Inhaltsverzeichnis
Vorwort
(Moritz Csáky, Johannes Feichtinger, Ursula Prutsch)
9
Johannes Feichtinger
Habsburg (post)-colonial.
Anmerkungen zur Inneren Kolonisierung in Zentraleuropa
13
Ursula Prutsch
Habsburg postcolonial
33
Heidemarie Uhl
Zwischen „Habsburgischem Mythos“ und (Post)-Kolonialismus.
Zentraleuropa als Paradigma für Identitätskonstruktionen
in der (Post-)Moderne
45
Anil Bhatti
Kulturelle Vielfalt und Homogenisierung
55
Peter Niedermüller
Der Mythos des Unterschieds: Vom Multikulturalismus zur Hybridität
69
Wolfgang Müller-Funk
Das Eigene und das Andere / Der, die, das Fremde.
Zur Begriffsklärung nach Hegel, Levinas, Kristeva, Waldenfels
83
Michael Rössner
Mestizaje und hybride Kulturen. Lateinamerika und die HabsburgerMonarchie in der Perspektive der Postcolonial Studies
97
Clemens Ruthner
K.u.k. Kolonialismus als Befund, Befindlichkeit und Metapher:
Versuch einer weiteren Klärung
111
Stefan Simonek
Möglichkeiten und Grenzen postkolonialistischer Literaturtheorie
aus slawistischer Sicht
129
Alois Woldan
Bevormundung oder Selbstunterwerfung? Sprache, Literatur und
Religion der galizischen Ruthenen als Ausdruck einer
österreichischen Identität?
141
Hans-Christian Maner
Zum Problem der Kolonisierung Galiziens. Aus den Debatten des
Ministerrates und des Reichsrates in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts
153
Robert Luft
Machtansprüche und kulturelle Muster nichtperipherer Regionen:
Die Kernlande Böhmen, Mähren und Schlesien in der späten
Habsburgermonarchie
165
Elena Mannová
Das kollektive Gedächtnis der Slowaken und die Reflexion der
vergangenen Herrschaftsstrukturen
189
Éva Kovács
Die Ambivalenz der Assimilation. Postmoderne oder hybride
Identitäten des ungarischen Judentums
197
Gábor Gyáni
Forgetting the diversity of the national past: Contrasting memories
of the Hungarian Millennium
209
Andreas Pribersky
Politische Erinnerungskulturen der Habsburger-Monarchie
in Ungarn: Ein „Goldenes Zeitalter“?
221
Ursula Reber
Periphere Angelegenheiten / Angelegenheiten der Peripherie.
Einschreibungen in eine Karte von „Adiáphora“
231
Diana Reynolds
Kavaliere, Kostüme, Kunstgewerbe: Die Vorstellung Bosniens
in Wien 1878–1900
243
Peter Stachel
Der koloniale Blick auf Bosnien-Herzegowina in der ethnographischen Popularliteratur der Habsburgermonarchie
259
Florian Oberhuber
Zur Konstruktion bürgerlicher imperialer Identität.
Gustav Ratzenhofers Vorträge zur Okkupations Bosniens
und der Herzegowina
277
Christian Promitzer
Die Kette des Seins und die Konstruktion Jugoslawiens
289
Werner Suppanz
Die Bürde des „österreichischen Menschen“.
Der (post-)koloniale Blick des autoritären „Ständestaates“
auf die zentraleuropäische Geschichte
303
^
Dzevad Karahasan
Die Poetik der Ruine
315
Die AutorInnen
329
Personenregister
339
Vorwort
Die theoretischen Überlegungen, die diesem Buch zugrunde liegen, orientieren sich an Erkenntnissen der Postcolonial Studies, die seit den siebziger
Jahren des 20. Jahrhunderts für den literatur- und kulturwissenschaftlichen
Diskurs vor allem im angloamerikanischen Raum von nachhaltiger Relevanz
geworden sind. Anhand der konkreten Erfahrung einer postkolonialen Situation thematisieren sie das Verhalten der ehemals Kolonisierten den ehemals
Kolonisierenden, den Definitionsmächtigen, gegenüber, untersuchen das
Verhältnis, das heißt die gegenseitigen Abhängigkeiten der beiden und versuchen auf kulturelle Anleihen und Verquerungen aufmerksam zu machen,
die in einer solchen Situation die Konstruktion von Identitäten zu bestimmen scheinen; sie analysieren also die (Macht)Strukturen in diesen nachkolonialen, komplexen soziokulturellen Systemen, die von Differenz, Heterogenität, Hybridität und Vielstimmigkeit geprägt sind.
Während sich die Erkenntnisse der Postcolonial Studies Prozessen in der
Gegenwart verdanken und diese mit neuen theoretischen Zugängen zu verstehen beziehungsweise zu erklären versuchen, scheint es berechtigt zu sein
sich zu fragen, ob solche Prozesse nicht bereits in der Vergangenheit, zwar
nicht unter den gleichen, jedoch unter analogen Bedingungen stattgefunden haben. Die ökonomische Globalisierung ist ohne Zweifel eine qualitativ
veränderte Fortsetzung der Modernisierung, das heißt die Ziele und Mechanismen der Globalisierung sind bereits in der Modernisierung des 19. Jahrhunderts grundgelegt und nachweisbar. So hatte Karl Marx, um die Modernisierung beziehungsweise Industrialisierung zu charakterisieren, sich einer
Ausdrucksweise bedienen können, die auch für eine Charakterisierung der
Globalisierung zuträfe: „Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des
Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch
gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen.“ Ähnliches gilt, nach Marx,
9
für soziokulturelle Prozesse unter den derart veränderten ökonomischen
Bedingungen: „Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden
Gemeingut [...] und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet
sich eine Weltliteratur. [...] Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation.“1 Das
heißt: Wie die Bourgeoisie „das Land von der Stadt, hat sie die barbarischen
und halbbarbarischen Länder von den zivilisierten, die Bauernvölker von
den Bourgeoisvölkern, den Orient vom Okzident abhängig gemacht.“2 Wenn
diese Beobachtung zutrifft, dann ist es wohl auch berechtigt, sich des theoretischen Rüstzeugs, mit dem Prozesse in der Gegenwart erklärt werden, in
analoger Weise auch für die Analyse von Prozessen in der Vergangenheit
nutzbar zu machen. Dadurch werden Abläufe und Entwicklungen, wie
beispielsweise die konkurrenzierenden nationalen Ideologien des 19. Jahrhunderts, unter einer ganz anderen (einer neuen) Perspektive erkennbar, als
uns etwa die historische und sozialwissenschaftliche Nationalismusforschung
diese bislang zu erklären versuchten.
Unter einem solchen doppelten Aspekt versuchten sich die Autorinnen
und Autoren des vorliegenden Bandes in einer übergreifenden, komparatistischen Weise an das Phänomen des Vielvölkerstaates der Habsburger beziehungsweise an Zentraleuropa anzunähern. Kann die ehemalige von Differenzen und Heterogenitäten geprägte politische Kohabitation der Habsburgermonarchie in der Tat als ein „Laboratorium“ aufgefasst werden, in dem in
einem regional begrenzten, zentraleuropäischen Kontext bereits in der Vergangenheit Prozesse nachweisbar sind, die heute von globaler Relevanz geworden sind? Können die nationalen Vereinnahmungen und „Vergewaltigungen“, die oft unter enormem ökonomischen Druck stattfindenden Assimilationen, politische, soziale und kulturelle Inklusionen und Exklusionen,
die Konstruktion von kollektiven (nationalen) Identitäten oder das vor allem
in den kulturell hybriden urbanen Milieus nachweisbare Phänomen von multiplen personalen Identitäten, die sich auf mehrfache „mémoires culturelles“
beriefen, unter dem Aspekt, den die postkoloniale Theorie thematisiert, neu
bewertet und vielleicht besser erklärt werden? Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der diesem Buch vorausgehenden Konferenz stimmten großteils darin überein, dass der postkoloniale Blick in der Tat ein neues Licht auf solche Prozesse zu werfen vermag. Die postkoloniale Theorie begreift das Chaos
als komplexe Konfiguration und wertet die Mehrdimensionalität gegenüber
linearen Sichtweisen auf. Daher lassen sich auch durch die Einnahme einer
10
postkolonialen Haltung konstruierte Machtgefüge, die als kolonialistisch
aufgefasst werden mussten, radikal dechiffrieren.
Ausgehend von einer ausdifferenzierten Verwendung der Begrifflichkeiten
Multikulturalismus – Transnationalismus – Hybridität durchzogen mehrere
Argumentationsstränge die Konferenz: Erstens das Wechselspiel von Homogenisierung und Differenzierung (Diversifizierung) als ein Spezifikum der zentraleuropäischen Region; zweitens die von den Postcolonial Studies eingeforderte
Auflösung der Dichotomie Zentrum versus Peripherie. Die Verortung der Macht
auf die Metropolen der Donaumonarchie (Wien, Budapest, Prag) wurde als
zu kurz greifend erachtet. In diesem Zusammenhang wurden drittens auch
Mikrokolonialismen, die für die Donaumonarchie besonders signifikant waren, diagnostiziert. Der Begriff des Mikrokolonialismus wurde als Terminologie vorgeschlagen, um den zu grob gestrickten heuristischen Ansatz eines
reichsübergreifenden Kolonisierungsdiskurses, der sicher auch da war, aufzubrechen. So vervielfältigten sich die Träger der Macht (Kolonisierer), und
auch die Opfer der Kolonisierung (Kolonisierte) konnten sich später in der
Rolle von Kolonisatoren behaupteten. Das „deutschnationale“ Bürgertum erblickte die Aufgabe „Österreichs“ darin, „die Barbaren zu bekämpfen, seine
spätere: sie zu kultiviren“3, das heißt sie zu „kolonisieren“. Nur war dieses
deutschsprachige Bürgertum selbst Opfer einer nationalen Kolonisation „von
außen“, ganz ähnlich wie sich die tschechische und die serbische nationale
Ideologie bisweilen „von außen“, vom russischen Panslawismus, vereinnahmen ließen.
Die vorliegende Publikation ist das Ergebnis eines internationalen Workshops, der im September 2003 von der Kommission für Kulturwissenschaften
und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
in Wien im Rahmen ihres Forschungsprogramms „Orte des Gedächtnisses“
veranstaltet wurde (vgl. http://www.oeaw.ac.at/kkt). Autorinnen und Autoren aus acht Ländern (USA, Österreich, Deutschland, Großbritannien, Ungarn, der Slowakei, aus Bosnien sowie aus Indien) versuchen in ihren Beiträgen nicht nur aus dem Blickwinkel ihrer jeweiligen Fachrichtungen zu argumentieren, sondern auch transdisziplinär unterschiedliche Sichtweisen
miteinander zu verknüpfen. Ein kulturhistorischer Essay des renommierten
bosnischen Schriftstellers und Theatertheoretikers Dzevad Karahasan rundet den Band ab.
An dieser Stelle möchten wir all jenen herzlich danken, die an der Tagung
teilgenommen und sich am intellektuellen Gedankenaustausch beteiligt haben. Ebenso danken wir jenen, die durch ihre finanziellen Zuwendungen
^
11
das Zustandekommen der Tagung und die Drucklegung der Tagungsergebnisse ermöglicht haben. Vor allem danken wir dem Bundesministerium für
Bildung, Wissenschaft und Kultur (Wien), dem Kulturamt der Stadt Wien
und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
Moritz Csáky
Johannes Feichtinger
Ursula Prutsch
Anmerkungen
1 Karl MARX, Friedrich ENGELS, Manifest der Kommunistischen Partei [1848],
in: Karl MARX, Friedrich ENGELS, Werke, Bd. 4., Berlin 111990, S. 466.
2 Ebenda.
3 Ferdinand BAUERNFELD, Aus Alt- und Neu-Wien (1873), in: Emil HORNER
(Hg.), Bauernfelds Werke in vier Bänden, Bd. 4., Leipzig o. J., S. 140.
12
Habsburg (post)-colonial.
Anmerkungen zur Inneren Kolonisierung
in Zentraleuropa
Johannes Feichtinger
Denn wo die Übernationalität nicht respektiert und ehrlich praktiziert, sondern
von den stärksten Völkern als ideologische Waffe eingesetzt wird, dort werden
die schwächeren, die in ihren Rechten beschnittenen, um ihre Autonomie gebrachten Völker zur Waffe des Nationalismus
greifen und dem Kult dieser Waffe
selbstzerstörerisch verfallen.1
Karl-Markus Gauss, 1998
Die Autoren und Autorinnen dieses Buches versuchen, die Geschichte des
Habsburgerreiches, seiner Kulturen und Völker ausgehend von einer „postkolonialen Haltung“2 neu zu lesen, um dadurch das innovative Potenzial zu
erkunden, das durch die Anwendung postkolonialer Theorie auf einen Staat
ohne nennenswerte kolonialistische Vergangenheit frei wird. Gleichzeitig
werden aber auch die Grenzen ihrer Anwendung erörtert. Vollständigkeit im
Hinblick auf Themen, Epochen und Länder beansprucht dieser Sammelband keineswegs. Vorrangig ist es auch nicht, den „habsburgischen Kolonialismus“, sofern ein solcher bestand, aufzuarbeiten. Diese Studie versucht vielmehr die Vielschichtigkeit der quasi-kolonialen Machtverhältnisse, im besonderen aber ihre kulturellen Dimensionen in Zentraleuropa, innerhalb der
habsburgischen Ordnung, sowie in vergleichbaren Staatswesen unter Anwendung kulturwissenschaftlicher Methoden aufzudecken.3 Außerdem werden
die Auswirkungen solcher verfestigten Asymmetrien auf die jüngere Vergangenheit und die Gegenwart untersucht. Hierfür kann eine postkoloniale
Haltung eine Reihe von Anregungen liefern.
