansätzen nachvollziehbaren Reiseweg anbietet, dem die LeserInnen als einer von verschiedenen Lesemöglichkeiten über kursiv gedruckte Verweispfeile folgen können.. Es verwundert daher nicht, dass es „um 1970 kaum ein zweites Buch [gab], das an so viele Fronten und kaum einen Autor, der – wie er selbst sagt – zwischen so viele Stühle geriet. Wahrscheinlich macht gerade das eine Qualität des Romans aus: Daß er weder von den ‚Experimentellen’ noch von den ‚Poliischen’, weder von den Anhängern des Nouveau Roman noch von jenen des Pop-Romans als einer der ihren gesehen werden Folia linguisica et literaria 139 konnte und doch mit all diesen Richtungen irgendwie in Verbindung stand.“. (Kastberger 1998, 97f.) Okopenko ging es nicht darum, VertreterInnen dieser Strömungen oder einen Laurence Sterne bloß nachzudichten. Mit seiner Begründung der Gatung Lexikonroman gelingt es ihm, eine Vielzahl dieser Strömungen für sein eigenes Schreiben produkiv werden zu lassen, das Prinzip der A-Linearität und der Abschweifung zu einem rezepionsästheischen Gestaltprinzip zu erheben sowie mit Sprachlust und Wortspielerei einem Wirklichkeitsbezug verplichtet zu bleiben, ohne den sich sein Witz und Humor gar nicht enfalten könnten. 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In the literary era of enlightenment, romanicism and modernity, strong erupive forces appeared that oppose tradiional literary genres of the classical representaive system. Surrealisic plays on words took those counter movements to extremes by claiming equal status for linguisic signs, regardless of their semanic content. Ater the catastrophe of the Second World War, Austrian writers adopted these radical concepts of classical modernity. However, Andreas Okopenko’s (1930–2010) posiion is not easy to deine and does not fall into a paricular literary trend or school of thought. He does not ailiate with a more radical avant-garde, such as the “Wiener Gruppe”, but also distances himself from conservaive and unprogressive trends in Austrian literature in the 1950s and 60s. Although his work is provocaive with regard to formal aspects it does relect socio-criical and poliical awareness. Okopenko’s encyclopedic novel “Lexikon-Roman”, published in 1970, stands paradigmaically for his drive to experiment with formal innovaions and for his subtle observaions. He suggests an a-linear reading by stringing diferent lexicon entries together, following the alphabeical order and thus comparable to an encyclopedia. There is almost no plot, but many parts referring to a metadiscourse. There are diferent possibiliies to start reading and the reader can ind many ways in and through the rhizome-like work. But what are the speciic poliical implicaions that are transported by Okopenko’s literary concept? This aricle follows a historical comparaive approach and situates Okopenko’s work in the context of Austria’s post-war avant-garde. Key Words: Avant-garde, Austrian Avant-garde, experimental wriing, montage, aleatorics, a-linearity, Tristram Shandy, Andreas Okopenko Folia linguisica et literaria 143 UDK 821.112.2.09 Historische Wirklichkeit im Spiegel des Magischen Realismus Maja Stefanović, Niš, stefanovic.maja@yahoo.com Abstract: In der vorliegenden Arbeit wird die theoretische Entstehung und Entwicklung des Magischen Realismus im Rahmen der deutschen Literaturwissenschaft behandelt. Im Gegensatz zu den visuellen Künsten und anderen Literaturen fand dieser Begriff in der deutschsprachigen Literatur keinen großen Anklang. Das könnte am Oxymoron liegen, das den Zugang erschwert oder am politischen Klima seiner Entstehungszeit. Das literarische Konzept des Magischen Realismus wird in erster Linie mit der lateinamerikanischen, westafrikanischen und postkolonialen Literatur assoziiert. Der Terminus ,,Magischer Realismus“ wurde jedoch 1923 von dem deutschen Kunstkritiker Franz Roh als ästhetisches Konzept für die nachexpressionistische Malerei Deutschlands verwendet und ist später auch auf die Literatur übertragen worden. Obwohl der Magische Realismus niemals zu einer kohärenten Schule bzw. Bewegung konstituiert wurde und sich in der deutschsprachigen Literatur nicht etabliert hat, lässt sich auch in der deutschen Literaturwissenschaft ein relevanter theoretischer Faden nachweisen. Angesichts dessen wird aufgezeigt, dass es sich beim Magischen Realismus um keine Dominante der hispanoamerikanischen Literatur handelt, sondern um ein universelles, literarisches Konzept, dessen Bestreben es ist, die komplexe historische Wirklichkeit einzufangen und sie künstlerisch wiederzugeben. Darüber hinaus ist das Ziel dieses Aufsatzes, anhand der Betrachtung verschiedener germanistischer Beiträge, den politischen, geistesgeschichtlichen und gesellschaftlichen Zusammenhang des postmodernen Erzählstils zu betonen sowie auf seine kritische, subversive, orientierende und humanistische Tendenz hinzuweisen. Schlüsselwörter: Literaturwissenschaft, Gegenwartsliteratur, Magischer Realismus, Erzählstil Einführung Eine der literarischen Möglichkeiten, die gesellschatspoliische Wirklichkeit einzufangen, ist der Magische Realismus, der seit mehreren Jahrzehnten großes Interesse bei der Literaturwissenschat erregt, gerade wegen seiner Komplexität und dem Widerspruch im Begrif selbst. Die Rede von einem ,,Magischen Realismus“ beruht auf der Synthese zweier, miteinander unverträg- 144 Journal of Language and Literary Studies lich scheinender Elemente. In der Literaturwissenschat wird das Konzept des Magischen Realismus im Bereich des Romans und anderer narraiver Formen verwendet, wo es sich ,,auf das Zusammenspiel von realisischen und nichtrealisischen Elementen bezieht“ (Nünning 416). Es handelt sich um eine narraive Technik, die Fantasisches mit roher physikalischer oder sozialer Realität in Verbindung setzt, auf der Suche nach einer Wahrheit, die über das, was im Alltagsleben an der Oberläche greibar ist, hinausgeht. Durch die lateinamerikanische Literatur erlangte der Magische Realismus seinen weltweiten Ruhm. Trotz dieser Tatsache soll die Ideenschöpfung für das magisch-realisische Konzept nicht nur auf dem Gebiet Lateinamerikas gesucht werden. Die internaionale Anerkennung der magischen Realisten aus Südamerika ,,führte zu einer ungenauen Annahme, dass der Magische Realismus ein speziisch lateinamerikanisches Phänomen der Literatur ist“, ohne dabei seinen kunsthistorischen Zusammenhang zu berücksichigen (Bowers 16). Da der erwähnte Literatursil in erster Linie, aber nicht ausschließlich, als eine besondere Form der Wirklichkeitswahrnehmung in der hispanoamerikanischen Literatur betrachtet wird, ist es interessant, auf seine theoreische Genesis in der deutschsprachigen Literatur hinzuweisen, die in diesem Kontext nicht weniger wichig ist, sondern, ganz im Gegenteil, die Wiege des erwähnten Terminus darstellt. Die Begrifsbesimmung des Magischen Realismus liegt für die deutsche Literatur, im Gegensatz zu visuellen Künsten und anderen Literaturen, insbesondere der lateinamerikanischen, bisher in keiner zufriedenstellenden Form vor. Das könnte am Oxymoron des Begrifs liegen, das den Zugang erschwert, sowie am poliischen Klima seiner Entstehungszeit. Der Aufsieg des Naionalsozialismus 1933 hat dazu geführt, dass ,,magische Realisten“ emigrierten oder Teil der inneren Emigraion wurden (Menton 16). Nicht weniger wichig für die geringe Etablierung des Terminus in Deutschland ist die Annahme, dass der ,,Magische Realismus in den zwanziger Jahren fälschlicherweise mit dem Begrif Neue Sachlichkeit verwechselt und schließlich von ihm verdrängt wurde“ (Menton 16). Ein weiterer Grund könnte auch darin liegen, dass der Surrealismus, der sich gleichzeiig mit dem Magischen Realismus entwickelte, ,,ein klares künstlerisches Programm und eine dramaischere experimentelle Form hate“, die ,,auf den Magischen Realismus einen Schaten warf“ und ,,höhere Aufmerksamkeit der internaionalen Kunstszene auf sich zog“ (Menton 16). Ein solcher Sachverhalt hate zur Folge, dass die Künstler das magisch-realisische Konzept verließen und den Surrealismus als ihre Ausdrucksform akzepierten. Zur Herkunt des Begrifs Aubauend auf den Überlegungen Franz Rohs aus den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts soll im Folgenden versucht werden, zu einer theoreischen Besimmung des Magischen Realismus für die deutsche Literatur zu Folia linguisica et literaria 145 gelangen.1 Aus der Synthese dieser Untersuchungsschrite soll sich die Deiniion des Magischen Realismus im Kontext seiner soziopoliischen Entstehungsfaktoren ergeben. Der Begrif ,,Magischer Realismus“2 wurde erstmals 1923 von dem Kunsthistoriker Franz Roh in seinem Aufsatz Zur Interpretaion Karl Haiders. Eine Bemerkung auch zum Nachexpressionismus verwendet. Der Aufsatz wurde zwei Jahre später zum Bestandteil des Buches, das 1925 unter dem Titel Nachexpressionismus. Magischer Realismus. Probleme der neuersten europäischen Malerei veröfentlicht wurde. Weil der Begrif hier erstmals in einem Buchitel autaucht, ist bislang immer diesem Werk die Patenschat für den Begrif zugeschrieben worden. Bereits aus dem Titel des Essays wird deutlich, dass Roh das ungewöhnliche Syntagma mit der Absicht verwendete, die modernen Kunstströmungen der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts zu bezeichnen. Neue malerische Tendenzen entstanden als Opposiion zum Expressionismus, von dem die Kunstszene von 1905 bis 1930 dominiert wurde. Im Gegensatz zum Expressionismus strebte der Magische Realismus nach ,,Nüchternheit“ und ,,Befreiung von jeder Art Senimentalität“ (Guenther 34). Interessanterweise drückt Roh im Vorwort seiner Studie eine Indiferenz gegenüber dem neu eingeführten Begrif aus: ,,Auf den Titel ,Magischer Realismusʻ legen wir keinen besonderen Wert. Da das Kind einen wirklichen Namen haben musste und ,Nachexpressionismusʻ nur Abstammung und zeitliche Beziehung ausdrückt, fügten wir, nachdem das Buch schon längst geschrieben war, jenen zweiten hinzu. Er schien uns wenigstens trefender als ,idealer Realismusʻ oder als ,Verismusʻ und ,Neuklassizismusʻ, welche ja nur ein Teil der Bewegung darstellen.“ (Roh 15-16) Roh verwendet den Begrif ,,Magischer Realismus“ als Synonym für die Kunstrichtung des Nachexpressionismus. Demnach bezeichnet Magischer Realismus einen Sil, der ,,gewisse metaphysische Bezüge des Expressionismus behält, diese andererseits aber zu etwas durchaus Neuem wandelt“ (Schefel 8). Roh schreibt über einen ,,neuen Realismus“, ohne dabei auf die ,,insinkive Manier“ des klassischen Realismus anzuspielen (Roh 19). Es geht um einen neuen künstlerischen Zugang, der sich dem Fantasischen zuneigt, zugleich aber auch dem Alltäglichen, wobei der fantasische Moment die Distanzierung und daraufolgend eine objekive Betrachtung der gesellschatlichen Wirklichkeit zum Für diese Arbeit wurde der Umfang des analysierten Textkorpus begrenzt. Novalis verwendete schon im 18. Jahrhundert eine ähnliche Formulierung in seinen ästheischen Werken, wenn auch in einem ganz anderen Zusammenhang. Er schreibt über ,,magische Realisten“ und ,,magische Idealisten“ im Rahmen seiner ,,magischen Philosophie“. Darunter verstand Novalis, dass die Poesie ,,die absolute Ursprungswirklichkeit“ ist und dass sich der Verstand der Poesie unterwerfen muss (Gilbert, Kun 272). 1 2 146 Journal of Language and Literary Studies Ziel hat. Im Gegensatz zum Expressionismus verkörpere der Magische Realismus den „unvermeidlichen Schrecken unserer Zeit, stat des fernen Schreckens der Hölle“, beschließt Roh (17). Besondere Aufmerksamkeit verdient sein Verständnis, dass sich die Kunst des Magischen Realismus, trotz des fantasischen Elementes, auf die alltägliche Wirklichkeit bezieht, die sie neu gestaltet und in die Mite des Sichtbaren reintegriert. Im Unterschied zum emoionalen Ungestüm des Expressionismus und den zerebralen und psychologischen Aspekten des Surrealismus schreibt der Magische Realismus den Phänomenen eine iefere Bedeutung zu, die auf einer nüchternen, igürlichen Darstellung der Wirklichkeit beruht. Die Funkion des Magischen Realismus sieht Roh im ,,Veranschaulichen des inneren Gesichtes anhand der bestehenden Außenwelt“ (37). Bereits in der Malerei kommt dem Magischen Realismus die Aufgabe zu, vor einer objekiv erfassbaren Wirklichkeit, auf einen in ihr verborgenen geisigen Sinngehalt zu verweisen. Was Roh unter dem Magischen Realismus verstand, war Ausdruck einer Geisteshaltung der Zeit, die ihr direktes Abbild in der Kunst fand. Aus genau diesem Grunde war der Begrif ,,Nachexpressionismus“ ungenügend, da er, wie Roh erläuterte, die zeitliche Dimension und nicht den Gehalt der Strömung in den Vordergrund stellt. Die zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts bildeten den Nährboden für den Magischen Realismus. Die Wurzeln der Krise sind in der Neuorienierung der gesellschatlichen und poliischen Verhältnisse zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu suchen, verstärkt durch die Weltwirtschatskrise 1929 und den Zusammenbruch der Weimarer Republik. Die Wirklichkeit in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts sieht der anerkannte Germanist Slobodan Grubačić als ,,eine Negaion der Menschlichkeit und eine imperiale Macht“, als ,,allgemeine Zerstörung und Reduzierung des unermesslichen geisigen Potenzials auf wenige Möglichkeiten, die zu einer bluigen Wirklichkeit wurden“ (413). In der gesamten historischen Mentalität der Epoche sind Symptome der Dekadenz und Orienierungslosigkeit erkennbar, Symptome einer iefen Unsicherheit sowie der Zusammenbruch des humanisischen Wertsystems. Der Magische Realismus erschien als Antwort für jene Künstler, die in dem neuen ästheischen Konzept den Ausdruck der konstanten Tendenz nach den allgemeinen Werten fanden, den Werten, die in der Atmosphäre der eingeengten Wirklichkeit in Frage gestellt wurden. Der expressionisische und dadaisische Schrei schuf Platz für den Appell des Magischen Realismus. Der Magische Realismus in der deutschen Literaturwissenschat Die Ausgangsbedingungen für den erzählerischen Magischen Realismus sind mit jenen in den visuellen Künsten vergleichbar, für die das Konzept ursprünglich entwickelt wurde. Theoreische Überlegungen über den Magischen Folia linguisica et literaria 147 Realismus lassen sich in der deutschen Literaturwissenschat am deutlichsten nach dem Zweiten Weltkrieg beobachten, denn sie in öfentlicher Diskussion zu klären, war während des Hitlerreichs unmöglich.3 Hans Werner Richter schreibt 1947 in seinem Aufsatz Literatur im Interregnum, der in der Zeitschrit Der Ruf veröfentlicht wurde, über eine neue Schreibweise. Richter setzt sich mit der Frage des Realismus des zwanzigsten Jahrhunderts auseinander und meint, dass die Flucht der Literatur ,,in die Wälder der Einsamkeit“ und ,,in die Unwirklichkeit“ ein Ausdruck sozialökonomischer, poliischer und geisiger Unsicherheit des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts ist (10). Die Literatur wird aus seiner Sicht stets als geisige Erscheinungsform des aktuellen gesellschatlichen Lebens, als Verlechtung poliischer, wirtschatlicher und kultureller Faktoren verstanden. Richter schreibt über die Verarbeitung der Wirklichkeit der Zerstörung, der Entmenschlichung des Zweiten Weltkrieges, sowie über die Wirklichkeit der moralischen Dekadenz. Die Aufgabe des Magischen Realismus sei es, in der ,,unmitelbaren realisischen Aussage dennoch hinter der Wirklichkeit das Unwirkliche, hinter der Realität das Irraionale, hinter dem großen gesellschatlichen Wandlungsprozess die Wandlung des Menschen sichtbar werden zu lassen“ (Richter 11). Die neue Literaturtendenz sollte schließlich ,,den Weg aus dem Vakuum unserer Zeit zu einer neuen Wirklichkeit“ erschafen (Richter 11). Richter bezeugt die Zeit der wirtschatlichen und geisigen Unsicherheit, die sich im gesamten Sozialsystem widerspiegelt ‒ in der Poliik, Wirtschat und Kultur. Geisige Werte, auf denen die bürgerliche Kultur basierte, wurden nach zwölf Jahren des Naionalsozialismus völlig zerstört. Indem Richter die Literatur als verbraucht, formalisisch, dekadent und unfruchtbar kriisiert, behauptet er, dass die erfahrenen Erlebnisse nicht mehr mit den Silmiteln ,,von gestern“ dargestellt werden können. (10). Für Richter erweist sich der Magische Realismus als eine angemessene Silrichtung ,,in der Zeit des Umbruchs, in der Zeit der großen Umschichtung der soziologischen Struktur“ sowie in einer Zeit der ,,seelischen und geisigen Unsicherheit“ (10). Der Mensch, der durch Konzentraionslager und über die Schlachfelder ging, verlangt zur Gestaltung der Wirklichkeit ,,mehr als den einfachen Realismus der Vergangenheit“, argumeniert Richter (10). Den Realismus im tradiionellen Sinne betrachtet er als veraltet und für das neunzehnte Jahrhundert charakterisisch. Die Restaurierung solchen Realismus ,,würde den Versuch bedeuten, die Wirklichkeit mit verbundenen Augen zu erfassen“, denn ,,nichts wäre unfruchtbarer als ihre bloße NachDie neue poliische Atmosphäre in der Zeit Hitlers Machtergreifung, verkörpert in der Parole Blut und Boden, die den allzu idealisierten und heroischen Realismus bevorzugte, entsprach auch dem Schöpfer des Begrifs Magischer Realismus nicht. Franz Roh wurde als ,,kultureller Bolschewik“ angeklagt und schon 1933 ins Konzentraionslager Dachau geschickt. 3 148 Journal of Language and Literary Studies ahmung“ (Richter 11). Richter macht darauf aufmerksam, dass das Wirkliche zugleich hinter der Wirklichkeit beginnt, die wir objekiv erfassen. Sein Aufsatz ist in erster Linie eine Bestandsaufnahme der zeitgenössischen deutschen Literatur und außer der Ankündigung des Bedürfnisses nach einer neuen Realismusform, bietet Richter keine detaillierten Erklärungen des Magischen Realismus. In den literarischen Kontext wird dieser Begrif oiziell ein Jahr später eingeführt. Während Richter in erster Linie über die Literatur nach 1945 spricht, ging Gerhart Pohl ein Jahr später verstärkt auf die Entstehungsbedingungen des Magischen Realismus ein und löste mit seinem in Aubau publizierten Aufsatz Magischer Realismus? (1948) eine Debate um den Begrif aus. Pohl geht an den Anfang der Entwicklung dieses Kunstkonzepts zurück und glaubt, dass man einen gemeinsamen Faden bei allen Vertretern dieses Erzählsils einsehen kann, trotz der zeitlichen und themaischen Heterogenität: ,,Aus dem Realismus und Expressionismus war eine neue Form im Werden. Ihr geisiger und sitlicher Gehalt entstammte dem humanisischen deutschen Erbe: Christentum, Weimarer Humanität, Sozialismus. (...) Die neuen Gebilde waren fraglos realisisch, doch auf eine bislang ungekannte, zauberische Weise. Magischer Realismus - das Wort, das mir vor einigen Jahren dafür eingefallen ist, hat sich inzwischen weithin durchgesetzt. Es kennzeichnet die neue Geisteshaltung der deutschen ,Zwischengeneraionʻ.“ (Pohl 651) In seinen Überlegungen geht Pohl einen Schrit weiter als seine Vorgänger und erscheint als Erster, der den Begrif ,,Magischer Realismus“ in die deutsche Literatur einführt. Außerdem werden zum ersten Mal die Schritsteller und ihre Werke magisch-realisischer Provenienz genannt.4 Pohl gibt auch den Zeitraum der Entwicklung der magisch-realisischen Literatur an. Er spricht von den nach 1900 geborenen Schritstellern, die zu der sogenannten Zwischenkriegsgeneraion gehören (Friedo Lampe, Manfred Hausmann, Horst Lange, Elisabeth Langgässer, Hermann Kasack, Marie Luise Kaschnitz und Anna Seghers). Magischer Realismus sei ein literarisches Hyperonym, das die unterschiedlichsten Werke und Schritsteller innerhalb eines gemeinsamen Rahmens des humanisischen Bestrebens vereine. Pohl betont den humanisischen Aspekt solcher Literatur, die sich der Entmenschlichung und Gewalt aller Art gegenüber stellt. Ebenso wichig ist seine Behauptung, dass man die Wirklichkeit nicht mehr auf eine objekive, raionale Art und Weise wahrnehmen kann, sondern nur auf einer Gerhart Pohls Aufsatz löste eine Debate über die Urheberschat des Begrifs Magischer Realismus in der Literatur aus. Johannes von Guenther behauptete, dass er eigentlich der ,,Vater“ des erwähnten Begrifs sei und dass er 1947 diesen Begrif im Zusammenhang mit der literarischen Schöpfung des russischen Lyrikers Аlexander Block verwendete (Schefel 35). 4 Folia linguisica et literaria 149 höheren Bedeutungsebene. Für diesen Philologen ist der Magische Realismus ,,eine besondere Form des Realismus“, die sich nicht nur in der Malerei, sondern auch in der literarischen Schöpfung seit den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts manifesiert (Pohl 650).5 Der zwöljährige Terror des Naionalsozialismus, währenddessen ,,stat der Wahrheit die Legende herrschte“ (Pohl 650) forderte viele Schritsteller dazu auf, nach neuen Methoden literarischer Darstellung der gesellschatspoliischen Wirklichkeit zu suchen. Als Meisterwerk des Magischen Realismus sieht er Hermann Kasacks Roman Die Stadt hinter dem Strom aus dem Jahr 1947, der die erschreckende Erfahrung und Sinnlosigkeit des Zweiten Weltkrieges sowie die moralische Stumpheit der Gesellschat verarbeitet. Der Roman Die Stadt hinter dem Strom ist eine ,,großarige dichterische Vision alles Werdens, Daseins und Vergehens“ betont Pohl (653). Einer solchen Feststellung kann man ein wichiges Merkmal entnehmen, das sich durch die Literatur des Magischen Realismus zieht - Universalität und ihre zeitlose Komponente. Magischer Realismus ,,zeigt treu die greibare Wirklichkeit, die sie gleichzeiig an jene Wirklichkeit bindet, die gegenstandslos, irraional und metaphysisch ist“ (Pohl 652). Infolgedessen umfasst sie nicht nur die Oberlächenrealität, sondern veriet sich in das Wesen des Seins, der zwischenmenschlichen Beziehungen und der Weltordnung. Die Überlegungen über den Magischen Realismus werden im Jahr 1949 fortgesetzt. In seinem Vortrag Über den Magischen Realismus in der heuigen deutschen Dichtung stellt Leonard Forster die Einheitlichkeit der philosophischen Einstellung fest, nach der ,,der Mensch von heute nicht mehr in der Lage ist, die Naturkräte, die er durch die angewandte Naturwissenschat erschlossen hat, zu meistern“ (86). Forster deiniert den Magischen Realismus als ,,Gesinnung der Gegenwartsliteratur gegen die Technisierung der Welt innerhalb der Moderne“ (90). Dabei belegt er seine These durch Textanalysen von Werken Ernst und Friedrich Georg Jüngers, Elisabeth Langgässers und Günter Eichs. Ernst Jüngers Roman Auf den Marmorklippen (1939) zählt Forster zum ,,vornehmsten Werk des Magischen Realismus“ (90). Indem Forster ,,die stereoskopische Wahrnehmung der Dinge“ erwähnt, weist er auf eine besondere Art und Weise der menschlichen Wahrnehmung hin, die alle Wirklichkeitsebenen umfasst (tatsächliche, paradigmaische), die als solche zum integralen Bestandteil der neuen literarisch-künstlerischen Form wird (88). Es handelt sich um eine Darstellung der elementaren Tiefe mit den Miteln des Realismus, um ,,das Unmitelbar nach der Veröfentlichung des Aufsatzes entwickelte sich eine Debate über den Magischen Realismus. Bernhart Sieper sprach dem Begrif jeden Wert ab und schätzte ihn als ,,unglücklich gewählt“ wegen seiner sich wiedersprechenden Elemente ,,magisch“ und ,,realisisch“. Dagegen erkannte Klaus Hermann eine ,,schöpferische Syntese“ zweier kontradiktorischer Begrife und betonte, dass den magischen Realisten ,,der Wille nach dem Aubau einer besseren Welt und Wirklichkeit“ gemeinsam ist (Kirchner 23). 5 150 Journal of Language and Literary Studies gleichzeiige Erfassen von Oberläche und Tiefe“ (Forster 89). Trotz dieser Argumente gewinnt auch hier der mit dem Begrif Magischer Realismus bezeichnete Gegenstand keine deutlichen Konturen. Die Diskussion über den literarischen Magischen Realismus setzt 1970 der tschechische Germanist Ludvík Václavek in seinem Aufsatz Der deutsche magische Roman fort. Auf der gleichen Linie wie Theoreiker vor ihm sieht Václavek den Magischen Realismus in reakiver Verbindung mit der poliischen, wirtschatlichen und kulturellen Wirklichkeit der späten 20er Jahre des letzten Jahrhunderts. Václavek weist indirekt auf latente gesellschatspoliische Tendenz des Magischen Realismus hin: ,,Es handelt sich um keine Flucht vor der Welt, sondern um eine polemische Reakion auf die Realität des gesellschatlichen Lebens, um einen aggressiven Selbstausdruck und die Suche nach einem Ausweg. (...) Dieser Roman ist akivisisch im paziisischen Sinne.“ (Václavek 144) Wichig ist Václaveks Feststellung, dass der Magische Roman seine Aufmerksamkeit auf die allmenschliche und aktuelle Problemaik richtet, ohne sich dabei auf die okkulten Prosawerke zu beziehen. Die Erscheinung des Magischen Realismus sieht er als das Bestreben nach einer geordneten Welt, nach einer besimmten Gesetzmäßigkeit und Harmonie. Er glaubt, dass in den magischen Romanen besimmte gesellschatliche Phänomene zum Ausdruck kommen, ohne dass sie explizit genannt werden, was auf eine parabolische Bedeutung solcher Werke hinweist. Wie Theoreiker vor ihm, behauptet der tschechische Germanist, dass der Magische Realismus keine kohärente chronologische oder themaische Einheit darstellt. Es geht um die einzelnen Schritsteller und um ihre einzelnen Werke, die im künstlerisch-idealisischen Sinne verwandt sind und die gleiche poeische Grundlage haben. Die gemeinsame Grundlage der magisch-realisischen Romane bildet die Aufassung solcher Prosawerke als eine Art Konfrontaion mit der Welt und der soziopoliischen Wirklichkeit der modernen Menschheit. Das magische, irraionale Element in diesem Konzept sieht Václavek als ein Ausdruck des humanisischen Bestrebens, denn ,,der Irraionalismus retet das Menschliche, wo der Raionalismus - oberlächlich, zivilisatorisch - den Menschen deformiert und konformiert“ (155). Als Vertreter des magischen Romans gibt Václavek den Österreicher Gustav Mayrink (der Roman Der Golem, 1915) und dessen Landsmann Franz Spunda (der Roman Devachan, 1921) an. Es ist dabei interessant, dass Václavek im Unterschied zu anderen Theoreikern, die über eine neue Realismusform sprechen, den Magischen Roman in enger Verbindung mit dem Expressionismus sieht und in seinem Aufsatz über eine besondere ,,Derivaion des Expressionismus“ schreibt (154). In seinem Buch Der Nullpunkt (1971) verbindet Volker Chrisian Wehdeking den Magischen Realismus mit der deutschen Nachkriegsliteratur und den Folia linguisica et literaria 151 Werken von Alfred Andersch, Hans W. Richter, Günter Eich und Heinrich Böll. Es handelt sich um Schritsteller, die auf der Suche nach einem entsprechenden Verarbeitungsverfahren der aktuellen gesellschatspoliischen Wirklichkeit waren - ,,Krieg und Kriegsgefangenschat, Zerstörung der deutschen Städte und Hofnung auf ein besseres Europa“ (Wehdeking 136). Die erwähnten Schritsteller, versammelt um die Zeitschrit Der Ruf, betonten die existenzielle Perspekive der Nachkriegsliteratur. Neben dem Expressionismus, Realismus und Surrealismus bemerkt Wehdeking eine Literatur, die er als magisch-realisisch bezeichnet und sie in Alfred Anderschs Gedicht Erinnerung an eine Utopie (1959/60) erkennt. Alfred Anderschs Schöpfung sieht Wehdeking als ,,Synthese von Sozialismus und Freiheit“, als ,,einen Protest gegen die Entmenschlichung, die durch die Herrschatsdoktrin des Systems“ verursacht ist (141). Die Schritsteller des Magischen Realismus sind ,,engagierte Schritsteller, die nicht kapitulieren“, die ,,den Zweifel an der herrschenden Ideologie äußern“ und ,,engagiert die Gegenwart darstellen“ (Wehdeking 141). Überzeugt davon, dass die Literatur und die gesellschatliche Wirklichkeit durch einen unaulöslichen Faden verbunden sind, betont Wehdeking, dass die Themen aus der Trümmerliteratur nach 1952 ihre Aktualität zu verlieren begannen, bis 1960, als sie wieder in der Literatur vorkamen, in einer anderen, magisch-realisischen Darstellungsweise. Typische Merkmale des Magischen Realismus Den Höhepunkt der germanisischen Überlegungen über den erzählerischen Magischen Realismus stellt bis jetzt die Studie des zeitgenössischen Literaturhistorikers Michael Schefel dar, die unter dem Titel Magischer Realismus. Die Geschichte eines Begrifes und ein Versuch seiner Besimmung (1990) veröfentlicht wurde. Erst Schefel gibt klare Konturen des Magischen Realismus innerhalb der deutschsprachigen Literatur. Die Philologen vor ihm beschätigten sich mit dem chronologischen, kulturpoliischen und historischen Kontext seiner Entstehung, allerdings können wir in solchen Texten keine konkreten Merkmale des Magischen Realismus inden. Aus der literarischen Produkion Deutschlands zwischen 1917 und 1956 greit Schefel Werke heraus, die er anhand eines werkimmanenten Ansatzes als magisch-realisisch charakterisiert. Unter dem Konzept des Magischen Realismus werden folgende Autoren und ihre Werke zusammengefasst: Hermann Kasack (Die Stadt hinter dem Strom, 1947), Ernst Kreuder (Die Gesellschat vom Dachboden, 1946), Horst Lange (Schwarze Weide, 1937), Friedo Lampe (Am Rande der Nacht, 1933), Elisabeth Langgässer (Das unauslöschliche Siegel, 1946), Martha Saalfeld (Pan ging vorüber, 1956), Ernst Jünger (Das abenteuerliche Herz, 1929) und Wilhelm Lehmann (Die Bilderstürmer, 1917). In allen untersuchten Texten sind dabei chifrierte Hinweise auf die poliische und soziale Wirklichkeit der Zeit evident. 