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PROJEKT Die Freud e der Liebe Die fünf „ Wiener Aufmerksamkeiten" Die fünf „Wiener Aufmerksamkeiten" Ein pastoraler Weg (nicht nur) mit Wiederverheirateten Geschiedenen Lange vor der Familiensynode und viel weniger bekannt als die gemeinsame Erklärung der Oberrheinischen Bischöfe wurde von der Erzdiözese Wien vor 15 Jahren Wegweisendes publ iziert: eine Broschüre, die fünfThemenbereiche in der Pastoral mit Geschiedenen sensibel darlegt. Situationen und Fragen zu Scheidung, betroffenen Kindern und Partnern und auch zur Segensfeier werden benannt, ohne zu urteilen. Johann Pack S eit 1989 gibt es in der Erzdiözese die „Plattform für Geschiedene und Wiederverheiratete in der Kirche" (Wige), eine offizielle Stelle innerhalb der Kategorialen Seelsorge. Sie hat den Anspruch, ,,sich um alle [zu kümmern], die sich durch ihre Lebensumstände in der Kirche nicht mehr beheimatet fühlen , aber es gerne sein möchten." Das Angebot richtet sich zum einen an Betroffene (durch Beratung und Begleitung), zum anderen aber auch a n Seelsorgerlnnen (durch Bildung und Exerzitien und z.B. durch einen „Lehrgang Leitlinien", der schon mehr als zehnmal durchgeführt wurde). Ein wesentliches Hilfsmittel stellt dabei die kleine Broschüre „Die fünf Aufmerksamkeiten" dar (2. Auflage 201 1). Die Broschüre versteht sich als „seelsorgliche Handreichung für den Umga ng mit Geschiedenen und mit Menschen, die an eine neue Partnerschaft denken." Damit ist von vornherein klargestellt, dass es keine Fixierung auf Wiederverheiratete Geschiedene gibt, sondern einen weiteren Blick auf Personen, die Fra ge n zur Partnerschaft haben. Ich werde in meinem Beitrag die Besonderheiten dieses Textes aus pastoraltheologischer Sicht kommentieren und aufzeigen, wo hier ein direkter Einfluss über Kardinal Schönborn auf die Synode und auf Amoris laetitia nachgezeichnet werden kann. ,AUFMERKSAMKEITEN' - EIN TITEL ALS PROGRAMM Wer auch immer diesen Titel der „Aufmerksamkeiten" erfunden hat (und es scheint Kard inal Schönborn selbst gewesen zu sein in diversen diözesanen Veranstaltungen im Vorfeld des Heftchens) - es ist meines Erachtens eine äußerst treffende Titelwahl. Denn damit wird eine seelsorgliche Grundhaltung schon im Titel mitgegeben, die sich durch die fünf Punkte durchziehen wird: Aufmerksam sein bedeutet weder Wertung noch Rezept. Es verlangt ein offenes Hinschauen und Hin hören; eine Öffnung mit allen Sinnen auf Personen und Situationen hin. Aufmerksam zu sein ist ein aktiver Zustand, der auf andere reagiert. Es impliziert eine vorurteilsfreie Zu-Wendung zu anderen. Aufmerksamkeit stell t die Voraussetzung dar für eine späte r folgende Unterscheidung von Situationen. Das Wort „Unterscheidung" kommt jedoch in dieser Broschüre an keiner Stelle vor Johann Pack geb. 1965, Dr. theol. Lic. rer. bibl.; Universitätsprofessor für Pastoraltheologie an der Kathol ischTheologischen Fakultät der Universität Wien. Lebendige Seelsorge 67. Jahrgang 4/2016 (S. 247-251) 247 PROJEKT Die Freude der Liebe Die fünf „ Wiener Aufmerksamkeiten" - denn die ga nzen Aufmerksamkeiten sind eine Vorbereitung bzw. ein Weg, um zu einer Unterscheidung zu kommen. Wegweisend für die Handreichung ist schließl ich die Haltung vo n Kardinal Schönborn, der d iese Aufmerksa mkeiten explizit gefördert und immer wieder in die Diskussionen eingebracht hat. Diese Haltung zeigt sich nicht zuletzt an einem darin verwendeten Zitat aus der Ansprache anlässlich des Begräbnisses von Bundespräsident Dr. Thomas Klestil, der selbst geschieden und wiederverheiratet war: ,,Es fällt auch