Aus der Sicht der angloamerikanischen Cultural Studies4 manifestiert sich
die koloniale Vorstellung vornehmlich darin, dass sich Zentren der Macht
13
häufig als Träger eines universalistischen „Wertekanons“ verstehen, den sie
anderen mit dem Ziel der Aufhebung jedweder Differenzialität aufzwingen.
Jürgen Osterhammel definiert den Kolonialismus als eine
Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven, bei welcher die fundamentalen Entscheidungen über die Lebensführung der Kolonisierten durch eine kulturell andersartige und kaum anpassungswillige Minderheit von Kolonialherren unter vorrangiger Berücksichtigung externer Interessen getroffen und tatsächlich durchgesetzt werden. Damit verbinden sich in der Neuzeit in der Regel sendungsideologische
Rechtfertigungsdoktrinen, die auf der Überzeugung der Kolonialherren von ihrer
eigenen kulturellen Höherwertigkeit beruhen.5
Historisch gesehen manifestiert sich der Kolonialismus vor allem in drei Spielarten:6 Einerseits durch direkte Machtausübung mit gleichzeitiger Implementierung fremder Kultursysteme, anderseits als indirekter Kulturkolonialismus,
durch den autochthone kulturelle Strukturen überrollt werden, und schließlich
als ein Kolonialismus, der sich auf die Ausbeutung ökonomischer Ressourcen
anderer beschränkt. Jeglicher Kolonialismus scheint jedoch im besonderen
den Anspruch zu erheben, Diversitäten aufzuheben. So wird Homogenität
einerseits durch die Inklusion des Außen, das heißt durch dessen Sinnentleerung angestrebt. Anderseits kann Vereinheitlichung auch durch die Exklusion des Anderen erreicht werden.7 Hierbei werden Alteritäten für deviant erklärt und als unmündig punziert. Schließlich kann die Vereinheitlichung
mitunter auch durch die Entrückung des Anderen in eine Idealsphäre erreicht
werden, was aber einer Entmündigung des Anderen entspricht.
Die Postcolonial Studies – eine Analyserichtung, die sich seit den 1980er
Jahren aus heterogenen disziplinären, methodischen und theoretischen Ansätzen formierte – liefern ein wertvolles Instrumentarium, eine verfestigte Wahrnehmung vom asymmetrischen Machtgefüge, das im Zuge von Homogenisierung wirksam ist, aufzubrechen. So lassen sich auch die durch kulturellkolonialistische Überformung verwischten Differenzen wieder aufspüren.
Häufig werden auch strukturelle beziehungsweise ökonomische Ursachen für
eine ungleiche Machtverteilung verantwortlich gemacht, was neben den kulturellen Machtdimensionen in diesem Band nicht ausgeblendet werden soll.
Zu überprüfen bleibt aber, ob hinter der ökonomischen Asymmetrie nicht
auch diskursive Strategien kolonialer Herrschaft wirksam sind, zum Beispiel
im Sinne einer bewussten Aufrechterhaltung der Rückständigkeit der/des
Anderen. Gleichzeitig lassen postkoloniale Ansätze auch die bewusste Konstruktion von Differenzen, durch die sich kollektive Identitäten erzeugen
ließen, in neuem Licht erscheinen. Maßgebliche Impulse erfuhr die postko-
14
loniale Theorie durch Edward Said, dessen Buch „Orientalism“8 im poststrukturalistischen Milieu entstand. Geprägt von Derrida, Lyotard und Foucault bildete Said mit seinem „Orientalismus“ den Ausgangspunkt für die
colonialist discourse theory gegenwärtiger postkolonialer Autoren, wie unter
anderem von Homi Bhabha.9 Waren die Anfänge des postkolonialen Theoriediskurses noch von Dichotomien bestimmt (zum Beispiel in der Annahme
einer diskursiven Konstruktion des Westens, der im 19. Jahrhundert im „Orientalismus“ sein Bild des Orients auf die Wirklichkeit des vermeintlichen
„Ostens“ projizierte und so das Andere für seine Identitätsfindung vereinnahmte), verwirft der neuere Postkolonialismus die Vorstellung dichotomer
hierarchischer Differenzen (zum Beispiel in der Spielart: Zentrum versus
Peripherie) vollends.10 Die Dichotomie zwischen „wir“ und „sie“, welche ein
konstitutives Merkmal des Kolonialismus darstellte, wird vielmehr als Konstruktion entlarvt, binäre Oppositionen werden aufgelöst. So nimmt der Postkolonialismus zum Beispiel Abschied vom ausschließlich linear interpretierten Gegensatz von Kolonisator und Kolonisierten. Vielmehr versucht er die
verborgenen und vervielfältigten Machtverhältnisse (Mikrokolonialismen)11 offen zu legen, die auf Homogenisierung (sprich auf „die bewusste Intervention in einen fluiden Praxiszusammenhang“12) abzielen. So werden vermeintliche Hierarchien von Macht aufgelöst und neu bestimmt.
Im vorliegenden Band verweist Anil Bhatti auf das besondere Verdienst
postkolonialer Theorie, das darin bestehe, ein Gegenmodell zu jeglicher Homogenisierung zu schaffen, „indem sie das so genannte Chaos als nicht begriffene Komplexität und Mehrdimensionalität auffasst und diese nun reflexiv begriffene Komplexität beziehungsweise Mehrdimensionalität gegenüber
der Monotonie der linearen Welt der Eindimensionalität positiv aufwertet.“13
Habsburg postcolonial. Perspektiven zur Analyse der Diversität
Vermag die postkoloniale Theorie diesen Anspruch zu erfüllen, so muss der
postkoloniale Blick, einmal auf Zentraleuropa gerichtet, ein neues Licht auf
die Staatswirklichkeit der Habsburgermonarchie werfen: Das habsburgische
Imperium war als zweitgrößtes Staatswesen Europas durch äußerst komplexe
Verhältnisse – durch Pluralitäten, Heterogenitäten und Widersprüchlichkeiten – geprägt, weshalb in diesem Reich der Boden für das Aufblühen von
Imaginationen, die Homogenität versprachen, auch fruchtbarer war als
anderswo. Vereinheitlichungen waren jedenfalls ein signifikanter Zug der
15
habsburgischen Staatswirklichkeit. Homogenisierung bedeutet (und bedeutete) aber immer auch das Ausspielen von Macht, sei es durch eine staatliche
Ordnungsmacht oder von Seiten hegemonialer sozialer Schichten, Konfessionen und Kulturen, die anderen ihr Narrativ aufoktroyier(t)en und so „die
lineare Welt der Eindimensionalität“ (Bhatti) positiv aufwerte(te)n. Akzeptiert man diesen Gedanken, so lässt sich mit Hilfe postkolonialer Ansätze
umso mehr für die habsburgische Staatswirklichkeit aufzeigen, „wie sehr
hegemoniale Bestrebungen durch Ausschließungspraktiken konstituiert sind
und wie zentral das Marginalisierte und Ausgeschlossene wiederum für das
Funktionieren einer wie auch immer gearteten ,Ganzheit‘ ist.“14
Die Österreichisch-Ungarische Monarchie war ein Vielvölkerstaat, der
durch ethnische Vielfalt, unterschiedliche staatlich-verfassungsmäßige Traditionen, durch drei monotheistische Weltreligionen, vor allem aber durch
eine Vielzahl von Sprachen (Polyglossie) geprägt war.15 Sie war ein vielsprachiger Staat, im verbalen und nonverbalen Sinne; so war die Monarchie auch
durch eine Vielzahl sinngebender Symbolsysteme bestimmt (Architektur,
Traditionen der Küche, der Musik und so weiter).16 In Zentraleuropa hatten
sich im Laufe von Jahrhunderten kulturelle Differenzen manifestiert. Die
verschiedenen Kulturen beeinflussten sich zwar wechselseitig, ohne dabei
aber ihre jeweiligen Signifikanzen aufzugeben: So bezeichnete der Geograph
Friedrich Umlauft die Habsburgermonarchie im ausgehenden 19. Jahrhundert als einen „Staat der Contraste“, in dem „alle Haupt-Völkergruppen
Europa’s und zwar durch bedeutende Massen“17 vertreten seien.
Der Staatstheoretiker Joseph von Eötvös erkannte die Ursache für diese
Heterogenität im Verlauf der historischen Staatswerdung der Monarchie: Während die Ausbildung der modernen westeuropäischen Staaten durch die Assimilation kleinerer Domänen erfolgte, waren die Gebiete, die dem habsburgischen Erzhause zufielen, „in Hinsicht ihrer Größe mit den Erblanden,
welche es damals besaß, in gar keinem Verhältniß, sodaß bei den nationellen
und Culturverschiedenheiten eine Assimilation vernünftig nicht einmal zu
versuchen war.“18 Diese „Culturverschiedenheiten“ waren für den Gesamtstaat so bestimmend wie für seine Königreiche, Herzogtümer, Grafschaften
und Städte: In den urbanen Milieus waren die Differenzen infolge der unterschiedlichen ethnischen, kulturellen und konfessionellen Gruppierungen
allgegenwärtig und für jedermann/frau auch ständig sichtbar. Daran änderte im übrigen auch der Zerfall der Donaumonarchie (1918) und die Schaffung
souveräner Staaten auf der Grundlage des nationalen Prinzips (Selbstbestimmungsrecht) wenig.19 Auch noch heute sind viele der Staaten Zentraleuropas
16
in gleicher Weise vielfältig und von einem ethnisch-kulturellen Durcheinander geprägt wie zuvor der übernationale Gesamtstaat.
War die Bewusstmachung solcher Differenzen schon ein maßgeblicher
Ausgangspunkt der Postcolonial Studies amerikanischer Provenienz, so wurde
diese Problematik, die sich insbesondere im kulturellen Gedächtnis manifestiert,20 zuletzt auch von Schriftstellern, Künstlern und Wissenschaftlern innerhalb Zentraleuropas verstärkt reflektiert. Auf wissenschaftlich-institutioneller Ebene ist es zum einen die von Moritz Csáky geleitete Kommission für
Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, die es sich zur Aufgabe macht, die spezifische Mehrdeutigkeit des kulturellen Gedächtnisses in Zentraleuropa zu analysieren,21
und zum anderen die Arbeitsgruppe „Habsburg revisited“, die kulturelle Symbolisierungsprozesse im Kontext der spezifischen Machtkonstellationen zwischen den „Völkern“ Österreich-Ungarns von 1867–1918 aus literatur- und
kulturwissenschaftlichem Blickwinkel untersucht.22
Unter den Schriftstellern thematisiert im besonderen der bosnische Autor, Kritiker und Essayist Dzevad Karahasan die Problematik kultureller Diversitäten. In seinem „Tagebuch der Aussiedlung“23 unterstreicht er das
Grundverhältnis der oppositionellen Spannung zwischen den (und innerhalb der) Kulturen als zentrales Merkmal des zentraleuropäischen Kulturmodells. Die Form der Beziehung (Abweisung oder Akzeptanz) erweist sich für
Karahasan in diesem plurikulturellen Raum als ein aktives Spiel, in dem alle
Teile des Systems das Verhältnis bestimmen – nicht als Dazugehörige zweiter
Klasse, sondern als Hauptakteure: Dieses Spiel gleiche jenem einer dramatischen Inszenierung.24 Im Drama wie im dazu analogen Kultursystem seien
daher Ignoranz und der Verzicht auf die Differenzen zwischen den Identitäten ausgeschlossen.25 Am Beispiel von Sarajevo zeigt Karahasan dieses „Grundverhältnis der Spannung“ auf:
^
Innerhalb des dramatisch konstituierten Kultursystems läuft, als sein markantestes
Kennzeichen, ein erregendes Spiel ab, ein Spiel des gegenseitigen Kommentierens
und Kontrastierens von Offenem und Geschlossenem, von Außen und Innen, ein
Spiel, das aus sich selbst heraus auch die innere Organisation der Stadt bestimmt,
sowohl die Struktur jedes ihrer Teile als auch das alltägliche Leben in ihr, aber auch
jedes Einzelelement dieses Alltagslebens, vom Wohnen bis zum Essen.26
Kulturelle Differenzen, die außerhalb der verdichteten urbanen Kultursysteme nicht in diesem Maße wahrgenommen werden, werden in den Ordnungen der zentraleuropäischen Städte aufgrund der Begegnung verschiedener
17
kultureller Muster besonders sichtbar. So kontrastierten die unterschiedlichen ethnisch-kulturell-konfessionellen Codes (Gedächtnisse) einander und
definierten sich wechselseitig. Auf diese Weise konnten auch Differenzen gemeinschaftsstiftend wirken, oder – wie Karahasan schreibt – waren die verschiedenen Kulturen gezwungen, „zu kohabitieren und Verhaltensformen
zu suchen, die dieses gemeinsame Leben erträglich machten, indem sie bei
dieser Suche auch Beziehungen aufbauten, die sich mit einem Goetheschen
Ausdruck als ,Toleranz ohne Gleichgültigkeit‘ bezeichnen ließen.“27 Solche
Diversitäten scheinen solange unproblematisch zu sein, solange ein aktives
Spiel (Aushandlungsprozesse) zwischen den unterschiedlichen kulturellen
Repräsentationen stattfindet, oder anders gesagt: solange ein Bewusstsein des
Aufeinander-Angewiesen-Seins, Interessenskonvergenz und Reziprozität, und
dank hoher individueller Mobilität zwischen den Kulturen eine Spezialisierung im Sinne von Arbeitsteilung vorherrscht.28 Das Grundkennzeichen dieses Systems war jedenfalls das des Pluralismus: In pluralistischen Systemen
sind Austausch, Zirkulation und Vermischung natürlich und konstitutiv,
während die Vorstellung von Verschmelzung mit und Isolation von dem
Anderen die Entfaltung des Pluralismus blockiert. So war die Diversität der
Kulturen in Zentraleuropa auch sichtbar, ohne dass sich letztere zwangsläufig isolierten. Die Suche nach Verknüpfungen war für dieses System konstitutiv, Hybridität (Kreolisierung, Mestizaje, Crossover29) die Folgeerscheinung. In
der sozialen Wirklichkeit manifestierte sich dieses Durcheinander darin, dass
es kein zwingendes Modell individueller kultureller Zugehörigkeit gab: weder „entweder-oder“ Identitäten noch „single“-Identitäten.30 Alsbald sollten diese Mehrdeutigkeiten aber durch eine diskursive Konstruktion von Differenzen aufgehoben werden.