152 Journal of Language and Literary Studies Bedenkt man, dass im Zentrum Schefels Betrachtungen das erzählerische Werk von den Zwanzigern bis in die fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts steht, sollte an dieser Stelle hinzugefügt werden, dass nach den führenden nichtdeutschen Theoreikern des Magischen Realismus (L. P. Zamora, S. Menton, W. Faris, A. Chanady, I. Guenter, M. A. Bowers), zu den Vertretern des Magischen Realismus im deutschsprachigen Gebiet auch Günter Grass mit seinem Roman Die Blechtrommel (1959) sowie der Schritsteller Patrick Süßkind und sein Roman Das Parfüm (1985) gehören. Nach Angaben von Irene Guenther können Franz Kaka, Ernst Jünger, Heimito von Doderer, Hermann Kasack, aber auch Thomas Mann, Alfred Döblin, Franz Werfel und Robert Мusil den deutschsprachigen Vertretern des Magischen Realismus zugeordnet werden (60). Jedoch sollte die Validität einer solchen Zuordnung an einzelnen Beispielen geprüt werden. Das Angegebene weist auf die luide Bedeutung dieses Begrifes hin sowie auf den atrakiven ,,Klappentextcharakter“ der Bezeichnung, auf den auch Schefel selbst im Vorwort seiner Studie hinweist (1). Die Charakterisik der magisch-realisischen Literatur ist ein besonderer Inhalt der Erzählstruktur.6 Ein solcher Inhalt bedeutet die Einführung des fantasischen Phänomens, der magischen Fähigkeit oder Erscheinung in die Erzählwelt. Dabei kann der fantasische Moment nicht aufgrund raionaler oder psychologischer Prozesse erklärt werden, sodass die Grenze mit dem Fantasischen sehr brüchig ist. Allerdings bezieht sich die neu geschafene Welt nur auf ein System der Wirklichkeit ‒ das Unsere, das Menschliche, das Alltägliche. Im Gegensatz zu der fantasischen Literatur ist das fantasische Element perfekt in die Welt der alltäglichen Erfahrung und der sinnlichen Wirklichkeit integriert und wird fraglos als solches angenommen. Trotz des fantasischen Elementes zeigen die Diskurse des Magischen Realismus einen hohen Grad an Homogenität und Stabilität, die für den literarischen Realismus des neunzehnten Jahrhunderts charakterisisch sind. Die ideologische Prämisse der magisch-realisischen Werke setzt das Dasein des fantasischen Elementes in den Umständen der alltäglichen, tatsächlichen Wirklichkeit voraus, sodass die Difusion dieser zwei scheinbar unvereinbaren Aspekte auf einen höheren Sinn gerichtet ist. Auf diese Weise wird das irraionale Element zu einem legiimen, integralen Bestandteil der raionalen Wirklichkeit. Ein weiteres Merkmal ist die zeitliche Allgemeinheit und Universalität der magisch-realisischen Diskurse. Die Zeit im gewöhnlichen Sinne exisiert im Magischen Realismus nicht, denn die Handlung ist zeitlos gestaltet und auf das ewige Wiederholen gerichtet. Eine ähnliche Ungenauigkeit gilt auch für die Moivaion der Ereignisse innerhalb der Erzählwelt. Viele Segmente der Handlung bleiben ungeklärt und werden fraglos als solche rezipiert. Die Angaben in diesem Kapitel basieren auf Schefels Studie, sofern nicht anders angegeben ist. 6 Folia linguisica et literaria 153 Schefel weist auf einen besonderen atmosphärischen Hintergrund des magisch-realisischen Diskurses hin. In solchen Romanen und Erzählungen herrscht die Atmosphäre ,,einer historischen Zeit der Unordnung“, der ,,Feindseligkeit“, des ,,Bruderkampfes“ und der ,,Gewaltat“ (Schefel 89). Ein weiteres Merkmal ist die Neigung zum Detail. Der Rezipient trit auf eine ,,detaillierte Beobachtung und Beschreibung der Sachlichkeit“ (Roh 96). Ein wichiges Merkmal ist auch ein dominantes Bestreben des Schritstellers beziehungsweise des Prosahelden nach Wiederherstellung der Ordnung, Stabilität, Gesetzmäßigkeit, der Harmonie und des Sinns in der zerstörten Stabilität der menschlichen Ordnung. Auf der gleichen Linie verweist Schefel, wie Kriiker vor ihm, auf den gesellschatspoliischen Zusammenhang des Magischen Realismus. Er vertrit die Aufassung, dass das schnelle Nacheinander ganz verschiedener Staats- und Gesellschatsformen, verbunden mit zwei Weltkriegen und anschließend völlig neuer Gestaltung der poliischen Geographie, es der um die Jahrhundertwende geborenen Generaion schwer gemacht hat, sich in der Wirklichkeit auf Dauer einzurichten. In seiner Untersuchung stellt der deutsche Philologe eine grenzenlose Unordnung als Folge des dualisischen Weltbildes raional -irraional fest, die meist durch einen ofen ausgetragenen Konlikt (Krieg, Idenitätskrise, Naionalitätenkonlikt) zutage trit und in der Literatur ihren Niederschlag indet. Schefel betont, dass die magisch-realisische Literatur eine ungreibare Wirklichkeit zum Thema hat. Es handelt sich um eine komplexe gesellschatspoliische Wirklichkeit, die alternaiver Formen der Darstellung bedarf. Die Fähigkeit eines literarischen Werkes, die Überprüfung und die emoional-gedankliche Welle auszulösen, stammt von der magisch-realisischen Organisaion der Handlung. Dementsprechend nimmt in der Erzähltechnik des Magischen Realismus das poeische Prinzip der Relaivierung die zentrale Rolle ein. In erster Linie geht es um die Relaivierung der Wahrheit und der Wirklichkeit. Eine solche Relaivierung lenkt das Bewusstsein der Rezipienten und führt zum erneuten Überdenken der festgelegten Wahrheiten und bewirkt eine emoionale und kogniive Distanz. Es handelt sich um den subversiven und transgressiven Aspekt des Magischen Realismus, dessen Wesen darin liegt, dass wenn einmal die Kategorie der Wahrheit in Frage gestellt wird und die Kategorie des Wirklichen verdreht wird, die Grenzen anderer Kategorien - wie ontologische, poliische oder geograische - auch in Frage gestellt werden. Dem Leser wird demgemäß die Unbesimmtheit der Kategorie des Wirklichen bewusst und somit werden die Annahmen des Wahren verschwommen und brüchig. In diesem Sinne untergräbt die magisch-realisische Erzählstruktur die etablierten Muster der Wirklichkeitswahrnehmung und ermuigt den Rezipienten, über die Werturteile sowie über Relaivität und Notwendigkeit des Systems nachzudenken. Im Einklang mit diesem Gedanken bedeutet der subversive Aspekt des Magischen Realismus die Behandlung des magischen und realen Elementes der Handlung 154 Journal of Language and Literary Studies auf einer gleichwerigen Ebene, sodass sie sich gegenseiig auheben, indem die Kategorie des Wirklichen in Frage gestellt wird. Auf der anderen Seite kann man den Magischen Realismus auch als transgressiv bezeichnen, da er über die Grenze des Realen und Fantasischen hinausgeht und eine Kategorie des ,,Magisch-Realen“ bildet. Dank seiner narraiven Struktur wird die erzählerisch-technische Darstellung ad absurdum geführt, mit dem Ziel, beim Leser Skepsis und Misstrauen dem Erzähler gegenüber zu erregen, wobei es deutlich wird, dass selbst der Begrif des Wirklichen doppelbödig ist. Die magisch-realisische Erzählstruktur fördert den Leser, sich über die Ereignisse zu erheben, sie aus der Posiion des Außenstehenden neu zu bedenken und am Erkenntnisprozess teilzunehmen. Mit seiner subversiven Krat liefert Magischer Realismus den Raum für postkoloniale Themen und poliisches Engagement. Die Schritsteller wie Günter Grass, Marlen Haushofer, Gabriel G. Márquez, Salman Rushdie und Toni Morrison wenden in ihren Werken den Magischen Realismus mit der Absicht an, ,,die festen Kategorien der Wahrheit, Wirklichkeit und der Geschichte zu zerstören“ (Bowers 77). Aufgrund Schefels Studie lassen sich zusammenfassend folgende typische erzähltechnische Merkmale des Magischen Realismus innerhalb deutschsprachiger Literatur ableiten: direkter Bezug auf die Wirklichkeitsordnung der alltäglichen Welt (Referenzen der tatsächlichen Wirklichkeit), das Brechen der realisischen Form durch die Einführung des fantasischen Elementes (Angrif des Wunderbaren auf die Welt der Tatsachen), Allgemeinheit und Ungenauigkeit der Rahmenangaben, zeitlos-allgegenwärige Perspekive, Dinglichkeit (Konzentraion auf Detailbeschreibungen, wobei es sich meistens um den Blick in den Mikrokosmos der Natur handelt), herrschende Moive der Bedrohung oder Morbidität, ein Zug zum Staischen, Miniaturhaten und Idyllischen, nicht-lineare Erzählstruktur, Verzicht auf subjekive und persönliche Themen, gesellschatspoliischer Hintergrund des Erzählten, fehlende Senimentalität, distanzierte Beobachtungsweise, das Relaivierungsprinzip, Auseinandersetzung mit der Kategorie der Wirklichkeit, die als äußerst ambivalent und doppelbödig empfunden wird. Die sprachliche Ausdrucksweise ist dabei realisisch, nüchtern und minuiös. Fazit Überblickt man die Forschungsliteratur, von der einleitenden Arbeit Franz Rohs (1923) bis zu Michael Schefels ausführlicher Studie (1990), können bedeutende Schlussfolgerungen abgeleitet werden. Der Magische Realismus wurde erstmals 1923 als kriisches Konzept der nachexpressionisischen Malerei Deutschlands erwähnt. Danach belebte sich der Begrif auch in der Literaturwissenschat, besonders in der lateinamerikani- Folia linguisica et literaria 155 schen Literatur, in der er seine volle Verwirklichung in den 50er und 80er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts erlebte. Heute wird der Magische Realismus als universeller Erzählsil wahrgenommen. Trotz der Tatsache, dass der Begrif in Deutschland geprägt wurde, erlebte der Magische Realismus keine Etablierung in der deutschsprachigen Literatur, sondern wird in erster Linie mit der poeischen Wirklichkeitsdarstellung in der lateinamerikanischen, westafrikanischen und postkolonialen Literatur assoziiert. All die, von denen der Begrif benutzt wird (innerhalb der germanisischen Betrachtungen), simmen insofern überein, dass es sich beim Magischen Realismus um eine Form des Realismus handelt. Dies gilt mit der beschränkten Ausnahme von Ludvík Václavek, der in seinem Aufsatz über eine ,,besondere Derivaion des Expressionismus“ spricht (154). Nach den Weltkriegen wird die romanische Lösung als zu spekulaiv und rückwärts gewandt verworfen und wird unvertretbar. Abgelehnt wird auch ein Realismus, der die wirklichkeitstreue Darstellung der tatsächlichen Verhältnisse geben will, und vor allem die Übersteigerung dieses Sils im Naturalismus, der nach dem Vorbild der posiivisischen Philosophie jede Metaphysik verwirt und die Dinge kausal zu erklären versucht. Die mathemaisch-nüchterne Seite der Neuen Sachlichkeit sei auch ungenügend, um die komplexe gesellschatspoliische Wirklichkeit einzufangen. Es bedeutete das Ende eines Realismus, der, wie Adorno schrieb, nur die Fassade reproduzierte. Bemerkenswert ist, dass der Magische Realismus keine einheitliche Schule bzw. Bewegung konsituiert, sondern als Lösungsmodell individueller Schritsteller verstanden werden muss. Unter dem Konzept des Magischen Realismus versteht man literarische Werke unterschiedlicher Autoren, unterschiedlichsten Inhalts, zu unterschiedlichsten Zeiten geschrieben. Allerdings lassen sich alle Werke aus den gleichen poliischen und geistesgeschichtlichen Ereignissen erklären und allen Werken ist eine humanisische Aussagekrat sowie zeitkriische, orienierende und subversive Funkion immanent. Beim Magischen Realismus handelt es sich um keine literaturhistorisch etablierte Deiniion, wie etwa im Falle des Naturalismus, Expressionismus, und allen anderen -Ismen, sondern um den Oberbegrif für eine Reihe von Autoren, die sich aufgrund ihrer Sprachästheik und speziischen Platzierung in der soziopoliischen Landschat in einen lockeren Zusammenhang bringen lassen. Dem steht keineswegs entgegen, dass der Begrif Magischer Realismus in der deutschen Literaturgeschichte kaum Erwähnung indet. Die soziopoliische Relevanz des Magischen Realismus steht im Vordergrund der Betrachtung. Aufgrund des verwendeten Textkorpus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass neue literarische Tendenzen das Ergebnis einer allgemeinen poliischen und geistesgeschichtlichen Krise des frühen zwanzigsten Jahrhunderts sind. Die Wurzeln der Krise sind sowohl in der Neuorienierung der 156 Journal of Language and Literary Studies gesellschatlichen und poliischen Verhältnisse zu Beginn des 20. Jahrhundert zu suchen, verstärkt durch die Weltwirtschatskrise 1929 und den Zusammenbuch der Weimarer Republik als auch durch die zunehmende Technisierung und Verwissenschatlichung des Lebens. Man bemerkt ein zunehmendes Interesse an der literarischen Bedeutung des Begrifes innerhalb der deutschen Literaturwissenschat erst nach dem Zweiten Weltkrieg, denn sie in öfentlicher Diskussion zu klären, war während des Hitlerreichs unmöglich. Außerdem inden sich Auseinandersetzungen mit dem Magischen Realismus immer verstärkt nach Krisenzeiten. Auf diese Weise kann man die Erscheinung dieses Konzeptes nach dem Ersten Weltkrieg erklären, anschließend die Veröfentlichung Gerhart Pohls und H. W. Richters Aufsätze nach 1945 sowie ein erhöhtes Interesse für diesen Begrif in den 60er und 70er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts während des Kalten Krieges und der allgemeinen gesellschatspoliischen Unsicherheit und Bedrohtheit. Bemerkenswert ist auch, dass die ausführlichsten Arbeiten zum Magischen Realismus von nichtdeutschen Theoreikern geleistet wurden (Menton, Bowers, Zamora, Faris, Reeds). Der Magische Realismus lässt sich im Rahmen der deutschsprachigen Literatur in drei Phasen unterteilen. Für die Einen (Václavek, Forster, Schefel) ist der Magische Realismus ein literarisches Konzept der zwanziger und dreißiger Jahre. Diese Phase ist durch Ernst Jünger, Gustav Mayrink, Franz Spunda, Wilhelm Lehmann, Horst Lange, Marie Luise Kaschnitz und Friedo Lampe exempliiziert. Für die Anderen (Richter, Wehdeking, Schefel) ist es eine besondere Darstellungsweise der unmitelbaren Nachkriegszeit. Als Vertreter in dieser Periode werden Herman Kasack, Ernst Kreuder, Elisabeth Langgässer und Eugen Gotlob Winkler genannt. Dabei ist die Rede von der sogenannten Zwischenkriegsgeneraion, der um 1900 geborenen Schritsteller. Mit einigen Ausnahmen handelt es sich interessanterweise um keine in den gängigen Literaturkanonen integrierten Autoren. Die drite, bislang unerforschte Phase, folgt in den späten fünfziger und während der sechziger und siebziger Jahre und wird als ,,Alternaive zu den Existenzängsten in der Folge des Kalten Krieges und der atomaren Aufrüstung“ betrachtet (Menton 10). Das Erwähnte bestäigt den kausalen Zusammenhang zwischen den soziopoliischen Umständen und der literarischen Produkion des Magischen Realismus. Obwohl durch die Poeik des Magischen Realismus geprägte Werke ein fantasisches Element in der Handlung beibehalten, kann eine deutliche Abgrenzung zum Bereich der Fantasik gezogen werden. Der wesentlichste Unterschied besteht darin, dass der erzählerische Magische Realismus weder in sich selbst Zweck indet, noch zur Unterhaltung dient. Das postmoderne Konzept hat eine klare Intenion. Es richtet sich auf die Verarbeitung und Überwindung historischer Traumata, sodass wir es als eine Art engagierter Literatur im paziis- Folia linguisica et literaria 157 ischen Sinne betrachten können. Ihr Ziel ist es, den Rezipienten zu entzaubern, ihn zu erinnern, ihn zu ermahnen und zu warnen. Magisch-realisische Diskurse werden zu Metapher einer Zivilisaion, die durch Irraionalität und Absurdität geprägt wird. Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen der doppelbödigen gesellschatspoliischen Wirklichkeit ist der zentrale Aspekt des Magischen Realismus. Den Magischen Realismus kann man als eine besondere Darstellungsform der gesellschatspoliischen Wirklichkeit verstehen oder als eine Allegorie der Wirklichkeit, in jenen historischen Zeitpunkten, in denen die Techniken des tradiionellen Realismus an ihre Grenzen stoßen. Magischer Realismus taucht ief in das Wesen der Dinge ein und beleuchtet breit die doppelbödige und ot widersprüchliche gesellschatspoliische Wirklichkeit. Literatur: Bowers, Maggie Ann. Magic(al) Realism. New York: Routledge, 2004. Forster, Leonard. „Über den Magischen Realismus in der heuigen deutschen Dichtung“. In: Neophilologus. 49, 1950. 86-99. Gilbert, Ketrin Everet und Helmut Kun. Istorija esteike. Beograd: Dereta, 2004. Guenther, Irene. “Magic Realism, New Objekivity and the Arts during the Weimar Republic”. In: Magical Realism. Durham: Duke University, 1995. 33-73. Kirchner, Doris. Doppelbödige Wirklichkeit. Tübingen: Staufenburg Colloquium, 1989. Menton, Seymour. Magic Realism Rediscovered. 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In: Studia Germanica Gandensia. 3, 1961. 249-276. 158 Journal of Language and Literary Studies MAGICAL REALISM AS A MIRROR OF HISTORICAL REALITY The subject of the paper is the esimaion of Magical Realism theoreical frames and its funcion in presening socio-poliical reality. Unlike the paining and literature of Lain America, Magical Realism was not completely embedded in German literature. The reason of that might lie in the contradicion of the very syntagm which makes any approach to it more diicult, or the poliical environment in which it was established. In the contemporary literary science the prevailing concept of Magical Realism is the one that concerns it to be a narraive mode of Hispano American, West African and postcolonial literature in general. The aim of the paper is to make this concept a more relaive one, since the term itself was founded in Germany, and that it is possible to prove the existence an independent development of Magical Realism poetry within the literature writen in German. Regarding the topic in this way, the basic hypothesis is that Magical Realism in literature is not predominantly a Lain American style but a universal literary style, which tries to present in an arisic way the complex socio-poliical reality at some speciic historical moments when the techniques of tradiional realism lose their expressiveness and power. style Key Words: literary science, Magical Realism, German literature, narraive Folia linguisica et literaria 159 UDK 821.112.2-2.09 Modalitäten der Macht im deutschen Gegenwartsdrama am Beispiel von Rolf Hochhuths Heil Hitler! Sonja Novak, Osijek, snovak@ffos.hr, sonja_novak@hotmail.com Abstract: Was man unter politischem Theater zu verstehen hat, ist umstritten. Das politische Theater war schon immer eng und unmittelbar mit kritischen bzw. kritisierenden Darstellungen von Macht verbunden: von der altgriechishen Polis über den absolutistischen Staat bis zur neuzeitlichen bürgerlichen Republik. Dies veranschaulichen die deutschen Theaterklassiker wie Gotthold Ephraim Lessings Emilia Gallotti, Friedrich Schillers Kabale und Liebe, Johann Wolfgang von Goethes Götz von Berlichingen, u.a. Diese Machtdarstellungen erschienen in Form von Tragödien oder historischen Dramen und Macht war meistens in einer Figur verkörpert, der des Herrschers, der persönlich auf der Bühne auftrat. Friedrich Dürrenmatt hat in seinem Essay Theaterprobleme (1954) bemerkt, dass im 20. Jahrhundert Neuauffassungen der Macht notwendig sind, da sich die gesellschaftlichen Gegebenheiten stark verändert haben. Die heutige Macht sei unsichtbar, mechanisiert, abstrakt und gesichtslos, wie auch der heutige Staat. Daraus ergibt sich die Frage, wie heutzutage Macht im Drama dargestellt wird. Die Arbeit zeigt am Beispiel von Rolf Hochhuths Tragikomödie „Heil Hitler!“, wie Macht im Kontext des modernen politischen Theaters entkörpert, entmenschlicht und sogar verspottet wird. Schlüsselwörter: Macht, Tragödie, politisches Theater, Rolf Hochhuth 1. Einführung Siegfried Melchinger deiniert das poliische Theater als Theater mit sozialpoliischer Themaik. (vgl. 43) Jan Deck bietet die folgende Deiniion im einleitenden Teil des Werks Poliisch Theater machen. Neue Arikulaionsformen des Poliischen in den darstellenden Künsten: „Poliisches Theater heißt (...) das theatrale Aufarbeiten poliischer Themen.“(11) Die Liste der Themen, die als poliisch bezeichnet werden können, ist lang. Dazu gehören z. B. Wirtschat, Innen- und Außenpoliik, Kriik an gesellschatlicher Ordnung, Herrschatsform und -system, Umweltschutz, soziale Fragen und Probleme, Geschlechterpoliik usw. Daruber hinaus und ohne Ausnahme war im poliischen Theater auch schon immer Kriik an Macht präsent. Als Beispiele in der Theatergeschichte 160 Journal of Language and Literary Studies kann mann sowohl anike Klassiker wie Aischylos` Oresteia und Sophokles` Anigone als auch die deutschen Theaterklassiker nennen, von denen beispielsweise u.a. Gothold Ephraim Lessings Emilia Galloi, Friedrich Schillers Kabale und Liebe, Johann Wolfgang von Goethes Götz von Berlichingen zu erwähnen sind. Dies veranschaulichen noch ausgeprägter die moderneren Formen des poliischen Theaters wie dasjenige von Erwin Piscator und Bertolt Brecht, das dokumentarische Theater von Rolf Hochhuth und Peter Weiss oder die DDR-Dramaik von Heiner Müller, Volker Braun und Peter Hacks. Diese Nachkriegserscheinungen und Neuformulierungen des (größtenteils historischen) Dramas im 20. Jahrhundert sind ausdrücklich poliisch zu beshcreiben. Die Beispiele von Machtdarstellungen, die vor dem 20. Jahrhundert erschienen sind, kamen in Form von Tragödien vor und die neueren Machtdarstellungen erscheinen ot in Mischformen, z. B. in Tragikomödien. Die These der vorliegenden Arbeit bezieht sich auf Dramen, die etwa seit dem Ende des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart (vgl. Haas) entstanden sind, mit besonderer Berücksichigung des Stücks von Rolf Hochhuth „Heil Hitler!“. Darüber hinaus wird im Beitrag betrachtet, wie man die Macht im Gegensatz zu früheren Theatertexten darstellt bzw. zu welchen (Ver-)Wandlungen es in der Darstellung von Macht gekommen ist. Die Macht wird im zeitgenössischen Drama nicht personiiziert, sondern entkörpert und entmenschlicht und sie wird manchmal noch dazu, wie in dem Falle von Hochhuths Stúck, verlacht. 1.1. Was versteckt sich hinter dem ‚poliisch‘ engagierten Autor Rolf Hochhuth? Hochhuth wird ot als ein poliischer Autor bezeichnet. Seine Persönlichkeit war vom Anfang seiner Schritstellerkarriere an mit Skandalen verbunden. Dies hate mit seinem Erstlingswerk und zugleich bekanntestem Stück Der Stellvertreter begonnen. Interessanterweise beschreibt Andreas Quermann diesen Skandal nicht als einen Theaterskandal bzw. Skandal im Theater, sondern als einen durch das Theater ausgelösten Skandal, der schnell dem Sück entwachsen sei. (vgl. Neufert: 14) Der Tagungsband Rolf Hochhuth: Theater als poliische Anstalt beschätigt sich mit den poliischen Aspekten in Hochhuths Theaterwerken. Schließlich ist Hochhuth für sein poliisches Theater bekannt, besonders was seine jüngsten Stücke angeht (vgl. Schalk, Ueding). Sven Neufert ziiert Hochhuth, der die eigene Literatur als „Plädoyer für den Einzelgänger“ (11) beschreibt und Neufert nennt diese Literatur „non-konform“ und „Sand im Getriebe von Machtapparaten, die dessen Eigensinn zu eliminieren suchen.“ (ebd.) Diese Merkmale sind einem poliischen Theater zuzuschreiben, weil sie sich dabei mit dem herrschenden poliischen System auseinandersetzen. Darüber hinaus beziehen sich Hochhuths Folia linguisica et literaria 161 Dramen in großem Maße auf den Zweiten Weltkrieg, d.h. man kann sie auch als historisch beschreiben (Wessis in Weimar, McKinsey kommt, Soldaten, Sommer 14, Hitlers Dr. Faust sowie auch sein neueres Stück „Heil Hitler!“ aus dem Jahre 2004). Neufert bemerkt, dass „[v]iele Dramen Hochhuths zudem krisenhate Situaionen dar[stellen], in denen Gruppen oder einzelne Individuen glauben, der Staat habe sein Gewaltmonopol verwirkt, da er nicht mehr ausreichend legiimiert sei oder unrechtmäßig handle“ (Neufert, 18). Dies entspricht Hochhuths eigener Aufassung über die Funkion der Literatur, die er als Widerstandsmöglichkeit des Einzelnen gegenüber der Macht ansieht. Mit der Behauptung „[d]er Mensch ändert sich nicht von Grund auf“ nähert sich Hochhuth (1965, 485) der pessimisischen Weltanschauung von Friedrich Dürrenmat und zugleich zum Brechtschen Opimismus, demzufolge Literatur den Menschen verändern kann. So können Hochhuths isolierte Gestalten wie Dürrenmats „muige Menschen“ (1998, 63) beschrieben werden, die „die schlimmstmögliche Wendung“ (ebd., 208) geschehen lassen. Anhand dieser Aufassung, die Literatur solle engagiert sein, wie auch anhand Hochhuths Hauptbeschätigung mit dem Zweiten Weltkrieg kann man schlussfolgern, dass seine neueren Dramen sowohl als poliische als auch historische Dramen beschrieben werden können, in denen er auf dokumentarisische Genauigkeit beharrt. Seine Beschätigung mit dem Zweiten Weltkrieg und seine Auseinandersetzung mit dem NS-Regime sind nicht nur poliisch, sondern auch objekiv, historisch und dokumentari(si)sch. Sein Drama wirkt in diesem Sinne als Mitel zur Vergangenheitsbewäligung und sozialen Katharsis. Ferner bedient sich Hochhuth einerseits Dürrenmats bevorzugter Theaterform, der (Tragi)Komödie und charakterisiert seine Hauptgestalt in Dürrenmatscher Manier, indem er den Herrscher verspotet und die Macht dem Einzelnen zuschreibt, der gegen das System kämpt, was Dürrenmats Gestalten wie Akki in Ein Engel kommt nach Babylon, Romulus in Romulus der Große, Möbius in Die Physiker, usw. machen. Zur gleichen Zeit ermöglicht Hochhuth dem Einzelnen eine akive Teilnahme an Durchführing von Veränderungen in der Gesellschat, ähnlich wie Brecht. Letztendlich scheitert aber Hochhuths Individuum wie auch in „Heil Hitler!“, wo den Protagonisten Till der Wunsch nach Rache dazu treibt, ein Mörder zu werden, weil er sich nicht ändern kann und ihn die Macht selbst übrnimmt. Dies unterstützt Hochhuths These über die Unveränderbarkeit des Menschen. 2. Die Veränderungen von Modalitäten der Macht im Drama In den klassischen zum Kanon gehörenden Werken wurde die Macht bzw. das herrschende poliische System in einer Gestalt personiiziert – von Sophokles‘ Anigone über Gothold Ephraim Lessings Emilia Galloi bis zu Chrisian 162 Journal of Language and Literary Studies Dietrich Grabbes Herzog Theodor von Gothland oder Franz Grillparzers Ein Bruderzwist in Habsburg, um nur einige Beispiele zu nennen. In diesen Werken wird Macht in einer Figur verkörpert, d.h. alle diese als Machträger deinierte Gestalten treten als Figuren persönlich auf der Bühne auf: in Anigone wird Macht in König Kreon verkörpert, dem Anigone Widerstand leistet; in Lessings Emilia Galoi verkörpert der Prinz Hetore Gonzaga die Macht und das herrschende System; genauso sind auch der Herzog Theodor in Grabbes gleichnamigem Schicksalsdrama und Kaiser Rudolf II in Grillparzers Bruderzwist die Machträger. Die Charakterisierungen dieser Gestalten enthalten eine kriische Komponente, aber diese Figuren werden immernoch als gemischte Charaktere dargestellt, d.h. als Menschen mit sowohl guten als auch schlechten Eigenschaten. Den Unterschied zwischen dem aniken und modernen Theater sieht Melchinger in der Tatsache, dass im modernen Theater, der gewöhnliche Mensch die Rolle des Helden übernommen hat und ideniiziert Georg Büchners Woyzeck als den Anfang des neuen poliischen Theaters. (vgl. Melchinger 43) Die Gatung, in der Macht auf die obengenannte Weise dargestellt wurde, ist bzw. war überwiegend, wenn nicht ausschließlich, die Tragödie. Um die Jahrhundertwende, im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert, kam es aber zu einem Umbruch. Der Franzose Alfred Jarry hat mit seinem König Ubu einen großen Skandal verursacht ähnlich wie später Hochhuth mit seinem Stellvertreter, weil Jarry sich traute, einen König in einer absurden (Tragi)Komödie darzustellen. Jarrys Ubu wird als ein kleiner, feiger Spießer dargestellt, der ständig nach Macht hungert und dessen Charakterisierung ständig zwischen Hanswurst und groteskem Massenmörder schwankt. Ähnliches tat Frank Wedekind in seiner Tragikomödie König Nicolo oder So ist das Leben, wo sein König Nicolo seine Macht durch Eigennutz und Leichtlebigkeit verloren hat. Diese zwei Beispiele zeigen, dass die Herrscher im Theater von einem besimmten Moment an immer lächerlicher und grotesker dargestellt werden. Friedrich Dürrenmat hat in seinem Essay Theaterprobleme (1954) bemerkt, dass diese Neuaufassungen der Macht in der zweiten Hälte des 20. Jahrhundert notwendig sind, weil sich die gesellschatlichen Umstände stark verändert haben: Die heuige Welt, wie sie uns erscheint, läßt sich dagegen schwerlich in der Form des geschichtlichen Dramas Schillers bewäligen, allein aus dem Grunde, weil wir keine tragischen Helden, sondern nur Tragödien vorinden, die von Weltmetzgern inszeniert und von Hackmaschinen ausgeführt werden. Aus Hitler und Stalin lassen sich keine Wallensteine mehr machen. Ihre Macht ist so riesenhat, daß sie selber nur noch zufällige, äußere Ausdrucksformen dieser Macht sind, beliebig zu ersetzen, und das Unglück, das man besonders mit dem ersten und ziemlich mit dem zweiten verbindet, ist zu weitverzweigt, zu verworren, zu grausam, zu mechanisch geworden und ot einfach auch allzu sinnlos. Die Macht Wallensteins ist Folia linguisica et literaria 163 eine noch sichtbare Macht, die heuige Macht ist nur zum kleinsten Teil sichtbar, wie bei einem Eisberg ist der größte Teil im Gesichtslosen, Abstrakten versunken. (...) Der heuige Staat ist jedoch unüberschaubar, anonym, bürokraisch geworden (...) Die echten Repräsentanten fehlen, und die tragischen Helden sind ohne Namen. Mit einem kleinen Schieber, mit einem Kanzlisten, mit einem Polizisten läßt sich die heuige Welt besser wiedergeben als mit einem Bundeskanzler. Die Kunst dringt nur noch bis zu den Opfern vor, dringt sie überhaupt zu Menschen, die Mächigen erreicht sie nicht mehr. Kreons Sekretäre erledigen den Fall Anigone. (Dürrenmat 1998, 59-60) Die Macht wird im Gegenwartstheater also nicht als eine menschliche Gestalt dargestellt. Michel Foucault erklärte schon in den 1970er Jahren wie nicht-personalisierte Strukturen der Normierung und Disziplinierung innerhalb der Gesellschat wirken. Gilles Deleuze setzt nach Foucaults Tod mit den Beschreibungen der Kontrollmechanismen in der Gesellschat fort. (vgl. 254f) Sie sprechen also über unsichtbare Mächte, die die Gesellschat steuern und die nicht im Souverän verkörpert sind. Darüber hinaus ist es wichig zu erwähnen, dass man nach Dürrenmats Meinung über die Mächigen heutzutage nur noch lachen kann, anstat sie zu bewundern: Doch die Mächigen sind die Clowns unter den Menschen, wenn auch die schrecklichen Clowns: durch ihre Macht sind sie von den Menschen und damit von ihren Opfern distanziert, getrennt, unmenschlich. Der Königsmantel ist das erhebendste Clownkostüm, das wir kennen. Darum ist die Einsamkeit König Philipps komisch und nicht tragisch, und darum ist das Unternehmen des Don Carlos, mit einem Clown die Welt zum Besseren zu wenden, eine Posse und nicht eine Tragödie. (Dürrenmat 1998, 148) Demnach kann die Macht in unserer Welt nur in einer Komödie, Posse oder Farce dargestellt werden. Dürrenmat sagt: „Uns kommt nur noch die Komödie bei.