der Kirche nicht leicht, den Weg zwischen dem unbedingt notwendigen Schutz für Ehe und Familie einerseits und der ebenso notwendigen Barmhe rzigkeit mit dem menschlichen Scheitern und Neubeginnen anderseits zu fmden" (S. 5). keine einfachen Pauschallösungen geben kann - und dass die individuellen Lebenssituationen auch individuelle Zugänge in der Begleitung bedürfen. Die fünf Aufmerksamkeiten sind dann inhaltlich überschrieben mit: Aufmerksamkeit gegenüber den Kindern; gegenüber dem getren nt lebenden Partner/ der getrennt lebenden Partnerin; gegenüber der Schuldfrage; gegenüber t reuen Ehepaaren; gegenübe r dem Gewissen und Gott. Die Aufmerksamkeiten ric hten den Blick auf den größeren Bereich von Familie u nd Beziehungen. Gerade weil der Fokus nicht primär auf die Fragestellungen von Wiederverheirateten Geschiedenen gelegt wird, wird hier manches heilsam relativiert - nämlich in Beziehung zu größeren Zusammenhängen gesetzt. SITUATION UND FRAGEN: AUFBAU UND METHODE ALS PASTORALE STRATEGIE KINDER - VERLASSENE PARTNER - SEGENSFEIERN: BESONDERHEITEN DER FÜN F AUFMERKSAMKEITEN Die Ha ndreichung der Erzdiözese Wien besteht aus einer Präambel und fünf Aufmerksamkeiten. Die Präambel gibt bereits die Richtung vo r: Die aktuell vorfindbare Realität ist de r Auftrag der Seelsorge, nicht eine gewünschte Idealität (z.B. der Ehe). Als Ziel der Handreichung wird eine doppelte Hilfestellung angepeilt: sowohl für die Seelsorgerlnnen, die Menschen begleiten, als auch für die Betroffenen zur Gewissenserforschung. Die einzelnen Aufmerksamkeiten bringen da nn jeweils eine Situationsdarstellu ng, die an hand von ausgewählten Orig inalzitaten betroffen e r Personen konkretisiert werden, sodann zentrale Fragen, die sich anhand der Situation stellen . Abschließend werden jeweils einige Grundsätze festgehalten (unter der Überschrift: ,,Daraus ergibt sich"). Von vorherein wird auch klargestellt, dass es 248 Lebendige Seelsorge 4/2016 Überraschend ist, dass die erste Aufmerksamkeit n icht den Partnern g ilt, sondern den Kindern, die durch Trennungen ihrer Eltern betroffen werden. Die Fragen richten s ich auf die rechtliche Situation der Kinder und au f viele praktische Fragen im Zusammen hang mit getrennt lebenden Eltern. Es fällt auf, dass in der ersten Aufmerksamkeit das Thema Kirche oder Glaube keine Rolle spielt. Im Blick ist h ier das Wohl der Kinder; es wird dabei bewusst nicht geurteilt. Der für viele unangenehmste Part ist die zweite Aufmerksamkeit - gegenüber den getrennt lebenden Partne rlnnen. Hier wird bei den Phasen des Trauerprozesses Anleihe genommen und der Trennungsprozess als Trauerprozess besch rieben. Erstaunlich ist die Offenheit von Originalaussagen, die im Dokument w iedergegeben Die fünf „Wiener Aufmerksamkeiten" werden, wie z.B.: ,,Die räumliche Trennung diese neue Verbindung eine entsprechende empfinde ich derzeit vor allem als Selbstschutz. Würde" (S. 12). Diese zweite Feier wird zwar [...] Die Scheidung wiederum ist ein ganz gutes klar von der sakramentalen Eheschließung abInstrument, um wirtschaftlich abgesichert zu gegrenzt - dennoch wird hier die Würde der werden." Diese Aussagen werden nicht bewer- zweiten Partnerschaft anerkannt und öffentlich tet, sondern als eine Realität wahrgenommen. bestätigt. Spannend ist dann, dass die Eh e in Die dritte Aufmerksamkeit befasst sich mit der ihrer gemeindlichen und nicht nur partnerSchuldfrage: Sind Schuld und Schuldgefühle schaftlichen oder individuellen Dimension bewältigt? Zentrale Momente sind dabei die gesehen wi rd: Da eine Gemeinde durch EheFrage der Übernahme von Verantwortung, aber