Homogenisierung im Habsburgerreich
Die Vielzahl der Diversitäten zog infolge der „krisenhaften Verwerfungen
des Modernisierungsprozesses“31 in Zentraleuropa zwangsläufig Vereinheitlichungsmanöver nach sich. War der Akt der Verwischung von Differenzen
anderswo in kolonialistischem Sinne nach außen gerichtet, so verweisen im
habsburgischen Vielvölkerstaat verschiedene administrative Maßnahmen auf
eine nach innen gekehrte Kolonisierung. Ausdruck findet diese in einer gezielten Homogenisierungspolitik. Zum einen wurde „von oben“ vereinheitlicht, sowohl auf Seiten des Gesamtstaates als auch innerhalb der Teile des
18
Staatsgefüges (wofür die Magyarisierungspolitik in Ungarn ein Beispiel abgibt), zum anderen ist auch eine Homogenisierung „von unten“ registrierbar.
Hierbei versuchten dominante gesellschaftliche Schichten ihre ökonomische,
kulturelle und nationale Vorherrschaft zu sichern. So lässt sich auch der
Assimilationdruck als Ausdruck von ungleichen Machtverhältnissen verstehen, wenn marginale Gruppen zunehmend den Zwang verspürten, sich in
einem Akt der Selbstkolonisierung dem dominanten kulturellen Narrativ zu
unterwerfen. Die Homogenisierung fand also auf verschiedenen Ebenen statt,
sie traf die verschiedenen Teile des Imperiums unterschiedlich stark, und sie
verfolgte zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Ziele. Unleugbar ist aber,
dass sich hinter ihr quasi-koloniale Machtdiskurse verbargen, auch wenn die
politische Vereinheitlichung vorderhand dem Zweck der Zentralisierung diente. So merkt auch Karl-Markus Gauss an, dass zum Beispiel schon der Name
der „übernationalen Monarchie“, die in ihren späten Jahren als „österreichischungarische“ firmierte, verrate, dass die Gleichberechtigung der Nationen
eine begrenzte blieb.32
Wie die Deutsch-Österreicher in der einen, so waren die Ungarn in der anderen
Reichshälfte dazu privilegiert, den Kampf um eigene Vorrechte als übernationales
Interesse auszugeben. Und das teils erbittert konkurrenzierende, teils verwandtschaftlich vertraute Verhältnis der österreichischen und ungarischen Eliten wuchs
nicht aus dem geheimnisvollen Rankenwerk der Mythen heraus und wurde auch
nicht mit dem Schmalz der Gefühle geschmiert, sondern war in diesen gemeinsamen Privilegien gegründet.33
Um unter den Völkern der Monarchie die wachsenden Selbstverwirklichungsansprüche zurückzuweisen, versuchte man im Sinne einer „funktionalen
Aufklärung“ (Leslie Bodi) Zentrifugalkräfte zu schwächen und systemgefährdende, differenzierende Veränderungen durch Vereinheitlichungsmaßnahmen zu unterbinden. Die gewachsene „horizontale Differenziertheit“, die auf
der ethnisch-sprachlich-kulturellen Heterogenität fußte, verschärfte sich noch
durch den im Zuge der Modernisierung hervorgerufenen „vertikalen“ sozial-ökonomischen Differenzierungsprozess. So waren die Vereinheitlichungsmaßnahmen eine Reaktion auf die pluralistische Verfasstheit der Monarchie.
Zwar bestand der Hauptgrund der Homogenisierung, die unter anderem die
Verringerung der Symbolsysteme zum Ziel hatte, in der Steigerung der Zentralisierung seitens des aufgeklärten Monarchen und nicht in einer nationalromantischen Überformung anderer Völker des Vielvölkerstaates, zweifelsohne
ließ aber die Standardisierung (discursive literacy) auch ein Bewusstsein für
ethnische Unterschiede erwachen.34 So wurden diese Maßnahmen des Zen-
19
trums von den Völkern der Monarchie oftmals als autoritärer Akt und alsbald
auch als nationale Bevormundung aufgefasst. Die Sprache sollte in diesem
polyglotten Staat einen zentralen Stellenwert als Vereinheitlichungsmittel gewinnen. Daher wandte man sich in Ungarn vehement gegen die Sprachpolitik Josephs II., weil die mit ihr verbundene Zentralisierung zwangsläufig zur
Aufhebung ständischer Vorrechte führte. Der Versuch, die deutsche Sprache durch Verordnung (1784) als Verwaltungs- und Staatssprache einzuführen, sollte zuvorderst der Auflösung der ständischen Verwaltungsorgane dienlich sein. Versetzbare deutschsprechende Staatsbeamte verfügten über keine
Machtbasis vor Ort.
Diese Homogenisierung war insbesondere auch dem österreichischen Aufklärer Joseph von Sonnenfels (1733–1817) ein zentrales Anliegen: Hatte Sonnenfels schon im Jahr 1765 mit seinen Grundsätzen der Polizey, Handlung und
Finanz35 auf die Vereinheitlichung der staatlichen Verwaltung abgezielt, versuchte er nach dem Tod Josephs II. (1790) das öffentliche Recht als Grundlage für eine Staatsverfassung zu kodifizieren. Sonnenfels sah dabei die Vorteile, die ein einheitlicher Kodex für ein so sehr in verschiedene Provinzen
zerfallenes Land wie Österreich mit sich bringen müsse.36 Dieser maßgebliche Aufklärer trat aber auch auf sprachlicher Ebene für Vereinheitlichung
auf. Insbesondere versuchte er in der öffentlichen Verwaltung die Sprachenvielfalt zu reduzieren: Sonnenfels vereinheitlichte mit seinem an den Universitäten obligaten Lehrbuch „Über den Geschäftsstil“ (1784) die Verwaltungssprache der deutschsprachigen Länder des Vielvölkerstaates, indem er einen
normierten „Sprachduktus“ introduzierte.37 Sein Ziel war nicht, einen Sprachnationalismus, wie er sich im 19. Jahrhundert ausbilden sollte, zu antizipieren, sondern vielmehr die Hebung des staatsbürgerlichen Geistes der deutschsprachigen Staatsbeamten.
Vereinheitlichend wirkte aber auch das nonverbal-symbolische Sprachargument der Architektur. Zur Vereinheitlichung wurde ein habsburgischer
„Universalstil“ geschaffen. In den Kronländern wurden zahlreiche öffentliche Gebäude in diesem „Universalstil“ errichtet. Die Orientierungsmuster
lieferten dafür die großen Stile der Vergangenheit (Gotik, Renaissance, Barock), denen zunächst im Vielvölkerstaat kein nationalistischer Sinn anhaftete.38
Auch das „patriotische Gesamtstaatsdenken“, zum Beispiel des Historikers Joseph von Hormayr (1781–1848), in dem die Teile des Staates als eine
einheitliche Größe präsentiert wurden, verfolgte ein ähnliches Ziel. Der Weg
dahin führte über die Ausbildung der zukünftigen Staatsbeamten. Hormayr
20
entwarf ein romantisierendes Bild einer „österreichischen“ Kultur, das von
Differenzen geprägt war. Jedoch ließ Hormayr noch die für die Gesamtstaatsauffassung auch maßgeblichen nivellierenden Aspekte außer Acht, welche in
der 2. Jahrhunderthälfte in dem Motto der „Einheit in der Vielheit“ Ausdruck finden sollten:39 „Solch vermehrtes Hin- und Herwogen, solch vervielfältigtes Aus- und Zurückströmen, solch Nähe und Fülle wechselseitig hilfreicher Kraft [...] nährt und stärkt die Völker und die Lande, deren Originalität in einer, sich ewig wiederkäuenden Einförmigkeit bald verwerfen
würde.“40 Mit Hormayr vergleichbar ist auch die Intention Joseph Alexander
Freiherr von Helferts (1820–1910), eine österreichische „Nationalgeschichte“41
zu schaffen, verstanden als eine Geschichte des österreichischen Gesamtstaates und Gesamtvolkes: Damit sollte unter den Völkern der Monarchie ein
vereinheitlichender Österreichpatriotismus geschürt werden.
Nationalgeschichte ist uns daher nicht die Geschichte irgend einer racenmäßig ausgezeichneten Gruppe aus den vielzüngigen und vielfarbigen Stämmen des Menschengeschlechtes, sondern die Geschichte einer territorial und politisch zusammengehörenden, von dem Bande der gleichen Autorität umgeschlungenen, unter
dem Schutze des gleichen Gesetzes verbundenen Bevölkerung.42
Die romantische Vorstellung von einer (österreichischen) Sprachnation wies
Helfert jedoch emphatisch zurück, sich der Gefahr wohl bewusst, welche die
Hervorhebung einer „racenmäßig ausgezeichneten Gruppe“ für die Monarchie darstellen konnte. Dieser Patriotismus zog aber keinesfalls die Vielfalt
der Identitäten und Vergangenheiten in Österreich in Zweifel. Helfert unterscheidet sich von den vormärzlichen Vorstellungen besonders dadurch, dass
er die verschiedenen Teile, die das „großösterreichische“ Ganze bildeten, als
gleichberechtigte, aber eigenständige Teile betrachtet.43 Diese staatstreuen
Autoren hatten die Vereinheitlichung bewusst nicht als sprachnationale Überformung intendiert, ihr Ziel war vielmehr das „Gemeingefühl der österreichischen Völker und Länder“44 zu stärken.
Schließlich wurden Homogenisierungsmaßnahmen auch auf der akademischen Ebene durchgeführt, insbesondere in der Schaffung einer „Österreichischen Philosophie“, als einer „Grundlagenwissenschaft“ mit lebenspraktischer Orientierung, die sich im Rang einer Staatsphilosophie universitär
entfaltete und auch in den Schulen vermittelt wurde.45 Diese Philosophie
hatte somit offenbar die Aufgabe, im Sinne des Gesamtstaates stabilisierend
zu wirken und die als staatsgefährdend aufgefassten Zentrifugalkräfte zu
schwächen.
21
Ist die Annahme, dass sich hinter den oben angeführten Homogenisierungsmaßnahmen kulturkolonialistische Motive verbargen, zwar gerechtfertigt, aber doch diskutierbar, so wies die neoabsolutistische und zentralistische Vorgangsweise durch das „Ministerium Bach“ (1852–1859) eindeutig kolonialistische Züge auf, versteht man unter Kolonialismus (so wie eingangs
ausgeführt) die direkte Machausübung einer Herrschaft mit gleichzeitiger
Implementierung ihres Kultursystems. Ungarn wurde nach der Niederschlagung der Revolution (1849) sukzessive in das zentralisierte Habsburgerreich
eingegliedert und einer autokratischen Zivilverwaltung unterworfen.46
Die Vereinheitlichung war auch nach 1867 (in dualistischer Zeit) ein vordringliches Anliegen des Staates (zum Beispiel durch die verbindende Figur
des Kaisers, durch Militär, Verwaltung und den Hohen Adel), wenngleich
die Zentralisierungspolitik infolge der verlorenen Kriege (1859 und 1866)
und innerer Schwächen sukzessive zum Erliegen kam; seither drückte jedoch zusehends eine neue Gruppierung der Homogenisierung ihren Stempel auf:47 das aufstrebende deutsch-liberale Bürgertum (in Österreich) beziehungsweise die Magyaren (in Ungarn) – national gefärbte Schichten, die vermittels der Vereinheitlichung nicht nur ihre ökonomischen Interessen im
Gesamtstaat zu wahren, sondern auf diesem expansiven Wege auch ihrer jeweiligen nationalen Idee die Vorherrschaft zu sichern suchten.