“ (1998, 62) Dies entspricht auch Bachins Theorie, dass das Lachen den Menschen vor Angst und Furcht retet: „Das Lachen setzte im Gegenteil die Überwindung der Furcht voraus. Das Lachen verfügt über keine Verbote und Einschränkungen. Macht, Gewalt, Autorität sprechen niemals die Sprache des Lachens.“ (35) Das bedeutet, dass man über die Macht lachen kann, was also eine airmaive Funkion hat. Dies zeigt teilweise auch Hochhuth in seiner Tragikomödie „Heil Hitler!“. 164 Journal of Language and Literary Studies 3. Entkörperung und Entmenschlichung der Macht In Hochhuths Irrenhaus-Komödie „Heil Hitler!“ indet die Handlung während des Zweiten Weltkrieges stat. Der 17-jährige Till simuliert eine Geisteskrankheit, bei der er ständig „Heil Hitler!“ rut; er gibt vor, unter dem Tourette-Syndrom zu leiden. Sein Tourete-Syndrom manifesiert sich aber nicht dadurch, dass er Schimpfwörter ohne Kontrolle ausrut, sondern er stoßt ständig den Gruß „Heil Hitler!“ schreiend aus und kann sich dabei angeblich nicht kontrollieren.. Er betrügt die Ärzte mit Hilfe seiner Muter und gibt vor, er sei verrückt. Außerdem fordert er alle anderen um sich herum auf, so ot wie möglich den Nazi-Gruß auszurufen. Mit seiner angeblichen Geisteskrankheit kann sich der Junge dem Wehrdienst entziehen. Gleichzeiig will er so den Tod seines Vaters rächen, der wegen seiner Weigerung, den Hitlergruß zu sagen, im Konzentraionslager ermordet wurde. Die Ärzte in der Anstalt wissen nicht, wie sie Tills auch ihrer Meinung nach übertriebene Hitler-Verehrung behandeln sollen. Sie dürfen nicht sagen, dass dies übertrieben ist und dass er deshalb verrückt ist, sonst wären sie selbst als Verräter angezeigt, weil dieser Gruß von dem NS-Führer verlangt wird. Die Idee zum Stück kam Hochhuth angeblich, als er erfuhr, dass Hitlers Popularität auch vor Irrenhäusern nicht Halt machte und sich viele psychisch Kranke selbst für den ‚Führer‘ hielten. Das Stück „Heil Hitler!“ ist bereits 2004 in dem Buch Nietzsches Spazierstock erschienen. Es sollte ursprünglich am 1. April 2006 zum 75. Geburtstag Rolf Hochhuths, später dann am 24. Juni im Naionaltheater Weimar uraufgeführt werden. Jedoch kam es zu Diferenzen zwischen den Theatermachern und dem Autor. Hochhuth untersagte schließlich die Premiere, weil die beiden einzigen Naziverbrecher im Stück von Frauen gespielt werden sollten: Dafür habe es keine Gründe gegeben, bei den Nazis seien fast ausschließlich Männer an den Verbrechen beteiligt gewesen, sagte Hochhuth (vgl. Pilz o. S.). Dies spricht dafür, dass Hochhuth die wahre Nachahmung und Rekonstruierung der Geschichte sehr nahe am Herzen lag. Der junge Till gibt vor, sich freiwillig zur SS anmelden zu wollen. Die Menschen in seiner Umgebung, die er kontrollieren will, vor allem sein Feind Roter und die Ärzte, glauben, dass er tatsächlich verrückt ist: „ROTTER, lacht, ippt an seine Sirn: Du? – zur SS? Du: Sohn eines KZ-Insassen, den ich deshalb einweisen mußte, weil er noch stolz war, niemals Heil Hitler zu sagen! Sei froh, wenn du nit wehrunwürdig bist, die nehmen dich nie zer Elitetruppe.“ (Hochhuth 2004, 55) Das Vorspielen des Wahnsinns hilt ihm, die Ärzte und die Wärter von seiner Harmlosigkeit zu überzeugen. Dadurch wird er der Kontrolle über sie habhat und kann die Ereignisse in die gewünschte Richtung steuern. Und diese Richtung ist Rache für den Tod seines Vaters. Folia linguisica et literaria 165 Der NS-Führer selbst erscheint nie im Stück, sondern nur sein Bild bzw. sein Porträt. Der Blockwart Roter klagt Till an, Roters Porträt des Führers gestohlen zu haben. ROTTER: Halt – was füren Bild issen das? Es ist groß wie ein Schild, halb so hoch wie Roter, der es vor sich her ins Zimmer trug – eine umgerahmte Pappe. Hitler noch im biergelben Parteirock, das große Plakat: „Wir sagen Ja zum Führer“, das nach der Okkupaion Österreichs in jedem Lokal, in jeder großen Firma aufgehängt werden mußte... TILL: Richig, tragen Sie’s in den Keller. Wär ja entsetzlich, wenn das mitverbrennte. ROTTER: Du hast in meiner Gartenlaube das Führerbild geklaut! (...) TILL: Ich? – das Führerbild? Sie haben’s ja, Herr Studienrat, hät’ ich’s geklaut – hing’s über meinem Bet! ROTTER: (...) dies Bild zum Hohn gehängt! Roter hat das Hitlerplakat herumgedreht, hält die Pappe hoch und man liest, sauber in Druckbuchstaben: Seit gestern durchgehend geöfnet! (...) der Sohn von dem KZler verhöhnt den Führer mit dem Spruch! (Hochhuth 2004, 56) Sie streiten darüber und Roter fűhlt sich vom Jungen körperlich bedroht. Obwohl Till tatsächlich den Diebstahl begangen hat, verneint er dies vor den Ärzten und gibt weiter vor, verrückt zu sein. Das Bild stellt für den Blockwart ein Zeichen der Liebe gegenüber seinem Führer dar, und durch den Besitz seiner Abbildung ergreit Roter wenigstens einen kleinen Teil der Macht oder zeigt, dass er dieser Macht angehört. Ferner manifesiert sich Macht in einem Satz bzw. in der Begrüßung „Heil Hitler!“ Die ständige Wiederholung des Grußes wurde von Till ins Sairische, sogar Groteske getrieben: TILL: (...) Und gehen Sie jetzt in den Keller, sonst erstate ich Anzeige, wie sich das gehört. Sie dringen hier ein, Sie sagen nicht Heil Hitler und hindern mich, den Schutzraum aufzusuchen.“ (54) Dies wiederholt sich ständig und Till droht mit Schlägen allen, die nicht jedes Mal beim Betreten des Zimmers „Heil Hitler!“ ausrufen. Bald klagt er wieder Roter an: „Sie [H. i. O.] sind, Herr Studienrat, hier eingedrungen und sagen nicht ‚Heil Hitler‘Sie [H. i. O.] verwehren mir den Zugang in den Keller, weil ich das Führerbild gestohlen häte – und tragen’s selber in der Hand. Singen Sie jetzt, sofort... (Hochhuth 2004, 57) Sein Schauspiel für Roter und die Ärzte ermöglicht es Till, seine Pläne zu verwirklichen: sich an Roter zu rächen und zu vermeiden, in die Armee bzw. zur Wehrmacht einberufen zu werden. Roter selbst wiederholt ständig, Till sei verrückt, hat aber zur gleichen Zeit Angst vor ihm und ist vorsichig, da Till körperlich viel stärker ist als er: 166 Journal of Language and Literary Studies Er hat den Roter mit einem Grif in dessen Kragen wie einen leichten Gegenstand in die Ecke ‚gestellt‘ – hat die Geige ‚angelegt‘ und iedelt den Song, der während der Hitlerzeit, als Anhängsel zur ersten Strophe des Deutschland-Liedes, Bestandteil der Naionalhymne war. (...) Er schreit das heraus – dann trit er den Denunzianten seines Vaters in den Hintern, bis der anfängt zu singen (...) Roter ist tatsächlich, im Gefühl mit einem Wahnsinnigen in vier Wände eingesperrt zu sein, gehorsam singend und marschierend und den Arm erhoben zum ‚deutschen Gruß‘ um den Eßzimmerisch marschiert. (Hochhuth 58) An körperlicher Krat überlegen, aber anscheinend schwachsinnig, gelingt es Till, Roter nach und nach einzuschüchtern, besonders wenn sie alleine auf der Bühne sind. Vor den anderen Figuren spielt Till den Unschuldigen und Wahnsinnigen, so dass z. B. die Ärzte keine Angst vor ihm haben und ihm sogar vertrauen. Sie lassen ihn andere Insassen ‚erziehen‘ und ihnen richiges Begrüßen mit dem Satz „Heil Hitler!“ beibringen. Zugleich ist der Gruß, wenn von den anderen geaüßert, eine Äußerung der Zugehörigkeit zur und Anerkennung der Macht. Bald erweist sich, dass der Gruß auch ein Versuch ist, die Illusion, dass die Deutschen als Sieger aus dem Krieg hervorgehen können, aufrechtzuerhalten, während die Bomber die Stadt ständig überliegen und die Städte in der Umgebung zerstören. Man nimmt es Till sogar nicht übel, wenn er Witze über den NS-Führer erzählt: als die Marken eingeführt wurden, die der Kopf des Führers ziert, da sagte einer bei der Post, der hinten an den Marken leckt und sie dann abzustempeln hat... TILL macht das vor, leckt, dann schlägt er krätig mit der Faust auf den Schreibisch: Jetzt könne er endlich – täglich den Führer tausendmal im Arsch lecken und auf den Kopf schlagen! Doch wo der Führer anfängt, da hört der Spaß auf. (Hochhuth 95) Er darf den mächigen Führer verspoten und auslachen, nur weil man glaubt, er sei irrsinnig. Genauso wie in Wedekinds König Nicolo hat der Hofnarr recht, indem er die Wahrheit sagt und er ist der Einzige, der über den Mächigen spoten darf. Dies entspricht auch der Aufassung von Dürrenmat und Bachin, dass die Macht in der Gegenwart grotesk und karnevalisiert ist. Die Gesichtslosigkeit der Macht wird bestäigt durch die Tatsache, dass als Todesursache von Tills Vater eine Blinddarmentzündung angegeben wurde. Als Tills Muter dies mit der Behauptung bestreitet, ihr Mann habe vor vielen Jahren an einer Appendektomie geliten, antwortet ihr der Geheimrat, es handle sich um einen „Irrtum der Verwaltung.“ (Hochhuth 2004, 85) Eine Manifestaion der Macht, aber immer noch nicht die Macht selbst, wird darüber hinaus im Stück durch untergeordnete Kleintyrannen dargestellt, Folia linguisica et literaria 167 was wiederum eine Darstellung der Macht in Dürrenmatscher Form ist. Er stellt nämlich fest, „Kreons Sekretäre erledigen den Fall Anigone.“ (Dürrenmat 1998, 60) In Hochhuths Tragikomödie manifesiert sich Macht auf diese Weise durch die Gestalten der zwei als „Bullen“ bezeichneten Personen, die den jüdischen Dichter van Hoddis verhaten, sowie durch den Blockwart Roter, dessen Posiion im Machtsystem durch die Lieferung von Informaionen an seine Übergeordneten gesichert ist. Roter droht Till: „Dich krieje ich – genau wie deinen Vadder, der hat au’ gelacht – biß daß ich dafor sorchte daß er nun gar nüscht mehr zu lachen hat.“ (Hochhuth 2004, 54) Die sogenannten Bullen, die den Dichter Jakob van Hoddis enführen, werden als ungebildete Dümmlinge dargestellt: BULLE 1, während er das Gedichtbändchen analphabeisch blöde mehr übersieht als ansieht, zweifellos hat er niemals seit seinen Volksschuljahren ein Gedicht auch nur irgendwo gesehen, geschweige denn gelesen: Wie haben doch klipp und klar die Aufgabe, ein Davidsohn ist bei Aulösung des jüdischen Altersheims in Bendorf-Sayn hier bei Ihnen eingewiesen!“ (Hochhuth 2004, 129) Sie wirken als das krude Werkzeug der Macht, das die Aufagbe hat, das Menschlichste, wie es die Kunst ist, wegzuschafen, ohne dass sie sich dafür rechferigen müssen bei denen, die vor ihnen hillos sind, wie im Falle von van Hoddis oder Frau Doktor. Sie müssen beispielsweise gar nicht auf die Fragen der Arzin in der Anstalt antworten und nehmen überhaupt nicht in Acht die Beweise, die sie vor sie setzt, dass es nicht um die gesuchte Person handelt. Sie sind von ihren Übergeordneten ermächigt und berechigt worden unbefragt und als die verlängerte Hand der Macht.unbeschränkt zu handeln. Dabei drohen sie mit einer Gewalt, die höher als sie selbst steht, als die Frau Doktor die Enführung des Dichters zu verhindern versucht: „BULLE 1: (...) Frau Doktor, was Sie da tun, dafür werden Sie gemeldet, Widerstand gegen die Staatsgewalt nennt das der Gesetzgeber ... halt sie fest, Günter! Sogar Judenbegünsigung macht die jetzt. Und da steht seit dem 1. März Todesstrafe druf!“ (Hochhuth 2004, 133) Darauf folgt die Erniedrigung des Dichters durch die zwei Bullen, die ihm die Hose herunterreißen, um sein Judentum festzustellen. Hochhuth beschreibt dies in den Regieanweisungen folgendermaßen: „Kannibalisches Gelächter; der nun nackte Hintern von Hoddis zeigt für eine Minute das ganze Ausmaß der restlosen Entwürdigung der Juden – vor ihrer Ermordung.“ (Ebd.) Darauhin drohen sie nochmals der Frau Doktor: „BULLE 1: Das hat für Sie, Frau Doktor, ein Nachspiel, ein sehr – ein böses Nachspiel: Weisen Se mal nach – können Se gar nich, nachweisen, hier Günter ist mein Zeuje (...) ich bringe Sie vorn Volksgerichtshof. Da hat schon so mancher for Judenbegünsigung die Rübe abgehackt gekriegt.“ (Hochhuth 2004, 134) 168 Journal of Language and Literary Studies Obwohl Till anscheinend die ganze Zeit die anderen Figuren im NS-System unter Kontrolle hat, wird am Ende des Stücks ofenbart, dass die Macht ihm doch unerreichbar bleibt. Den waren Mächigen, der sich hinter Roter und den anderen Mitarbeitern des NS-Regimes versteckt, erreicht Till nicht. Er kämpt nicht an erster Stelle für das übergeordnete Wohl der Gemeinschat, sondern erliegt am Ende dem eigenen Trieb zur Rache. Till ist ein pharmakos, ein menschliches Opfer (vgl. Frye 59), eine Gestalt, die als weder schuldig noch unschuldig betrachtet werden kann. Er ist eigentlich beides, da das, was ihm passiert ist (Kriegsumstände und Ermordung seines Vaters), größer ist, als jedes seiner Verfahren oder Taten. Zur gleichen Zeit gehört er zu dieser am Krieg schuldigen Gesellschat, wo Ungerechigkeit ein unvermeidbarer Teil der Existenz ist. (Vgl. ebd. 55) Er ist der isolierte Vertreter dieser Gesellschat, mit dem man Mitleid fühlt, aber gleichzeiig muss man seine Mordabsichten als seinem ulimaiven Ziel unangemessen beurteilen, sonst wiederholt sich der Kreis der Gewalt und es realisiert sich Dürrenmats etwas sarkasisch klingende Behauptung, dass es „[i]n der Wurstelei unseres Jahrhunderts (…) keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr [gibt]. Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt.“ (1998, 59) Till wird also am Ende zum Mörder und der Versuch einer gesellschatlichen Katharsis, was als Hochhuths Wirkungsabsicht verstanden werden kann und die Hochhuth dadurch zu erzeugen versucht, scheitert deswegen auch. Die Unfähigkeit der Vergebung und die Durchführung des Mordes an Rotter, die die bis dahin eher heitere Atmosphäre im letzten Akt ersetzen, stellen eine Wendung der Komödie zur Tragödie dar. Die bisher im Humor freiwerdenden Aggressionen Tills kommen zum ernsten Höhepunkt und er tötet den Blockwart und rächt seinen Vater. In einer solchen Gesellschat muss „[j]eder Versuch eines Einzelnen, für sich zu lösen was alle angeht, (...) scheitern.“ (Dürrenmat 1985, 93) Dadurch vervollständigt sich die Behauptung, dass die Macht nicht mehr bei dem Individuum liegt. Hochhuths Till denkt in der Tragikomödie, dass er sich dem poliischen System durch Schlauheit widersetzen kann und versucht gegen das poliische System, d.h. gegen die unsichtbare Macht zu kämpfen, indem er versucht, Wehrmachtdienst zu vermeiden und eine Brücke zu reten. Er versucht dadurch ein Held zu werden, indem er bemüht ist, die chaoische Welt wieder zu ordnen. Aber diese Welt duldet keine Helden solcher Art, nur „Hackmaschinen“ und „Weltmetzger“. (Dürrenmat 1998, 59) Er versucht eine Brücke vor dem Krieg zu reten und leistet dadurch Hitlers Befehl, Brücken zu sprengen, erfolgreich Widerstand. Aber zugleich und trotz des Flehens seiner geliebten Frau Doktor Hildegard, Roters Leben zu schonen, konnte Till dem Rachegelüste nicht widerstehen: „Wäre doch pervers gotles, überlebte der [H. i. O.] (...) Besser der [H. i. O.] aus der Welt ist als die Gerechigkeit.“ (Hochhuth 2004, 144) Durch Folia linguisica et literaria 169 die Ermordung des Blockwarts schließt Till den Kreis der Gewalt. Damit sperrt er sich selbst darin ein und verliert alle Chancen, die Macht und Kontrolle über sich selbst zu behalten oder zu erlangen. Die Macht kann nicht in einer Person verkörpert werden. Umso ironischer klingt daher seine Behauptung: „Aber ein bißchen helfen sollte jeder, daß sie nicht noch gänzlich verschwindet, die Gerechigkeit.“ (Ebd.) Obwohl es auf den ersten Blick hier um einen Fall der poeischen Gerechigkeit geht, werden die Prinzipien der gewaltäigen Machtausübung durch Tills Handeln unterstützt: Mord sitet Mord an; die Mächigen üben Gewalt aus, weil sie es können und die Gewalt verbreitet sich dadurch in konzentrischen Kreisen in der Gesellschat. Till beschützt und bewahrt die Brücke erfolgreich, scheitert aber auf der persönlichen Ebene, da er dem Feinde gleich wird. 4. Mögliche Modalitäten von Machtdarstellungen Da die Macht im Gegenwartstheater völlig entkörpert bzw. entmenschlicht und abstrakt ist, stellt sich die Frage, was dann an ihre Stelle trit. Als Macht könnte man bei Hochhuth Wissen(schat) und Informaionen als abstrakte Mechanismen der Macht erkennen. Till benutzt das Wissen seines Vaters im Bereich Psychiatrie und Psychologie, das ihm von der Muter beigebracht wird und liest liest dazu noch weitere Bücher, wie sich Geisteskranke benehmen, um dies vorgeben zu können. So behält er zu jedem Zeitpunkt Macht über den Geheimrat und die Krankenwärter. In einem anderen Werk von Hochhuth, Hitlers Dr Faust. Fragment, behauptet der Wissenschatler Hermann Oberth mit seinen neuen Wafen bzw. wissenschatlichen Erindungen den Krieg beenden zu können, wodurch die Menschheit zum Frieden gezwungen werden würde. Dass Macht als Wissen oder Informaion dargestellt werden kann, zeigt auch Elfriede Jelineks Stück Stecken, Stab und Stangl, das sich größtenteils damit beschätigt, wie die Medien mit ausgewählten und vorsichig gestalteten Informaionen die Meinung der Öfentlichkeit beeinlussen und steuern können. Auch Foucault ideniizierte die in den Wissenschaten produzierten Wahrheiten und Begrife als Vorteile, von denen aus die Macht ihre Herrschat ausübt. (Vgl. Foucault 228f) Thomas Oberender stellt sich auch die Frage, wie Macht im heuigen Theater darstellbar wird. Er behauptet, dass die Generaion junger Autoren auf der Suche nach Authenizität seien: Die neue Authenizität, nach der diese Künstler suchten, das „Wirklichwerden“ ihrer Darstellung beruhte auf einer Relexion der Kondiionierungen und Images, mit denen ihre Generaion auf Stofe und Personen schaute und der gleichzeiigen Ahnung, dass nur in diesen Fremdstofen [H.i.O.] des Inimen, in den Fermenten des Öfentlichen, wie es sich im Privaten zeigt, eine Konfrontaion mit der Macht noch erzählbar ist. (219) 170 Journal of Language and Literary Studies Er bietet selbst die folgende Antwort dar: Die Macht, die soziale und poliische Macht der neoliberal geformten Gesellschat und das Drama, das sie bewirkt, ist nicht mehr zu erfassen in einer Relaion zwischen ‚sehendem Subjekt und betrachtetem Objekt‘, sondern muß andere Strategien der Darstellung entwickeln. Unter diesem Gesichtspunkt ist einerseits die Rennaissance der Familienstücke aufällig, die Dramaisierung jener letzten Insel des Sozialen, in der alte Koniguraionen von Machtverhältnissen noch aktuelle Leidensprozesse bewirken, andererseits und vor allem aber auch die Öfnung der Auführungen für Momente des Performaiven und die zunehmende Dramaisierung von epischen Stofen, von Romanen und Filmdrehbüchern, in der soziale Kräfte wieder als Struktur faß- und erzählbar werden, eben weil diese Struktur nicht mehr auf der Personalisierung in der Figur beruht, sondern transpersonell ist und grundsätzlich mit der epischen Sicht auf [H.i.O.] Personen verbunden ist, deren Drama sich nicht mehr, um mit Peter Szondi zu sprechen, zwischen [H.i.O.] ihnen ereignet sondern zwischen ihnen und etwas dritem.(Oberender 220) Dieses drite Element erkennt Oberender als Autopoiesis des Zuschauers, warnt aber auch davor und hebt hervor, dass der heuige Mensch in einer kapitalisischen und kapitalisierten Gesellschat und Kultur lebt und selbst, neben Öl, Erz, Rohstofen, Lohnarbeit oder Sotware zur Ressource wird (222f). Daher kann man behaupten, dass es weitere abstrakte Darstellungen von Macht gibt, wie z. B. Geld bzw. Kapital. Franziska Schößler ideniiziert auch eine Tendenz von neuen Dramen, die Wirtschatskrise, Industriewelt, Arbeitslosigkeit, Ausbeutungsverhältnisse, Kapitalismus, Arbeitswelt in großen Firmen usw. behandeln (vgl. Schößler, 20). Solche Tendenzen weisen z. B. Dea Lohers Manhatan Medea, Urs Widmers Top Dogs, Lukas Bärfuss’ Öl, Christoph Nußbaumeders Mit dem Gurkenlieger in die Südsee usw. auf. In diesen kann man das Kapital bzw. Geld (Vgl. Bourdieu) als die abstrakte Macht ideniizieren. 5. Schlussfolgerung Man kann schlussfolgern, dass es zu einem Turn, einer Wende in der Darstellung der Macht im Gegenwartstheater gekommen ist. Es wurden im einleitenden Teil Beispiele von Theaterstücken genannt und beschrieben, in denen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die poliische Macht in der Regel im einzelnen Herrscher verkörpert wurde, der ein poliisches System repräsenierte. Macht war stark personiiziert, wie z. B. im Absoluismus des 18. Jahrhunderts. Mit der Bildung von Naionalstaaten bzw. mit der Entstehung von naional-völkischen Bewegungen im 19. Jahrhundert und totalitarisischen Regimen wie Fachismus oder Naional(sozi)ismus im 20. Jahrhundert, wurde diese Macht gesichtslos. Folia linguisica et literaria 171 In Bezug auf die Gatung wurde poliische Macht seit den Anfängen in Tragödien dargestellt, was auch von der Ständeklausel bedingt war. Durch die Auseinandersetzung mit normierten Theaterkonvenionen und die Krise des Dramas, wie sie Peter Szondi und Manfred Pister ideniiziert haben, hat sich die Darstellung der poliischen Macht im Theater stark verändert. Es ist zum Umbruch in der Bildung von Dialog und in der Charakterisierung von Gestalten gekommen. Nach Szondi ist das europäische Drama des ausgehenden 19. Jahrhundert durch eine Krise des dramaischen Dialogs gekennzeichnet (vgl. 19). Pister hebt ähnlich hervor, dass handelnde Personen bis ins 20. Jahrhundert eine Vorbedingung für die Auführbarkeit des Dramas waren (vgl. 23), was aber im Drama des 20. Jahrhunderts stark hinterfragt wird und was auch der These über die Darstellung entkörperter Macht entspricht. Ferner sind auch die Mischformen wie die Dürrenmatsche Tragikomödie in der Mite des 20. Jahrhunderts entstanden. Die Folge ist, dass die Darstellung von Macht bzw. einzelnen poliisch Mächigen im Gegenwartstheater eher in Komödien, Possen und Farcen geschieht. Man könnte auch behaupten, dieser Trend häte mit dem frühen französischen Vertreter des absurden Theater Jarry angefangen und fand auch in der deutschen Literatur seit Wedekind über Dürrenmat bis in die Gegenwart Anhänger. Dies zeigen Hochhuths neue (Tragik)Komödien über einst mächige poliische Persönlichkeiten wie z. B. Hitler in „Heil Hitler!“ Im heuigen poliischen Theater ist die Macht unsichtbar und entkörpert und die Tendenzen des heuigen poliischen Theaters bestehen darin, die abstrakten Mechanismen der Macht aufzuzeigen, wie z. B. Wissen(schat) und Informaionen, Geld bzw. Kapital oder etwas Drites, das wir derzeit noch nicht ideniizieren können. Die Analyse des Stückes von Hochhuth zeigt, wie man Wissen(schat) und Informaionen als Werkzeug der Macht verwenden kann, weil diejenigen die das Wissen besitzen (Wissenschatler und Medien), auch die Macht haben. Durch Wissen hat Till die Situaion um sich herum kontrolliert. Ihm ist gelungen, zu vermeiden, an die Front gerufen zu werden und am Ende seinen Racheplan an Roter zu verwirklichen. Andererseits hat die Tragikomödie nachgewiesen, dass die (poliische) Macht ihre menschliche Form völlig verloren hat und gesichtslos wurde und sich in Form von trivialen Gegenständen oder verbalen Ausdrücken enfaltet. Zugleich werden diese Repräsentaionen der Macht verspotet und verlacht von Individuen, die sich dieser Macht poliisch oder knstlerisch widersetzen. Wenn dieser Widerstand Gewalt anwendet, scheitert das Individuum in seiner Absicht, während sich der Kreis der Gewalt schließt. 172 Journal of Language and Literary Studies Literatur: Bachin, Michail. Literatur und Karneval. Frankfurt am Main: Fischer Verlag, 1990 Bourdieu, Pierre. „Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital“. In: Steinrücke, Margareta (Hg. )Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg: VSA 2005. 49-80. Deck, Jan. „Poliisch Theater machen – Eine Einleitung“. In: Deck, Jan et al. (Hg.) Poliisch Theater machen. Neue Arikulaionsformen des Poliischen in den darstellenden Künsten. Bielefeld: transcript Verlag, 2011. 11-28 Deleuze, Gilles. „Postskriptum über die Kontrollgesellschaten“ In: Unterhandlungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993. 254-262. Dürrenmat, Friedrich. Die Physiker. 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In: Nagelschmidt, Ilse et al. (Hg.)Rolf Hochhuth: Theater als poliische Anstalt. Weimar: Dr. Antje Denkena u. Dr. Franco Zizzo Verlag, 2009. 251-270. Schößler, Franziska. „Poliisches Theater nach 1945“. In: Aus Poliik und Zeitgeschichte 42/2008.htp://www.bpb.de/system/iles/pdf/IEKWKZ.pdf (16–22) 25. Juni 2016 Szondi, Peter. Teorija moderne drame 1880. – 1950. Zagreb: HC ITI, 2001 Ueding, Gert. „Die Kunst, Hochhuth zu sprechen“. In:Nagelschmidt, Ilse et al. (Hg.)Rolf Hochhuth: Theater als poliische Anstalt. Weimar: Dr. Antje Denkena u. Dr. Franco Zizzo Verlag, 2009.43-60. MODALITY OF POWER IN GERMAN MODERN DRAMA ON THE EXAMPLE OF ROLF HOCHHUTHS HEIL HITLER! Poliical theatre is diicult to deine and has always been ightly and directly connected to criical representaions of (poliical) power: from the ancient Greek polis through the absoluisic state to the modern ciizens‘ republic. The presence of such tendencies is visible in German theatre classics as well, e.g. Gothold Ephraim Lessing‘s Emilia Galloi, Friedrich Schiller‘s Kabale und Liebe, Johann Wolfgang von Goethe’s Götz von Berlichingen etc. These representaions of power appeared almost exclusively in form of tragedies and depicted power personiied in one character. As early as the mid-20th century, Friedrich Dürrenmat observed in his essay Theaterprobleme (1954) that new forms of theatre art and dramaic genre are necessary to represent power, especially due to extensive socio-poliical and cultural changes our society has gone through. One of the major changes according to Dürrenmat is that contemporary (poliical) power is not as visible any more as it once was: it has become mechanized, abstract and faceless, similarly to the contemporary state represented by the government and its vast and enormous administraion. This observaion allows room to quesion the ways of represening power in contemporary theatre. The paper ideniies modaliies of represening power in contemporary German drama exempliied by Rolf Hochhuth‘s tragic comedy Heil Hitler!, which shows that power is not personiied in a single character anymore, but completely dehumanized and, as shown in this paricular case, mocked for its facelessness. Key Words: power, tragedy, poliical theatre, Rolf Hochhuth Folia linguisica et literaria 175 UDK 82:32 Über die Eigenmacht der Literatur Tomislav Zelić, Zadar, tzelic75@gmail.com Abstract: Dieser Beitrag versucht die Frage zu beantworten, worin die Eigenmacht der Literatur gegenüber der Politik besteht. Dazu wird die Theorie, Geschichte und Kritik der ‚politischen Literatur‘ in Betracht gezogen. Erstens ist die Theorie der ‚politischen Literatur‘ insofern problematisch, als sich dieser Grundbegriff weder inhaltlich noch formal eindeutig bestimmen lässt. Das liegt daran, dass zweitens die Geschichte der ‚politischen Literatur‘ ein vielgestaltiges und uneinheitliches Bild zeichnet. Drittens verdeutlicht die Kritik der ‚politischen Literatur‘, dass sich unpolitische Literatur, engagierte Literatur, politische Gebrauchs-, Tendenz- oder Propagandaliteratur nicht eindeutig voneinander unterscheiden lassen. Dasselbe gilt für die strukturalistische Analyse der politischen Implikationen von Literatur. Daraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass Literatur über ihre je eigene poetische und politische Eigenmacht verfügt, deren Form und Inhalt, Gehalt und Gestalt, Absicht und Wirkung von Fall zu Fall poetisch und politisch unterschiedlich zu bewerten ist. Schlüsselwörter: Autonomie, Authentizität, Engagement, Kunst, Literatur, Macht/ Herrschaft, Politik, Tendenz 1. Zur Einführung Die Frage nach der Eigenmacht der Literatur mag auf den ersten Blick eigenwillig und befremdlich anmuten. Daher gilt es zunächst einige Bemerkungen als Vorsichtsmaßnahme gegen Missverständnisse vorauszuschicken. Um die Verhältnisse zwischen Poliik, Macht und Herrschat einerseits, der Literatur andererseits, grundsätzlich und im Allgemeinen sowie in ihren besonderen, geschichtlich wechselnden Umständen schlaglichtarig zu beleuchten, gilt es im Folgenden die Begrilichkeit der so genannten ‚poliischen Literatur‘ sowie der ‚unpoliischen Literatur‘ zu klären. Vor diesem Hintergrund werden ausgewählte Autoren, Werke und Epochen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart als Paradebeispiele angeführt, ohne iefergehende Analyse, Interpretaion und Kriik zu bieten, was den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde. Im Ergebnis sollte sich nicht nur eine heurisisch angelegte Typologie aufstellen, sondern auch die Schlussfolgerung ziehen lassen, dass Literatur zwar der poliischen Macht und Herrschat unterliegt, gegenüber diesen jedoch auch über unmitelbar künstlerische wie mitelbar poliische Eigenmacht verfügt. 