schließung, Scheidung und Wiederheirat beauch das Bemühen um Versöhnung. Hier wird troffen ist, beinhaltet diese Gelöbnisfeier auch mit mehreren Bildern gearbeitet: Brüche; oder „das Einbekenntnis von Schuld gegenüber der Wunden, die nach Heilung verlangen. Erst an Gemeinde, die Bereitschaft zur Versöhnung und dieser Stelle kommt erstmals explizit die Frage den Vorsatz, es besser zu machen." Angelehnt des Glaubens „als Möglichkeit der Versöhnung" an die Oikonomia-Tradition der Ostkirchen, wo ins Spiel sowie die Hoffnung, ,,dass Gott Schuld in der zweiten (und dritten) Eheschließ ung und Sünde vergibt." An keiner Stelle wird hier explizit auf die Das Gewissen ist nichts Starres, sondern Beichte verwiesen - vielmehr liegt der Fokus auf der individuellen Be- kann an Herausforderungen wachsen. gleitung von Biographien. Die v ierte Aufmerksamkeit ist mit den „treuen ebenfalls Schuld thematisiert w ird, wird hier Ehepaaren" überschrieben. Nicht nur auf das ein Neuanfang ermöglicht. Schließlich wird an Scheitern, sondern auf das Gelingen den Fokus dieser Stelle eine „Theologie des Scheiterns" zu legen, ist zunächst im Blick. Die Gemeinden von Seelsorgerlnnen eingemahnt - etwas, was haben eine Verantwortung, Ehepaaren zu hel- nicht zum regulären Ausbildungsplan gehört. fen, ihre Beziehung zu vertiefen. Überraschender Dies verlangt von den Seelsorgerlnnen, dass sie Weise kommt hier jedoch der für die kirchlichen sich an der Haltung Jesu orientieren soll ten. Diskussionen oft heikelste und für die Öffent- Die letzte Aufmerksamkeit gilt schließlich dem lichkeit entscheidende Punkt zur Sprache: wie Gewissen u nd der Gottesbeziehung. Das Gewisgeht die Kirche bzw. ganz konkret eine Gemein- sen ist nichts Starres, sondern kann an Herausde mit Geschiedenen um - und wie kann man forderungen auch wachsen. Gerade schwierige Unauflöslichkeit der Ehe und eine neue Partner- Situationen (wie z.B. die Scheidung) kön nten so auch eine Chance zur Weiterentwicklung der schaft positiv verbinden? Hier finden sich die deutlichsten und für ki rch- Persö nlichkeit sein und zu einer Neuorientieliche Dokumente am wenigsten zu erwartenden rung aus dem Glauben führen. Aussagen. Die Unauflöslichkeit der Ehe wird Diese Aufmerksamkeiten fordern von den bebetont; zugleich wird aber gesagt: ,,Für Men- troffenen Personen und von den Seelsorgerlnschen, deren erste Ehe zerbrochen ist, soll ein nen einen längeren Prozess und ein bewusstes ,zweites Gelöbnis' möglich sein. Dadurch erhält Reflektieren des Trennungsprozesses, aber auch Lebendige Seelsorge 4/2016 Die fünf „Wiener Aufmerksamkei ten" 249 PROJEKT Die Freude der Liebe Die fünf „ Wiener Aufmerksamkeiten" der neuen Beziehung ein. Die Perspektive ist jedoch eine positive: das Gelingen der neuen Beziehung. Daher wird hier ausdrücklich im Blick auf den Segensgottesdienst bei ein er Wiederheirat von Geschiedenen gesagt : Dieser ist möglich - ja er ist letztlich sogar ein Erfordernis der Würde der neuen Beziehung. Und es wird klargestellt: Es steht dem Priester nicht zu, zu urteilen oder zu einer solchen Feier zuzulassen oder sie zu verweigern; vielmehr liegt es in der Gewissensentscheidung des Paares. Die Aufgabe des Priesters ist es, bei der Gewissenserforschung zu helfen und die Personen auf dem Weg zu einer gelingenden Partnerschaft zu begleiten. Den Abschluss der Broschüre bildet ein Text von Karl Rahner, in welchem er die Freiheit thematisiert - und einen Gott propagiert, der aus Lebensangst befreien kann. Damit wird der Umgang mit Wiederverheirateten Geschiedenen im größeren Kontext des Gottesbildes verortet: „Wir haben [... ] dem Menschen von heute vom innersten, seligen, befreienden, aus Angst und Selbstentfremdung erlösenden Geheimn is zu künden, das wir ,Gott' nennen. [...] Wo der Mensch die Erfahrung Gottes und seines aus der tiefen Lebensangst befreienden Geistes nicht gemacht hat, brauchen wir ihm die sittlichen Normen des Christentums nicht zu verkünden" (S. 16). Aber auch das, was nicht im Text steht, ist bezeichnend: Der Kommunionszugang von Wiederverheirateten wird nur indirekt thematisiert - als Frage, die sich Betroffene selbst stellen sollten. Damit ist es in die Gewissensentscheidun g der Einzelnen übergeben. 250 Lebendige Seelsorge 4/2016 FÜNF AUFMERKSAMKEITEN IM LICHT VON AMORIS LAETITIA Einige zentrale Aussagen der Aufmerksamkeiten sollen in einem letzten Scshritt vor dem Hintergrund von Amoris laetitia diskutiert werden. Dies ist insofern von Bedeutung, als der Wiener Kardinal Christoph Schönborn, der diese Broschüre letztlich verantwortet, einen bedeutenden Einfluss auf die Synode hatte: Er war in der Vorbereitungsgruppe der beiden Synoden und sp ielte eine zentrale Rolle in der deutschen Sprachgruppe. Und er hat danach selbst in einem Pressekommentar festgestellt, ,,dass die katholische Kirche damit eigentlich die in Wien seit gut 15 Jahren gelebte pastorale Praxis sowohl im Synodendokument von 2015 als nun auch im päpstlichen Schreiben ,voll übernommen' habe." Methodisch war der ganze Prozess der Synode genau so angelegt, wie es die Aufmerksamkeiten vorschlagen: Zuerst wurden d ie Situationen erhoben durch Fragebögen, die ni cht nur an die Bischöfe, sondern an das gesamte Volk Gottes ve rsandt wurden. Menschen aus der ganzen Welt formulierten Fragen, schilderten unzählige gelungene, schwierige und gescheiterte Formen von Beziehung. Und erst auf dieser Folie tagten dann die Theologen (leider fast unter gänzlichem Ausschluss von Frauen). Das Hinhören, die Aufmerksamkeit auf die Unterschiedlichkeit der Situationen, hat dann die Synode geprägt - und dazu geführt, dass auch bei beiden Synoden nochmals persönliche Zeugnisse einen Platz erhielten (wenn auch nicht in der Breite wie im Wiener Doku ment). Damit aber geschieht hier eine Art von Theolog iebildung, wie sie von Gaudium et spes angeregt worden ist: induktiv, sensibel und im Blick auf die Sorgen und Nöte der Menschen. Die fünf „Wiener Aufmerksamkeiten" Von den inhaltlichen Teilen seien exemplarisch nur einige genannt, die ihren Wiederhall in Amoris laetitia (AL) finden. So spricht AL von der „aufmerksamen Unterscheidung" und der Notwendigkeit einer „von g roßem Respekt gekennzeichneten Begleitung" (AL 243). Die Hirten sollen „in ihrer Urteilsfindung immer ,angemessen unterscheiden', mit einem ,differenzierten Blick' für ,unterschiedlich e Situationen'" (AL 297). Die Situation der Kinder, im Wiener Text an erster Stelle genannt, wird aufgegriffen mit den Worten: Sie sind „die erste Sorge, die durch keinerlei andere Interessen und Ziele getrübt werden darr· (AL 244). In beiden Tex ten w ird die Bedeutung de r Gemeinde hervorgehoben: „Die Logik der Integration ist der Schlüssel ih re r pastoralen Begleitung" (AL 299). Und schließlich scheinen die Fragen zur Gewissenserforschung, wie sie AL 300 formuliert, fast direkt der Wiener Broschüre entnomme n zu sein. Vielleicht ist diese Synode j a auch der Anfang eines neuen (pastoralen) Zugangs des päpstlichen Lehramtes: Nicht nur d ie Vorgängerpäpste zu zitieren, so ndern auch a uf die Erfahrungen und Erkenntnisse der Ortski rchen zu setzen, explizit oder zumindest implizit. Lebendige Seelsorge 4/20 16 • Die fünf „Wiener Aufmerksamkeiten" 25 1