Zwar versicherte die Verfassung die sprachlich-nationale Gleichberechtigung der Völker formell,48 jedoch lässt sich ein hegemoniales Ansinnen der
Deutschliberalen und der Magyaren nicht verleugnen. Dieses verschärfte sich
noch mit dem Aufkommen der nationalpolitischen Avancen der Slawen.
Erfahrene Vielfalt versus Konstruktion von Differenzen
Zwar waren mit der Vereinheitlichungspolitik und der Zentralisierung Bachscher Prägung die Diversitäten bewusst verwischt worden, im Zuge der Modernisierung in der zweiten Jahrhunderthälfte steigerten sich aber einerseits
die ethnisch-sprachlich-kulturelle Vielfalt sowie die soziale Differenziertheit,
ohne dass die Differenzen zunächst zwangsläufig im Sinne nationaler Abgrenzungen gedeutet wurden. Der Sinn für Diversitäten war vielmehr in der
sozialen Praxis tief verwurzelt. Zugleich wurden aber anderseits auch bewusst
Differenzen zwischen den verschiedenen Kulturen, Ethnien und Sprachen
aufgewertet, konstruiert und „verfestigt“. Durch die Markierung von neuen
Abgrenzungen ließen sich wieder Partikularitäten erzeugen. Auf diese Weise
22
konnten auch Alteritäten sichtbar gemacht und deren Ausgrenzung kulturell gerechtfertigt werden. Was diese beiden Differenzformen betrifft, soll im
folgenden auf letztere und weiter unten auf erstere Bezug genommen werden.
Zur symbolischen Konstruktion von Differenz
Die symbolische Abgrenzung „kultureller Monaden“49 war das Mittel, durch
das sich nationalkulturelle „Authentizität“ konstruieren ließ. Hierbei war auch
noch der Rückgriff auf eine gemeinsame (selektiv ausgewählte) Vergangenheit behilflich. Mit der Herstellung solcher Ordnungen versuchte man
jedenfalls, die zusehends als Chaos verstandene Komplexität vielschichtiger,
aber konfliktbeladener ethnisch-kultureller Verhältnisse in Griff zu bekommen. Mit Hilfe einheitsstiftender Symbolisierungen sollte die Chaoswahrnehmung überwunden werden.
Ordnung konnte vermittels kultureller Deutung verflüssigter Differenzen, durch bewusste Inklusionen oder Exklusionen geschaffen werden. Kulturelle Differenzen wurden so bewusst konstruiert, oder anders gesagt wurden Unterschiede nicht nur beschrieben, sondern auch mit einer bestimmten Kohärenz stiftenden Sinnvorgabe aufgeladen.50 Dadurch wurde kollektive Identität kulturell gestiftet,51 ohne dass diese unbedingt und immer tatsächlich Spiegelbild der Wahrnehmung von sozialer Wirklichkeit war. Anders
gesagt bildet(e) sich das kollektive Bewusstsein also nicht immer durch bewusste Differenzwahrnehmungen direkt aus einem Ort, aus einem soziokulturellen Milieu oder einem historischen Gedächtnis (sei dieses nun einfach oder komplex-vieldeutig) aus, vielmehr können/konnten kollektive Identitäten auch
Resultat aktiver Konstruktionsprozesse sein.52 Auch Heidemarie Uhl betont,
dass das Selbstverständnis von Individuen und Kollektiven nicht immer auf
objektiven Kriterien, wie einer gemeinsamen Sprache, Kultur oder Geschichte, beruhen musste, sondern es kann/konnte auch konstruiert sein,53 das heißt,
durch wirkungsmächtige Diskurse (wie zum Beispiel dem Nationalismus)
geschaffen sein. Die Entscheidung darüber, welche Abgrenzungskriterien
(sei es Hautfarbe, Sprache, Religion) hierfür als maßgeblich und hinreichend
erachtet werden/wurden, fällt/fiel diskursiv; der Diskurs ist/war allerdings
durch die dominante Kultur bestimmt, oder um es mit Peter Niedermüller
zu formulieren: „In diesem Sinne funktioniert die Kategorie der kulturellen
Differenz in der Moderne als kognitiver und sozialer Deutungsmechanismus, der die soziokulturelle Welt, den sozialen Raum ordnet, erklärt und
23
interpretiert.“54 Diskursiv produziert und symbolisch aufgeladen wurden jene
Differenzen im zentraleuropäischen Kommunikationssystem vor allem zum
Zwecke der Nationsstiftung.
Hierfür war die verbale Sprache das maßgebliche Signum, anhand welchem sich kulturelle Differenzen konstruieren ließen. Vor 1848 war die
Sprachpolitik der absoluten, autoritären Herrschaft noch auf Vereinheitlichung, das heißt, auf das Ziel der Schaffung einer modernen Ordnung (auf
bürokratische Zentralisierung) ausgerichtet. Mit dem zunehmenden Stellenwert von Nationalität gewann die Sprache aber zusehends eine Symbolfunktion. Sprachen und Sprachverwendungen wurden mit der Aufgabe nationaler
Identitätsstiftung befrachtet, übernahm sie doch zunehmend die Aufgabe,
Differenzen symbolisch zu manifestieren. Identität reduzierte sich dadurch
sukzessive auf die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv (der Nation) unter Auslöschung anderer individueller Identifikatoren. Die Nationalität(en) verkörperte(n)
seither das Ideal, sie versah(en) sich mit dem Schein des Natürlich-Authentischen. So erschienen auch die multilingualen Verhältnisse alsbald als unnatürlich, obzwar Mehr- und Gemischtsprachigkeit in einem Großteil des Staatsverbandes, insbesondere in den Großstädten, noch die selbstverständlich
geübte kommunikative Praxis waren. Auf diese Weise wurden kulturelle Differenzen bewusst aufgewertet, und zugleich wurden dort Grenzziehungen
eingefordert, wo signifikante Unterschiede verloren zu gehen drohten. Dabei
werden auch Parallelen zur Rolle der Sprache in den gegenwärtigen Nationsbildungsprozessen sichtbar, in denen zu vergleichbarem Zwecke BindestrichSprachen wie zum Beispiel das Serbo-Kroatische bewusst zerstört werden.55
Erfahrene Vielfalt
Ungeachtet dieser künstlichen Aufwertung und Verfestigung von Differenzen war die soziale Praxis im ausgehenden 19. Jahrhundert in Zentraleuropa
von einer ethnischen, kulturellen und konfessionellen Vielfalt geprägt. In
der Haupt- und Residenzstadt Wien hatte sich die Zahl der Einwohner während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (bis 1914) verfünffacht. Der
Großteil der in Wien, aber auch in anderen urbanen Zentren der Monarchie
(Prag, Budapest) ansässigen Menschen, war – dem Sog der Industrialisierung in den Städten folgend – von anderen, häufig slawischen Sprachregionen der Monarchie zugewandert.56 So hatten sich im Zuge der ökonomischen
Modernisierung, der Industrialisierung und der Urbanisierung die unterschiedlichen memoires culturelles in den Großstädten der Monarchie verdich-
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tet. Obzwar die wirtschaftliche Modernisierung (Industrialisierung) in den
größeren Städten Österreich-Ungarns auch vereinheitlichend wirkte,57 sollte
sich die Wahrnehmung der Differenzen infolge der massiven Zuwanderung
noch zusehends vertiefen. Zwar verliefen Assimilationen oft auch erfolgreich,
aber die Differenzen blieben trotz der Aufgabe der tiefen Verwurzelungen in
den Herkunftsmilieus vielfach bestehen; das Andersein war kaum zu verbergen. Somit stand vor allem der urbane Mitteleuropäer (war er zugewandert
oder einheimisch) auch im Spannungsfeld vielfältiger kultureller Codes und
Gedächtnisse. Hybride Verhältnisse beherrschten so alsbald die Szenerie.
Die Erfahrung von Pluralismus hatte jedoch ambivalente Auswirkungen:
Zum einen dürfte er zwar schöpferisches Argumentieren stimuliert haben,
zum anderen waren hier auch infolge der Verunsicherungen, die durch die
verwirrende Vielfalt der Kulturen hervorgerufen wurden, Spannungen, Krisen und Konflikte präsent. Solchen hybriden Verhältnissen war ein gehöriges Bedrohungspotenzial inhärent. Die Wahrnehmung von Heterogenität
konnte daher auch eine „crise d’identité“(Jacques Le Rider)58 auslösen. Oftmals
sollte dieser „Werteverlust“ durch Holismen ausgeglichen werden, oder wie
Gotthart Wunberg schreibt: durch „Surrogatkonzepte“59, deren manifeste Verwirklichungsformen von der Wandervogelbewegung über die Theosophie zu
politischen Entwürfen wie dem Nationalsozialismus reichten. In diesen Surrogatkonzepten manifestierte sich die bewusst konstruierte Differenz augenfällig. Für eine plurikulturelle Gesellschaft, wie sie im Habsburgerreich vorlag, war letztere jedenfalls verhängnisvoll: Wo individuelle und kollektive
Identitäten auf ein einziges wirkmächtiges Narrativ und einen einzigen Handlungsgrund (wie zum Beispiel die Nationsbildung) reduziert wurden, war
der Pluralismus als Lebensform nicht länger aufrecht zu erhalten. Anfangs
wurde das Andere vielleicht noch toleriert, bald wurde es aber marginalisiert
und schließlich drohte ihm nach der Ausgrenzung die Ausmerzung.
Conclusio
Wird der Analyse solcher Prozesse für unser gegenwärtiges Sein als wichtig
erachtet, zeigt sich, dass sich durch die Anwendung postkolonialer Ansätze
noch viele unentdeckte Zwischenräume aufspüren lassen. So können sich
auch so manche neuen Perspektiven für eine österreichische Geschichte jenseits des Nationalstaats eröffnen. Das Inventar, das die postkoloniale Theorie
zur Verfügung stellt, erlaubt unter anderem jedenfalls, jene Machtverhältnis-
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se, die jeglicher kulturellen Differenz eingeschrieben waren/sind, zu dechiffrieren: Differenzen, die zu nationalpolitischen Zwecken missbraucht wurden, aber auch solche, die infolge der Vervielfältigung der Lebenswelt im
modernen Zeitalter erfahren wurden, ohne kulturell gedeutet zu werden.
Tritt man also mit einer postkolonialen Haltung an die Vergangenheit
heran, wird auch wieder jene mehrdeutige Welt sichtbar, die ebenfalls ihre,
wenn auch viel verborgenere Geschichte hat. Diese war häufig durch die
dominante nationale, lineare und eindimensionale Perspektive, die auch in
der österreichischen Geschichtsschreibung des letzten Jahrhunderts vorherrschte, verdeckt worden. Die Analyse der Mehrdeutigkeit scheint heute
umso gerechtfertigter, als die Erfahrung der vervielfältigten Lebenswelt zu
einem „performativen“ Kriterium der individuellen und kollektiven Identität des ausgehenden 20. Jahrhunderts und des noch jungen 21. Jahrhunderts
wurde. Migrationen, Globalisierung und transnationale Identitäten, kurz das
Problem kultureller Differenzen, sind unhintergehbare und bestimmende
Kriterien gegenwärtiger politischer, sozialer und kultureller Prozesse. Die
postkoloniale Haltung – exemplifiziert am „Laboratorium Zentraleuropa“ –
vermag nicht nur Impulse für eine Gegenwartsgeschichte zu liefern, sondern
vielleicht auch Strategien für einen künftigen Umgang mit kultureller Differenz zu modellieren. Dieser Aspekt reicht aus, dieses Buch zu veröffentlichen: Zentraleuropa im Blickfeld habend, handelt dieses doch von einem
Problem von globaler und zeitgemäßer Relevanz: von der Einebnung von
Vielfalt sowie der Konstruktion von kulturellen Differenzen. Dafür gibt gegenwärtig eine militärische Großmacht ein hervorragendes Beispiel ab.
Anmerkungen
1 Karl-Markus GAUSS, Ins unentdeckte Österreich. Nachrufe und Attacken, Wien
1998, S. 95.
2 Anil BHATTI, Kulturelle Vielfalt und Homogenisierung, in diesem Band, S. ...
3 Zur Dechiffrierung solcher Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse, in denen
die Einen auf Kosten der Anderen profitierten, bedarf es einer Analyse von
Kultur. Kultur wird in unserem Zusammenhang nicht als organischer Körper
begriffen, der wächst, lebt, sich abgrenzt und stirbt, sondern in einem offeneren anthropologischen Sinne als vielschichtiger „Text“, als eine Ansammlung von Codes, mittels derer Individuen kommunizieren. Vgl. u. a. Clifford
GEERTZ, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme,
Frankfurt a. M. 1994. Doris BACHMANN-MEDICK (Hg.), Kultur als Text. Die
anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1996.