176 Journal of Language and Literary Studies Die scheinbar einfache Grundfrage nach den Wechselverhältnissen zwischen Literatur und Poliik zieht eine ganze Reihe von weiteren Fragen nach sich: Zweifelsohne unterliegt Literatur einerseits der Macht und Herrschat, es stellt sich jedoch von Fall zu Fall die Frage, auf welche Art und Weise sie ihnen unterliegt. Andererseits stellt sich die Frage, ob Literatur über Macht und Herrschat über die Poliik verfügt, und falls ja, auf welche Art und Weise. Unterscheidet sich die Macht und Herrschat der Literatur über die Poliik von der Macht und Herrschat der Poliik über die Literatur? Was ist und wie funkioniert demnach die so genannte ‚poliische Literatur‘ bzw. die ‚unpoliische Literatur‘? Es geht anscheinend um die Engführung und Entgegensetzung von künstlerischer und poliischer Meinungs- und Ausdrucksfreiheit als geisiger Bürger- und Menschenrechte. Ofensichtlich erteilt sich die Literatur selbst nicht nur künstlerische sondern auch poliische Vollmachten, um ihre Wirkungsabsichten zu erfüllen. Darunter ließe sich das Phänomen verstehen, dass Literatur sich selbst bevollmächigt, auf eigene Faust, ohne Autrag, Befugnis und Erlaubnis der Poliik und ohne Rücksicht auf die fremde Zuständigkeit und Rechte des Poliischen, dennoch ‚poliisch‘ zu wirken, zumal in einem uneigentlichen und abgeleiteten Sinne des Wortes. Die Eigenmacht der Literatur umfasst zwei Seiten. Das ist einerseits die poliische Eigenmacht der literarischen Kunst und andererseits die künstlerische Eigenmacht der ‚poliischen Literatur‘. In dem einen Extremfall könnte die absoluisische Kunst die Literatur als Ersatzpoliik missbrauchen. In dem anderen Extremfall könnte die totalitäre Poliik die Literatur in ihren Dienst stellen. Dazwischen gilt es Grenzen auszuloten, die Grenzen der poeischen und poliischen Eigenmacht der literarischen Kunst sowie die Grenzen der poliischen Macht und Herrschat über die Literatur. Von besonderem Erkenntnisinteresse sind dabei die dialekischen Tücken der „Ästheisierung der Kunst“ durch den Totalitarismus einerseits und der „Poliisierung der Kunst“ durch den Anitotalitarismus andererseits (Benjamin1936, 506). 2. Zur Theorie der poliischen Literatur Der Versuch, die Gatung der so genannten ‚poliischen Literatur‘ mit Verweis auf deren angeblich poliischen Gegenstand zu besimmen, ist nicht nur unterkomplex und daher unbrauchbar, sondern irreführend, zum Scheitern verurteilt und schlichtweg falsch. Denn es gilt nicht einfach nur, dass die herkömmlichen Theorien des künstlerischen und literarischen Gegenstand, sei es idealisisch geistesgeschichtlicher, sei es materialisisch gesellschatsgeschichtlicher Provenienz, nach der linguisischen und kulturwissenschatlichen Wende aus der Mode gekommen sein mögen, sondern es stellt sich über den Befund des Substanzialismus, Essenzialismus oder so genannten ‚Inhalismus’ hinaus Folia linguisica et literaria 177 ein gravierendes sachliches Problem, das grundsätzlich unlösbar zu sein scheint. Es besteht in der zeitgenössischen Literaturwissenschat zwar der prekäre Konsens, dass es sich bei dem Syntagma ‚poliische Literatur‘ um einen unscharfen Sammelbegrif handelt, unter den äußerst verschiedene Autoren, Werke und Gatungen zusammengefasst werden, die sich mit poliischen Themen, Ereignissen oder Ideen befassen. Das Problem liegt jedoch schlichtweg darin, dass die scheinbar einfache Frage nach der poliischen Literatur die weitaus schwierigere Frage nach der Poliik und dem Poliischen nach sich zieht und damit eine Büchse der Pandora öfnet (vgl. Schmit, Vollrath, Luhmann, Machart, Bedorf/ Rötgers, Bröckling/Feustel). Dennoch lässt sich beobachten, dass Literatur selbst ihre je eigene Poliik bzw. ihr je eigenes Poliisches nach Absicht des Autors, in Rücksicht des Werkes oder nach Einsicht des Lesers oder auch ungeachtet dessen besimmt. Und gerade darin besteht die künstlerische und poliische Eigenmacht der Literatur. Um ‚poliische Literatur‘ zu besimmen, richten klügere Köpfe die Aufmerksamkeit auf die literarische Form anstat auf den poliischen Gegenstand. Ungeachtet dessen, dass der „Begrif der Form“ ein „blinder Fleck der Ästheik“ sei, „weil alle Kunst derart auf ihn vereidigt ist, daß er seiner Isolierung als Einzelmoment spotet“ (Adorno 1970, 211), hat die Rede von der ‚Poliik der Form‘ (vgl. Kapellhof, Christ/Dressler) derzeit wieder Konjunktur.7 Angeblich habe die literarische Formgestaltung poliische Implikaionen, die sich nicht auf einen poliischen Gegenstand zurückführen lassen. Es stellt sich dabei jedoch die entscheidende Frage, was mit dem rätselhaten Syntagma ‚Poliik der Form‘ gemeint sein könnte. Es handelt sich ofensichtlich um einen uneigentlichen und sinnbildlichen Sprachgebrauch im ungeraden und nicht im geraden Sinne des Wortes ‚Poliik‘ oder ‚das Poliische‘, obgleich die literarische Formgestaltung durchaus zu einem Poliikum werden kann bzw. der Poliisierung jederzeit fähig ist. Unter Verwendung von auf das Höchstmaß ausgeweiteter Begrife der Poliik und des Poliischen lässt sich zwar nahezu jeder literarische Text poliisch lesen, verstehen und auslegen. Der Gegenstand solcherlei Poliisierung ist jedoch weder Inhalt und Form noch Gehalt und Gestalt des literarischen Textes. Die Literaturkriik konsituiert ofenbar durch die Täigkeit der mit guten Gründen wertenden Urteilskrat allererst ihren Forschungsgegenstand. Das Paradebeispiel für eine ‚Poliik der Form‘ sind die Parabelstücke von Heiner Müller (19291995) aus den 1950er und 60er Jahren, die sich der griechischen Mythologie bedienen, zu nennen sind Philoktet (1958/1964) und Sophokles/Ödipus, Tyrann (1966/67), um die stalinisischen Tendenzen und sozialisischen Ideologien in vgl. auch die aktuellen calls for papers unter htps://networks.h-net.org/node/79435/ discussions/151007/cfp-tagung-poliische-literatur-debaten-begrife-aktualit%c3%a4t sowie htps://networks.h-net.org/node/79435/discussions/125032/cfp-das-poliischeder-literatur-der-gegenwart-koblenz-landau (18. juli 2017). 7 178 Journal of Language and Literary Studies der DDR kriisch zu entlarven. Dennoch ist die Rede von der ‚Poliik der Form‘ in diesem Zusammenhang ein schwaches Sinnbild für die unmitelbar künstlerische und mitelbar poliische Eigenmacht der Literatur. Aus ideologiekriischer (Adorno), diskursanalyischer (Foucault) und systemtheoreischer (Luhmann) Sicht lässt sich Macht und Herrschat nicht in das Teilsystem oder den Diskurs der Poliik oder des Poliischen in Quarantäne setzen, so dass andere Teilsysteme und Diskurse macht- und herrschatsfrei erscheinen würden. Vom Standpunkt der Ideologiekriik im Anschluss an Marx, Nietzsche und Freud erscheinen Macht und Herrschat allgegenwärig. Und es gilt ganz im Gegenteil, wie die Redeweise von der Macht und Herrschat des Geldes, der Liebe, Schönheit, Wahrheit und Gerechigkeit, die mehr ist als bloß ein Sinnbild, bereits anzeigt: Erstens verfügt die Literatur als solche unmitelbar über ihre je eigene Macht und sie verfügt zweitens über ihre je eigene Form von poliischer Macht, so mitelbar, uneigentlich und abgeleitet sie im Einzelfall auch sein mag. Im Mitelpunkt der Aufmerksamkeit steht hier daher die Eigenmacht der Literatur. Und zwar nicht nur diejenige ästheische, poeische und poliische Eigenmacht der Literatur, die in der Absicht der Autors, in Rücksicht auf das Werk oder durch Einsicht des Publikums besteht, sondern insbesondere auch diejenige, die das autonome und authenische Kunstwerk ungeachtet der Absichten des Autors, den Rücksichten des Werkes und den Einsichten des Publikums möglicherweise im inneren und äußeren Gegensatz und Widerspruch dagegen ausübt. Zumal in dem Sinne der ideologiekriischen Diskursanalyse, der zufolge die Eigenmacht der Kunst und Literatur in Gestalt der Transgression und Subversion die diskursiven Regeln und Disposiive der Poliik, Kunst und Literatur in Frage stellt, zerstört und verändert (vgl. Foucault 1963). 3. Zur Geschichte der ‚poliischen Literatur‘ Trotz der geschilderten Problemaik lässt sich die sog. ‚poliische Literatur’ als operaiver Begrif der Selbst- oder Fremdbeschreibung untersuchen. Blickt man auf die Geschichte der dem Selbst- oder Fremdverständnis nach ‚poliischen Literatur‘, so erhält man ein äußerst vielgestaliges und uneinheitliches Bild. Es lässt sich kaum eine durchgängige Gatungsgeschichte schreiben. Selbstverständlich lässt sich im Allgemeinen und Besonderen beobachten, dass in Zeiten des geschichtlichen Umbruchs poliische Themen in der Tat zum Gegenstand der literarischen Verarbeitung werden, so etwa im Vormärz, gegen Ende des Wilhelminischen Kaiserreichs, gegen Ende der Weimarer Republik, in der Zwischenkriegszeit, nach dem Zweiten Weltkrieg, während der Studentenbewegung um 1968 oder der deutschen Wendezeit um 1989/90. Die Anfänge der poliischen Literatur lassen sich in die Zeiten des Humanismus und der Reformaion zurückverfolgen. Die poliische Lyrik des 14. und 15. Jahrhundert Folia linguisica et literaria 179 themaisiert Auseinandersetzungen zwischen Klerus, Adel und dem aufstrebendem Bürgertum. Der Höling des 17. Jahrhunderts, der die Gunst und den Schutz des Mäzenentums bedarf, bezieht in der Regel nicht Stellung in poliischen Dingen oder falls doch, dann verdeckt. Im Barock schließen sich Poliisierung und Konfessionalisierung der Literatur gegenseiig ein. Die poliischen Machtkämpfe im Dreißigjährigen Krieg werden literarisch verarbeitet. Im Anschluss an die Französische Revoluion lenkte der Wandel von der literarischen zur poliischen Öfentlichkeit das Interesse auf die staatlichen Einrichtungen der Macht und Herrschat. Die Idee des Naionaltheaters nach Lessing, Goethe und Schiller begründet sich auf dem poliischen Macht- und Herrschatsanspruch der bürgerlichen Schritsteller auf dem Wege der moralischen Überlegenheit gegenüber der poliischen Vorherrschat von Adel und Klerus über die Ständegesellschat (vgl. Habermas, 116f.). Die aristotelische Regelpoeik war bekanntlich bis in das Zeitalter der Aufklärung wirkungsmächig. Dagegen setzen Sturm und Drang, Weimarer Klassik und Romanik den Kult des Kratgenies, das laut Kant sich selbst disziplinierend und eigenmächig die Regeln setzt, unter den Postulaten der Originalität, Kreaivität und Innovaion, die sich auf die künstlerische Eigenmacht der Literatur berut (vgl. Kant 1790, 307; Werber, 44; Hirschi). Im Sinne des frühmodernen Postulats der künstlerischen Freiheit, Unabhängigkeit und Eigengesetzlichkeit der Literatur seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ist die literarische Poliik oder staatliche Literaturpoliik, die Literatur als Mitel der Poliik gebraucht und missbraucht, abzulehnen, ebenso wie die Verfolgung aller anderen heteronomen, d.h. kunsfremden Ziele und Zwecke, seien sie religiös, seien sie kommerziell, da andernfalls Zweckenfremdung und Zielverfehlung drohen. Die Kehrseite der Autonomieästheik ist, dass sich unter den Rahmenbedingungen der funkionalen Ausdiferenzierung der autonomen und autopoeischen Teilsysteme in der modernen Gesellschat neuarige Spielräume eröfnen, die verschiedenarige Möglichkeiten zur Funkionalisierung, Instrumentalisierung und Totalisierung der modernen Kunst und Literatur im Namen der Poliik bieten (vgl. Vollhardt). Im Vormärz beginnen sich die Schritsteller des Jungen Deutschland, namentlich Ludolf Wienbarg (1802-1872), Heinrich Laube (1806-1884), Theodor Mundt (1808-1861) und Karl Gutzkow (1811-1878), zu deren geisigen Vorläufern Ludwig Börne (1786-1837), und Heinrich Heine (1797-1856) zählen, die seit 1830 im Pariser Exil leben und trotz Zensur poliische Impulse geben, dementsprechend unter dem Schlagwort „Poliisierung der Literatur“ (Gutzkow 1832, 214) in den Dienst der bürgerlichen Emanzipaion von den religiösen und staatlichen Autoritäten zu stellen. Sie beabsichigen die Gesellschat mit literarischen Miteln poliisch zu revoluionieren. In der Literatur tragen sie den poliischen Kampf um soziale und poliische Freiheit, naionale Einheit und Demokraie 180 Journal of Language and Literary Studies aus. Mit Seitenhieb gegen die Klassik und Romanik der Goethezeit verkündete Heine bereits 1831 „das Ende der Kunstperiode“ und der „aristokraischen Zeit der Literatur“ und den Beginn der demokraischen Zeit der Literatur (DHA 8, 125; vgl. Häntzschel). Das Junge Deutschland lehnte die Autonomieästheik der Goethezeit und die der Alltagswelt abgewandte Klassik und Romanik streng ab und versuchte sich an der poliischen „Revoluion Deutschlands“ durch die literarische Wiederspiegelung der „Poesie des Lebens“ (Gutzkow 1832, 288). Es geht darum, die gegenwärige gesellschatliche Wirklichkeit anstat eines utopischen gesellschatlichen Ideals darzustellen. Die damit zur poliischen Gebrauchsliteratur verkommene Kunstliteratur, die auf tagespoliische Aktualität und Intervenion setzt, dient als Mitel zur Durchsetzung der poliischen Revoluion, was teils um den Preis von gravierenden Qualitätsmängeln erkaut wurde. Das Paradebeispiel dafür ist der Zeitroman unter dem Titel „Wally, die Zweilerin“ von Karl Gutzkow aus dem Jahre 1835, der im selben Jahr zum Anlass für das staatliche Verbot gegen das Junge Deutschland wurde, namentlich Wienbarg, Laube, Mundt und Gutzkow sowie Heine, nachdem der konservaive Literaturkriiker Wolfgang Menzel (1798-1873) Gutzkows literarisches Werk als blasphemisch und pornographisch denunziert hate. Das Verbot galt mit schwachen Abmilderungen bis 1842. Laube und Gutzkow wurden gar zu Hatstrafen verurteilt. Ironischerweise beruhte das Verbot auf einem Missverständnis der Regierung. Die genannten Autoren wurden fälschlicherweise zu der Jungdeutschen Schule von poliischen Akivisten gezählt, zu denen kein Kontakt bestand. Der Roman gilt als Umsetzung von Gutzkows Idee des neuen Gesellschatsromans als „Roman des Nebeneinanders“ (Gutzkow 1850/1854). Charakterisisch dafür sind nicht nur die vielgestaligen Erzählgegenstände sondern auch die zerklütete Form, Gatungsmischungen und Silbrüche. Erzählerische Fragmente und Skizzen stehen neben Tagebucheinträgen, Briefen, essayisischen Abhandlungen. Der Erzählduktus gleicht aufgrund des Zensurdrucks einem langatmigen und ermüdenden Redeschwall voller Auslassungen und Abschweifungen. Der Erzählsil ist von erheblichen sprachlichen und künstlerischen Mängeln geprägt. Grammaik und Syntax sind teils fehlerhat. Der Erzählstof bezieht sich zwar teils auf wirkliche Ereignisse, die Fabel erscheint jedoch psychologisch unmoiviert und daher unrealisisch. Banale Relexionen überwiegen vor der poeischen Darstellung der gesellschatspoliischen Wirklichkeit. Die allzu eindeuige Symbolik der Alltagsprosa beherrscht die vieldeuige Allegorie der Kunstpoesie. Als Ideenroman veranschaulicht der Zeitroman dennoch Gutzkows Theorie und Praxis des „Ideenschmuggels“ (Gutzkow 1832, 190) in der ‚poliischen Literatur‘. Um die Zensur zu unterwandern, umfasste der Roman insgesamt mehr als 20 Bögen, also ca. 300 Seiten, da unter diesen Umständen die Zensurbehörden aufgrund von Zeitmangel darauf verzichteten, Texte genauer zu untersuchen. So konnte Gutzkow einen seiner freigeisigen Essays in dem Ro- Folia linguisica et literaria 181 man unterbringen, der zum Stein des Anstoßes für den konservaiven Literaturkriiker Menzel werden sollte. Die darin vertretenen poliischen Ideen fallen eher bescheiden aus. Es geht im Anschluss an den französischen Soziologen und Philosophen Henri de Sain-Simon (1760-1825), einen Vertreter des Frühsozialismus, und den deutschen Schritsteller, Philosophen und Theologen David Friedrich Strauß (1808-1874) um Fragen der Sexualmoral und Religionsfreiheit. Im Vergleich zu den Fragen nach der wirtschatlichen, rechtlichen und poliischen Einheit der deutschen Kleinstaaten, der verfassungsmäßigen Rechtsstaatlichkeit sowie den Bürger- und Menschenrechten der Freiheit und Gleichheit handelt es sich dabei jedoch um tagespoliische Nebenschauplätze. Dennoch lässt sich daran die künstlerische und poliische Eigenmacht der Literatur beobachten. Was die poliische Wirkungsabsicht angeht, d.h. die Revoluion zu schüren, so besteht die Ironie der Geschichte darin, dass es in der Zeit des Vormärz von 1815 bis 1848 nur vereinzelte Aufstände in West- und Süddeutschland gab, die allesamt gewaltsam niedergeschlagen wurden. Daher lässt sich daran ebenso der Mangel an künstlerischer und poliischer Eigenmacht der Literatur beobachten. Die inneren und äußeren Widersprüche und Gegensätze, die der ‚poliischen Literatur‘ anhaten, klingen schon in Faust I von Johann Wolfgang Goethe (1749-1832) aus dem Jahre 1808 in der berühmtberüchigten Szene an, in der ein gewisser Studiosus Brander in Auerbachs Keller in Leipzig das poliische Lied als „garsig Lied“ und „leidig Lied“ (68) bezeichnet. Obwohl Heine das Junge Deutschland anfangs gelobt hate, nahm er später Abstand. In diesem Zusammenhang entstand der bis heute zumeist negaiv konnoierte und pejoraiv gebrauchte Begrif ‚Tendenzdichtung‘ oder ‚Tendenzliteratur‘ in kriischer Auseinandersetzung mit der Literatur des Jungen Deutschland. Damals nannte man die poliische oder weltanschauliche Parteinahme eines literarischen Werkes ‚Tendenz‘ (vgl. Loter, Opitz, Bernstorf, Wilpert). Das Wort ‚Tendenzliteratur‘ ist das deutsche Gegenstück zu dem etwa gleichzeiig entstandenen französischen Kompositum litérature engagée, das damals als Fremdwort Eingang in die deutsche Sprache fand (Lommel). Heine hob die Autonomie und Authenizität der Kunst gegenüber der Poliik hervor und äußerte sich abschätzig gegen die Literatur des Jungen Deutschland. Die Jungdeutschen „Künstler, Tribune [= Poliiker] und Apostel [= Theologen]“ (DHA 8, 218) vermischen ihre Betäigungsfelder und missverstehen die aktuelle Tagespoliik als Aufgabe der Literatur. Die künstlerische Eigenmacht der Jungdeutschen Literatur erscheint daher als künstlerisch zu gering, um die poliische Eigenmacht der Literatur zur Geltung zu bringen. Neben Heine übte auch Georg Büchner (1813-1837) scharfe Kriik an der Poliik des Jungen Deutschland. In einem Brief aus Straßburg an Gutzkow aus dem Juni 1836 äußert er sich aus der Sicht des Materialismus und unter Bezichigung des Idealismus abschätzig (Büchner, 319). Die poliische Eigenmacht 182 Journal of Language and Literary Studies der Jungdeutschen Literatur erscheint daher als zu gering, um die künstlerische Eigenmacht der Literatur zur Geltung zu bringen. Das Junge Deutschland überschätzte ofensichtlich die Eigenmacht der Literatur dermaßen, dass die Kunst mit poliischen Aufgaben überlastet wurde, die sie grundsätzlich nicht bewäligen kann. Die poliische Gebrauchsliteratur enfernt sich von der Kunst und rückt in die Nähe von Journalismus und Publizisik. Deren literarische Gestaltungsformen und poliische Tendenzen veralten aufgrund der Zeitgebundenheit schneller als die Kunstpoesie. Trotz des großarigen Scheiterns kann das Junge Deutschland dennoch als ein schwacher Vorläufer des Naturalismus gelten, obgleich dieser dessen Erblasten trägt, was die Überschätzung der poliischen Eigenmacht der Literatur angeht, selbst wenn die künstlerische Eigenmacht der Literatur zum Zuge kommen mag. Was nun umgekehrt die Indienstnahme der Literatur durch die staatliche Poliik angeht, so übertrit das 20. Jahrhundert wohl alles davor Gewesene. Zum einen missbrauchte das NS-Regime die tradiionelle Heimatliteratur aus dem 19. Jahrhundert für ideologiepoliische Propaganda. Mit der Gründung der Reichskulturkammer als oberster Zensurbehörde im Jahre 1933 wurde die so genannte ‚entartete‘ Kunst verboten. Davon betrofen waren unter anderem auch die Klassiker der literarischen Moderne: von Bertolt Brecht (18981956), Alfred Döblin (1878-1957) und Franz Kaka (1883-1924) über Thomas Mann (1875-1955) und Heinrich Mann (1871-1950) bis zu Arthur Schnitzler (1862-1931), Robert Musil (1880-1942) und Hermann Broch (1886-1951). Zum anderen hate der Stalinismus bereits 1932 den so genannten ‚sozialisischen Realismus‘ per kulturpoliischem Staatsdekret als einzig geltendes Programm für Kunst und Literatur verordnet. Das DDR-Regime tat es ihm mit der Gründung des sogenannten ‚Kulturbundes‘ im Jahre 1945 nach. Nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte sich im Kalten Krieg – trotz hetiger Widerstände aus konservaiven Kreisen – vor allem in der Gruppe 47 sowie im Umfeld der Studentenbewegung wiederum eine poliisch engagierte Literatur. Zu den Schritstellern, die sich mit ihren literarischen Werken in den Dienst einer poliischen Sache stellten, die ihnen persönlich am Herzen lag, und sie in der Öfentlichkeit verteidigten, zählt die Trümmer- und Kahlschlagliteratur, so etwa zunächst Wolfgang Borchert (1921-1947), Günter Eich (1907-1972), Alfred Andersch (1914-1980) und Heinrich Böll (1917-1985) sowie später auch Siegfried Lenz (1926-2014) und Günter Grass (1927-2015). Sie vertraten gleichermaßen ‚das moralische Gewissen der Naion‘ wie ihr persönliches schlechtes Gewissen und versuchten unter dem Grundsatz, dass Literatur auch einen poliischen Bildungsautrag zu erfüllen habe, ihren künstlerischen Individualismus mit der Verantwortung des Schritstellers und Staatsbürgers für poliische Fragen der aktuellen Zeitgeschichte und Vergangenheitsbewäligung zu verbinden. Den Kampf um poliische Werte wie den postumen Anifaschismus, Paziismus Folia linguisica et literaria 183 und die Demokraie bestriten sie teils in Gestalt der akiven Mitgliedschat in Schritstellerverbänden und poliischen Parteien, Teilnahme an Protesten und Versammlungen sowie Aufrufen zu öfentlichem Widerstand und Veränderungen. Sie nahmen Einluss auf die Regierung und Meinungsbildung in den Massenmedien durch Vorträge, Zeitungs- und Magazinbeiträge, Pamphlete und Manifeste. Dabei stützten sie sich zwar auf ihr Ansehen, das sie als Künstler genossen, worin die künstlerische und poliische Eigenmacht der Literatur bestehen mag. Die Grenzen des poliischen Engagements von Schritstellern, deren Meier keine besonderen Fähigkeiten und Kenntnisse auf dem Gebiet der Poliik verlangt, werden allerdings sichtbar, sobald man in Betracht zieht, dass sich die schritstellerischen Beiträge auf dem modernen Markt der poliischem Meinungen nicht von denen der anderen Teilnehmer unterscheidet. Die Skandale um Andersch (vgl. Sebald), Grass oder auch Peter Handke (geb. 1942) verdeutlichen die Tücken, die sich hinter dem poliischen Engagement der literarischen Kunst verbergen. Dabei überschaten Fragen der Biographie otmals die besonnene literaturwissenschatliche Erforschung der Texte. Diese Tatsache deutet darauf hin, dass das literarische Kunstwerk verfügt ohne Rücksicht auf die Wirkungsabsichten des Autors und Einsichten des Publikumsüber künstlerische und poliische Eigenmacht. 4. Zur Kriik der ‚poliischen Literatur‘ Die ‚poliische Literatur‘ steht seit jeher im Kreuzfeuer der Kriik. Die schärten ihrer Kriiker behaupten, Dichtung sei grundsätzlich kein angemessenes Medium für Poliik und Poliik kein angemessener Gegenstand für Dichtung (Hinderer, 222). Der Haupteinwand lautet immer wieder, poliische Indienstnahme und Parteilichkeit seien nicht mit den künstlerischen und poliischen Grundsätzen der Freiheit und Redlichkeit zu vereinbaren. Die Vorwürfe richten sich weiterhin auf sprachliche, literarische und künstlerische Schwächen und Qualitätsmängel, konvenionelle Formen und manierisische Silisik, airmaive Rhetorik zum Zwecke der Agitaion und Propaganda, Parteilichkeit sowie Indienstnahme durch Macht- und Interessengruppen. Poliisch engagierte Schritsteller berufen sich dagegen auf das Bürger- und Menschenrecht der freien Meinungsäußerung und Ausdrucksfreiheit. Das literarische Kunstwerk verfügt gegenüber den Absichten des Autors und Einsichten des Publikums über Eigenmacht und strat die einen und anderen lügen. Spätestens seit dem Vormärz besteht im Spannungsfeld zwischen der Freiheit und der Eigenmacht der Literatur einerseits, deren Funkionalisierungen, Instrumentalisierungen und Totalisierungen im Namen der Poliik andererseits, ein breites Spektrum von der je nach ihrer Selbst- und Fremdbesimmung nach unpoliischen über die poliisch engagierte bis zu der Tendenzdichtung oder 184 Journal of Language and Literary Studies Tendenzliteratur. Diesem Spektrum gilt es nun nicht nur historisch sondern auch typologisch nachzuspüren. Von besonderem Erkenntnisinteresse in Hinsicht auf die poeische und poliische Eigenmacht der Literatur sind dabei die inneren und äußeren Widersprüche und Gegensätze der unpoliischen Literatur, engagierten Literatur und Tendenzliteratur. So mag erstens, ihrer Selbst- und Fremdbesimmung nach, unpoliische Literatur der Romanik, des Biedermeier und Ästheizismus angeblich Poliik weder inhaltlich noch gestalterisch zum Gegenstand nehmen und lediglich künstlerische und keinerlei poliische Zwecke und Ziele verfolgen, worin die unmitelbar künstlerische Eigenmacht der Literatur gegenüber der Poliik, des Poliischen und der Poliisierung bestehen mag. Und sie kann ihren rein künstlerischen Wirkungsabsichten nach dem Grundsatz des l’art pour l’art zum Trotz dennoch poliische Implikaionen erkennen lassen, die der Ideologiekriik verfallen, worin die mitelbar poliische Eigenmacht der Literatur besteht. Zweitens mag Tendenzliteratur oder Tendenzdichtung, also Literatur, die mit agitatorischer oder propagandisischer Absicht eine eindeuige poliische Botschat verbreitet (vgl. Lukács, Wegmann 1996), im Sinne der Ideologiekriik angeblich Verrat der freien Kunst an die Poliik begehen, sobald sie sich in den Dienst einer poliischen Sache stellt und damit die Kunst und deren Freiheit zu niederen Zwecken und Zielen missbraucht. Und dennoch kann sie poeische Eigenschaten und künstlerische Qualitäten aufweisen. Diesen Befund mögen Paradebeispiele wie das so genannte ‚vaterländische Schauspiel‘ Die Hermannsschlacht von Heinrich von Kleist (1777-1811) aus dem Jahre 1811 sowie das sairische Parabelstück Der auhaltsame Aufsieg des Arturo Ui von Bertolt Brecht aus dem Jahre 1941 und das postdramaische Geschichtstheater Germania Tod in Berlin von Heiner Müller aus dem Jahre 1978 (Urauführung) erhärten (vgl. Zelić 2016). Selbst die Tendenzliteratur – aninapoleonisch bei Kleist, anifaschisisch und anikapitalisisch bei Brecht, anifaschisisch und anistalinisisch bei Heiner Müller – bedient sich der literarischen Einbildungskrat und des freien Glasperlenspiels der poeischen Ironie. Dritens geht es der ihrem Selbst- oder Fremdverständnis nach engagierten Literatur, die poliische Parteinahme erkennen lässt und mit poeischen Mitteln vorträgt und vericht, in erster Linie eben nicht um ihren künstlerischen Eigenwert. Sie folgt nicht dem ästheizisischem Grundsatz l’art pour l’art und besteht also gerade nicht um ihrer selbst willen (vgl. Wilpert, Huber). Literatur mag sich Poliik zur Aufgabe machen. Künstlerische und poliische Ziele und Zwecke können dabei nach der erklärten Wirkungsabsicht erfüllt oder verfehlt werden. Denn das freie und ironische Spiel der menschlichen Einbildungskrat in der Literatur kann das künstlerische und poliische Engagement untergraben, ja dessen genaues Gegenteil verwirklichen, ebenso wie es die staatlich dekreierte Literaturpoliik unterwandern oder Irritaionen des poliischen Systems Folia linguisica et literaria 185 und Diskurses bewirken kann. Darin besteht gerade die unmitelbar künstlerische und mitelbar poliische Eigenmacht der Literatur. Das Paradebeispiel für die Untergrabung der erklärten poliischen Wirkungsabsichten ist wohl die Verherrlichung Ernesto Romas alias SA-Führer Ernst Röhm als Arturo Uis Rachegeist in dem anifaschisischem und anikapitalisischen Parabelstück „Der auhaltsame Aufsieg des Arturo Ui“ aus dem Jahre 1941 von Bertolt Brecht. Ausgerechnet der Wiedergänger des SA-Führers Ernst Röhm, das Opfer eines Autragsmordes einer Gangsterbande, soll für den Niedergang des Gangsterbosses Arturo Ui alias Adolf Hitler sorgen. Diesen künstlerischen und poliischen Irrtum des Brecht’schen Proletenkultes korrigierte die Neuinszenierung des sairischen Parabelstückes unter der Regie von Heiner Müller am Berliner Ensemble 1995. Der Missbrauch der Kunst als Ersatzpoliik bedeutet jedenfalls das Ende der Kunst (vgl. Zelić 2014, 124). Im Widerspruch und Gegensatz zu der modernen Literaturwissenschat, in der im Zuge der linguisischen und kulturwissenschatlichen Wende die Wertschätzung der Vieldeuigkeit an literarischen Kunstwerken herrscht, lebt die ‚poliische Literatur‘ hingegen von Eindeuigkeit. Die Verbindung von poliischem Gegenstand, künstlerischem Verfahren und schritstellerischem Engagement bildet ein Spannungsfeld, auf dem verschiedene Kräte aufeinander und gegeneinander wirken, unlösbare Gegensätze und Widersprüche erzeugen und ofene Fragen aufwerfen. Die poeische Ironie indet ihre Entsprechungen in den behandelten poliischen Sachverhalten. Darin besteht gerade die unmitelbar künstlerische bzw. die mitelbar poliische Eigenmacht der Literatur. Die engagierte Literatur erzeugt in dem Sinne, wie der existenialisische Philosoph Jean Paul Sartre (1905-1980) diesen Begrif nach dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich prägte, bestenfalls ein Gleichgewicht zwischen künstlerischer Freiheit als Teilaspekt der menschlichen Freiheit und Selbstbesimmung, poliischer Verantwortung des Schritstellers und dem poliischen Bildungsautrag der Kunst (Sartre 1948). Sartre übt Kriik an dem Ästheizismus im Sinne des l’art pour l’art und an dem Selbstverständnis der bürgerlichen Schritsteller, wie etwa Gustave Flaubert (1821-1880) oder Marcel Proust (1871-1922), die sich selbstgenügsam dem literarischen Kunsthandwerk verschreiben, anstat gegenüber dem Publikum und der breiten Öfentlichkeit poliische Verantwortung für die Gegenwartsgeschichte und Vergangenheitsbewäligung zu übernehmen. Allerdings versteht Sartre Engagement, anders als etwa das Junge Deutschland, nicht als tagespoliische Stellungnahme, sondern als ethische Verplichtung und Verantwortung des Einzelnen durch allgemeinnützliches Wirken gesellschatlichen Zielen und Zwecken zu dienen. Im Gegensatz zur Tendenzliteratur oder Tendenzdichtung, die sich mit negaiver Konnotaion die unmitelbar poliische oder sonsig außerkünstlerische Wirkung zum Ziel und Zweck setzt, zeichne sich engagierte Literatur mit posiiver Konnotaion laut Sartre durch 186 Journal of Language and Literary Studies ihren künstlerischen Eigenwert aus (Wilpert). Darin besteht die unmitelbare künstlerische Eigenmacht der Literatur. Ihre mitelbare und abgeleitete poliische Wirkungskrat unterscheide sie selbst vom poliischen Handeln im eigentlichen Sinne (ebd.). Die künstlerische Eigenmacht der Literatur besteht in der negaiven Freiheit der Kunst von der Poliik und die poliische Eigenmacht der Literatur besteht in der posiiven Freiheit zur Indienstnahme von Kunst für poliische Ziele und Zwecke. Die Eigenmacht der Literatur lebt von dem poeischen Selbstzweck der Kunst. Poliische Ziele und Zwecke sind der künstlerischen Eigenmacht der Literatur zunächst und zumeist nachgeordnet. Andernfalls handelt es sich um poliische Gebrauchs-, Tendenz- oder Propagandaliteratur. Engagierte Literatur, die allzu eindeuig poliisch Stellung bezieht oder Partei ergreit, fällt zur Tendenzliteratur herab, die Kunsfreiheit zum Zwecke der poliischen Agitaion und Propaganda missbraucht. In seinem Essay unter dem Titel „Engagement“ von 1962 geht Adorno zwar von Sartres Begrif der engagierten Literatur aus, grenzt sich davon jedoch ideologiekriisch ab und nimmt demzufolge eine Mitelstellung zwischen ästheischer Apologeik und ideologiekriischer Polemik ein. Er räumt zwar ein, dass vormals engagierte Werke in der Regel schließlich als ästheizisische Werke endeten, die, im „Pantheon unverbindlicher Bildung nebeneinander aufgebahrt, zu Kulturgütern verwest[en]“, wo ihr Wert, d.h. ihre Diferenz zu anderen Werken und der Wirklichkeit durch falsche Harmonie gerade gefährdet sei. Das reine Kunstwerk werde als „Feisch“ und „müßige Spielerei“ derjenigen entlarvt, „welche die drohende Sinflut gern verschliefen“ und erscheine so dialekisch als „poliisches Apoliisches“ (409). Die beiden Alternaiven negieren sich jeweils selbst und einander wechselseiig: „Engagierte Kunst, weil sie, als Kunst notwendig von der Realität abgesetzt, die Diferenz von dieser durchstreicht; die des l‘art pour l‘art, weil sie durch ihre Verabsoluierung auch jene unauslöschliche Beziehung auf die Realität leugnet, die in der Verselbständigung von Kunst gegen das Reale als ihr polemisches Apriori enthalten ist.“ (410). Diese Aporie deute auf die Fragwürdigkeit der Gegenwartskunst. Dementsprechend hält Adorno gegen Sartres Apologie der poliisch engagierten Literatur ideologiekriisch fest, dass das angebliche Gleichgewicht zwischen Autonomie und Authenizität, individueller Verantwortung und poliischer Gesellschatskriik des Schritstellers unter den Bedingungen der modernen Kulturindustrie stets prekär sei. Diese Überlegungen gelten wohl erst recht unter den Bedingungen der gegenwärigen digitalen Massenmediengesellschat. Engagierte Literatur wäre wohl autonom und authenisch, Tendenzliteratur dagegen heteronom und inauthenisch. Es lässt sich darüber, ob es sich im gegebenen Falle über das eine oder andere handelt, jedoch nicht eindeuig entscheiden. Die Frage nach den geltenden poeischen und poliischen Kriteri- Folia linguisica et literaria 187 en bleibt stets ofen. Aufgrund der ließenden Übergänge gestalten sich die Unterscheidungen und Abgrenzungen zwischen unpoliischer und poliischer Literatur bzw. engagierter Kunstliteratur und poliischer Gebrauchs-, Tendenz- oder Propagandaliteratur äußerst schwierig. Solcherlei Untersuchungen stehen vor dem schier unlösbaren Problem, dass sich nicht eindeuig entscheiden lässt, ob ein gegebener literarischer Text als authenisches und autonomes Kunstwerk, engagierte Literatur oder Tendenzkunst gelten darf. Schließlich hat Luhmann bereits darauf hingewiesen, zugleich autonome und authenische Kunst habe nach Adorno einen kaum zu verwirklichenden Balanceakt zwischen formalem Purismus und materialer Gesellschatskriik zu leisten (1995, 472). Die im so genannten Züricher Literaturstreitaus dem Jahre 1966 entlang dieser Linie von Emil Staiger (1908-1987) vorgebrachte Kriik an Max Frisch (1911-1991), Peter Weiss (1916-1982) und der so genannten ‚poliischen Literatur‘ im Umfeld der Studentenbewegung ist insofern problemaisch, dass sie die inneren und äußeren Widersprüche und Gegensätze zwischen Literatur und Poliik im Sinne des ästheischen Purismus und Ästheizismus, so etwa die Aporien des Parikularismus und Universalismus, allzu leicht von der Hand weist. Denn die Weimarer Klassik, Staigers Paradebeispiel für authenische und autonome Kunst, die sich angeblich nicht poliisch in Dienst nehmen lässt, nicht der poliischen Parteilichkeit verschreibt und die Kunst nicht an die Poliik verrät, ist und bleibt als Humanismus unter anderem auch poliisch engagiert, obgleich im Namen der gesamten Menschheit. So ist etwa Schillers „ästheischer Staat“ (1795) ein unglückliches Sinnbild für die „Schaubühne als moralische Anstalt“ (1785), mit der in Wahrheit kein poliischer Staat zu machen ist. Darin besteht gerade die unmitelbar künstlerische und mitelbar poliische Eigenmacht der Literatur. Die Eigenmacht der Literatur zieht die künstlerische und poliische Wirksamkeit von literarischem und poliischem Engagement immer wieder neu in Zweifel. Selbst unter der Forderung, Literatur habe in jedem Falle auch poliisch nützlich und wirksam zu sein, kann die poliische Nützlichkeit und Wirksamkeit der Literatur weder in den Absichten des Autors noch in den Einsichten des Publikums bestehen, sondern sie lässt sich lediglich in Rücksicht auf das literarische Kunstwerk beobachten. Denn das künstlerische Engagement ist deutlicher als das poliische Engagement zu erkennen und gerade darin besteht die schritstellerische Eigenmacht der Literatur. Darüber hinaus stellt sich in Bezug auf die Gegenwartsliteratur (vgl. Zeh/Trojanow) die entscheidende Frage, ob die überkommenen Begrife der poliischen, engagierten und Tendenzliteratur, ihre geschichtlichen Entstehungsbedingungen in sich tragend, ohne Anpassungen und Veränderungen in der literaturwissenschatlichen Verfahrensweise und Begrilichkeit überhaupt Güligkeit beanspruchen können, oder ob diese schwierige Frage nicht vielmehr angesichts der neuen poliischen Themen, wie etwa Migraion und Populismus immer wieder neu und von Fall zu Fall beantwortet werden müsste. 188 Journal of Language and Literary Studies 5. Zur Analyse der poliischen Implikaionen der Literatur Die Analyse der poliischen Implikaionen der Literatur könnte im Anschluss an den Soziologen und Philosophen Karl Mannheim (1893-1947) einer heurisischen Typologie mit zunächst fünf Grundkategorien folgen: Konservaismus, Liberalismus, Radikalismus, Anarchismus und Faschismus. Angesichts der geschichtlichen Entwicklungen in der Sowjetunion und im Ostblock während des Kalten Krieges wäre ein sechster Typ zu ergänzen: Stalinismus. Darüber hinaus müsste man wohl den deutschen Naionalsozialismus vom italienischen Faschismus unterscheiden. Allerdings lässt sich aufgrund der hermeneuischen Geschichtlichkeit und der dekonstrukiven „Zeitlichkeit der Rhetorik“ (Paul de Man 1969) die strukturalisische Analyse, Interpretaion und Kriik der poliischen Implikaionen von literarischen Werken, unter der Grundannahme, dass das autonome und authenische Kunstwerk „die ihrer selbst unbewußte Geschichtsschreibung ihrer Epoche“ (Adorno 1970, 272) ist, nicht ohne Weiteres durchführen. Darin besteht die künstlerische und poliische Eigenmacht der Literatur in Rücksicht auf das autonome und authenische Kunstwerk und ohne Rücksicht auf die Absichten des Autors und Einsichten des Publikums. Die Ironie bei der Analyse der poliischen Implikaionen der Literatur äußert sich darin, dass sich einerseits die künstlerische Innovaionskrat des Liberalismus, Radikalismus und Anarchismus mit dem poliischem Konservaismus verbinden lässt, wie der Biedermeier, die Romanik und der Ästheizismus bezeugen. In Hinsicht auf die Literatur des Biedermeier wird etwa otmals der Gemeinplatz bemüht, sie sei unpoliisch. Dementgegen können sorgfälige Analysen, Interpretaionen und Kriiken poliische Uniefen und Abgründe ofenlegen, die ansonsten verkannt bleiben würden. Resignaion und Pessimismus des Biedermeier haben durchaus poliische Implikaionen (vgl. Sengle). Das Paradebeispiel für die ihrem eigenen Selbstverständnis nach angeblich unpoliische Literatur ist wohl der ironischerweise durch und durch poliische Großessay Betrachtungen eines Unpoliischen aus dem Jahre 1918 von Thomas Mann. Das Dilemma der künstlerischen Autonomie und Authenizität einerseits und dem poliischen Engagement andererseits situiert die Literatur paradoxerweise zwischen Konservaismus und Radikalismus. In der Bewahrung der Autonomie und Authenizität der Kunst „in ihrer Mitel- und Mitlerstellung zwischen Geist und Leben“ liegt Mann zufolge einerseits „die Quelle der Ironie“, andererseits „aber auch wenn irgendwo, die Verwandtschat, die Ähnlichkeit der Kunst mit der Poliik.“ (574) In der Gegenwartsliteratur lässt sich dieser Sachverhalt an der feuilletonisischen Kriik und Polemik gegen die literarischen Kunstwerke des Schweizer Schritstellers Christan Kracht (geb. 1966) beobachten (vgl. Tillmann 2007, Diez 2012). Im Falle der oben bereits erwähnten, engagierten Literatur von Kleist, Brecht und Heiner Müller deutet alles darauf hin, Folia linguisica et literaria 189 dass es sich der poeischen Innovaionen der Gatung Geschichtsdrama zum Trotz nicht eindeuig zu besimmen ist, wie deren poliische Implikaionen zu bewerten sind. Die Frage, ob es sich poliische betrachtet dabei um Konservaismus, Liberalismus, Radikalismus, Anarchismus, Faschismus oder Stalinismus handelt, bleibt stets ofen. Ein kurzer Seitenblick auf die Wirkungsgeschichte mag diesen Befund erhärten. Dagegen verwendet die ihrem Selbst- oder Fremdverständnis nach ‚poliische Literatur‘, die ohne primäre Rücksicht auf künstlerische Ansprüche besimmte und begrenzte Ziele und Zwecke verfolgt, otmals konvenionelle Formen, um den Konservaismus, Liberalismus, Radikalismus oder Anarchismus im Medium von Literatur, Drama und Theater zu verbreiten, so etwa die NS-Heimatliteratur, die Piscator-Bühne oder die Saire und Reportageliteratur der Neuen Sachlichkeit. Im Extremfall befördern konvenionelle Formen konservaive Inhalte, was unter dem Sichwort des Manierismus und Epigonentums gleich doppelt der ästheischen und poliischen Ideologiekriik verfällt, wie etwa die ästheizisische Kunstreligion im George-Kreis oder die Lyrik von Gofried Benn (1886-1956) während der inneren Emigraion (vgl. Müller 1994, 184-220). Literatur mag zwar aus der Sicht der Poliik als Kunst des Unmöglichen erscheinen. In Wahrheit ist sie und nicht die Poliik die Kunst des Möglichen und zwar in dem Maße, wie sie mit der poeischen Erindung von alternaiven und kontrafakischen Gegenwelten die Poliik als Anikunst, Realpoliik und Ideologie kriisch entlarvt. Darin besteht die unmitelbar künstlerische und mitelbar poliische Eigenmacht der Literatur. Literatur: Adorno, Theodor W. „Engagement“ (1962). In: Noten zur Literatur (1965). In: Gesammelte Schriten. Bd. 11. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003. 409-430. Adorno, Theodor W. Ästheische Theorie (1970). In: Gesammelte Schriten. Bd. 7. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997. Bedorf, Thomas/Rötgers, Kurt (Hg.). Das Poliische und die Poliik. Berlin: Suhrkamp 2010. Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (1936). In: Gesammelte Schriten. Bd. 7. . Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989. 350-384. Benjamin, Walter: „Der Autor als Produzent“ (1934). In: Gesammelte Schriten. Bd. 2/2. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989. 683-701. 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It takes into consideraion the theory, history, and criique of ‘poliical literature’. Firstly, the theory of ‘poliical literature’ runs into diiculies in deining its key concept univocally. Secondly, this is because the history of ‘poliical literature’ draws a polymorphic and irregular picture. Thirdly, the criique of ‘poliical literature’ illustrates that difereniaions and demarcaions between unpoliical literature, engaged literature, and poliically operaive, tendenious or propagandisic literature are problemaic. The same applies to the structuralist analysis of poliical implicaions of literature. In conclusion, literature empowers itself both poeically and poliically, however, the poeic and poliical evaluaion of its content and form, intenion and impact may vary from case to case. Key Words: autonomy, authenicity, engagement, art, literature, power/ control, poliics, tendency Folia linguisica et literaria 193 UDK 070(497.11:430)"1996" Verräter in den eigenen Reihen: Die Darstellung der serbischen Gesellschaft in Beiträgen zur Handke-Kontroverse 1996 in serbischen Printmedien1 Paul Gruber, Novi Sad, paul.gruber@ff.uns.ac.rs Abstract: Peter Handke hat mit seinem im Jänner 1996 veröffentlichten SerbienText Winterliche Reise eine heftige Kontroverse ausgelöst. Während im Zuge der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Text die in Westeuropa und insbesondere in Deutschland geführte Kontroverse weitgehend mitberücksichtigt wird, indet die Rezeption in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien bisher wenig Beachtung. Dies ist insofern verwunderlich, als der Text sich explizit auch an Leser aus diesem Raum richtet. Der vorliegende Artikel möchte einen allgemeinen Überblick über die Berichterstattung zur Handke-Kontroverse in serbischen Printmedien im Jahr 1996 bieten und dabei insbesondere die Darstellung der serbischen Gesellschaft näher beleuchten. Dabei wird der Frage nachgegangen, welche Rolle die den politischen Diskurs der 90er-Jahre in Serbien dominierende nationalistische Ideologie in den Beiträgen zur Kontroverse spielte. Um die Analyse zu kontextualisieren, wird vorab auf Handkes Literaturverständnis und seinen Text Winterliche Reise näher eingegangen. Bei der Präsentation der Ergebnisse der Analyse werden die ersten beiden Kategorien, nämlich „Die Darstellung der Person Peter Handke“ und „Die Darstellung der Kontroverse in den westlichen Medien“ synthetisch behandelt. Die dritte Analysekategorie „Die Darstellung der serbischen Gesellschaft“ wird vor diesem Hintergrund genauer dargestellt. Aus der Analyse geht hervor, dass die Handke-Kontroverse in erster Linie als weitere Episode der in Serbien weit verbreiteten Vorstellung einer Verschwörung des Westens gegen Serbien und als Beweis für selbige dargestellt wurde. Die Protagonisten dieser Episode (Handke, der ‘Westen’, Serbien), werden mit den im serbischen Nationalismus üblichen stereotypen Charaktereigenschaften beschrieben, wobei in Bezug auf die serbische Gesellschaft insbesondere der Vorwurf der ‘Kulturlosigkeit’ von Bedeutung ist. Die in Handkes Text formulierte Friedensbotschaft blieb vor diesem Hintergrund unberücksichtigt. Schlagwörter: Peter Handke, Serbien, Geschichte, Printmedien, Nationalismus, Balkanismus, Diskursanalyse Bei vorliegendem Arikel handelt es sich um eine überarbeitete Version der 2013 von Paul Gruber an der Karl-Franzens-Universität vorgelegten Diplomarbeit: Danke Handke. Die Berichterstatung zur Handke-Kontroverse in serbischen Printmedien im Jahr 1996. Online unter: htp://unipub.uni-graz.at/download/pdf/234449 1 194 Journal of Language and Literary Studies 1. Einleitung Im Jänner 1996 löste Peter Handke mit seinem zuerst unter dem Titel Gerechigkeit für Serbien oder Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina2 in der Süddeutschen Zeitung veröfentlichten und später auch unter Umkehrung von Titel und Unteritel bei Suhrkamp erschienenen Text, eine hetige, mitunter sehr polemisch geführte Kontroverse insbesondere im deutschsprachigen Raum aus. Während diese Kontroverse in der wissenschatlichen Untersuchung von Handkes Serbien-Texten immer wieder mitberücksichigt wurde, scheint ein wissenschatliches Interesse für die Aufnahme des Textes in Serbien, abgesehen von einem Arikel Svjetlan Lacko Vidulićs (205215) aus dem Jahr 2008, bisher eher gering zu sein. Gerade angesichts des im Zuge der 1996 entstandenen Kontroverse immer wieder erhobenen Vorwurfs, Handke betreibe mit seinem Text serbische Propaganda (vgl. Gritsch, 174f.), scheint es dagegen notwendig, die serbische Berichterstatung zu dieser Kontroverse eingehender zu untersuchen. Der vorliegende Beitrag stellt sich daher der Frage, ob und inwiefern Handkes Text und die um ihn entstandene Kontroverse unter poliischen Gesichtspunkten in Serbien rezipiert wurde und welche Rolle in diesem Zusammenhang naionalisische Denkmuster spielten, welche den poliischen Diskurs jener Zeit weitgehend besimmten (vgl. Živković, 186f.). Besonderes Augenmerk soll dabei auf die Darstellung der serbischen Gesellschat gelegt werden. Diese Frage soll aus diskursanalyischer Perspekive beantwortet werden, welcher eine konstrukivisische Aufassung des Verhältnisses zwischen Wirklichkeit und Erkenntnis zugrunde liegt. Insofern ist es auch nicht das Ziel dieses Beitrags zu klären, ob in den analysierten Beiträgen getrofene Aussagen korrekt sind oder nicht, sondern vielmehr den argumentaiven Zusammenhang verschiedener Aussagen und die ihnen zugrundeliegenden Denkmuster ofenzulegen. Bevor die im Korpus beindlichen Beiträge eingehender analysiert werden, sollen aber einige Punkte zu Handkes Literaturverständnis und seinem Serbien-Text hervorgehoben werden, die zeigen, dass eine rein poliische Lesart der „Winterlichen Reise“ dem Text nicht gerecht wird. Dies ist nicht zuletzt insofern von Bedeutung, als Handke selbst im Zuge der Kontroverse darauf insisierte, dass sein Text in erster Linie Literatur sei und nur in der vorliegenden Form Güligkeit habe. Damit ist auch sein Entschluss zu erklären, während seiner Lesereise im deutschsprachigen Raum auf jegliche Diskussion mit dem Publikum zu verzichten und den Text als Text wirken zu lassen. 2 In der Folge wird unter dem Kurzitel Winterliche Reise auf diesen Text verwiesen. Folia linguisica et literaria 195 2. Handkes Winterliche Reise Folgt man den Aussagen Handkes, wonach die Winterliche Reise als literarischer Text zu lesen sei, so stellt sich die Frage, wie dieser Text mit Handkes Literaturverständnis im Allgemeinen verbunden ist. Dieses Literaturverständnis ist durch ein teils widersprüchliches Verständnis des Verhältnisses zwischen Subjekivität und Objekivität, Fikionalität und Nicht-Fikionalität, Poliik und Literatur deiniert. So geht Handke zwar davon aus, dass der Mensch die Welt nur sprachlich erfassen kann, weshalb er auch auf die unzähligen, je subjekiven Möglichkeiten der Weltwahrnehmung hinweist, zugleich hält er aber paradoxerweise an der Vorstellung von einer den Dingen innewohnenden, also objekiven Essenz fest, die vom Subjekt erkannt werden kann. Drei Punkte sollen helfen, die Winterliche Reise dem Literaturverständnis Handkes zuzuordnen: Zu Handkes Literaturverständnis Literatur hat für Handke emanzipatorische Funkion: Sie soll einen anderen, subjekiven Blick auf die Wirklichkeit ermöglichen, der nicht den herrschenden Diskursen unterworfen ist und dem ein höheres Maß an Authenizität zugesprochen wird. So schreibt Handke in seinem 1967 veröfentlichten Essay „Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms“: Ich erwarte von einem literarischen Werk eine Neuigkeit für mich, etwas, das mich, wenn auch geringfügig, ändert, etwas, das mir eine noch nicht gedachte, noch nicht bewußte Möglichkeit der Wirklichkeit bewußt macht, eine neue Möglichkeit zu sehen, zu sprechen, zu denken, zu exisieren. (Handke 1972, 19f.; Kursiv-Setzung im Original) Diese neue Möglichkeit der Wirklichkeit, welche die produkive wie auch rezepive Beschätigung mit Literatur eröfnet, soll dem Einzelnen helfen, bewusster zu leben und gegenüber sich selbst wie auch gegenüber seiner Umwelt aufmerksamer und kriischer zu werden: Ich habe keine Themen, über die ich schreiben möchte, ich habe nur ein Thema: über mich selbst klar, klarer zu werden, mich kennenzulernen oder nicht kennenzulernen, zu lernen, was ich falsch mache, was ich falsch denke, was ich unbedacht denke, was ich unbedacht spreche, was ich automaisch spreche (…). (Ebd., 26) Eine solche subjekive Welterfahrung ist jedoch nur möglich, wenn die gesellschatlich konvenionierte Wirklichkeitswahrnehmung dekonstruiert und als nur eine von vielen möglichen Wirklichkeitskonstrukionen erfahrbar wird. So 196 Journal of Language and Literary Studies erwartet Handke auch von der Literatur „das Zerbrechen aller endgülig scheinenden Weltbilder.“ (Ebd., 20) Dabei geht es ihm nicht um eine etwaige Korrektur oder Objekivierung der gesellschatlich akzepierten Weltbilder, sondern darum, der Pluralität der möglichen Weltzugänge zu ihrem Recht zu verhelfen: „Es interessiert mich als Autor übrigens gar nicht, die Wirklichkeit zu zeigen oder zu bewäligen, sondern es geht mir darum, meine Wirklichkeit zu zeigen (wenn auch nicht zu bewäligen).“ (Ebd., 25; Kursiv-Setzung im Original) Insofern hat Literatur für Handke durchaus gesellschatskriische Funkion, da sie die unveränderbar erscheinende Wirklichkeit hinterfragbar macht und damit die Suche nach neuen Wirklichkeitskonstrukionen ermöglicht. Indem Handke die Literatur als einen Bereich deiniert, der die Möglichkeit subjekiver, den herrschenden Diskursen nicht unterworfener Welterfahrung bietet, spricht er ihr (paradoxerweise) aber doch ein höheres Ausmaß an Authenizität zu. Authenizität indet Handke in scheinbar Nebensächlichem: Dieses besitzt im Gegensatz zu großen, singulären Ereignissen Dauer und ist harmonisch mit der Welt verbunden. Lothar Struck (105) hat in diesem Zusammenhang auf Parallelen zwischen Handkes Literaturverständnis und Adalbert Siters ‚Sanftem Gesetz‘, wie dieser es in der Vorrede zu seinem Erzählband Bunte Steine formuliert hat, hingewiesen. So geht es Handke ebenso wie Siter darum, das Ewige und Permanente ins Blickfeld rücken, das in jenen Kleinigkeiten verborgen liegt, die den Alltag der Menschen besimmen und die, von den großen Ereignissen der Geschichte weitgehend unberührt, die Welt, wenn man so will, zusammenhalten. Insofern kann man mit Lothar Bluhm feststellen, dass Handke die Aufgabe des Dichters darin sieht, im Erzählen und in seiner Literatur „den in den Dingen verborgenen Sinnzusammenhang hervortreten zu lassen.“ (78) Dies gelingt, wenn die Harmonie der Dinge mit der Anordnung der Wörter in Einklang gebracht wird. Ebenso verhält es sich auch mit den Geschichten, die in Handkes Texten im Vordergrund stehen: Auch sie sind scheinbar nebensächlich. Der großen Geschichte, welche von den Historikern (und heute den Medien, wie er in seiner Winterlichen Reise schreibt) erzählt wird und welche sich auf zentrale Ereignisse konzentriert, stellt er seine kleinen, nebensächlichen Geschichten gegenüber. Deshalb wird Handkes Umgang mit der Geschichte auch von vielen als „Ästheik der Gegengeschichtsschreibung“ (Miguoué, 48) bezeichnet. Wie Miguoué ausführt, können durch den Verweis auf diese kleinen Geschichten, welche von der großen Geschichte überschatet werden, letztere hinterfragt werden: „Das Schreiben wird somit bei Handke zu einer ‚Gegenoperaion‘, wobei das schreibende Subjekt von einer Gegenperspekive aus das Selbstverständliche, das Für-Wahr-Gehaltene und den Mehrheitsdiskurs hinterfragt.“ (Ebd., 49f.) Handkes Texte sind „Schwellentexte“ (Dronske, 72): Die Suche nach dem Nebensächlichen, von der Mehrheit Übersehenen führt Handke nicht nur in Be- Folia linguisica et literaria 197 zug auf die Wahl seiner Themen, Orte und Figuren an die Peripherie, sondern auch an die Grenzen herkömmlicher Unterscheidungen, wie etwa zwischen Realität und Fikion, und verschiedener Genres, wie zwischen Erzählung und Essay. Diese werden bei Handke konsequent überschriten. Wie Dronske feststellt, gelingt es Handke auf diese Weise seine Literatur mit konkreter Wirklichkeit aufzuladen und so im literarischen Feld ein ‚Gegenbild‘ zur vorherrschenden Wirklichkeitserfahrung zu erstellen (vgl. 74). Die Winterliche Reise allein als poliische Stellungnahme des Autors zu lesen greit also zu kurz. Zur Winterlichen Reise Im Text selbst dienen die in Form eines poliischen Essays verfassten Rahmenkapitel ‚Vor der Reise‘ und ‚Epilog‘ in erster Linie dazu, die Reise des Ich-Erzählers zu legiimieren. Sie sollen die Notwendigkeit untermauern, der vorherrschenden, aber deshalb noch lange nicht objekiven medialen Sichtweise eine subjekive, literarische entgegenzustellen. Aus dieser Sicht sind die essayisischen Aspekte des Textes den erzählerischen unterzuordnen. So stellt das Ich zu Beginn des Textes fest, dass ihm Serbien im Grunde völlig unbekannt ist und ihm auch die über das Land verfassten Zeitungsberichte aufgrund ihres schablonenhaten Charakters mit der Zeit immer mehr die Wirklichkeit eher zu verschleiern schienen, anstat sie abzubilden: Beinah alle Bilder und Berichte der letzten vier Jahre kamen ja von der einen Seite der Fronten oder Grenzen, und wenn sie zwischendurch auch einmal von der anderen kamen, erschienen sie mir, mit der Zeit mehr und mehr, als bloße Spiegelungen der üblichen, eingespielten Blickseiten – als Verspiegelungen in unseren Sehzellen selber, und jedenfalls nicht als Augenzeugenschat. Es drängte mich hinter den Spiegel; es drängte mich zur Reise in das mit jedem Arikel, jedem Kommentar, jeder Analyse unbekanntere und erforschungs- oder auch bloß anblickswürdigere Land Serbien. (Handke 1996, 13) Das Vorhaben des Ich besteht also darin, angesichts der als eingespielt empfundenen öfentlichen Wahrnehmung Serbiens auf die verschiedenen Zugänge zur Wirklichkeit hinzuweisen. Die Reise selbst erscheint so als bewusst subjekive, literarische Verarbeitung von Reiseerfahrungen, welche jedoch nicht zum Ziel haben, den konstrukiven Charakter medialer Berichterstatung an sich für ungülig zu erklären und damit in direkte Konfrontaion mit der Kriegsberichterstatung zu treten (vgl. ebd., 122f.). Wogegen Handke sich vielmehr richtet, ist die automaisierte, unhinterfragte Wiederholung einzelner Floskeln, welche Gefahr läut, ihren Bezug zur Wirklichkeit zu verlieren, und so für andere (poliische) Zwecke instrumenta- 198 Journal of Language and Literary Studies lisiert werden kann. Insofern reiht sich der Text nahtlos in Handkes bisheriges Werk ein. Der Verweis auf die Vielzahl an möglichen Weltwahrnehmungen erfolgt im Text durch eine polyphone Inszenierung verschiedener Erzählformen und -perspekiven. Die Sichtweise des erzählenden Ichs erscheint so nicht als einzig gülige, vielmehr wird der Erzählluss von anderen, mitunter durchaus kriischen Perspekiven durchzogen. So zwingt eine auktoriale Instanz das erzählende Ich immer wieder, die eigenen Gedanken zu hinterfragen bzw. präziser zu formulieren. Zudem formulieren den Text hindurch Personen, mit denen das erzählende Ich zusammentrit, Meinungen, die sich stark von der des erzählenden Ichs unterscheiden. Das friedliebende, unter Aussparung allen Poliischen auf die Lebenswirklichkeit der Menschen konzentrierte Bild, das das erzählende Ich von Serbien konstruieren möchte, wird so als subjekive Konstrukion erfahrbar, welche durch die polyphone Inszenierung des Textes durch andere, mitunter sehr kriische Aussagen relaiviert wird. Insofern ist es nicht zulässig, dem Text eine eindeuige Aussage zuzuschreiben.3 Die Redukion auf Alltagswirklichkeiten und Aussparung alles Poliischen in den Reiseberichten des Ich-Erzählers soll diesen davor bewahren, in ein ideologisch moiviertes Gloriizieren der Serben zu verfallen: „So dachte ich dann, es könnte die Gefahr solcher Gegenläuigkeiten sein, daß in ihnen sich etwas äußere, was vergleichbar wäre mit den Gloriizierungen einst des Sowjetsystems durch manche Westreisende der dreißiger Jahre.