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Moritz CSÁKY, Richard REICHENSPERGER (Hg.), Literatur als Text der
Kultur, Wien 1999.
Vgl. dazu unter anderem: Lutz MUSNER, Gotthart WUNBERG (Hg.), Kulturwissenschaften. Forschung, Praxis, Positionen, Wien 2002.
Jürgen OSTERHAMMEL, Kolonialismus. Geschichte – Formen – Folgen, München 32001, S. 21.
Zur genaueren Typologisierung des Kolonialismus vgl. Clemens RUTHNER,
K. u. k. Kolonialismus als Befund, Befindlichkeit und Metapher: Versuch einer
weiteren Klärung, in diesem Band, S. ...
Das Thema der Inklusion/Exklusion ist bereits im Jahr 1996 durch den Steirischen Herbst aufgegriffen worden. Peter Weibel und Slavoj Zizek widmeten dem
Problem des Postkolonialismus und der globalen Migration ein Symposion
und ein Buch. Vgl. Peter WEIBEL, Slavoj ZIZEK (Hg.), Inklusion : Exklusion.
Probleme des Postkolonialismus und der globalen Migration, Wien 1997,
S. 45–74.
Edward SAID, Orientalism. Western Conceptions of the Orient, New York
1977 (dt. Erstausgabe Frankfurt a. M. 1981).
Zu den Postkolonial Studies vgl. u. a. Homi K. BHABHA, Die Verortung der
Kultur, Tübingen 2000 (Stauffenburg Discussion 5). Leela GHANDI, Postcolonial Theory. A Critical Introduction, Edinburgh 1998. Bill ASHCROFT,
Gareth GRIFFITHS, Helen TIFFIN, Key Concepts in Post-Colonial Studies,
London–New York 1998. DIESS., The Postcolonial Studies Reader, London–
New York 2002. John C . HAWLEY (Ed.), Encyclopedia of Postcolonial Studies, Westport, Conn. 2001. Robert J. C . YOUNG, Postcolonialism. An Historical Introduction, Oxford u. a. 2002. Einen ausgezeichneten Überblick zur
postkolonialen Theorie liefert: http://www.postcolonialweb.org/poldiscourse/discourseov.html. Vgl. auch: Sebastian CONRAD, Shalini RANDERIA
(Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M.–New York 2002, darin im
besonderen auch: Sebastian CONRAD, Shalini RANDERIA, Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt, S. 9–49.
Auch Said hat inzwischen viele seiner ursprünglichen Standpunkte verlassen,
vgl. Edward SAID, Orientalism Reconsidered, in: Francis BARKER, Peter
HULME, Margaret IVERSEN and Diana LOXLEY (Hg.), Literature, Politics,
and Theory, London 1986, S. 210-229.
Vgl. Stefan SIMONEK, Möglichkeiten und Grenzen postkolonialistischer Literaturtheorie aus slawistischer Sicht, in diesem Band, S. ...
Anil BHATTI, Kulturelle Vielfalt und Homogenisierung, S. ...
Vgl. ebenda.
Anke GRANESS, Nausikkaa SCHIRILLA, Hybridität. Einleitung, in: Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 8 (2001), S. 4–6, hier S. 4.
Vgl. dazu: Moritz CSÁKY, Pluralität. Bemerkungen zum „Dichten System“ der
zentraleuropäischen Region, in: Neohelicon 23, 1 (1996), S. 9–30. DERS., Pluralistische Gemeinschaften. Ihre Spannungen und Qualitäten am Beispiel Zentraleuropas, in: Eve BLAU, Monika PLATZER (Hg.), Mythos Großstadt. Archi-
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tektur und Stadtbaukunst in Zentraleuropa 1890–1937, München–London–New
York 1999, S. 44–56. DERS., Historische Reflexionen über das Problem einer
österreichischen Identität, in: Herwig WOLFRAM, Walter POHL (Hg.), Probleme der Geschichte Österreichs und ihrer Darstellung, Wien 1991, S. 29–47.
DERS., Die Vielfalt der Habsburgermonarchie und die nationale Frage, in:
Urs ALTERMATT (Hg.), Nation, Ethnizität und Staat in Mitteleuropa, Wien–
Köln–Weimar 1996 (Buchreihe des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa 4), S. 44–64. Die Volkszählung von 1880 ergab für die gesamte Monarchie 26,4% Deutsche, 17,1% Magyaren, 13,7% Tschechen, 8,6% Polen, 8,3%
Ruthenen (= Ukrainer), 7,7% Serben und Kroaten, 6% Rumänen, 5% Slowaken, 3% Slowenen, 1,7% Italiener und 1,6% Sonstige; 1910: 24,2% Deutsche,
20,3% Magyaren, 13% Tschechen, 10 % Polen, 8,1% Ruthenen, 7,6% Serben
und Kroaten, 6,5% Rumänen, 4 % Slowaken, 2,5% Slowenen, 1,6% Italiener,
2,2% Sonstige. Vgl. auch: Emil BRIX, Die Umgangssprachen in Altösterreich
zwischen Agitation und Assimilation. Die Sprachenstatistik in den zisleithanischen Volkszählungen 1880 bis 1910, Graz 1982 (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs 72). Vgl. weiters Adam WANDRUSCHKA, Peter URBANITSCH (Hg.), Die Völker des Reiches, 2 Bde., Wien 1980
(DIESS., Die Habsburgermonarchie 1848–1918, 3).
Vgl. dazu: Peter STACHEL, Ein Staat, der an einem Sprachfehler zugrunde
ging. Die „Vielsprachigkeit“ des Habsburgerreiches und ihre Auswirkungen,
in: Johannes FEICHTINGER, Peter STACHEL (Hg.), Das Gewebe der Kultur.
Kulturwissenschaftliche Analysen zur Geschichte und Identität Österreichs in
der Moderne, Innsbruck–Wien–München 2001, S. 11–45.
Friedrich UMLAUFT, Einleitung, in: Die Österreichisch-Ungarische Monarchie. Geographisch-statistisches Handbuch, Wien–Pest 1876, S. 1–4.
Joseph von EÖTVÖS, Die Garantien der Macht und Einheit Oesterreichs, Leipzig 41859, S. 11.
Zahlenmäßige Belege für die ethnisch-sprachlicher Zersplitterung der Nachfolgestaaten liefert CSÀKY, Pluralistische Gemeinschaften, S. 54.
Vgl. Moritz CSÁKY, Gedächtnis, Erinnerung und die Konstruktion von Identität. Das Beispiel Zentraleuropas, in: Catherine BOSSHART-PFLUGER, Joseph
JUNG, Franziska METZGER (Hg.), Nation und Nationalismus in Europa. Kulturelle Konstruktion von Identitäten, Frauenfeld–Stuttgart–Wien 2002, S. 25–49.
Vgl. http://www.oeaw.ac.at/kkt/; und die Publikationsreihen „Orte des Gedächtnisses“ und „Gedächtnis – Erinnerung – Identität“. Vgl. dazu: Moritz CSÁKY, Peter STACHEL, Mehrdeutigkeit. Die Ambivalenz von Gedächtnis und
Erinnerung, Wien 2003 (Orte des Gedächtnisses). Jacques LE RIDER, Moritz
CSÁKY, Monika SOMMER (Hg.), Transnationale Gedächtnisorte in Zentraleuropa, Innsbruck–Wien–München–Bozen 2002 (Gedächtnis – Erinnerung –
Identität 1).
Vgl. die Internetplattform www.kakanien.ac.at; das von Wolfgang Müller-Funk
unter Mitarbeit von Clemens Ruthner, Peter Plener und anderen durchgeführte FWF-Projekt: „Herrschaft, ethnische Differenzierung und Literarizität.
Fremd- und Selbstbilder in der Kultur Österreich-Ungarns 1867–1918“ und
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den Sammelband: Wolfgang MÜLLER-FUNK, Peter PLENER, Clemens
RUTHNER (Hg.), Kakanien revisited. Das Fremde und das Eigene (in) der
österreichisch-ungarischen Monarchie, Tübingen–Basel 2002 (Kultur – Herrschaft – Differenz 1).
Vgl. Dzevad KARAHASAN, Tagebuch der Aussiedlung, Klagenfurt–Salzburg
1993.
Vgl. Wolfgang LIPP, Drama Kultur, Berlin 1994.
Vgl. Dzevad KARAHASAN, Das Ende eines Kulturmodells?, in: DERS., Fragen
zum Kalender. Artikel, Essays, Reden, Wien 1999 (Interventionen 1), S. 77.
KARAHASAN, Tagebuch der Aussiedlung, S. 14.
KARAHASAN, Das Ende eines Kulturmodells?, S. 77.
Vgl. Andreas ACKERMANN, Wechselwirkung – Komplexität. Einleitende Bemerkungen zum Kulturbegriff von Pluralismus und Multikulturalismus, in:
Andreas ACKERMANN, Klaus E. MÜLLER (Hg.), Patchwork. Dimensionen
multikultureller Gesellschaften. Geschichte, Problematik und Chancen, Bielefeld 2002, S. 11, S. 14.
Zur Hybridität vgl. Elisabeth BRONFEN, Benjamin MARIUS, Hybride Kulturen. Einleitung zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, in: Elisabeth BRONFEN, Benjamin MARIUS, Therese STEFFEN (Hg.), Hybride
Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen 1997 (Stauffenburg Discussion 5), S. 1–29. Jan Nederveen PIETERSE,
Der Melange-Effekt. Globalisierung im Plural, in: Ulrich BECK (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a. M. 1998, S. 87–124. Vgl. auch: Ursula PRUTSCH, Habsburg postcolonial, in diesem Band, S. ... Hybridität konnte
zu sozialen Marginalisierungen führen, Marginalisierte entfalteten oft aber
eine besonders kreative Haltung: „Mélange, Mischmasch, ein bißchen von diesem, ein bißchen von jenem, das ist es, wodurch das Neue in die Welt tritt“, sagt
Salman RUSHDIE, in: Heimatländer der Phantasie, Essays und Kritiken 1981–
1991, München 1992, S. 458. Vgl. dazu auch: Johannes FEICHTINGER, Kulturelle Marginalität und wissenschaftliche Kreativität. Jüdische Intellektuelle
im Österreich der Zwischenkriegszeit, in: FEICHTINGER, STACHEL, Das
Gewebe der Kultur, S. 311–333.
Vgl. auch: Peter NIEDERMÜLLER, Der Mythos des Unterschieds: Vom Multikulturalismus zur Hybridität, in diesem Band, S. ...
Heidemarie UHL, Zwischen „Habsburgischem Mythos“ und (Post-)Kolonialismus. Zentraleuropa als Paradigma für Identitätskonstruktionen in der (Post-)
Moderne, in diesem Band, S. ...
Vgl. Karl-Markus GAUSS, Ins unentdeckte Österreich, S. 95.
Vgl. ebenda, S. 96.
Vgl. Michael MANN, The Emergence of Modern European Nationalism, in:
John A. HALL, Ian Charles JARVIE (Hg.) Transition to Modernity. Essays on
Power, Wealth and Belief, Cambridge 1992, S. 137–165, hier S. 142–151.
Vgl. Joseph von SONNENFELS, Sätze aus der Polizey-, Handlungs- und Finanz-Wissenschaft, Wien 1765, dann mehrfach überarbeitet und erweitert, nach
1787 mehrfach neu aufgelegt und auch eigens für den Gebrauch als universitä-
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res Lehrbuch bearbeitet. Vgl. dazu auch: STACHEL, Ein Staat, der an einem
Sprachfehler zugrunde ging, S. 26 f.
Vgl. dazu die Sonnenfelssche Denkschrift („Promemoria“) zur Kodifikation
des öffentlichen Rechts, ausführlich behandelt in: Karl-Heinz OSTERLOH,
Joseph von Sonnenfels und die österreichische Reformbewegung im Zeitalter
des aufgeklärten Absolutismus. Eine Studie zum Zusammenhang von Kameralwissenschaft und Verwaltungspraxis, Lübeck–Hamburg 1970 (Historische
Studien 409), S. 208 f.
Grundlage hierfür war das Sonnenfelssche Sprachlehrbuch, das 1784 erstmals
veröffentlicht wurde. Für die zweite Auflage gründlich überarbeitet und mit
neuem Titel versehen, wurde dieses offizielle Lehrbuch für Beamte mehrfach
nachgedruckt; es blieb bis 1848 an den österreichischen Universitäten als Lehrbuch in Gebrauch; vgl. Joseph von SONNENFELS, Ueber den Geschäftsstil.