“ (Handke 1996, 46) Das Serbien-Bild, welches das erzählende Ich unter Aussparung allen Poliischen im Text konstruiert, entwickelt sich aus dem bereits zuvor in anderen Werken Handkes entwickelten Jugoslawien-Bild. Dieses dient in erster Linie der Idenitätskonstrukion, insofern es ein Gegenbild zur kriisch betrachteten kapitalisischen Warenwelt darstellt (vgl. Handke 1996, 115). Serbien kennzeichnet sich in den Augen des erzählenden Ichs durch seine widerständige Haltung gegenüber dem Westen, dessen Anschuldigungen es nicht einfach hinnehmen will. Dadurch erscheint es als von einem erhöhten Grad an Wirklichkeit durchdrungen und es wird so ein posiives Gegenbild zur als negaiv empfundenen, ‚entwirklichten‘ westlichen Gesellschat geschafen. Die vom Mangel aufgrund des Handelsembargos besimmte Alltagswirklichkeit scheint von einer natürlichen Gegenständlichkeit der Dinge durchdrungen. Eine Gegenständlichkeit, die den Dingen in der kapitalisischen Wegwerfgesellschat des ‚Westens‘ abhandIn diesem Zusammenhang wird immer wieder der Vorwurf erhoben, es handle sich bei diesem Text aber um keine qualitaiv ‘gute’ Literatur. Für die vorliegende Diskussion ist die Frage nach der literarischen Qualität des Textes aber nicht relevant, da sich der Text, wie aus den bisher genannten Punkten hervorgegangen sein sollte, nahtlos in die Poeik Handkes einordnen lässt und eindeuig als literarischer Text angelegt ist. Damit ist ihm, unabhängig von der Diskussion um seine literarische Qualität, grundsätzlich Mehrdeuigkeit zuzusprechen, wie sie für Literatur an sich kennzeichnend ist. 3 Folia linguisica et literaria 199 engekommen ist. Serbien wird so als märchenhates Anderes idealisiert, wobei diese Idealisierung im Rückgrif auf verschiedene Vorstellungen geschieht, die den westeuropäischen Diskurs über den Balkan kennzeichnen. In der Rückbesinnung auf die unmitelbare Wahrnehmung der allen gemeinsamen Alltagswirklichkeit sieht der Ich-Erzähler zudem den einzigen Weg, auf dem die Angehörigen der verfeindeten Volksgruppen wieder zueinander inden können, wie er in der im Epilog vorgebrachten Friedensbotschat darlegt. Demnach wäre die Winterliche Reise weniger als poliisches Pamphlet, sondern als Friedenstext zu lesen. Gerade die unter Punkt 3, 4 und 5 postulierten Charakterisika des Textes sind problemaisch, denn einerseits entwickelt sich in den Reiseberichten durch die Aussparung alles Poliischen und durch die Suche nach Authenizität ein Natürlichkeitsdiskurs als Gegenbild zur als seelenlos dargestellten westlichen Konsumgesellschat, das sich fast zur Gänze mit dem serbisch-naionalisischen Diskurs deckt. So kommt es im serbischen naionalisischen Diskurs, wie Čolović (1997, 29-34) und Živković (2012, 58-90) eindrücklich darlegen, zu einer Wertumkehrung des geopoliischen Imaginariums von Europa. Innerhalb dieses Imaginariums werden die südlich und östlich gelegenen Naionen als ‚barbarisch‘, ‚irraional‘, ‚religiös fanaisch‘ und ‚intolerant‘ wahrgenommen, während die nördlich und westlich gelegenen Naionen als ‚zivilisiert‘, ‚raional‘, ‚humanisisch‘ und ‚demokraisch‘ charakterisiert werden. Da der ‚Balkan‘, wie Todorova (1999, 31-37) unterstreicht, im europäischen Diskurs aber im Gegensatz zum ‚Orient‘ nichts fundamental Anderes darstellt, sondern etwas unvollkommenes Eigenes, können diese Valenzen umgekehrt werden: Der ‚zivilisierte‘ und ‚raionale‘ Norden und Westen erscheinen daher innerhalb des serbischen naionalisischen Diskurses als ‚dekadent‘, ‚müde‘, ‚seelenlos‘ und ‚idenitätslos‘, der Süden und Osten als ‚natürlich‘, ‚vital‘ und ‚authenisch‘. Eben diese ‚Natürlichkeit‘ muss aus dieser Sicht durch maximale Abschotung gegenüber allen fremden Einlüssen bewahrt werden, um so zuletzt auch dem ‚von seinem Wesen abgefallenen‘ Norden und Westen als Vorbild zu dienen. Andererseits geriet die Friedensbotschat im Text durch gezielte Provokaionen und die äußerst polemisch vorgebrachte Medienkriik in den Hintergrund, sodass es im Grunde nicht weiter verwunderlich ist, dass sowohl in den westlichen als auch, wie die Analyse gezeigt hat, in den serbischen Medien, fast ausschließlich die poliischen Aspekte des Textes behandelt wurden. 200 Journal of Language and Literary Studies 3. Analyse der Beiträge in serbischen Printmedien Das Korpus Das Korpus umfasst insgesamt 145 Beiträge aus serbischen Tages-4, Wochen-, 2-Wochen- und Monatszeitungen5, Kultur- und Literaturzeitschriten6, zudem noch Vor- und Nachworte einzelner 1996 erschienener Übersetzungen von Werken7 Handkes, in denen auf die Kontroverse Bezug genommen wird, und eine eigenständige Buchpublikaion8, die einen eindeuigen Bezug zur Kontroverse aufweist. Eine erste Sichtung der Beiträge brachte folgende Ergebnisse: ‒ Die überwiegende Mehrheit der Beiträge steht Handke posiiv gegenüber. Die vereinzelten kriischen Simmen versuchen insbesondere verschiedene, im herrschenden Diskurs vorgebrachte Argumente zu hinterfragen und widerlegen, bleiben damit aber direkt auf den herrschenden Diskurs bezogen. Aus diesem Grund beschränkt sich die folgende Analyse auf die airmaiven Beiträge. ‒ Eigentlicher Bezugspunkt der Berichterstatung ist weniger Handkes Serbien-Text, als vielmehr die darum entstandene Kontroverse einerseits und Handkes Serbien-Besuch Mite Mai 1996 andererseits. Auf Grundlage dieser Erkenntnisse wurden die in den Beiträgen vorgefundenen Äußerungen folgenden Kategorien zugeordnet und näher untersucht: ‒ Die Darstellung der Person Peter Handke ‒ Die Darstellung der Handke-Kontroverse ‒ Die Darstellung der serbischen Gesellschat Die Darstellung der Person Peter Handke und der Handke-Kontroverse Da Lacko Viculićs Analyse der beiden ersten Kategorien in meiner Analyse weitgehend bestäigt werden konnte und nur in einigen Punkten erweitert und veriet wurde, möchte ich diese Kategorien nur kurz syntheisch darstellen. Damit soll auch die drite Kategorie, also die Darstellung der serbischen Gesellschat, entsprechend kontextualisiert werden. Handke wird in den Beiträgen zum furcht- und selbstlosen Verkünder der ‚wahren Wahrheit‘ silisiert, der sich als einziger (oder einer der wenigen) Borba, Dnevnik, Dnevni telegraf, Jedinstvo, Naša borba, Poliika, Poliika ekspres, Večernje novosi 5 Duga, Intervju, Nedeljni telegraf, NIN, Republika, Srpska reč, Velika Srbija, Vreme 6 Itaka, Književnost, Književne novine 7 Konstaninović (1996: 61-63); Tadić (1996: 3-7) 8 Smiljanić (1996) 4 Folia linguisica et literaria 201 dem vermeintlichen Lügengebäude des Westens entgegenstellt. Dem Text wird dementsprechend eine eindeuige Aussage zugeschrieben, welche als Verkündigung der ‚korrekten Wahrheit‘ dargestellt und dem Autor zugeschrieben wird. Gebetsmühlenarig wird dabei der herausragende literarische Status Handkes wiederholt. Dadurch wird seinen Stellungnahmen Gewicht verliehen und zugleich jegliche Kriik an Handkes Text von vornherein entwertet. Zudem wird Handkes Status auch in einen direkten Zusammenhang mit der Vorstellung einer Verschwörung gegen Serbien gestellt. So ist immer wieder das Argument zu inden, dass der Umstand, dass nicht einmal ein so bedeutender Schritsteller wie Handke vor einer Hetzkampagne gefeit ist, die Existenz einer solchen Verschwörung belege. Die Kontroverse wird dabei als hysterische Reakion auf die Aufdeckung dieser Verschwörung gesehen. Realisiert wird diese Verschwörung von den Medien, wobei keine Einsimmigkeit darüber herrscht, ob sie direkt im Dienste westlicher Regierungen stehen oder letztere im Autrag der unbekannten Machthaber der ‘Neuen Weltordnung’ manipulieren. In jedem Fall werden die Medien als Kriegspartei während des Zerfalls Jugoslawiens dargestellt, die die Serben zu ihrem Opfer auserkoren haben. ‘Der Westen’ und die anderen Kriegsparteien als ‘Handlanger des Westens’ erscheinen so als die eigentlich Schuldigen für den Zerfall Jugoslawiens, wobei immer wieder das Bild einer koninuierlichen faschisischen Bedrohung heraubeschworen wird. Das Schicksal der Serben erscheint damit dem Schicksal der Juden gleichwerig, was auch in verschiedenen Beiträgen zum Ausdruck kommt. Einer Beschätigung mit der eigenen Verantwortung kann so aus dem Weg gegangen werden. Statdessen wird ein Kontrast zwischen dem ‘friedliebenden Handke’ und den ‘aggressiven Medien’ aufgebaut. Dass Handke die teils polemischen Reakionen selbst provoziert hat, wurde dabei ausgespart, ebenso dass trotz aller Polemik keine einhellige Verurteilung Handkes in den westlichen Medien stafand. Nach Handkes erneutem Besuch im Mai 1996 wurden in den westlichen Medien publizierte Verteidigungen Handkes schließlich als Ankündigung eines möglichen Endes der Verschwörung gegen Serbien interpreiert. Gemäß der (auch) für den serbischen Naionalismus typischen stereotypen Charakterisierung des Westens und insbesondere Deutschlands als von einem blinden Materialismus und Fortschritsglauben durchdrungen werden wirtschatliche Interessen auch als Hauptgrund für die vermeintliche Verschwörung gegen Serbien gesehen. Im Gegensatz dazu wird Handke als völlig unbeeinlussbar, objekiv und allein vom ‘geisigen’ Wert der Wahrheit geleitet dargestellt. Dass ein solches Verhalten aus stereotyper Sichtweise für einen Deutschen oder Österreicher völlig untypisch ist, wird in einigen Beiträgen explizit hervorgekehrt. Handke wird so zum ‘kindlichen Gewissen’, dem die Aufgabe zukommt, den ‘verfallenen Westen’ auf den richigen Weg zurückzuführen, eine Aufgabe, die aus serbisch naionalisischer Sicht Serbien als Hüterin des 202 Journal of Language and Literary Studies ‘wahren Europa’ zufällt. Insofern kann die Beschreibung Handkes als stereotype Beschreibung des serbischen Helden gesehen werden: So zeichnet auch er sich durch eine besondere Tapferkeit und moralische Reinheit aus, wobei er als herausragende Persönlichkeit dazu in der Lage ist, die Serben von ihrem Leid zu befreien. Dass Handke zudem mit dem serbischen Helden Banović Strahinja verglichen wird (Stefanović 1996a, 12) und in einem anderen Beitrag (Đorđević, 106) Miloš Obilić zum Weggefährten erhält, untermauert diesen Eindruck. Die Darstellung der serbischen Gesellschat Wie aus der vorangegangenen Beschreibung hervorgegangen sein sollte, wurde die Handke-Kontroverse voll und ganz in den poliischen Diskurs in Serbien integriert und als weitere Episode einer Verschwörung gegen Serbien dargestellt. Die serbische Gesellschat erscheint aus dieser Sicht in erster Linie als unschuldiges Opfer dieser Verschwörung, eine Sichtweise, die dem naionalisischen Diskurs jener Zeit entspringt. Jedoch erschöpt sich der naionalisische Diskurs über das eigene Volk nicht darin, dieses als Opfer zu sehen. Vielmehr zeichnen sich naionalisische Diskurse insbesondere dadurch aus, dass in ihnen Hass bzw. Verachtung für das eigene Volk zum Ausdruck kommt. Dies lässt sich dadurch erklären, dass das jeweilige Volk in seiner Gesamtheit niemals an die Idealvorstellung desselben, welche durch einzelne herausragende Persönlichkeiten verkörpert wird, heranreichen kann. Die daraus entspringende Entäuschung über das eigene Volk mündet in der Folge in Verachtung und der Suche nach Schuldigen für den desolaten Zustand des Volkes bzw. nach Verrätern am serbischen Volk. In diesem Zusammenhang gewann in den neunziger Jahren, wie Ivan Čolović darlegt, insbesondere der Vorwurf der Kulturlosigkeit an Bedeutung, welcher auf verschiedene Gruppen und Angehörige des serbischen Volkes angewendet wurde (vgl. 2008, 12-16). Verräter an der wahren serbischen Kultur Dieser Vorwurf wurde in den Beiträgen zur Handke-Kontroverse immer wieder in verschiedenen Zusammenhängen erhoben, wobei hier stellvertretend einzelne Stellen aus Nenad Stefanovićs Bericht in Duga zu Handkes Lesung in der serbischen Naionalbibliothek ziiert werden sollen. Stefanović beginnt seinen Bericht mit einer Beschreibung der rings um ihn herum herrschenden Kulturlosigkeit, in der die oben erwähnte Verachtung für das eigene Volk zum Ausdruck kommt: Zur Gruppe (...) lief eine junge, aggressive Journalisin, die das Wort “Radio” aussprach, als glaubte sie tatsächlich, darin lebten kleine Menschen, Folia linguisica et literaria 203 und als müsste auch ihre Umgebung daran glauben. Die ambiionierte Journalisin beginnt mit einer seriösen Frage. (Wann immer ich höre, wie irgend so eine Journalisin eine Frage mit mehr als fünf Wörtern stellt, greife ich mir an den Hosenschlitz, lüsterte mir ein Macho-Serbe zu, der ebenfalls in der Gruppe stand.)9 (Stefanović, 8) Diese Kulturlosigkeit ist für Stefanović auch im Bereich der Hochkultur augenscheinlich: So vergleicht er wenig später den eine Rede haltenden, serbischen Schritsteller Milorad Pavić mit Peter Handke. Pavić beschreibt er als eine Art ‘Neureicher’ im Bereich der Kultur, während Handke auf ein reiches kulturelles Erbe zurückgreifen kann und damit als wahrer Kulturträger erscheint. Der Verantwortliche für diesen desolaten Zustand der serbischen Kultur ist schnell gefunden: Pavić hat keine solchen Wegbereiter, er muss auch heute die Löcher stopfen, die Vuks Reform hinterlassen hat, er reakiviert den serbischen Barock, die byzaninische Tradiion, er ist aufgrund der Umstände vorderhand ein naionaler Arbeiter im Bereich der Kultur und nur zweiterhand ein Spieler mit der Sprache.10 (Ebd., 10) Durch seine Orienierung an der bäuerlichen Sprache hat Vuk Karadžić also die Kontunität mit der byzaninischen Tradiion gekappt und den Verfall des ‘geisigen’ Serbiens verantwortet. In den anderen Beiträgen werden Verräter an der wahren serbischen Kultur jedoch nicht derart weit in der Vergangenheit gesucht, sondern vielmehr in der Gegenwart. So ideniiziert etwa Jasminka Jeličić im Parteiblat Velika Srbija der sich damals in der Opposiion beindlichen ‘Srpska radikalna stranka’ das Milošević-Regime als Verräter an der serbischen kulturellen Tradiion: “Handkes Unterfangen ist umso bedeutender, als man dank den Sozialisten in Serbien immer weniger über die Serben weiß.”11 (Jeličić, 48) In der Folge bezichigt sie das Regime des Kniefalls vor dem Westen und wirt ihm vor, mit der Schließung des freien Radiosenders Studio B auch zu verhindern, dass innerhalb Serbiens die Wahrheit über Serbien vernommen wird: „Grupi (…) pritrčava jedna mlada, agresivna novinarka, koja izgovara reč radio kao da zaista veruje da u njemu žive mladi ljudi, a i da okolina u to treba da poveruje. Ambiciozna novinarka počinje sa ozbiljnim pitanjem. (Kad god čujem da neka novinarka postavi pitanje duže od pet reči, ja se uhvaim za šlic, došapnuo mi je jedan srbo-mačista, takođe prisutan u grupi.)“ 10 „Pavić nema te preteče, on i danas popunjava rupe koje je ostavila Vukova reforma, on ponovo reakivira srpski barok, vizanijsku tradiciju, on je po sili prilika pre svega nacionalni radnik u kulturi a tek potom igrač sa jezikom.“ 11 „Hantkeov [sic!] poduhvat je još veći pošto se u Srbiji, zahvaljujući socijalisima, sve manje zna o Srbima.“ 9 204 Journal of Language and Literary Studies Auch in Serbien ist die Wahrheit über die Serben nicht mehr zu vernehmen. Jene, die an der Macht sind, wollen sie nicht sagen, und jenen, die das wollen, erlauben sie es nicht. Und deshalb ist es beschämend für dieses Regime, dass ein ausländischer Schrifststeller irgendwo auf der Welt die Wahrheit über uns gesagt hat, während unsere Informaionsminister in Serbien Dunkelheit verbreiteten, dabei tat dieser das nicht, weil er die Serben besonders gern hat, sondern weil er unermüdlich auf der Suche nach der Wahrheit ist, ganz gleich auf welcher Seite sich diese beindet.12 (Ebd.) Hier klingt eine Kriik an, die nach dem Wechsel Miloševićs zur Friedenspoliik immer wieder vonseiten der naionalisischen Opposiion geäußert wurde: Indem das Regime mit seiner geistlosen Propaganda die Bevölkerung einlulle, verliere diese den Bezug zur serbischen Kultur. Dies mache es dem Regime leicht, die ‘serbischen Interessen’ zu verraten. Doch in der Mehrzahl der Beiträge wird die Handke-Kontroverse dazu genutzt, die demokraische, aninaionalisische Opposiion, das so genannte ‘andere Serbien’, anzugreifen und des Verrats am Serbentum zu bezichigen. Dabei wird sie immer wieder ganz explizit als Teil der Verschwörung gegen Serbien verunglimpt. In einigen Beiträgen wird dabei auf jene Stelle in Handkes Text verwiesen, in der der Ich-Erzähler seinem Unwillen Ausdruck verleiht, einem Vertreter der Opposiion zuzuhören. Diese Stelle kann je nach Lesart, als Relexion über die Gefahr der Manipulaion, die jedem Erzählen innewohnt, oder als Statement des Autors interpreiert werden. In den Beiträgen ist ausschließlich zweiteres der Fall. So schreibt etwa Mirjana Bobić-Mojsilović im Telegraf: “Handke ist genial, als er jenen namenlosen serbischen Trotel beschreibt, der sich mit seiner Verachtung für das eigene Umfeld brüstet und ihn in der Überzeugung abküsst, er häte die Absichten eines typischen Ausländers erkannt.”13 (Bobić-Mojsilović, 21) Hier wird zudem die Kriik jenes Opposiionellen nicht als eigenständig, sondern als Anbiederung an den ‘Fremden’ begrifen, was wiederum einem ehrlosen Verrat am eigenen Volk gleichkommt: Denn dieses Detail enthüllt (...) unsere vollkommen ehrlose Besessenheit von der Welt – in deren Namen viele hier bereit sind, ihrer eigenen Erniedrigung zu frönen. Wir, die wir dazu nicht bereit sind, haben Handke genossen.14 (Ebd.) „Ni u Srbiji ne može da se čuje isina o Srbima. Oni koji drže vlast ne žele da je kažu, a onima koji to žele, ne dozvoljavaju. I zato je više nego sramno za ovaj režim, što je, dok su ministri informisanja u Srbiji zavodili mrak, jedan strani pisac negde u svetu rekao o nama isinu, i to ne zato što on posebno voli Srbe, nego zato što je on neumorni tragač za isinom, bez obzira na čijoj strani ona bila.“ 13 „Handke je genijalan kada opisuje onu neimenovanu srpsku budalu koja se diči svojim prezirom spram vlasitog okruženja, i koji ga ljubi, uveren da je pogodio namere ipičnog stranca.“ 14 „Jer, taj detalj otkriva (…) našu potpuno iščašenu opsednutost svetom – u ime koje su 12 Folia linguisica et literaria 205 Aus einer solchen Sichtweise erwächst Handke dann auch zum Beschützer des wahren Serbentums vor dem ‘verlogenen Kosmopoliismus’ der aninaionalisischen Opposiion, die der ‘Welt’ hörig ist: Denn Handke hat uns nicht nur vor der Welt in Schutz genommen. Indem er die Maske von einem besimmten Typ serbischer Intellektueller riss, eine Maske, die diese sich selbst mit den billigen Farben vom ‘einzig möglichen moralischen Engagement’ und ähnlichen Leerformeln aufgetragen haben, hat Handke uns vor den Dümmsten und Verdorbensten unter uns in Schutz genommen. Das sind, in Wahrheit, genau jene, die im Namen ihres verlogenen Kosmopoliismus die serbischen Naionalisten durch den Dreck zogen, viel mehr aber noch einen Emir Kusturica – weil der kein muslimischer Naionalist ist!15 (Ebd.) Dass dieser ‘verlogene Kosmopoliismus’ der aninaionalisischen Opposiion in Wahrheit dem feindlichen Lager zuzurechnen ist, kommt dabei im Nachsatz des letzten Satzes besonders deutlich zum Ausdruck. Hier wird unterstellt, dass der wahre Vorwurf an Emir Kusturica nicht ist, serbischer Naionalist zu sein, sondern eben, nicht auf der Seite des Feindes (und wie in anderen Beiträgen bezeichnet, ‘Schützlings’ des Westens) zu stehen. So wird auch die aninaionalisische Opposiion selbst zum Feind Serbiens. Auch Zoran Avramović nutzt die Handke-Kontroverse, um ganz gezielt auf die aninaionalisische Opposiion loszugehen und sie als Teil der aniserbischen Verschwörung darzustellen. So spricht er in seinem Beitrag “Die Partei des Hasses und Handke“16 von einer „Hetzjagd auf den Begrif des Serbentums“17 (Avramović, 4), in der Mitglieder der „unregistrierten internaionalen Partei des Hasses“18 (Ebd.) federführend waren, welche nun wiederum auf Handkes Text losgehen. Den serbischen Mitgliedern dieser ‘Partei des Hasses’ wird in der Folge unterstellt, ihr eigenes Volk zu hassen, was zunächst ironisch als „universelles Menschenrecht“19 (Ebd.) charakterisiert, gegen Ende des Arikels aber ganz explizit in die Nähe von ‘Ehrlosigkeit’ gerückt wird, da mit ihm ein Unverständnis für die ‘naionalen Rechte’ einhergeht: mnogi ovde, spremni da služe svome vlasitom poniženju. Mi, koji na to nismo spremni, uživali smo u Handkeu.“ 15 „Jer, nije nas Handke samo odbranio od sveta. Skidajući oplatu sa jednog ipa srpskih intelektualaca, oplatu koju su sami sebi mazali jetinim bojama o ‘jedinom mogućem moralnom angažmanu’ i sličnim ispraznosima, Handke nas je odbranio od najglupljijih i najpokvarenijih među nama. A to su, upravo, oni koji su u ime svoga lažnog kosmopoliizma blaili srpske nacionaliste, ali još više jednog Emira Kusturicu – što nije muslimanski nacionalista!“ 16 „Stranka mržnje i Handke“ 17 „haj[ka] na pojam srpstva“ 18 „neregistrovane internacionalne stranke mržnje“ 19 „univerzalna ljudska prava“ 206 Journal of Language and Literary Studies Für sie ist es eine banale Angelegenheit, dass die Serben aus der dalmainischen Krajina gänzlich vertrieben wurden, in der sie seit dem 14. Jahrhundert lebten. Für sie ist es wahre Blasphemie zu behaupten, die Serben häten auch ihr Recht verteidigt, nicht in einem Staat zu leben, der unter dem Zwang der internaionalen Ordnung geschafen wird, unter ihnen waren keine Streiter für die Verteidigung der kulturellen Idenität, der poliischen Unabhängigkeit, des naionalen historischen Erbes.20 (Ebd.) Interessant ist, dass hier die eigene Rolle im Zerfall Jugoslawiens ausschließlich als verteidigende, keinesfalls als aggressive dargestellt wird. Entsprechend kann laut Avramović zwar über die poliischen Mitel, mit denen man für diese Rechte kämpt, diskuiert werden, keinesfalls aber über die Notwendigkeit ihrer Verteidigung. Die Weigerung, die aus einer solchen Sichtweise folgende grundsätzliche Rechtmäßigkeit dieses Krieges anzuerkennen, wird als Verrat bzw. Akt des Hasses dargestellt, der noch in die Geschichtsbücher eingehen wird (vgl. ebd.). Verrat an Peter Handke Der Verrat an der serbischen Kultur und die ‘Kulturlosigkeit’ des serbischen Volkes drohen nach Ansicht einiger VerfasserInnen auch die lauteren Absichten Peter Handkes zunichte zu machen, wobei durch den Verrat an Handke auch das serbische Volk Schaden nimmt. Gefahr droht Handke von all jenen, die versuchen, seinen Text und seine Person zu instrumentalisieren. Um sich selbst diesem Vorwurf zu verwehren, präsenieren sich die VerfasserInnen ot als schon seit langem ergebene LeserInnen Handkes. Besonders deutlich wird dies im Beitrag von Vasa Pavković, der im NIN die Übersetzung von Handkes Noch einmal für Thukydides bespricht. Eingangs kriisiert er die poliische Instrumentalisierung Handkes insbesondere während dessen erneuten Belgrad-Besuchs: Aber ohne an Handkes Absichten zu zweifeln, blieb doch ein, sagen wir, biterer Beigeschmack an der Präsentaion in der Naionalbibliothek und dem Bild des ‘bunten’ Publikums aus ‘Akivisten’ haten, die ihm freneisch applaudierten. Wahrscheinlich hat kein einziger der Repräsentanten im Saal Handke je zuvor gelesen, und von ihrer Liebe zur Wahrheit und zur Literatur zu sprechen, ist ohnehin lächerlich. / Widerlich.21 (Pavković, 37) „Za njih je banalna stvar što su Srbi iskorenjeni iz dalmainske krajine u kojoj su živeli od 14. veka. Za njih je prava blasfemija tvrdnja da su Srbi branili i pravo da ne žive u državi koja se stvara pod silom međunarodnog poretka, među njima nije bilo boraca za odbranu kulturnog ideniteta, poliičke nezavisnosi, nacionalnog istorijskog nasleđa.“ 21 „Ali, bez imalo sumnje u Handkeove namere, ostao je, recimo, nagorak ukus promocije u Narodnoj biblioteci i slike ‘šarolikog’ publikuma ‘akivista’ koji mu je freneično aplaudirao. Verovatno da niko od zvaničnika u sali nikada pre toga nije čitao Handkea, a 20 Folia linguisica et literaria 207 Die eigene Begeisterung für Handke stellt er dann sogleich als bereits viel länger während dar: „Aber: Noch einmal für Thukydides habe ich vor diesen Ereignissen gelesen und in mein Bücherregal gestellt, neben eine Reihe anderer wertvoller Prosawerke Handkes.“22 (Ebd.; Kursiv-Setzung im Original) Der Vorwurf, die ‘Kulturlosigkeit’ des serbischen Volkes mache Handkes Absichten zunichte, wurde schon früher erhoben, etwa als bekannt wurde, dass beim in Podgorica ansässigen ‘Oktoih’-Verlag eine nicht genehmigte Raubübersetzung der Winterlichen Reise veröfentlicht wurde. So wird im Beitrag von M. Čolić zu diesem Thema der Herausgeber des ‘Clio’-Verlags Zoran Hamović ziiert: Alles ist so gemacht, wie nur wir es machen können, und dadurch bekrätigen wir eigentlich das Bild über uns, das ein guter Teil des Westens forciert, gegen das Handke aber eben aufgestanden ist. Nun ist also ‘Gerechigkeit für Serbien’ aufgetaucht, was eigentlich der Unteritel ist. Es wurde solch ein Graph erstellt, dass der Titel des Originals blödsinnig zusammengestaucht wurde, es heißt also nicht ‘Winterliche Reise’, sondern ‘Winteliche Reise..[sic!]’. Handke verdient diese beiden Gesten nicht: die Piratenausgabe und die nachgedichtete Übersetzung (…).23 (Čolić, 5; Hervorhebung im Original) Hamović akiviert hier gleich eingangs das Stereotyp, wonach die Serben sich selbst die größten Feinde sind, indem er andeutet, dass er im Grunde nicht überrascht ist, dass gerade die Serben selbst, die guten Absichten Handkes zunichtemachen und sich durch diese, noch dazu schlecht gemachte, Übersetzung, als ‚kulturlos‘ erweisen. Ähnliche Aussagen inden sich auch in anderen Beiträgen, etwa bei Sava Dautović im NIN (36) oder bei I. Rastegorac in Književne novine (2). 4. Zusammenfassung Zusammenfassend lassen sich folgende Punkte nennen: ‒ Die Handke-Kontroverse wurde in serbischen Printmedien ausschließlich unter poliischen Gesichtspunkten behandelt und in den poliischen Diskurs jener Zeit vollends integriert. Darüber hinaus wurde sie auch zum Anlass genommen, innerhalb des serbischen Volkes nach o njihovoj ljubavi za isinu i književnost je smešno govorii. / Odvratno.“ 22 „Ali: Još jedanput za Tykidida sam pročitao pre ih zbiija i smesio knjižicu na policu, u niz vrednih Handkeovih proza.“ 23 „Sve je napravljeno tako kako samo mi to možemo učinii i zapravo potkrepljujemo sliku o nama koju dobar deo Zapada forsira, a proiv čega je upravo Handke ustao. Pojavila se dakle ‘Pravda za Srbiju’, što je zapravo podnaslov knjige. Napravljen je takav graf da se naslov originala nepismeno složi, dakle nije ‘Zimsko putovanje’ već ‘Zimko putovanje.. [sic!]’. Handke ne zaslužuje ta dva gesta: piratsko izdanje i prepev prevod (…).” 208 Journal of Language and Literary Studies Feinden und Verrätern zu suchen. Diese wurden meist im jeweiligen poliischen Gegner gefunden, wobei insbesondere die demokraische, aninaionalisische Opposiion zur Zielscheibe wurde. Zugleich kommt aber auch immer wieder, wie es für naionalisische Diskurse üblich ist, Verachtung für das eigene Volk als Ganzes zum Ausdruck. ‒ Die Haltung, die in den einzelnen Beiträgen gegenüber Handke zum Ausdruck kommt, scheint durch das Verhältnis zu naionalisischen Weltanschauungen besimmt. Airmaive und Handke gegenüber kriisch eingestellte Beiträge lassen sich relaiv genau entlang der Trennlinie naionalisisch – aninaionalisisch einordnen. ‒ Die vorgefundenen Argumente in den airmaiven Beiträgen entstammen vorwiegend dem naionalisischen Diskurs. ‒ Der Text wurde, wenn, dann nur als Verkündung einer Wahrheit und Bestäigung für eine vermeintliche Verschwörung gegen Serbien gesehen. ‒ Vor diesem Hintergrund blieb die Friedensbotschat des Textes in den serbischen Beiträgen völlig unberücksichigt, statdessen wurde die Kontroverse als Bestäigung bestehender Freund/Feind-Schemata gesehen. Festzustellen ist in diesem Zusammenhang, dass Peter Handke im Zuge seines erneuten Serbien-Besuchs nicht dazu beigetragen hat, die Friedensbotschat seines Textes stärker in den Vordergrund zu rücken, im Gegenteil: So verglich er etwa während der Lesung im JDP, wie es scheint, ganz gezielt das slowenische Publikum mit dem serbischen, als er in Serbien ein slowenisches Wort verwendete und die Reakionen dann explizit mit dem umgekehrten Fall in Ljubljana verglich: [V]on Zeit zu Zeit sagte er ein Wort auf Slowenisch. Als er sah, dass das Publikum mit Wohlwollen darauf reagierte, sagte er: ‚Diesen Text habe ich in meiner Mutersprache, dem Slowenischen, in Ljubljana gelesen, aber an einer Stelle passierte es mir, dass ich ein Wort auf Serbisch sagte und die Reakionen waren katastrophal.‘ Das Publikum im JDP applaudierte ihm darauhin lange.24 (Stanković, 29) In Verčernje novosi wird diese Aussage sogar in einem eigenen Kästchen innerhalb des Arikels hervorgehoben (vgl. L., 22). Die ‚aggressiven Slowenen‘ werden hier also gegen die ‚friedliebenden, toleranten Serben‘ ausgespielt. Dass die Slowenen die eigentlichen Verbrecher sind, hat Handke dann auch in einem, dem NIN gegebenen Interview explizit formuliert und die Entrüstung, die ihm vonseiten der Slowenen entgegenschlug, mit dem aus ihrem Verbrechen resulierenden schlechten Gewissen erklärt (vgl. Dimitrijević, 42). [P]ovremeno bi neku reč rekao na slovenačkom. Kada je video da publika to prima sa simpaijama, rekao je: „Ovaj tekst sam na svom maternjem, slovenačkom, čitao i u Ljubljani, ali mi se na jednom mestu desilo da sam jednu reč kazao na srpskom i reakcije su bile katastrofalne.“ Publika u JDP mu je nakon toga dugo aplaudirala. 24 Folia linguisica et literaria 209 Wie sich also zeigt, nutzte auch Handke selbst die um die Winterliche Reise entstandene Kontroverse nicht, bereits bestehende Freund/Feind-Schemata aufzubrechen, statdessen bestärkte er selbige mit solchen und ähnlichen Äußerungen. Literatur: Ziierte Arikel aus dem Korpus25 1. Avramović, Zoran: „Stranka mržnje i Handke“. Književne novine. 933-934, 1996. 4. 2. Bobić-Mojsilović, Mirjana: „Slovo srama“. Telegraf. 14.2.1996. 21. 3. Čolić, M.: „Pravda i – zarada“. Poliika ekspres. 14.4.1996. 5. 4. Dautović, Sava: „Upotreba Handkea“. NIN. 19.4.1996. 36. 5. Dimitrijević: „Prolećno putovanje kroz Srbiju“. NIN. 24.5.1996. 40-42. 6. Đorđević, Časlav (1996): „Čeiri pesme o velikom hodaču Peteru Handkeu“. Itaka, 1. 105-107. 7. Konstaninović, Zoran: „Trajanje Petera Handkea“. Handke, Peter: Gedicht an die Dauer. Pesma za trajanje. Aus dem Deutschen von Žarko Radaković. Beograd: Interpress, 1996. 61-63. 8. Jeličić, Jasminka: „Pravda za Srbiju“. Velika Srbija. 10-20.5.1996. 48. 9. L., A.: „O Pravdi za Srbiju“. Večernje novosi. 17.5.1996. 22. 10. Pavković, Vasa.: „Mala utopija“. NIN. 16.8.1996. 37. 11. Rastegorac, I.: „Handke – hodočasnik savesi“. Književne novine. 931-932. 2. 12. Smiljanić, Radomir: Peter Handke ili Nemačko-srpska rapsodija. prosa quasi una poliica. Beograd: Nova Evropa, 1996. 13. Stanković, Radmila.: „Verniji sam Srbiji nego ženama“. Telegraf. 22.5.1996. 28-29. 14. Stefanović, Nenad (1996a): „Smatrajte me za svoj san“. Duga. 25.5.1996. 8-12. 15. Tadić, Ljubomir: „Pravda i isina na iskušenju. Peter Handke i njegovi kriičari.“ Ivanović, Života (Hrsg.): Handke i njegovi kriičari. Polemika o Pravdi za Srbiju. Beograd: Tanjug, 1996. 3-7. Primärliteratur Peter Handke Handke, Peter: „Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms.“ In: ders. : Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1972. 19-28. Handke, Peter: Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechigkeit für Serbien. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1996. 25 Das gesamte, für die Analyse verwendete Korpus ist in der Diplomarbeit ziiert. 210 Journal of Language and Literary Studies Sekundärliteratur Bluhm, Lothar: „‘Schon lange … hate ich vorgehabt, nach Serbien zu fahren’. Peter Handkes Reisebücher oder: Möglichkeiten und Grenzen künstlerischer ‘Augenzeugenschat’“. Wirkendes Wort: deutsche Sprache und Literatur in Forschung und Lehre, 48. 68-90. Čolović, Ivan : Poliika simbola. Ogledi o poliičkoj antropologiji. 2., illustrierte Aulage. Beograd: XX vek, 1997. [= Biblioteka XX vek; 110] Čolović, Ivan : Balkan – teror kulture. Ogledi o poliičkoj antropologiji, 2. Beograd: XX vek, 2008. [= Biblioteka XX vek; 171] Dronske, Ulrich: „Das Jugoslawienbild in den Texten Peter Handkes. Poliische und ästheische Dimensionen einer Mysiikaion“. Zagreber Germanisische Beiträge, 6. 69-81. Gritsch, Kurt: Peter Handke und „Gerechigkeit für Serbien“. Eine Rezepionsgeschichte. Innsbruck u.a.: Studien-Verlag, 2009. Lacko Vidulić, Svjetlan: „Vergangenheitsfalle und Erinnerungsort. Zur Wirkung der Handke-Kontroverse in Serbien seit 1991“. Bobinac, Marijan; Müller-Funk, Wolfgang (Hrsg.): Gedächtnis – Idenität – Diferenz. Zur kulturellen Konstrukion des südosteuropäischen Raumes und ihrem deutschsprachigen Kontext. Beiträge des gleichnamigen Symposiums in Lovran/Kroaien, 4.-7. Oktober 2007. Tübingen; Basel: A.Francke, 2008. 205-215. [= Kultur – Herrschat – Diferenz; 12] Miguoué, Jean Bertrand: Peter Handke und das zerfallende Jugoslawien. Ästheische und diskursive Dimensionen einer Literarisierung der Wirklichkeit. Innsbruck: University press, 2012. [= Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschat. Germanisische Reihe; 77] Struck, Lothar: „Der mit seinem Jugoslawien“. Peter Handke im Spannungsfeld zwischen Literatur, Medien und Poliik. Leipzig; Weissenfels: Ille & Riemer, 2012. [= Bibliothek Wissenschat; 8] Todorova, Maria: Die Erindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil. Aus dem Englischen von Uli Twelker. Darmstadt: Primus, 1999. Živković, Marko: Srpski sanovnik. Nacionalni imaginarijum u vreme Miloševića. Aus dem Englischen übersetzt von Miroslava Smiljanić-Spasić. Beograd: XX vek, 2012. [= Biblioteka XX vek; 204] Folia linguisica et literaria 211 TRAITOR IN ONE’S RANKS: THE REPRESENTATION OF SERBIAN SOCIETY IN ARTICLES ABOUT THE HANDKE-CONTROVERSY 1996 IN SERBIAN PRINT MEDIA Peter Handke’s text on Serbia A Journey to the Rivers: Jusice for Serbia provoked a ierce controversy. While the debate in Western Europe and foremost in Germany is mostly part of scieniic research on Handke’s text, its recepion in the countries of former Yugoslavia has hardly made a subject of discussion. This circumstance is remarkable especially since the text itself explicitly addresses also the audience in this area. Therefore, this aricle wants to give a short overview on the Coverage of the Handke-Controversy in Serbian Print-Media in 1996 and shed light on the presentaion of the Serbian society speciically. The quesion that is to be answered is, to what extend Serbian naionalist ideology, which dominated poliical discourse in Serbia at that ime, played a role in the aricles. To contextualize the analysis, at the beginning of the aricle Handke’s view on literature is discussed as well as his text “A Journey to the Rivers.” Presening the results of the analysis the irst two categories, that is “The descripion of Peter Handke” and “The descripion of the controversy in western media”, is given syntheically. They form the context for the third category, that is “The descripion of Serbian society”, which is given in more detail. The analysis shows, that the controversy was mainly seen as a further episode of the idea of a conspiracy of the western world against Serbia, which was widely spread in Serbia at that ime. The protagonists of this episode (Handke, the West, Serbia) are described with the typical stereotypes in Serbian naionalism. Especially important is the accusaion of a lack of culture in Serbian society. The call for peace that can be found in the text remained unconsidered. Key Words: Peter Handke, print media, Serbia, history, naionalism, balkanism, discourse analysis Folia linguisica et literaria 213 UDK 572.027 Die politische Anthropologie in Karl Immermanns Merlin. Eine Mythe Zaneta Sambunjak, Zadar, zsamb@unizd.hr Abstract: Wissen und Macht sind zentrale Themen und Probleme der politischen Anthropologie. In diesem Beitrag wird der bisher unbearbeitete Zusammenhang zwischen Macht und Wissen in Karl Immermanns Merlin. Eine Mythe (1832) untersucht, wobei die Macht als eine ewig konliktreiche dramatische Struktur betrachtet wird. Die Ergebnisse werden verglichen mit dem Verhältnis zwischen Macht und Wissen im mittelalterlichen Ritterroman und im Bezug auf die politischen Schriften von Niccolò Machiavelli analysiert. Schlüsselwörter: Karl Immermann, Merlin, Niccolò Machiavelli, politische Anthropologie, Wissen, Macht, Ritterroman Niccolò Machiavelli (1469–1527) formuliert in seinem Dialog über die Sprache, dass (...) obgleich der Zweck eines Lustspiels ist, einen Spiegel eines Privatlebens vorzuhalten, so ist doch seine Weise dies zu tun, eine gewisse Urbanität, mit Wendungen (...), damit die Menschen (...) dann das nützliche Beispiel kosten, welches darunter liegt. Es können deshalb die Personen des Lustspiels schwerlich ernste Personen sein; (...) wohl aber ergeben sich aus dieser Zusammenstellung von Menschen ernste und nützliche Wirkungen für unseren Lebens- wandel (9). Karl Immermanns Merlin. Eine Mythe (1832) ist trotz seiner aufällig unpoliischen Handlung nicht frei von poliischen Inhalten. In diesem Beitrag wird anhand der wissenschatlichen Textanalyse und einer poliikwissenschatlichen Interpretaion die These vertreten, dass Immermann in seinem Merlin durchaus seine Leser poliisch belehren, instruieren will. Die Lekion beinhaltet jedoch weder eine Kriik an besimmten historischen Persönlichkeiten noch konkrete poliische Handlungsanweisungen, wie man den Sturz einer poliischen Herrschat bewirken solle. Vielmehr scheint Immermann einen prakischen Einblick in eine poliische Anthropologie und in Techniken der Selbstdurchsetzung zu geben: Was er in dem Merlin auf der Mikroebene vorführt, spiegelt den Zusam- 214 Journal of Language and Literary Studies menhang zwischen den anthropologischen Prämissen und der Anwendung von Techniken wider, die in den poliischen Hauptwerken von Machiavelli für die Makroebene entwickelt wurden. Merlin enthält folglich diejenigen Elemente von Niccolò Machiavellis Lehre, die die Discorsi (Abhandlungen über die ersten zehn Bücher des Titus Livius, zu Deutsch meist nur Discorsi, auch mit Unteriteln wie Gedanken über Poliik und Staatsführung, 1513–1519) und Principe (Der Fürst, um 1513) bei ihrer grundlegend unterschiedlichen Blickrichtung im Geiste einen: In der Liebe und im Krieg sind alle Mitel erlaubt (Kainz 198). In diesem Sprichwort inden alle drei Werke zueinander. Im Folgenden soll geklärt werden, welche poliischen Lekionen dem Merlin zugrunde liegen und wie diese mit den beiden poliischen Hauptwerken Machiavellis, den Discorsi und dem Principe, zusammenhängen. Es sollen drei wesentliche Merkmale hervorgehoben werden, die sich aus der Analyse des Merlin ergeben, die ihn mit den Discorsi und dem Principe im Geiste verbinden. Dies sind erstens das Individualismusverständnis und die damit verbundene Instrumentalisierung des Eigennutzes der anderen Akteure zur Erreichung der eigenen Ziele, zweitens die Anwendung von Gewalt, List und Lüge als die zu bevorzugende Handlungsopion bei der Zielverfolgung und dritens die Bedeutung der Religion zur langfrisigen Zielabsicherung (Kainz 205). Zunächst einmal ist es eher ungewöhnlich, in Machiavelli einen Vertreter des neuzeitlichen Individualismus zu sehen. Legt man jedoch eine gängige poliikwissenschatliche Minimaldeiniion zugrunde, dann besimmt ihn ein Prinzip des sozialen Verhaltens und gesellschatlicher Koordinaion, das die Selbstständigkeit und Freiheit von Individuen betont und dem Individuum und seinen Bedürfnissen innerhalb gewisser Grenzen Vorrang vor der Gesellschat gibt. Es gibt also keinen Grund, Machiavelli nicht als einen individualisischen Denker zu bezeichnen. Denn hinter dieser Deiniion steht nichts anderes als der Gedanke, dass individuell gesetzte Ziele oder Bedürfnisse als solche zunächst einmal nicht hinterfragbar sind. Erst danach stellt sich die eigentlich interessante Frage nach den Grenzen des Individualismus – nämlich dann, wenn die Verfolgung autonomer Ziele zu zwischenmenschlichen Konlikten führt. Nun sind im Denken Machiavellis menschliche Ziele stets individuelle Präferenzen, die als gegebene Fakten schlicht zu akzepieren und nicht anhand externer Maßstäbe zu bewerten sind. Sei es nun die Eroberungslust, die er als eine weitverbreitete menschliche Eigenschat bezeichnet oder die Habgier. Menschen haben Ziele und werden diese verfolgen, in der Hofnung, dadurch ihren Eigennutz zu maximieren. In dieser Hinsicht sind sich auch alle Menschen gleich. Was Machiavelli von anderen individualisischen Denkern unterscheidet, ist die weiter gehende Annahme, dass die Fähigkeit, Ziele zu erreichen, bei den Menschen sehr unterschiedlich ist: Die Masse der Menschen unterscheide sich fundamental von den ausgewählten starken Individuen, die sich durch ihre überlegene Folia linguisica et literaria 215 virtù auszeichnen und deshalb auch ihre Ziele erreichen. Die starken Individuen sind es, die große Werke errichten, Religionen und Staaten begründen, erobern und vernichten. Es wird bei Machiavelli auch darauf hingewiesen, dass selbst das gefeierte starke Individuum, um erfolgreich zu sein, in sein Eigennutzkalkül das egoisische Kalkül der anderen Individuen miteinbeziehen muss. Eine weitere Möglichkeit ist es, das Kalkül der anderen Individuen hinsichtlich der angestrebten Ziele zu präformieren und deren Ziele somit an die eigenen Zielen anzupassen; bei Machiavelli nehmen hierbei die Religion und die Erziehung die entscheidende Rolle ein (Kainz, 205–207). Im Merlin gibt Immermann eine anschauliche Instrukion darin, wie man geschickt die egoisischen Moive aller Beteiligten ansprechen muss, um die eigenen nicht minder egoisischen Ziele durchsetzen zu können. Die wichigsten dramaischen Akteure im Merlin sind Satan, Klingsor, Titurel, König Artus und seine Tafelrunde, Niniana und Merlin. Sie sollen die dominant moralischen und intellektuellen Tendenzen verkörpern, die Immermann in der Vergangenheit und in seinen eigenen Zeiten sah. Satan, der Demiurg, ist ihm kein theologischer Teufel (German Classics), sondern ein fürstlicher Charakter, der Herr der Notwendigkeit, die nicht moralische, unwiderstehliche, kosmische Krat der physischen Schöpfung; er soll vielmehr als ein Vertreter des Rechts des Stärkeren aufgefasst werden. Unter dem Begrif der Stärke ist jedoch nicht in erster Linie dessen physische Ausprägung zu verstehen, wenngleich auch diese bei der Anwendung von Gewalt von Zeit zu Zeit eine Rolle spielen mag, sondern vielmehr ein gewisses geisiges Vermögen, die Ziele anderer Menschen abschätzen zu können und diese zugunsten der eigenen Zielsetzungen zu manipulieren. Es ist klar, dass eine Macht, die auf fortgesetzter Gewaltanwendung beruht, keinen Bestand haben kann. So lautet hier eine der Kernlehren für Machtgierige: Notwendige Grausamkeiten sind gleich zu Anfang und möglichst auf einmal zu vollbringen (Principe VIII; Kainz 210). Um dies zu garanieren, greit im Merlin Satan auf die Schwäche der religiösen Akteure (Candida) im Spiel zurück (Wüste, Höhleneingänge 564–575). Damit wird klar, dass für Immermann im Sinne Machiavellis die Religion nichts anderes ist als ein menschlich erfundenes Mitel, welches den poliischen Zielen dient (Discorsi I/30–38, II/102–115, III/224–230). Der Stolz des Lebens im Satan und im Luzifer, der das kreaive Feuer repräseniert, wird gegen die enge Askese des orthodoxen Christentums erregt, verkörpert im schwachen Titurel und in Candida (German Classics). Damit wird das Christentum als eine Religion der Schwäche beurteilt, mit der kein Krieg zu gewinnen sei. Im Vergleich zum mitelalterlichen Artusroman, könnte man vermuten, dass an dieser Stelle im Merlin die Insituion der Kirche und ihre Tempel geheiligt werden. Und diejenigen, die diese Tempel bauen und Kelch/ Gral plegen, werden in Immermanns Merlin als schwach und dumm dargestellt 216 Journal of Language and Literary Studies (Britannien. Felsenschlucht 576–590). Doch scheint es dabei nicht in erster Linie darum zu gehen, das Christliche ins Lächerliche zu ziehen, sondern zu zeigen, wie es nützlich angewandt werden kann. In den nächsten Passagen wird quasi das Christentum gedeutet: Es wird gezeigt, wie die christliche Theologie korrekt angewendet werden kann, indem man sich deren teleologischen Rechferigung zweckdienlicher Handlungen bedient, ohne jedoch die Qualität der Ziele zu hinterfragen: Da jedes selbst gesetzte Ziel grundsätzlich legiim ist, kann auch jedes Ziel theologisch fundiert gerechferigt werden. So kommt im Sinne der Theorie Machiavellis das als schwach bewertete Christentum zu einer gewissen Geltung. Angesichts eines zweifelhaten Übels, dem Tod des Opfers, dürfe man niemals das sichere Gute, nämlich die Geburt eines Kindes, aus Furcht unterlassen. Das Ziel des Opfers sei schließlich ein Platz im Paradies. Die Ironie besteht darin, dass es richig ist, in einer Dilemmasituaion das sichere Gute dem unsicheren Schlechten vorzuziehen. Legiimierung eines Mitels durch den Zweck ist dann unproblemaisch, wenn man sicher sein kann, dass der Zweck wirklich gut ist (Principe XV; Kainz 212–213). Satan nämlich entscheidet, den Herrn des Christentums zu imiieren, indem er mit einer Jungfrau, Candida, einen Sohn zeugt, mit dem Ziel, die Welt aus der Sterilität der Askese zu reten. Candida wird kurz vorgestellt, die Krat des mächigen Geistes anerkennend und ihr Schicksal klagend (German Classics). Sie wird als Vertreterin der Tugend dargestellt; insofern ist ihre Vergewaligung im Merlin als ein listenreiches Vorgehen zu verstehen (Vorspiel 557–560). Darüber hinaus wird an dieser Stelle ein Moiv verdeutlicht, das auch in den poliischen Schriten einen prominenten Platz einnimmt: die Legiimierung durch das Recht des Stärkeren. Immermann wie Machiavelli beurteilen nicht die Ziele, sondern die Fähigkeit, diese zu erreichen. Gewalt ist zwar ein Mitel, das Machiavelli als solches für legiim erachtet, wenn es zielführend ist. Hat man jedoch die Wahl zwischen ofener Gewaltanwendung und listenreichem Vorgehen, so wird im Merlin bewiesen, dass letztere Strategie immer die empfehlenswertere ist. Auch bei Machiavelli wird diese Handlungsanweisung gegeben, insbesondere für Herrschende und für Menschen, die bei der Verfolgung selbstgesetzter Ziele in Konlikt mit den Zielen anderer geraten (Principe VIII, XV; Kainz 210). Merlin, der Sohn, das Kind, das sichere Gute, ist geboren, um die übernatürlichen schöpferischen Kräte seines Vaters mit der Zärtlichkeit und Sympathie seiner Muter zu verbinden. Sein Ziel ist es, die wahren Prinzipien des Urchristentums mit den natürlichen Trieben des Lebens in Einklang zu bringen. Merlin ist somit das Gegenstück zu seinem Vater und zum Titurel sowie dessen dumpfer und schmaler Zunt, die den wahren Geist der Menschheit gefangen halten – er ist zugleich Ani-Satan und Ani-Christ (German Classics). Merlin kommt in Konlikt mit der driten Grundkrat: Klingsor. Klingsor (auch: Klingsohr, Klinschor, Klingesor oder Klinsor) ist eine Zauberergestalt der Folia linguisica et literaria 217 mitelhochdeutschen Literatur. In der deutschen Mythologie spielt Klingsor eine ähnliche Rolle wie der Merlin des anglo-irischen Mythos, wenn er auch nicht dessen Prominenz erreicht hat. Klinschor (Herzog Terra di Lavoro), Schlossherr von Schastelmarveile (Alfranzösisch für „Schloss der Wunder“), indet sich in Wolfram von Eschenbachs mitelalterlichem Versroman Parzival aus dem 13. Jahrhundert. Während er aber bei Wolfram das Böse an sich verkörpert, nimmt die Figur in späteren Werken die Züge des goetheschen Mephistopheles oder gar fausischen, zwiespäligen Charakters an. Bei Immermann ist Klingsor wirklich nur eine Variante von Satan; interessant zwar, aber etwas weniger grundlegend bedeutend, mehr ein philosophischer und literarischer als ein akiver Antagonist. Sein Symbol ist die eingekreiste Schlange, die Verkörperung der Dauerhatigkeit innerhalb der sich verändernden Welt der Wirklichkeit. Bei Immermann versucht Klingsor, seinen eigenen Zweck zu erklären – die Kombinaion von allem, was groß, wahr, schön, menschlich und edel ist, in einem umfassenden und vernüntigen Glauben an die Menschheit –, die Gefahr in seiner eigenen Nähe dabei nicht erkenned (German Classics). So wird im Merlin die Kunst und die Notwendigkeit eines vertrauten Mitarbeiters vorgeführt, der bei der Erreichung selbstgesetzter Ziele assisiert. Dieser wird durch Klingsors Zwerg verkörpert, der aber auf seinen Eigennutz bedacht ist. In einer Welt, die nur auf dem Kalkül des Eigennutzes beruht, ist frappierenderweise der loyale Berater der einzige, der ihre Funkionslogik vollkommen verinnerlicht hat; er weiß, sie in seinen Plänen zu instrumentalisieren und sie für sich selbst in Anspruch zu nehmen (Principe Dedica, XXII; Kainz 204). An einer Stelle im Merlin schreit der Zwerg vor Freude: „Es lebe die Lüge, die List, das Verstellen! Es lebe die Narrheit, da schalten wir frei!“ (Der Gral. Castel Merveil. Saal 590–596) Der Zwerg sollte dies nicht unterlassen, weil es doch in der poliischen Anthropologie Machiavellis eine genuin menschliche Eigenschat ist, den individuellen Nutzen zu maximieren (Principe Dedica, XXII; Kainz 205). Danach sirbt Klingsor. Der Zwerg, ein Jüngling, hat ihn besiegt und Castel Marveil stürzt ein, ein Symbol für den Sturz des Glaubens an die Menschheit (Castel Merveil. Vorplatz 643–645). Merlin seinerseits versucht, seinen Glauben an König Artus und seinen Kreis zu bewahren. Diese verkörpern das frivole, unverantwortliche, wenn auch rainierte, Verhalten des Adels, weil sie sich dazu entscheiden, das Heil in dem primiiven Idealismus Indiens zu suchen; sie ernennen Merlin als ihren Führer (German Classics). In der um 1150 entstandenen Vita Merlini wird die Figur Merlins erstmals an die Artussage angebunden. Durch die Übertragung der Historia regum Britanniae durch Wace im Roman de Brut 1155 gelangte der Sagenstof in die französische Literatur, wo er unter anderem von Chréien de Troyes aufgenommen wurde. Merlin erscheint jetzt als Zauberer und Ratgeber Artusʼ, der sich an seinem Lebensende aus der Welt zurückzieht. Robert de Boron baut 1210 218 Journal of Language and Literary Studies im Versroman Histoire de Merlin die Erzählung aus. Er macht Merlin zu Artusʼ Erzieher und führt sowohl die Tafelrunde als auch die Suche nach dem Gral auf Merlin zurück. Um 1225 entstand der Sagenzyklus Prose Lancelot, in der die Rolle Merlins als Berater des Artus und dessen Vater Uther Pendragon weiter ausgebaut wird. Im ersten Teil der Prose Lancelot, der Estoire del Saint Grail, wird der propheische Merlin noch als dämonischer Charakter gezeichnet, während er in den späteren Teilen ab der Estoire de Merlin vor allem in Verbindung mit der Gralssuche erscheint. Auch hier gehen sowohl die Tafelrunde als auch die Gralssuche auf ihn zurück, ebenfalls ist die Regelung für Uthers Nachfolge enthalten, nach der derjenige, der neue König wird, der das Schwert Excalibur aus dem Stein ziehen kann (Sinclair 208). Im Rahmen der Artussage wird Merlin ein weibliches Prinzip gegenübergestellt. Hierbei handelt es sich entweder um eine helfende Hand, welche als „Dame des Sees“ – ot als Vivianne bezeichnet – autrit und Merlin und seinen Schützling Artus unterstützt. Eine etwas verstärkte Variante bildet die Figur der Nimuë, die häuiger als Geliebte Merlins verstanden wird. Es wird auch erzählt, dass Merlin ihr verfalle und sie ihn töte oder auch einsperre. Ein drites Prinzip ist otmals in Morgana oder Morgue abgebildet, welche als Gegenspielerin und Feindin Merlins autrit. Die Namen werden allerdings ot vertauscht und die Charakterzüge sind nicht immer klar voneinander abgegrenzt (Rolland 119). Immermanns Merlin jedoch erliegt der Liebe gegenüber der anscheinend dummen Niniana, der Schwester von Königin Guinevere. Niniana ist die Personiizierung der mutwilligen Wünsche. Sie überzeugt ihn, ihr sein seliges Wort zu sagen, nachdem sie versprochen hat, es nicht zu wiederholen. Aber kaum hat sie das Wort erfahren, wiederholt sie es gedankenlos in der nächsten Sekunde. Merlin verliert dadurch seine übermenschliche Krat, die Macht der absoluten geisigen Integrität, und wird – den Einschränkungen der Erde vorbehaltlich – wie ein gewöhnlicher Mensch (Im Walde von Briogne 660–669). Obwohl in dem mitelalterlichen Artusroman die Romanze zwischen Artus’ bestem Riter Lancelot und Guinevere der zentrale Grund für den Fall der Welt Artus’ ist, bei Immermann kann der naive, betrogene Merlin – jetzt als das schwache Individuum sigmaisiert – nicht mehr Artus und dessen Hof leiten, die wegen seiner eigenen geisigen Leere zugrunde gehen (German Classics). Das 18. Kapitel des Principe steht ganz im Zeichen der Lüge und des Wortbruchs, und im 3. Buch der Discorsi verweist Machiavelli genau an der Stelle, an welcher er die Frage erörtert, ob Machthaber generell ihr Wort halten sollten, auf seine Ausführungen, die er bereits im Principe festgehalten hat. Die anschließende poliische Lekion gilt der Frage, wann List und Wortbruch angewendet werden sollen. Jemand, der den Sturz eines anderen anstrebe, könne dies auf zwei Weisen tun: Die eine Möglichkeit sei der ofene Kampf. Alternaiv sei es möglich, sich der List zu bedienen und sich den anderen auf jede Weise Folia linguisica et literaria 219 zum Freund zu machen, um dessen Vertrauen zu gewinnen. Aus der Vertrauensposiion heraus böte sich dann im Laufe der Zeit eine günsige Gelegenheit, den anderen auszuschalten. Die Lüge und die Anwendung von List und Wortbruch sind Mitel, die Machiavelli auch in seinen poliischen Schriten tendenziell präferiert (Principe XVIII; Discorsi III; Kainz 208). Abschließend lässt sich schlussfolgern, dass in den bisherigen Untersuchungen zu Immermanns Merlin häuig Goethes Einluss beobachtet wurde. Merlin, den Immermann selbst als eine „Tragödie der Negaion“ beschreibt, hat starke Spuren von Fausts Geist; aber des Helden Hingabe an die Lust des Fleisches – zweifellos und konsequent in Goethes Faust vorgeschlagen – ist dem Konlikt dieses Spiels, der nicht menschlich ist, wie der im Faust, fremd, sondern ein abstrakter Antagonismus der allgemeinen historischen Prinzipien, der nicht wie im Faust durch Hofnung und Streben gelöst wird, sondern pessimisisch durch Zwietracht und Zerstörung (Arthurian Encyclopedia). Damit entspricht Immermanns Merlin auch dem anthropologischen Pessimismus Machiavellis, den dieser in seinem Principe und seinen Discorsi zugrunde gelegt hate. Darin gibt es aber nichts Schlechtes, weil uns diese Erkenntnis belehrt, dass die Macht das Wissen ist, für die Wahrheit ofen zu bleiben; als was auch immer sich diese herausstelle, es ist die Wahrheit im betrachteten Moment. Hofnung und Streben in Goethes Faust, Zwietracht und Zerstörung in Immermanns Merlin: Obwohl sie anders sind, gehören sie zusammen: Es handelt sich immer um die Struktur menschlicher Existenz. Literatur: Immermann, Karl. „Merlin. Eine Mythe“. In: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 4, Frankfurt a.M., Wiesbaden: Athenäum, 1971–1977 Kainz, Peter. ,,Poliische Anthropologie, erfolgreiche Selbstdurchsetzung und Umwertung der Werte. Die Anwendung der poliischen Lehre in Machiavellis Komödie La Mandragola“. Zeitschrit für Poliik, NF 56: 2, 2009. 197–215. Machiavelli, Niccolò. Il Principe. s. l.: Lavla Edizioni, s.a. (E-Book) Machiavelli, Niccolò. Discorsi sopra la prima Deca di Tito Livio. s.l.: Edizioni La Biblioteca Digitale, s.a. (E-Book) Machiavelli, Niccolò. Discorso o dialogo intorno alla nostra lingua. Firenze: Sansoni editore. 1971. htp://www.dominiopublico.gov.br/download/ texto/lb000893.pdf. 2. April 2017 Rolland, Marc, Re Artù. Bologna: Il Mulino, 2011 Sinclair, Andrew. Lʼavventura del Graal. Milano: Mondadori Editore, 1997 “Immermann, Karl Leberecht.” The New Arthurian Encyclopedia: New Ediion, 1999. The New Arthurian Encyclopedia,htps://books.google.hr/books? id=7Yu0AAAAQBAJ&pg=PT487&dq=merlin+immermann&hl=hr&sa=X&r 220 Journal of Language and Literary Studies edir_esc=y#v=onepage&q=merlin%20immermann&f=false. 2. April 2017 “Immermann, Karl Leberecht.” A Library of the World’s Best Literature - Ancient and Modern, Vol. XX, Ibsen - Jefries, 2008. A Library of the World’s Best Literature, htps://books.google.hr/ks?id=9LZA6rvgAjQC&pg=PA7896&d q=A+Library+of+the+world%27s+best+literature+volume+Immermann& hl=hr&sa=X&ved=0ahUKEwjE2Oem4obTAhXH_iwKHYXkAzsQ6AEIITAB#v =onepage&q=immermann&f=false. 2. April 2017 “Merlin. A Myth.” The German Classics of The Nineteenth and Twenieth Centuries: Masterpieces of German Literature Translated into English, s.a. The German Classics of The Nineteenth and Twenieth Centuries, htps:// books.google.hr/books?id=83mnBVoZeUAC&pg=PT5497&dq=The+ger man+classics+of+the+nineteenth+immermann&hl=hr&sa=X&ved=0ah UKEwi_q57H5IbTAhVDXSwKHZUkD94Q6AEIGTAA#v=onepage&q=merl in.%20a%20myth&f=false. 2. April 2017 THE POLITICAL ANTHROPOLOGY IN KARL IMMERMANN‘S MERLIN. A MYTH A central theme of poliical anthropology is knowledge and power. In this aricle the previously so far unresolved issue of the relaion of power and knowledge in Karl Immermannʼs Merlin (1832) is interpreted, whereby power is viewed as an eternal adversarial dramaic structure. In this comparaive research is the existence of similariies and diferences between the relaionship of knowledge and power in Immermann’s Merlin, Niccolò Machiavelliʼs poliical wriings and the same problems in medieval chivalric romance to be analysed. Key Words: Karl Immermann, Merlin, Niccolò Machiavelli, poliical anthropology, knowledge, power, knightly romance Folia linguisica et literaria 221 UDK 821.112.2.09 Machtbewältigung: Heinrich Bölls literarischer Widerstand Boris Dudaš, Rijeka, bdudas@ffri.hr Abstract: Heinrich Bölls starkes gesellschaftspolitisches Engagement, das er in seinen literarischen und publizistischen Werken und öffentlichen Reden zum Ausdruck brachte, ist beinah legendär. Was bedeutet dieser Begriff im Hinblick auf Böll aber genau? Für oder gegen was engagierte er sich eigentlich? Welcher innere Antrieb zwang ihn dazu? Diesem Artikel liegt die folgende These, die im Artikel differenziert herausgearbeitet wird, zugrunde: Böll engagierte sich gegen Machtmissbrauch, Machtausübung, auch Machtverhältnisse – man kann durchaus sagen, dass ihn das Phänomen „Macht“ gestört hat. Schlüsselwörter: Heinrich Böll, Verplichtung zu den gesellschaftlichen und politischen Fragen, literarischer Widerstand, Machtbewältigung, Macht Gleich zu Beginn des Arikels soll der Begrif der Macht deiniert werden, was alles andere als einfach ist: „Hinsichtlich des Machtbegrifs herrscht immer noch ein theoreisches Chaos. Der Selbstverständlichkeit des Phänomens steht eine totale Unklarheit des Begrifs gegenüber.