Die ersten Grundlinien für angehende oesterreichische Kanzleybeamte, Wien
1784. Vgl. dazu u. a. Moritz CSÁKY, Pluralität und Wiener Moderne, in: M.
GODÉ, I. HAAG, J. LE RIDER (Hg.), Wien – Berlin: Deux cités de la modernité – Zwei Metropolen der Moderne (1900–1930), Montpellier 1993 (Cahiers
d‘Etudes Germaniques 24), S. 246 f. Leslie BODI, Sprachregelung als Kulturgeschichte. Sonnenfels. Über den Geschäftsstil (1784) und die Ausbildung einer österreichischen Mentalität, in: Gotthart WUNBERG, Dieter A. BINDER
(Hg.), Pluralität. Eine interdisziplinäre Annäherung. Festschrift für Moritz
CSÁKY, Wien–Köln–Weimar 1996, S. 122–153. Peter STACHEL, Ein Staat, der
an einem Sprachfehler zugrunde ging, S. 26 f.
Vgl. Friedrich ACHLEITNER, Sprachprobleme der Architektur, oder: Worin
unterschieden sich Nationalarchitekturen?, in: Moritz CSÁKY, Peter STACHEL,
Mehrdeutigkeit. Die Ambivalenz von Gedächtnis und Erinnerung. Wien, 2002,
S. 213–227. DERS., Pluralismus der Moderne. Zum architektonischen Sprachproblem in Zentraleuropa, in: BLAU, PLATZER, Mythos Großstadt, S. 94–106.
Vgl. Peter KAROSHI, Einheit in der Vielheit? Pluralität und Ethnizität in den
staatserhaltenden Narriven des habsburgischen Reiches, in: newsletter Moderne 6, 1 (2003), S. 14–18.
Joseph von HORMAYR, An die Leser des österreichischen Plutarch, in: Oesterreichischer Plutarch, oder Leben und Bildnisse aller Regenten, und der berühmtesten Feldherren, Staatsmänner, Gelehrten und Künstler, Wien 1807, S. 51.
Joseph Alexander Frh. von HELFERT, Über Nationalgeschichte und den gegenwärtigen Stand ihrer Pflege in Oesterreich, Prag 1853, S. 1.
HELFERT, Über Nationalgeschichte, S. 1 f.
Vgl. Peter KAROSHI, Patriotismus und Staatserhalt. Konstruktionen „österreichischer“ Gesamtstaatsideen, in: newsletter Moderne, Sonderheft 2 (2003),
S. 12–16, hier S. 14.
Joseph Alexander Frh. von HELFERT, Oesterreichische Geschichte für das
Volk. Vortrag gehalten in der sechzehnten Generalversammlung des Vereins
zur Verbreitung von Druckschriften für Volksbildung, Wien 1863.
Vgl. Peter STACHEL, Leibniz, Bolzano und die Folgen: Zum Denkstil der österreichischen Philosophie, Geistes- und Sozialwissenschaften, in: Karl ACHAM
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(Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften 1: Historischer
Kontext, wissenschaftssoziologische Befunde und methodologische Voraussetzungen, Wien 1999, S. 253–296.
Anton RADVÁNSZKY, Grundzüge der Verfassungs- und Staatsgeschichte Ungarns, München 1990 (Studia Hungarica 35), S. 102. Die ungarische Amtssprache wurde durch die deutsche ersetzt, das ungarische oberste Gericht nach
Wien verlegt, das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch und das Österreichische
Strafgesetzbuch in Ungarn eingeführt und auch das Konkordat von 1855 auf
Ungarn ausgedehnt. Ähnliche Maßnahmen wurden auch für die von Slawen
bewohnten Gebiete ergriffen, zum Beispiel in Kroatien-Slawonien, dem 1849
eine konservative Verfassung oktroyiert wurde. 1851 wurde auch diese Verfassung aufgehoben, somit begann auch in Kroatien die Zeit des Neoabsolutismus.
Zum Wandel der imperialen Vorstellungen von den traditionellen Mächten zu
den neuen Eliten, vgl. Florian OBERHUBER, Zur Konstruktion bürgerlicher
imperialer Identität. Gustav Ratzenhofers Vorträge zur Okkupation Bosniens
und der Herzegowina, in diesem Band, S. ...
Vgl. Gerald STOURZH, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918, Wien 1985.
Vgl. Anil BHATTI, Kulturelle Vielfalt und Homogenisierung, S. ...
Vgl. Peter NIEDERMÜLLER, Der Mythos des Unterschieds: Vom Multikulturalismus zur Hybridität, S. ...
Vgl. ACKERMANN, Wechselwirkung – Komplexität, S. 11.
Vgl. NIEDERMÜLLER, Der Mythos des Unterschieds, S. ...
Vgl. UHL, Zwischen „Habsburgischem Mythos“ und (Post-)Kolonialismus, S.
...
NIEDERMÜLLER, Der Mythos des Unterschieds, S. ...
Vgl. Holm SUNDHAUSSEN, Neue Untersuchungen zum destruktiven Potential von Sprache und zur Überlebensfähigkeit multilingualer Staaten, in: Berliner Osteuropa-Info 17 (2001), S. 7–9.
Tatsächlich waren von den Einwohnern Wiens im Jahr 1880 nur 38%, 1900 46%
in Wien geboren. Vgl. CSÁKY, Gedächtnis, Erinnerung und die Konstruktion
von Identität, S. 44.
Vgl. David F. GOOD, Der wirtschaftliche Aufstieg des Habsburgerreiches 1750–
1914, Wien–Köln–Graz 1986 (Forschungen zur Geschichte des Donauraumes 7).
Jacques LE RIDER, Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität, Wien 1990.
Gotthart WUNBERG, Unverständlichkeit. Historismus und literarische Moderne, in: Hofmannsthal. Jahrbuch 1 (1993), S. 309–350, hier S. 317.
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Habsburg postcolonial
Ursula Prutsch
Im Jahre 1945, 27 Jahre nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie, beurteilte Ivo Andric in seinem Roman Die Brücke über die Drina die österreichische Okkupationspolitik in Bosnien und Herzegowina am Beispiel der Stadt
Visegrad mit ein paar knappen Sätzen folgendermaßen:
Die neue Obrigkeit hatte nach den ersten Missverständnissen und Konflikten bei
den Menschen einen bestimmten Eindruck der Festigkeit und Dauer hinterlassen.
(Auch sie selbst war von dieser Illusion erfüllt [...]). Sie war unpersönlich, mittelbar
und schon daher leichter zu ertragen als die alte türkische Herrschaft. Alles, was an
ihr grausam und habgierig war, das verbarg sie hinter Würde, Glanz und geheiligten Formen.1
Dieser, aus der Erinnerung konstruierten, auf Herrschaft wie auf Inszenierung der Habsburgermonarchie anspielenden Einschätzung von Ivo Andric
folgt eine kurze Beschreibung des kulturellen Einflusses der die Modernisierung bringenden Fremden – der Beamten, Händler, umgesiedelten Bauern,
Industriellen – auf die pluriethnische Gesellschaft Bosniens und Herzegowinas, und Andric fügt hinzu, dass diese Fremden sich selbst nicht dem Einfluss der „ungewöhnlich orientalischen Umwelt“2 zu entziehen vermochten.
Um Gesellschaften, in denen eine Vielzahl von Kulturen auf engem Raum
miteinander in Beziehung stehen, besser erfassen zu können, wird der Begriff der Multikulturalität, der auf einem Denken der Einheit und einem
statischen Kulturkonzept beruht (des Schmelztiegels, der Nationalkultur),
verstärkt durch die Begriffe Hybridität und Transkulturation ersetzt, um bipolare Erklärungsmuster zwischen Eigenem und Fremdem zu überwinden
und um Einheit, Geschlossenheit, Authentizität kultureller Traditionen sowie die territoriale Bindung von Kulturen in Frage zu stellen.3
Der erstmals in der Botanik angewandte Begriff Hybridität setzte sich im
Laufe des 19. Jahrhunderts rasch als Metapher für negative Konsequenzen
33
von interethnischen, das heißt vor allem kulturellen, sexuellen und sprachlichen Beziehungen durch und wurde gerade im Kontext sozialdarwinistischer Ideologien („unreine Vermischung“) angewandt. Obwohl dem Begriff
Hybridität bis heute botanisch-agrarindustrielle Konnotationen anhaften,
wurde er im 20. Jahrhundert positiv umgedeutet und als Schlüsselbegriff in
soziologischen und kulturwissenschaftlichen Debatten, ab 1980 gerade auch
in den Postcolonial Studies verwendet. Das der Hybridität zugrundeliegende
Konzept war früher unter den Begriffen Kreolisierung beziehungsweise Synkretismus bekannt.4 Die negativen Konnotationen der Kolonialzeit, die Zuschreibung von Schuld an Rückschrittlichkeit hatten etwa in Lateinamerika bereits
im frühen 20. Jahrhundert einen Paradigmenwechsel im Kontext der kulturellen Dekolonisierung, des Infragestellens westlicher Moderneprojekte und
der Hinwendung zu indigenen Bevölkerungsgruppen durchgemacht. Neben
dem Begriff der mestizaje/mestizagem als Beschreibungsmöglichkeit für kulturelle Vermischung, in der verschiedene Elemente eine Verbindung eingehen, fand der Hybriditätsdiskurs früh Eingang in die Analyse des Kulturkontaktes, der „kulturellen Besonderheit“ und der Entdeckung des „Eigenen“.5
Der Vorteil des Begriffes der Hybridität gegenüber Konzepten der Vermischung liegt für den argentinisch-mexikanischen Anthropologen Néstor
García Canclini darin, dass dieser Gegensätze und Konflikte in plurikulturellem Gefüge mitbedenke, während der Vermischungsgedanke die Kulturbegriffe auf das Konzept des National-Authentischen zuschneide.6 Es gehe
bei hybriden Kulturen nicht um die verkennende Identifikation des Einen
im Anderen, sondern um dasjenige, das aus Verschiedenem zusammengesetzt ist, das Fragmentarische, „die unendliche Vielzahl zumeist alltäglicher
‚Geschichten‘, die zu multiplen Formen der kulturellen Interaktion Anlass
geben.“7 García Canclinis Definition des „Hybriden“ ist eine Implosion von
tradierten Bedeutungsstrukturen. Nun wird das Prinzip des Überganges
bestimmend; vormals definierte Kulturräume werden entgrenzt, Dichotomien wie Zentrum und Peripherie relativiert. Grenze wird als Übergang, nicht
als Trennlinie interpretiert. Vielheit kann nicht mehr als Einheit gedacht
werden. Hybridisierungsprozesse, die transnationale Umstrukturierung der
Kulturen machen dabei weder die Fragen nach dem Nationalen, noch die
Gegensätze zwischen hegemonialen und subalternen Gruppen und Klassen
obsolet.8 Stuart Hall, für den kulturelle Identitäten immer hybrid sind, betont, dass vorgestellte Identität immer in die Kultur des politischen Gegners,
also der Kolonisatoren oder einer Majorität verwickelt ist; zudem verweist er
auf die Wichtigkeit historischer Textbezogenheit der Analysen.
34
Homi Bhabha übernahm im Rahmen der Diskussion über den kolonialen
Diskurs der Postcolonial Studies Mitte der 1980er Jahre den Hybriditätsbegriff von Michail Bachtin, dessen Definition und Anwendung in der Literaturwissenschaft einen „turning point“ dargestellt habe, da er „Vermischung
zweier sozialer Sprachen innerhalb einer einzigen Äußerung“ beinhaltete.
Bhabha befasst sich mit der „anderen Szene“ kolonialer Machtentfaltung. Er
hebt die unausweichliche Ambivalenz hervor, in die beide Seiten, Kolonisierte und Kolonisierer, mittels des Konzeptes der Mimikry verwickelt werden
können.9 Er stellt damit das Hybride als diskursive Strategie des zivilen Ungehorsams der Kolonisierten (als Subversionsmöglichkeit gegen die Macht)
aus. Kulturelle Differenzierung wird als Effekt einer diskriminatorischen Praxis
produziert. Kolonisierte Subjekte befinden sich deshalb nicht zwischen zwei
Kulturen; kulturelle Äußerungen verkörpern immer das „Eine im Anderen“.
Begriff und Konzept haben mittlerweile zahlreiche kritische Stimmen hervorgerufen. Gayatri Spivak und Jonathan Friedman10 kritisieren am akademischen Diskurs, dass er bestehende Kluften zwischen sozialen Schichten und
Geschlechtern beschönige und sich als Makromodell nicht für die mikrologische Beschaffenheit von Macht eigne.11 Der Kritik an einer harmonistischen
und elitistischen Verwendung des Konzeptes, wie bei Bhabha, aber auch bei
Vertretern der deutschsprachigen Hybriditätsdiskussion12, schließt sich Mark
Terkessidis an. Er wirft den Hybriditäts-Apologeten vor, dass sie lieber postkoloniale Intellektuelle und Schriftsteller – glitzernde Wanderer und Kulturvermittler zwischen Peripherie und Zentrum – begehren, als ökonomisch
und politisch marginalisierte Gruppen (wie illegale MigrantInnen). Grenzen
würden in einer „binären Positionierung“ zwischen Kolonisierten und Kolonisierenden nur auf den ersten Blick überwunden werden, über die Beschaffenheit „interner Differenzen“ werde wenig gesagt. Kritiker von Néstor García Canclini geben zu bedenken, dass durch das Postulat „alles sei hybrid“
autochthonen Gruppen, die im Zuge der Kritik an nationalstaatlichen Konzepten Selbstbewusstsein erlangen und ihre Rechte als Ethnien einfordern,
nun das Kultivieren ethnischer Reinheit vorgeworfen werde. Anil Bhatti verweist in seinem Beitrag zurecht auf die Gefahr eines Ausverkaufs an Begriffen und den Verlust an politischer Schärfe. Für Robert Luft macht der Begriff Hybridität nur dann einen Sinn, wenn zugleich eine nichthybride politische Kultur tatsächlich als Gegenwelt existiert (vgl. den Beitrag in diesem
Band).
35
Zurück zum Ausgangspunkt: Die k.u.k. Monarchie war eine imperiale
Großmacht ohne Kolonien, damit keine koloniale Macht im eigentlichen Sinne13, aber auch keine – wie neueste Forschungen plausibel darstellen – „antikoloniale Kraft“. Walter Sauer wies nach, wie konsequent etwa die Frage nach
dem Verhältnis Österreich-Ungarns zum Kolonialismus vermieden wurde,
indem die wissenschaftliche Informationsbeschaffung, wie beispielsweise logistische, kartographische Arbeiten von Forscherpersönlichkeiten und k.u.k.
militärgeographischen Missionen als reiner Dienst an der wissenschaftlichen
Sache dargestellt wurden. Kolonialistische Ambitionen wurden als symbolische Außenpolitik verharmlost,14 das Fehlen von Kolonien in Übersee im
offiziellen Selbstverständnis positiv gewertet: 1902 schrieb der Außenhandelsexperte Moritz von Engel, dass sich gerade die Nichtbeteiligung ÖsterreichUngarns am kolonialen Wettlauf „als eine höchst glückliche Fügung“ erwiesen habe, denn „mit Genugtuung könne es sich nun seiner eigentlichen Aufgabe, der kolonisatorischen Tätigkeit“ in Südosteuropa widmen.15 ÖsterreichUngarn gab sich hierbei das Image einer mütterlichen Macht, die – im Gegensatz zum „männlichen“ preußischen Imperialismus – durch kulturmissionarische Politik eine „softe“ Variante von Herrschaft ausübe; sie wurde in
der Selbstsicht auch als „aufopfernd und selbstlos“ gewertet und dargestellt
(vgl. die Beiträge zu Bosnien in diesem Band). Ivan Lovrenovic, Verfasser
einer 1998 im Folio-Verlag erschienenen Kulturgeschichte Bosniens und Herzegowinas, verwendet das Kolonialismusparadigma für die Beschreibung der
Zäsur von 1878, dem Beginn der österreichisch-ungarischen Okkupation:
„[...] gestern noch eine rückständige türkische Provinz, heute österreichischungarischer Kolonialbesitz.“16 Die Schilderungen Ivo Andrics von ÖsterreichUngarn als administrativer Ordnungsmacht, die schon im ersten Jahr der
Okkupation Häuser nummerierte, die Einwohnerschaft zählte und dabei tiefe Befürchtungen erweckte,17 die Bemerkungen Moritz von Engels sprechen
Elemente kolonialistischer Strategien an: ökonomische Interessen, das Auftreten einer Ordnungsmacht, die heterogene Strukturen vereinheitliche, die
das Chaos beseitige, der Glaube an Führung, zivilisatorische, das heißt westliche, katholische Mission und die „Kunst der bürokratischen Geometrie“
(Jürgen Osterhammel).18
Aus diesen Bemerkungen zu Postcolonial Studies, zu Strategien der Vereinheitlichung, Hybridität und binnenkolonisatorischen Interessen – auch
als Kompensation für fehlende überseeische Kolonialpolitik – ergaben sich
einige Fragestellungen, die von den BeiträgerInnen des vorliegenden Sammelbandes diskutiert wurden: Kann man von Strukturen Innerer Kolonisie-
36
rung in der Monarchie sprechen? Wenn ja, worin äußern sich diese? Sind
die Konzepte der Postcolonial Studies, die meist auf einem kolonialen Homogenitätsdiskurs als Form kultureller Besitzergreifung aufbauen, und die von
ihnen verwendeten Begriffe der Hybridität, des „third space“, des „in-between“
auf die Habsburgermonarchie anwendbar? Können dadurch Strukturen von
Macht und Herrschaft, die sich etwa gerade in Formen der Kulturpolitik
äußern, besser analysiert werden? Im Gegensatz zu homogenisierenden Strategien musste die k.u.k. Monarchie – um ihre Existenz zu wahren –, ihre
plurikulturelle, übernationale Struktur verteidigen und hob sie als besseres
Gegenmodell zum Nationalstaat hervor. Gab es diese plurikulturelle Toleranz wirklich? Waren Vereinheitlichungstendenzen fixierbar? Diente das
Betonen der Übernationalität nicht auch dazu, politische und ökonomische
Herrschaft besser zu verkleiden als repressiver agierende Staaten? Und schliesslich: Wie stellen sich solche Herrschafts- und Machtstrukturen der Vergangenheit im kollektiven Gedächtnis, gerade in jüngeren Umbruchszeiten dar?
Die Autorinnen und Autoren, die aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen wie der Geschichte, der Politologie, Soziologie, Philosophie, Kunstgeschichte, Anthropologie, Slawistik und der vergleichenden Literaturwissenschaft kommen, bieten der zur Diskussion gestellten Thematik auch differente methodische Zugänge. Der erste Beitragsteil ist dem postkolonialen
Theoriekomplex gewidmet, den Anil Bhatti in seinem Beitrag eher als Haltung, denn als eine systematisch ausgebaute und ausbaufähige Theorie wertet.
Peter Niedermüller beschreibt die Konzepte des Multikulturalismus, des Transnationalismus sowie der kulturellen Differenz, die durch den vergleichenden
Blick entstehen. Die kulturelle Differenz hat politische Funktion. Sie dient
dazu, die politische und soziale Welt durch kulturell definierte Unterschiede zu deuten; die Grenzen des Eigenen und Fremden werden als fließend
gewertet. Das Erkennen von Alterität gelingt durch das Einverständnis, sich
das Andere weder aneignen, noch kontrollieren zu können, wie Wolfgang
Müller-Funk in seinem Beitrag zum Alteritätsdiskurs präzisiert: Zudem hebt
er die Verbindung von Kultur und Gewalt in kolonialistischem Verhalten
hervor, das sich etwa in Exotismus als dem ethnisch und sexuell Anderen
besonders ausdrückt. All jene Elemente des Anderen, Fremden lösen Angst
aus, die nicht in den eigenen symbolischen Haushalt zu integrieren sind.
Anil Bhatti und Michael Rössner plädieren dafür, ausgehend von den
sehr heterogenen kolonialen Situationen und multiethnischen Gebilden (dem
British Empire und den ehemals kolonisierten Staaten Lateinamerikas)
37
erstmals das dort entwickelte Begriffsinventarium auf die Habsburgermonarchie anzuwenden. Michael Rössner testet die verschiedenen Definitionen des
lateinamerikanischen postkolonialen Ansatzes ab: das Konzept der „Heterogenität“ (José Joaquin Brunner) statt jenem der „Reinheit“, den „dritten
Raum“ als einem Spannungsverhältnis von Historischem und Gegenwärtigem
(Jesús Martín Barbero), die Hybriditätsdefinition von Néstor García Canclini
und besonders den Ansatz von Alfonso de Toro, der die Dichotomien Zentrum und Peripherie, Hegemonie und Dependenz überwinden will.
Clemens Ruthners Abhandlung der Begriffsgeschichte von Kolonisierung
und Kolonialismus macht deutlich, dass man Österreich-Ungarn in gewissem Sinne einen innerkontinentalen Kolonialismus zuschreiben könne, dass
vor allem spezifisch symbolische Formen ethnisch differenzierender Herrschaft Ähnlichkeiten zu Formen in überseeischen Kolonialreichen aufweisen. Der Kolonialismusbegriff ist allerdings auch eine, von nationalistischen
Diskursen im 19. Jahrhundert gebrauchte Metapher. Für Ruthner stellt Bosnien-Herzegowina den einzig möglichen Anwendungsfall für eine Kolonialismusdebatte im engeren Sinne dar. Heidemarie Uhl sieht in ihren Überlegungen zu Zentraleuropa als Paradigma für Identitätskonstruktionen in der
(Post-)Moderne den Gewinn postkolonialer Perspektiven darin, dass diese
den Blick für die Legitimierung politischer Hegemonie in der Habsburgermonarchie mit dem Argument der kulturellen Überlegenheit gegenüber „unterentwickelten“ Ethnien schärfen und dass sie einen multiperspektivischen
Zugang auf Wien und Zentraleuropa um 1900 öffnen. Uhl sieht allerdings
auch die Gefahr gegeben, dass postkoloniale Zugänge ethnische Vielschichtigkeit auf das Muster einer Differenz zwischen hegemonialer Elitenkultur
und „kolonisierten“ Ethnien reduzieren.
Stefan Simonek hegt aus literaturwissenschaftlicher Sicht Zweifel an kolonialistischen Formen in der Habsburgermonarchie. Das Konzept der Hybridität wird für ihn dann fruchtbar, wenn die Mehrsprachigkeit – wie etwa bei
Ivan Franko, dem bedeutendsten Schriftsteller der Westukraine, – in die
Texte hineinreicht. Simonek regt an, deutschsprachige Reiseberichte mit entsprechenden slawischen Quellen gegenzulesen, damit sich objektbezogenes
Fremdbild und subjektbezogenes Selbstbild ergänzen; dadurch können konstatierte pseudokoloniale Züge einer Zentralmacht relativiert werden. Auf
den Schriftsteller Ivan Franko, der seine Texte in polnischer, ukrainischer,
deutscher und russischer Sprache verfasste und veröffentlichte, beziehen sich
neben Simonek auch Clemens Ruthner und Alois Woldan. Ivan Franko fungiert als gutes Beispiel für eine Persönlichkeit des „in-between“, deren Rolle
38
von einer kohärenten Nationalliteratur noch nicht ausreichend wahrgenommen worden ist. Franko bezog für Woldan eine, von Edward Said im Rahmen
des Verhältnisses von Kolonisierenden und Kolonisierten beschriebene typische Position, da er zum einen die Machtverhältnisse des Zentrums sanktioniert, zum anderen an den vom Zentrum auf die Peripherie ausgedehnten
Institutionen festgehalten habe.
Alois Woldan und Hans-Christian Maner beziehen sich in ihren Beiträgen auf Galizien. Nicht nur die politische Rolle der griechisch-katholischen
Kirche der galizischen Ruthenen ist für Alois Woldan mit Kategorien der
Postcolonial Studies gut beschreibbar, sondern auch ihre Literatur, deren
Zweisprachigkeit von der Wissenschaft bislang nicht in gebührendem Maß
berücksichtigt worden sei. In bezug auf die Situation ruthenischer Schriftsteller wagt Woldan Analogien zum Schrifttum englischsprachiger indischer
und karibischer Autoren; denn in Galizien habe es zwar ruthenische und
polnische Elementarschulen gegeben, die Vorrangstellung des Deutschen sei
aber mit eingeschlossen gewesen. Hans-Christian Maner widmet seinen Beitrag der Machtpolitik der Habsburgermonarchie in Galizien nach dem polnischen Aufstand von 1863 und wertet sie als eine Form der Kolonisierung. Die
politischen Rahmenbedingungen, die Umstände, unter denen das Kronland
zu Österreich kam, forderten immer wiederkehrende Legitimitätsdiskurse.
Éva Kovács, Gábor Gyáni und Andreas Pribersky nehmen Ungarn genauer unter die Lupe. Das Konzept der Hybridität ist für Éva Kovács besser
geeignet zur Beschreibung multipler jüdisch-ungarischer Identitäten im slowakischen Kaschau nach Ende der Habsburgermonarchie als Shulamit Volkovs
und Zygmunt Baumans postmoderne Versuche, die lange vertretene Assimilationstheorie von den „Ungarn mosaischen Glaubens“ zu dekonstruieren.
Sie kritisiert zudem an der ungarischen Geschichtsschreibung, sich nicht
von der Sprache des ehemaligen Kolonisierungsdiskurses befreit zu haben.
Andreas Pribersky weist Rückgriffe der ungarischen Politik ab den 1960er
Jahren auf historische Muster, etwa mittels des Mythos vom „Goldenen Zeitalter“ der Habsburgermonarchie um 1900, nach und analysiert dessen Funktion als Modell einer gelungenen Modernisierung und Verwestlichung Ungarns. Gábor Gyáni verweist auf die Dialektik des Vergessens und Erinnerns
im Prozess der Konstruktion nationaler Geschichtsbilder. Am Beispiel der
ungarischen Millenniumsfeiern wird festgemacht, wie das nationale magyarische Narrativ von den Geschichtsdarstellungen der einzelnen Ethnien (den
Anti-Narrativen) abweicht. Die unterschiedlichen Narrative erschwerten die
Fixierung eines kanonisierten Geschichtsbildes.