“ (Han 7) Unter anderem ist auch aus diesem Grund für diesen Arikel irrelevant, was unter dem Begrif „Macht“ Nietzsche, Heidegger, Foucault oder andere verstehen, sondern wie Böll dieses Phänomen aufgefasst hat. Wohl so bzw. ähnlich, wie er im Alltag und in der Gesellschat allgemein benutzt wird. Eine der gängigen und für den Alltagsgebrauch gut geeigneten Deiniionen von Macht lautet: „Macht ist, wenn man jemanden dazu bringen kann, etwas zu tun oder zu unterlassen, obwohl er bzw. sie das nicht möchte.“ Der Macht sind also Zwang und Gewalt – meistens in Form von (expliziter oder impliziter) Gewaltandrohung – immanent, was dazu führt, dass die Macht negaiv bewertet wird und sich als Kontrahent der Freiheit erweist. Die Macht ist an und für sich nicht materiell - obwohl ihre Folgen durchaus materieller Natur sind -, sondern sie ist medial, muss also als solche präseniert und perzipiert werden, was meistens sprachlich durch Befehle (abgeschwächt: Gebote) und Verbote geschieht. In seinen Frankfurter Vorlesungen sagt Böll, „Befehl“ sei „ein Wort, das vor Gericht gehört, ein Wort, das ausgelöscht wer- 222 Journal of Language and Literary Studies den sollte“ (44) – Bölls Abscheu gegenüber Befehlen und Verboten stammt aus seinen Erfahrungen als Soldat. Und Böll hat sechs Jahre (1939-1945) seines Lebens als einfacher Wehrmachtssoldat, also am untersten Ende der militärischen Hierarchie verbracht: „Er wollte nicht Vorgesetzter, kein Oizier, kein Unteroizier werden. Er zog es vor, unten, bei den Leuten auszuharren.“ (Vormweg 80). Und als einfacher Soldat hat er in dieser Zeit sicherlich enorm viele Befehle und Verbote erhalten und musste sie befolgen. Kein Wunder, dass er die Wehrmacht für die Machtorganisaion schlechthin hielt, was er dann auch auf jede Armee übertrug. Fast zwanzig Jahre nach dem Ende des II. Weltkriegs hat Böll die längere ironische Erzählung Enfernung von der Truppe (1964), „eines der eigenarigsten Erzählstücke des Autors“ (Vogt 98), geschrieben, in der es nicht um Kriegshandlungen, sondern um den Kasernenalltag in der Wehrmacht geht, stellvertretend für die Insituion namens Armee, was er gleich am Anfang klar stellt. In dieser Erzählung verspotet er die Armee, diese „Zwangs- und Schicksalsgemeinschat“ (105), als sinn- und nutzlose Organisaion zur Misshandlung von Soldaten: Der Ich-Erzähler und sein Kumpel Engelbert, Engel genannt, verbringen ihren Wehrdienst mit Spatenexerzieren – da Gewehre fehlen und man ihnen auch nicht ganz traut -, Toilletenreinigung und Kartofelschälen, wobei sie ihr Vorgesetzter zur Abwechslung hin und wieder zu Leibesübungen wie Liegestützen und Kniebeugen verdonnert. Ähnlich, doch zugleich auch viel machtvoller und brutaler hat Böll die Wehrmacht in seinen Kriegsromanen und –erzählungen dargestellt. Besonders aufschlussreich und detailliert hat er das im Roman Wo warst du, Adam? von 1951 getan. Die Wehrmacht erscheint da als eine Organisaion, die Menschen – Juden, im 7. Kapitel – dank ihrer Wafengewalt buchstäblich vernichtet, aber auch als ein anonymisierter und automaisierter Machträger, der die Menschen - einfache Soldaten, Unteroiziere und Oiziere – zu Dingen zwingt, die sie eigentlich nicht tun möchten: Fronteinsatz, lange Fußmärsche, Hungern und Dursten... In Wo warst du, Adam? wird die Machtausübung auch personalisiert, indem sie verschiedenen Personen unterschiedlichen Ranges zugeschrieben wird. Ja, sie wird sogar in militärischen Auszeichnungen, sowie in Oiziersrängen materialisiert: Je mehr Orden und je höher der militärische Rang, desto machtvoller ist die Person. Der Machtgebrauch wird aber auch individualisiert: Der General hat wohl am meisten Macht, er gibt den ersten Befehl, der widerspruchslos befolgt wird, obwohl er gar nichts sagt. Der nächste Machträger ist der Oberst, der die Befehle liebt und sich gerne als Befehlshaber gibt – das wird unterstrichen damit, dass er „Gemüse am Hals“ (8) hat. Befehle des nächsten Machträgers, des Oberleutnants Greck, sind so mild und unaufällig, dass sie gar nicht wie Befehle erscheinen: „Und dann sagte seine Simme, mit betonter Folia linguisica et literaria 223 Gleichgüligkeit, alle üblichen Kommandos verachtend: ‘Los.’“ (9). Er ist „von oben bis unten mit Überdruß angefüllt“ (10) und möchte eigentlich gar nichts befehlen. Selbstverständlich hat er keinen richigen Orden, nur „eine nichtssagende Medaille“ (10). Später erfaren die Leser, dass dieser Oberleutnant Greck heißt, und ihm wird ein ganzes (4.) Kapitel gewidmet und im 6. Kapitel wird sein Tod geschildert. Böll unterscheidet also verschiedenen Umgang mit machtvoller Posiion, der menschlich-solidarisch oder machtbewusst-befehlshaberisch sein kann. In Wo warst du, Adam? stellt er aber auch Machtmissbrauch dar: Fincks Chef und Oberst Bressen haben ihn nach Tokai, in die Frontnähe geschickt, nur um echten Tokaier Wein zu holen. Und Oberst Bressen wird nach seiner Verwundung weit von der Front abtransporiert, obwohl die Ärtze wissen, dass er nur leicht verwundet ist und blut – weil er einen hohen militärischen Rang hat. Ein noch schlimmeres Beispiel vom Machtmissbrauch hat Böll in Haus ohne Hüter dargestellt: Gäseler, ein junger und eingebildeter Oizier, schickte Rai, weil er ihn nicht ausstehen konnte, mit einem Spähtrupp in ein von russischen Soldaten besetztes Dorf, was Rai das Leben kostete. Und das vielleicht schlimmste Beispiel des Machtmissbrauchs in der Wehrmacht stellte Böll in der 1984 geschriebenen, aber erst 1982 veröfentlichten Erzählung Das Vermächtnis dar: Hauptmann Schnecker tötet im alkoholisierten Zustand den Oberleutnant Schelling, „der im betrügerischen Spiel um Macht und Vorteil nicht mitmacht“ (Vormweg 142). Dieser Mord wird überhaupt nicht geahndet, so dass Schnecker den Krieg überlebt und ins Zivilleben zurückkehrt, als ob nichts geschehen wäre. Und dabei – was ein wichiges Moiv für den Mord war – war Oberleutnant Schelling ein geradezu vorbildhater Befehlshaber, der „sich sicher auf der schmalen möglichen Grenze bewegte, Befehlender und Demüiger zugleich zu sein, wie es dem Befehlenden geziemt.“ (36) Allerdings hat Böll auch gezeigt, wie die Macht der Wehrmacht auch ohne Befehle und sill wirkte: durch latente Gewaltandrohung. In Der Zug war pünktlich überlegt sich Andreas, ob er aus dem Zug aussteigen und deserieren sollte. Er tut es nicht, da er sich sicher ist, dass man ihn innerhalb weniger Tage inden, verhaten und hinrichten würde. So fährt er wider Willen Richtung Front, seinem Tode entgegen. Und an den Soldaten, den „Hitlergläubigen“ (Delabar 37), die in einem anderen Zug begeistert an die Front fahren, erweist sich die Macht der Wehrmacht noch stärker – die ideologische Macht, die eigenständiges Denken verhindert und blinder Gehorsam erzeugt. Die Macht der sich auf der Tradiion und der Gewohnheit gründenden Herrschat, der „(...) Herrschat, die sich als selbstverständlich ausgibt und als solche hingenommen wird, einfach weil sie seit Generaionen besteht und die Menschen sich daran gewöhnt haben“ (Cases 33), wird in Die Waage der Baleks von 1952, dem „wohl verbreiteste(n) Böll-Text überhaupt“ (Vogt 48), dargestellt. 224 Journal of Language and Literary Studies In seinen späteren Romanen und Interviews hat Böll zum Ausdruck gebracht, dass ihn die Macht schon vor seiner Soldatenzeit sehr gestört hat: Es war die Macht, die die Nazis und ihre Organisaionen – die SS, Hitlerjugend und insbesondere die SA – demonstriert und ausgeübt haben. „Die Nazimärsche, der Straßenterror“ (Vormweg 38) zeigten die Macht des organisierten gewaltbereiten Mobs, die sich auf den Straßen und in den Insituionen wie z.B. Schulen breit gemacht hat. Ihre „Terror-Exzesse“ (Haase 220) waren ot und die willkürliche Gewaltandrohung ihrerseits war latent und omnipräsent, insbesondere gegenüber Anderen und Andersdenkenden, was Böll in Haus ohne Hüter von 1954 am Beispiel von Misshandlung von Rai und Albert, die von SA-Männern drei Tage lang geschlagen und getreten wurden, und Absalom Billig, der als erster Jude der Stadt umgebracht wurde, zeigt. Was diese kleinen Nazis besonders gefährlich machte, war ihre Gier und Lust an Machtgebrauch, die Böll als pathologisch darstellte, besonders im 1959 veröfentlichten Billard um halbzehn: Oto Fähmel hate etwas Verrückt-Manisches und Wackieras Machtbesessenheit und Gewaltbereitschat sind geradezu pervers – die „Verursacher von Leiden“ (Bernhard 244) haben vom „Sakrament des Büfels“, der als Symbol für „eine höchst gefährliche irdische Macht“ (Haase 223), für „das Grobe und Stumpfe einer brutalen, alles zerstampfenden Macht“ (Bernhard 246) , für Machtgier und Gewaltbereitschat den ganzen Roman durchzieht, gekostet: „Diejenigen, die von ihm aßen, repräsenieren in Deutschland die Macht und damit auch die Unterdrückung und die Gewalt (...)“ (Bernsmeier 90) Allerdings fasst Böll die Machtgier und Gewaltbereitschat breiter und beschränkt sie nicht nur auf den Naionalsozialismus, sondern er weitet sie zeitlich auf die Zeit seit dem Wilhelminischen Deutschland bis zur Wirtschatswunderzeit der Bundesrepublik aus (vgl. Marini 53). Die hervorstechende Eigenschat von Macht ist, dass sie zu Zwecken der sozialen Regulierung und Reglemenierung insituionalisiert wird (z.B. in Familien und anderen Gemeinschaten sowie in der difusen und nicht greibaren „Gesellschat“ auf informelle Art und Weise), wobei diese Insituionalisierung zur Festlegung von Machträgern als Organisaionen (Staat, Kirche, öfentliche Anstalten und Insituionen, Medien usw.) führen kann. Aus dieser Empindlichkeit den Macht ausübenden Organisaionen und Insituionen gegenüber stammt Bölls literarischer Widerstand. Familie war für den gläubigen Christen Böll die grundlegende Gemeinschatsform und ein Ort der Geborgenheit, nicht zuletzt weil er sie als Kind so erlebt hat. Nichtdestotrotz kriisierte er – obwohl lange Zeit recht selten – die Machtstrukturen innerhalb mancher Familien, z.B. im 4. Kapitel des Romans Wo warst du, Adam?, wo die Geschichte des Oberleutnants Greck bzw. wie er von seinen Eltern tyrannisiert wurde, erzählt wird. Ot haben die Kinder am Ehrgeiz ihrer Eltern zu leiden und müssen Hilfsunterricht über sich ergehen lassen, Folia linguisica et literaria 225 wie in Und sagte kein einziges Wort von 1953, oder sie müssen sich in elitären Schulen und Gymnasien quälen und „ihre von unechter Heiterkeit und verzweifelter Gleichgüligkeit geprägte Rolle spielen“ (Bernsmeier 80), wie in der Erzählung Daniel der Gerechte von 1954. Eltern als machtausübende Instanz werden wahrscheinlich am schärfsten in der längeren Erzählung Im Tal der donnernden Hufe von 1957 kriisiert. Paul ist sehr katholisch-religiös, was darauf hin deutet, dass das auch seine Eltern sind. Darüber hinaus werden sie als Spießer gezeichnet. Pauls Vater ist wohl ehemaliger Soldat und verkappter Militarist, der zehn Jahre nach dem II. Weltkrieg seine Pistole regelmäßig und liebevoll säubert und ölt. Und Pauls Muter ist in Bezug auf Sexualität so puritanisch, dass sie ihrem Sohn vor ein bis zwei Jahren strengstens verboten hat, mit der gleichaltrigen Katharina zu spielen, weil das damals zwöljährige Mädchen ihrem Sohn die Brust zeigte. Aber sie hat es sich nicht nehmen lassen, diesen Vorfall dem ganzen Ort bekannt zu machen. Grifs Muter ist disziplin- und ordnungsbesessen und zwingt ihren Sohn, sein Zimmer aufzuräumen, was diesen dazu bewegt, von zu Hause zu liehen. Auch die sonst relaiv posiiv gezeichnete Frau Mirzow, Katharinas Muter, wird kriisiert, weil sie dem Druck der Umwelt nachgibt und ihre Tochter nach Wien schickt. Irgendwie scheint sie auch der Umwelt mehr als ihrer Tochter zu vertrauen. Darüber hinaus schließt sie Katharina ins Haus, damit diese bloß in den noch verbliebenen Stunden keinen „weiteren Zwischenfall“ (Stückrath 166) verursacht. Auch in Ansichten eines Clowns von 1963 werden die Eltern angegrifen: Der schwerreiche Vater Schnier erpresst seinen Sohn und verweigert ihm nach dessen Verletzung und während dessen Krise inanzielle Unterstützung; die Muter Schnier, deren wichigste Eigenschaten „Liebesunfähigkeit, Geiz und Dummheit“ (Blamberger 210) sind, hat ihre Tochter in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs zum Fronteinsatz geschickt, um die „heilige deutsche Erde“ (24) vor den Alliierten zu beschützen, was mit deren Tod endete. Und als der 21-jährige Hans seine Ausbildung abbricht, von zu Hause weggeht und mit seiner Freundin Maria zu leben und sich mit der Clowns-Kunst zu beschätigen beginnt, sagen sich seine Eltern von ihm halb-oiziell los. Machverhältnisse zwischen den Ehepartnern kriisiert Böll mehr in seinen späteren Romanen. In Die verlorene Ehre der Katharina Blum von 1974 wird eher beiläuig erwähnt, dass sich Katharina von ihrem Mann scheiden ließ, weil sie eine „unüberwindliche Abneigung“ (23) zu eminden begann, da dieser „zudringlich“ war (30). Umso schärfer werden asymmetrische Machtverhältnisse innerhalb der Familien in Fürsorgliche Belagerung von 1979 kriisiert, wo es viel „Porno“ gibt: „‘Porno’ bedeutet hier in erster Linie die Verdinglichung des Partners in der Beziehung, seine Erniedrigung zum Objekt, das man besitzt, über das man Macht ausübt (...)“ (Balzer 1997, 384f.) Dasselbe gilt auf für Frauen vor Flußlandschat von 1985: „Hermann Wubler meint sogar, seiner Frau Kleidung 226 Journal of Language and Literary Studies und Schmuck für den Besuch des Hochamts für Ertler-Blum vorschreiben zu müssen.“ (Hummel und Hermanns 278) Auch die Nachbarschat und die anonyme und nicht fassbare „Gesellschat“ – das „man“ - üben auf eine/n Macht aus. Bölls Kriik ist diesbezüglich besonders in den Romanen aus den 1950ern massiv, in Und sagte kein einziges Wort, Haus ohne Hüter und Das Brot der frühen Jahre und in Im Tal der donnernden Hufe – im spießigen Adenauer-Deutschland schaute „man“ gerne in den Topf des Nachbarn, die Mitbürger mischten sich gerne in die Angelegenheiten des/der Einzelnen, egal ob es sich da um materielle, moralische oder Alltagsfragen ging. So werden in Und sagte kein einziges Wort die Angelegenheiten der Familie Bogner von der Vermieterin Frau Franke und von den Nachbarn genauestens beobachtet – ob Fred trinkt und nach Hause kommt und ob Käthe wieder schwanger ist... In Haus ohne Hüter achtet die Umwelt vor allem darauf, ob die Witwen „moralisch einwandfrei“ leben und ob die Kinder Väter oder „Onkels“ haben. Wilma Brielach hat darunter schwer zu leiden, und beim Umzug in eine andere Wohnung wird sie von den Nachbarn mit vorwurfsvollen und beleidigenden Blicken begleitet. Und in Im Tal der donnernden Hufe muss die vierzehnjährige Katharina ihren Heimatsort Zischbrunn – nomen est omen -, diesen „Hort des Revanchismus und der üblen Nachrede (Stückrath 174) verlassen, weil die Leute glauben, dass sie sexuell akiv ist und einem von ihren Mitschülern nackt Modell gesessen ist. Dass das erste nicht wahr und das zweite eine ofensichtliche Lüge ist, spielt für die Umwelt keine Rolle. Leni Pfeiffer, „eine geborene Gruyten“ (7), die „Heldin“ des 1971 erschienenen Romans Gruppenbild mit Dame, hat zweieinhalb Jahrzehnte an den Beleidigungen ihrer Umwelt, die sie für eine leichte Frau und Kommunisin hält, da sie ein Kind mit einem – inzwischen verstorbenen – russischen Kriegsgefangenen hat, zu leiden. Freilich ist „Lenis absolute Ignoranz in bezug auf die Umwelt“ (Kovács 132) ein gutes Schutzmitel. Noch mehr als Leni hat Katharina Blum zu leiden, da sie von den Nachbarn und auch von ihr völlig unbekannten Menschen wegen ihrer Beziehung zu Göten brielich und teleonisch nicht nur beleidigt, sondern sogar regelrecht misshandelt wird (vgl. Sowinski 76). Bölls Engagement galt allerdings besonders dem Widerstand gegen die Macht von Organisaionen, „in ‘Apparaten’ organisierte Macht wie Kirche, Wirschatsorganisaion, Staat.“ (Balzer 1991, 9) Zunächst springt ins Auge die Kriik an der (katholischen) Kirche, die im Roman Und sagte kein einziges Wort „als unmenschlich kriisiert“ (Herlyn 157) wird, vor allem durch die „ätzend sairische Zeichnung kirchlicher Amtsträger und Rituale“ (Vogt 50), wo die Bischöfe bei der Prozession und bei der Predigt ihre Macht zur Schau stellen. Die Kirchenvertreter mischen sich auch stark in die Familienplanung und andere weltliche Dinge wie Wohnungvergabe ein, wobei die Wohnsituaion „eines der gravierendsten sozialen Probleme dieser Zeit darstellte“ (Bellmann 2000, 94). Folia linguisica et literaria 227 Bei der Wohnungsvergabe ist für sie freilich nicht die soziale Not, sondern der „Lebenswandel“ der Menschen entscheidend. Und in Ansichten eines Clowns möchte der „Kreis fortschritlicher Katholiken“ (17), dem sowohl Geistliche als auch katholische Laien angehören, sogar das für das (Über)Leben notwendige Minimum ausrechnen und vorschreiben (18). Am schlimmsten ist aber, dass sie sich in das Inim- und Privatleben von Hans Schnier und Marie, die in einer außerehelichen Beziehung leben, stark einmischen und dem Zusammenbruch ihrer Liebesbeziehung beitragen. Interessanterweise haben sich die Kirchenvertreter in der BRD am meisten an diesem Roman von Böll gestoßen und am meisten von ihm getrofen gefühlt. Die Schule wird von Böll weniger als Bildungsanstalt, sondern vielmehr als Anstalt, in der die Schüler disziplinert werden, dargestellt. Das gilt insbesondere für zahlreiche Kriegserzählungen wie z.B. Wir Besenbinder, in der sich der Ich-Erzähler daran erinnert, wie er von seinem Mathemaiklehrer gegängelt und fast misshandelt wurde, aber auch wie ihm derselbe Lehrer bei der Prüfung half, damit er die mitlere Reife erhält und anschließend in den Krieg gehen kann. Besonders eindrucksvoll wird in der Erzählung Wanderer, kommst du nach Spa... gezeigt, „daß die Schule eine Vorbereitung zum Tode war.“ (Reid 32) Aber auch die Schule in der BRD wird in Bölls Romanen als eine Disziplinierungsanstalt gezeichnet. Insbesondere in Haus ohne Hüter wird die Schule als „ein Ort der Gewalt“ (Balzer 2000, 129), in dem „die Sturen“, die sich nicht anpassen wollen, „gebrochen“ werden, dargestellt. Die wohl machtvollste Insituion, die Böll immer wieder kriisierte und angrif, war – der Staat, der sich gerne in die Angelegenheiten der Einzelnen bzw. seiner Bürger einmischt, wie zum Beispiel in der Erzählung Mein teures Bein von 1950, in der der Beamte im Amt – bzw. Job-Vermitler im Job-Center, wie es heutzutage heißt – einem Invaliden bzw. Kriegsversehrten die Rente streichen möchte und ihm Arbeit als Schuhputzer anbietet, ja aufzudrängen versucht. Böll deswegen zum Anarchisten zu erklären, wäre allerdings falsch, er setzt sich nur für den „Anspruch des Individuums auf den eigenen Lebensetwurf“ und gegen „dessen Gefährdung in einer verwalteten Gesellschat“ (Schubert 41), für die Wahlfreiheit des Einzelnen und für dessen Freiheit VOR dem Staat und dessen Zwängen. Der Staat mitsamt der Polizei und der Staatsanwaltschat als seinen Repressionsinstrumenten werden wohl am hetigsten in Die verlorene Ehre der Katharina Blum kriisiert, nicht weil sie einen Delinquenten (Göten) verfolgen und zu verhaten versuchen, auch nicht weil sie zu diesem Zwecke gewisse Maßnahmen gegenüber Katharina unternehmen (vgl. Sowinski 72), sondern wegen der Art und Weise, wie sie das tun: Sie treten drohend und beleidigend auf, und sind bereit, so weit wie möglich zu gehen, sogar bis in Katharinas Inimbereich hinein, dabei Grenzen überschreitend ihre vom Grundgesetz der BRD geschütz- 228 Journal of Language and Literary Studies te Würde (vgl. Jeziorkowski 264), sowie ihre Menschen- und Bürgerrechte verletzend. Außerdem entdecken die staatlichen Insituionen der ZEITUNG, mit der sie verquickt sind (vgl. Balzer 1990, 50), vertrauliche Informaionen, womit sie das Gebot des Persönlichkeitsschutzes missachten (vgl. Völkl 37). Bölls Kriik der Macht und des Machtmissbrauchs in der modernen Gesellschat erreicht ihren Höhepunkt gerade in dieser Erzählung, vor allem am Beispiel der (Print)Medien bzw. der (Boulevard)Presse. Die Medien – in diesem Falle die ZEITUNG – haben in der modernen Gesellschat enorm viel Macht, so viel, dass sie sogar Regierungen durchschüteln oder sogar zum Sturz bringen können. Wenn sie verantwortungsbewusst handeln, als ‘vierte Gewalt’ im Staat der Entwicklung von demokraischen Verhältnissen und Prozessen und der Kontrolle der öfentlichen und mächigen Personen, Insituionen und Organisaionen dienen, dann ist das eigentlich gut. Problemaisch wird es aber, wenn sie die sogenannten kleinen Leute ins Visier nehmen und zur Zielscheibe machen, wie das Böll an Katharinas Beispiel demonstriert: das wird dann zur „im Medium der Sprache ausgeübte publizisische(n) Gewalt“ (Bellmann 1996, 186). Zum richigen Missbrauch wird es, wenn sie aus ihrem Eigeninteresse an Absatzerhöhung Skandale verursachen, sie sich geradezu ausdenken, sodass Menschen wie Katharina „aufs übelste verleumdet“ (Sowinski 73) werden: „Was die ZEITUNG berichtet, wird immer zu Sensaionen aufgebauscht.“ (Völkl 32) Und noch schlimmer wird es, wenn die Medien es im Interesse von mächigen Unternehmern und/oder Poliikern wie Sträubleder tun, mit denen sie ausgezeichnete Beziehungen (Beth 69) plegen und denen sie dienen oder „Gefallen tun“ (vgl. Sowinski 65-67). Böll engagierte sich gewissermaßen auch poliisch: „1956 trit eine Intensivierung im poliischen Engagement ein.“ (Böll und Schubert 91). Dieses äußerte sich allerdings weniger als eine Parteinahme für eine poliische Partei – SPD, der gegenüber er auch misstrauisch war (vgl. Böll und Schubert 107), auch wenn er Willy Brandt sehr schätzte und große Hofnungen auf ihn setzte (vgl. Linder 198) –, sondern mehr als Angrif auf manche Poliiker und poliische Parteien, vor allem auf Konrad Adenauer, der in der Legislaturperiode 1957-1961 dank der absoluten Mehrheit der CDU/CSU im Bundestag enorm viel Macht hate und die parizipaive Demokraie zur sog. Kanzlerdemokraie verwandelte. Bölls poliisches Engagement war auch eins gegen die CDU und die von ihr geforderte Remilitarisierung der BRD, sowie Protest gegen ihre Unterstützung seitens der katholischen Kirche (vgl. Böll und Schubert 90), ja gegen ihre Verquickung: „Es war die Zeit, in der zum Beispiel der Bundeskanzler Konrad Adenauer in Prozessionen mitging, um Simmen für seine christliche Partei zu gewinnen.“ (Vormweg 203) Am oben erwähnten und von Böll kriisierten „Kreis fortschritlicher Katholiken“ in Ansichten eines Clowns nehmen nicht nur Geistliche, sondern auch konservaiv eingestellte Poliiker teil. Und an einer anderen Stelle Folia linguisica et literaria 229 verlacht der Clown – stellvertretend für Böll – die CDU-Wähler. Stark und anhaltend grif Böll in den 1970er und 1980er Jahren die unheilvolle Verbindung von der Bild-Zeitung und der konservaiven Poliiker, zuerst in Die verlorene Ehre der Katharina Blum, in der man in der ZEITUNG die Bild erkennen kann und in der die Verquickung von Presse und Poliik in der Firma „Lüstra“ und ihren Inhabern Lüding und Sträubleder, der ein konservaiver Poliiker ist, geradezu personiiziert wird. Diese Verlechtung von Presse und Poliik grif Böll noch stärker in seiner Streitschrit Bild – Bonn – Boenisch von 1984 an. Zusammenfassend lässt es sich sagen, dass die Macht, deren Gebrauch und Missbrauch und die bestehenden Machtverhältnisse Böll „wegen seiner Glaubwürdigkeit als Demokrat und der unermüdlich erneuerten, von Opportunismus gänzlich unberührten Fähigkeit zur Kriik an einer noch immer nur begrenzt zur Demokraie konverierter Gesellschat“ (Vormweg 321) ein Dorn im Auge war. Er konnte sie freilich nicht enfernen und aus der Welt schafen, aber da er sie gesehen hat, musste er sie „mit Hofnung auf poliische Wirksamkeit“ (Linder 21) kriisierend aufzeigen, ihr als Bestehendem künstlerisch Widerstand leisten (vgl. Schubert 53), sie mitels der Literatur „zersetzen“ (vgl. Reid 13), sie auf seine Art und Weise zu bewäligen versuchen. Literatur: Werke von Heinrich Böll: Frankfurter Vorlesungen. München: dtv, 1968 Fürsorgliche Belagerung. Roman. München: dtv, 1982 (Sondereinband) Bild Bonn Boenisch. Göingen: Lamuv, 1984 Und sagte kein einziges Wort. Roman. München: dtv, 1990 (11. Aulage) „Daniel, der Gerechte“. In: H. Böll: Unberechenbare Gäste. Erzählungen. München: dtv, 1992. 13-24. „Im Tal der donnernden Hufe“. In: H. Böll: Unberechenbare Gäste. Erzählungen. München: dtv, 1992. 108-155. „Enfernung von der Truppe“. In: H. Böll: Enfernung von der Truppe. Erzählungen. München: dtv, 1992. 89-152. Das Vermächtnis. Erzählung. München: dtv, 1992 (5. Aulage) Das Brot der frühen Jahre. Erzählung. München: dtv, 1993 (14. Aulage) Gruppenbild mit Dame. Roman. München: dtv, 1993 (19. Aulage) Wo warst du, Adam? Roman. München: dtv, 1993 (22. Aulage) „Die Waage der Baleks“. In: H. Böll: Nicht nur zur Weihnachtszeit. Erzählungen. München: dtv, 1993 (3. Aulage). 88-96. Haus ohne Hüter. Roman. München: dtv, 1997 (10. Aulage) Der Zug war pünktlich. Erzählung. München: dtv, 1997 (24., neu durchgesehene Aulage) 230 Journal of Language and Literary Studies „Wanderer, kommst du nach Spa...“. In: H. Böll: Wanderer, kommst du nach Spa... Erzählungen. München: dtv, 1997 (36., neu durchgesehene Aulage). 45-56. „Wir Besenbinder“. In: H. Böll: Wanderer, kommst du nach Spa... Erzählungen. München: dtv, 1997 (36., neu durchgesehene Aulage). 145-150. „Mein teures Bein“. In: H. Böll: Wanderer, kommst du nach Spa... Erzählungen. München: dtv, 1997 (36., neu durchgesehene Aulage). 151-154. Ansichten eines Clowns. Roman. München: dtv, 1997 (42., neu durchgesehene Aulage) Frauen vor Flußlandschat. Roman in Dialogen und Selbstgesprächen. München: dtv, 2001 (5. Aulage) Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann. Erzählung. München: dtv, 2003 (40. Aulage) Billard um halb zehn. Roman. München: dtv, 2006 (Sonderausgabe) Sekundärliteratur: Balzer, Bernd: Heinrich Böll: Die verlorene Ehre der Katharina Blum. Frankfurt am Main: Diesterweg, 1991 Balzer, Bernd: Das literarische Werk Heinrich Bölls. Einführung und Kommentare. München: dtv, 1997 Balzer, Bernd: „Haus ohne Hüter“. In: W. Bellmann (Hg.): Heinrich Böll. Romane und Erzählungen: Stutgart: Reclam, 2000. 119-136. Bellmann, Werner: „Heinrich Böll: Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann“. In: Erzählungen des 20. Jahrhunderts. Bd. 2. Stutgart: Reclam, 1996. 183-204. Bellmann, Werner: „Von ‘Der Engel schwieg’ zu ‘Und sagte kein einziges Wort’“. In: W. Bellmann (Hg.): Heinrich Böll. Romane und Erzählungen. Stutgart: Reclam, 2000. 82-108. Bernhard, Hans Joachim: Die Romane Heinrich Bölls. Gesellschatskriik und Gemeinschatsutopie. Berlin: Rüten & Loening, 1970 Bernsmeier, Helmut: Heinrich Böll. Stutgart: Reclam, 1997 Blamberger, Günter: „Ansichten eines Clowns“. In: W. Bellmann (Hg.): Heinrich Böll. Romane und Erzählungen. Stutgart: Reclam, 2000. 200-221. Cases, Cesare: „Dreimal gelesen: Heinrich Böll, ‘Die Waage der Baleks’“. In: A. M. dell’Agli (Hg.): Zu Heinrich Böll. Stutgart: Klet, 1984. 32-37. Delabar, Walter: „Der Zug war pünktlich“. In: W. 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Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2000 FIGHTING AGAINST THE IDEA OF POWER: THE LITERARY RESISTANCE OF HEINRICH BÖLL Heinrich Böll’s commitment to social and poliical issues is pracically legendary, so oten has it been expressed in his literary works, his essays and public addresses. What does this idea of social and poliical commitment really encompass when discussing Heinrich Böll’s work? What were the causes he championed and what did he ight against? What was that drove him to do so? This aricle will expound upon the following thesis: Böll was commited to ighing against any abuse of power, but also against the exercise of power and power structures in general – indeed, one may claim that he was against the idea of power per se. Key Words: Heinrich Böll, commitment to social and poliical issues, literary resistance, ighing against power structures, power CIP – Каталогизација у публикацији Централна народна библиотека Црне Горе, Цетиње 80+82 FOLIA linguisticа et litteraria : časopis za nauku o jeziku i književnosti / urednik Marija Knežević. – 2010, br. 1- . Nikšić (Danila Bojovića bb) : Filozofski fakultet, Institut za jezik i književnost, 2010 (Nikšić : Kolo). – 25 cm Godišnje. ISSN 1800-8542 = Folia linguistica at linguistica at litteraria (Nikšić) COBISS.CG-ID 17541392