39
Im slowakischen historischen Diskurs taucht die Metapher der Inneren
Kolonisierung gelegentlich auf, im Kontext der Beschreibung von Dominanzbeziehungen und kulturellen Hierarchien. Elena Mannová weist in einem
Überblick über den Geschichtsdiskurs nach, dass die Slowaken ihre Vergangenheit im Zeitraum des Ungarischen Königreiches zwar mit Unterdrückung
verbanden, aber nie direkt als „kolonial“ werteten. Robert Luft, der Machtund Politikformen der böhmischen, mährischen und österreichisch-schlesischen Provinz analysiert, macht plausibel, dass von Innerer Kolonisierung in
diesen Räumen nicht gesprochen werden kann. Zu deutlich waren deren
ökonomische Stärke und ihr politischer und gesellschaftlicher Einfluss auf
das Zentrum Wien, dass vielmehr von einer machtpolitischen Durchdringung des Zentrums durch die Provinz ausgegangen werden könne.
Mit den kulturpolitischen Strategien der k.u.k. Monarchie in Bosnien
und Herzegowina beschäftigen sich Ursula Reber, Diana Reynolds, Florian
Oberhuber und Peter Stachel. Sie sind sich einig darin, dass „kolonialistisches Verhalten“ am ehesten in Bosnien-Herzegowina nachvollziehbar ist. Hier
zeigen sich die Auswirkungen eines hegemonialen Konzeptes der zwangsweisen Vereinheitlichung kultureller Differenzen am deutlichsten. Ursula Reber verfolgt die logistische Landnahme von Bosnien, Herzegowina und Montenegro, drei wirtschaftlich und politisch begehrten Peripherien mit Hilfe
von Edward Saids Analysen von Kulturkolonialismus. Die Reiseberichte vermitteln die Leistungen österreichisch-ungarischer „Befreiungs- und Entwicklungsarbeit“ (Ordnung, Kapital, Arbeitsamkeit, Hygienemaßnahmen) in einem ehemals durch die Osmanen verursachten „Chaos“. Um die „sanftere“,
das heißt kulturpolitisch agierende Variante von imperialistischer Macht herauszuarbeiten, die Österreich-Ungarn als weibliche protektionistische Großmacht präsentiert, wendet Diana Reynolds erstens die Gender-Perspektive
an, zweitens den auf Foucault zurückgehenden Exhibitionary Complex, das
Netzwerk von Museen und neuen Wissenschaftsdisziplinen, und drittens die
Reform des Kunstgewerbes: Die Zentralregierung verordnete und lenkte „von
oben“ ihre ästhetischen Vorstellungen bosnischer Kunsthandwerkstradition.
An Reynolds Analysen fügen sich jene der Textbeispiele des Forschrittsoptimisten Gustav Ratzenhofer, wie sie Florian Oberhuber vornimmt. Ratzenhofer legitimiert die militärische Okkupation Bosniens und der Herzegowina
wissenschaftlich – wiederum mit Argumenten fehlender Ordnung; er wählt
die Form einer „bürgerlichen Erzählung“ der Zivilisation und mildert das
militärische Eingreifen damit ab. Dass die Bewohner Bosniens und der Herzegowina sogar als „Eingeborene“ bezeichnet werden, wie Peter Stachel nach-
40
weist, zeigt durchaus die Anwendung kolonialistischen Vokabulars auf die
neuerworbenen Gebiete der Monarchie. Peter Stachel bezeichnet die Programmatik einer homogenisierenden Überwindung historisch entstandener
Differenz zum vermeintlich „höheren“ zivilisatorischen Niveau des westlichen Europa als „essentiell kolonialistisch“.
Wie Elena Mannová, Éva Kovács und Andreas Pribersky konzentrieren
auch Christian Promitzer und Werner Suppanz ihre Beiträge auf Tradierungen von Geschichtsbildern in den Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie und versuchen, Brüche und Strategien der Legitimierung festzumachen. Christian Promitzer beschreibt die Konzeptionen einiger slawischer
Geographen der Habsburgermonarchie, die Einfluss auf die Konstruktion
von Jugoslawien hatten, indem sie etwa das in Europa herrschende Stufenmodell von Nationen und Ethnien zugunsten der jugoslawischen Einigung
modulierten. Auch hier spielen Diskurse Innerer Kolonisierung und die Definition von Kultur- und Zivilisationsgrenzen zwischen „Westen“ und „Balkan“ eine Rolle. Dass die Politik der Inneren Kolonisierung, der Landnahme
seit dem Frühmittelalter (Ostmark) und das binnenkolonisatorische zivilisatorische Missionswerk der k.u.k. Monarchie vor allem in Bosnien und der
Herzegowina vom österreichischen Ständestaat wiederholt herangezogen wurden, um die Superiorität des „österreichischen Menschen“ als Vertreter des
„christlich-abendländischen Deutschtums“ zu konstruieren, beschreibt Werner Suppanz. Er zeigt, dass die Geschichte im Ständestaat als eine Abfolge
von Kolonisierungsprozessen verstanden wurde.
Den Band rundet ein literarischer Essay des bedeutendsten bosnischen
Autors, Dzevad Karahasan, über die „Poetik der Ruinen“ und ihre Funktion
als Orte der Erinnerung im zerstörten Sarajewo ab.
^
Nicht alle Autorinnen und Autoren finden die Brauchbarkeit der Postcolonial Studies gleichermassen gegeben. Manche nennen Schwächen des Ansatzes, etwa die Schwammigkeit von Begriffen, hegen Zweifel, ob die Postcolonial Studies das vielschichtige Phänomen des Nationalismus neu zu dechiffrieren vermögen, und haben zum Teil Vorbehalte wegen einer Übertragbarkeit
des Konzeptes auf den Kontext der Habsburgermonarchie, die kein Kolonialstaat im eigentlichen Sinne war. Denn nicht jede regionale Nachrangigkeit
beziehungsweise Abhängigkeit bedingt eine kolonialistisch-postkoloniale hybride Identität. Zudem besteht die Gefahr, kolonialistisches Verhalten, die
Vorstellung eines homogenen Anderen zu konstruieren, um die Postcolonial Studies anwenden zu können.
41
Am besten kann das postkoloniale Begriffsinstrumentarium im Kontext
von Bosnien/Herzegowina fruchtbar gemacht werden, wo militärische Eroberung, Verwaltung und Kulturpolitik koloniale Züge trugen. Die BosnienPolitik wurde praktisch auch als „binnenkolonialistische Tat“ und Kompensation für fehlende Überseekolonien gewertet. Auch gewisse Textsorten wie
Reiseberichte werden durch den postkolonialen Blick als Quellen für die
Legitimation eines kolonialistischen Gestus erschlossen. Transnationalismus
und Hybridität, die Relativierung der Dichotomie von Peripherie und Zentrum, der „third space“ und die Position des „Dazwischen“ sind jene Konzepte der Postcolonial Studies, die soziokulturelle Phänomene in pluriethnischen Gebilden gut zu beschreiben vermögen. Sie liefern für die Bewertung
literarischer Produktionen und ihre Einbettung in den jeweiligen Kontext
ebenso ein nützliches Inventarium wie für die Beschreibung von individuellen und kollektiven Mehrfachidentitäten. Die Möglichkeiten der Postcolonial Studies lassen Ambivalenzen erkennen und machen symbolische Formen
von kulturpolitischen Strategien als Legitimation für ökonomische und machtpolitische Interessen erkennbar. Auch für die Analysen sozialer und kultureller Prozesse in der Habsburgermonarchie können sie sich insgesamt als
fruchtbar erweisen.
Anmerkungen
1 Ivo ANDRIC, Die Brücke über die Drina, München 122001, S. 238.
2 Ebenda, S. 239.
3 Vgl. Projektbeschreibung des Graduiertenkollegs Kulturhermeneutik im Zeitalter von Differenz und Transdifferenz am Lehrstuhl für Amerikanistik in Erlangen
(www.uni-erlangen.de/kulturhermeneutik/amerikanistik.html).
4 Vgl. Robert J. C . YOUNG, Colonial Desire. Hybridity in Theory, Culture and
Race, London–New York 1995, S. 6. Vgl. zur Hybriditätsdebatte und ihrer Rolle in den Postcolonial Studies auch Monika FLUDERNIK, Miriam NANDI,
Hybridität. Theorie und Praxis, in: Polylog. Zeitschrift für interkulturelles
Philosophieren 8 (2001), S. 7–24.
5 Das Konzept der Hybridität wurde in diesem Kontext seit den 1950er Jahren
zudem als positives Gegenbild (Musikalität, Poetentum) zu der als brutal empfundenen, zweckrationalistischen Modernität der USA interpretiert.
6 Vgl. Néstor GARCÍA CANCLINI, Culturas híbridas. Estrategias para entrar y
salir de la modernidad, Buenos Aires 1989, S. XX–XI.
7 Petra SCHUMM, „Mestizaje“ und „culturas híbridas“ – kulturtheoretische Konzepte im Vergleich, in: Birgit SCHARLAU, Lateinamerika denken. Kultur-
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theoretische Grenzgänge zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen 1994,
S. 59–80, hier S. 67.
Vgl. Néstor GARCÍA CANCLINI, Cultura y nación. Para qué no nos sirve ya
Gramsci, in: Nueva Sociedad 115 (1991), S. 98–103.
Vgl. Mark TERKESSIDIS, Globale Kultur in Deutschland, in: parapluie
(www.parapluie.de/archiv/generation/hybrid).
Vgl. seine Kritik an der Umlegung des postkolonialen Hybriditätsbegriffes
auf den deutschsprachigen Kontext durch Elisabeth Bronfen und Benjamin
Marius. Mark TERKESSIDIS, Globale Kultur in Deutschland. Vgl. Jonathan
FRIEDMAN, Debating cultural hybridity, in: Pnina WERBNER, Tariq MODOOD (Hg.), Debating Cultural Hybridity, London 1997, S. 70–89, hier S. 81.
Vgl. Nikos PAPASTERGIADIS, Tracing Hybridity in Theory, in: WERBNER,
MODOOD, Debating Cultural Hybridity, S. 257–281, hier S. 258, S. 279.
Vgl. Elisabeth BRONFEN, Benjamin MARIUS, Therese STEFFEN (Hg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen 1997.
Vgl. dazu Raymond DETREZ, Colonialism in the Balkans, in: www.kakanien.
ac.at/beitr/theorie/Rdetrez1.pdf [2002]. Detrez spricht von Semikolonialismus am Balkan.
Vgl. Walter SAUER, k.u.k. kolonial. Habsburgermonarchie und europäische
Herrschaft in Afrika, Wien–Köln–Weimar 2002, S. 7.
Vgl. ebenda.
Ivan LOVRENOVIC, Bosnien und Herzegowina. Eine Kulturgeschichte, Wien–
Bozen 21999, S. 146.
Vgl. ANDRIC, Brücke über die Drina, S. 208–11. Andric beschreibt den passiven Widerstand der Bewohner, die die Hausnummern zwar an den Fassaden
befestigt, dann jedoch gleich mit Farbe übertüncht hätten.
Jürgen OSTERHAMMEL, Colonialism: A Theoretical Overview, Princeton
1997, S. 111.
43
Zwischen „Habsburgischem Mythos“
und (Post-)Kolonialismus.
Zentraleuropa als Paradigma für Identitätskonstruktionen in der (Post-)Moderne1
Heidemarie Uhl
Reinventing Central Europe 2 – dieser Titel könnte als Programm der unterschiedlichen Konzepte von Wieder- und Neuentdeckungen des zentraleuropäischen Raums dienen, die seit den 1980er Jahren immer wieder neue Sichtweisen der kulturellen, politischen und mentalen Gemengelage dieser pluriethnischen Region eröffnen.
Einen ersten, nach wie vor präsenten und vor allem im Hinblick auf seine
politischen Implikationen wirkungsmächtigen Topos hat der Triestiner Germanist Claudio Magris bereits 1963 formuliert – der Habsburgische Mythos
umschreibt seither die positive Sinnstiftung der Habsburgermonarchie als
rückwärtsgewandte Utopie einer „glücklichen und harmonischen Zeit“, eines „geordneten und märchenhaften Mitteleuropa“3. Zur selben Zeit war das
kulturelle „Erbe“ der Habsburgermonarchie in Österreich selbst weitgehend
vergessen – vom „Vergessen des Geisteskontinents Österreich“ sprach Friedrich Heer 1974 in der Einleitung zu William M. Johnstons Österreichischer
Kultur- und Geistesgeschichte 4 – oder aber politisch umstritten: Im November
1966 traten rund 250.000 Arbeiter aus Protest gegen den ersten Aufenthalt
Otto Habsburg-Lothringens in den Streik, die „Habsburg-Frage“ blieb bis in
die 1970er Jahre ein innenpolitisches Konfliktthema. Erst in den 1980er Jahren wurden jene Vorstellungen, die Zentraleuropa – und vor allem „Wien
um 1900“ – nun unter einem neuen, positiven Vorzeichen thematisierten, in
Österreich selbst breiter rezipiert. Die Akzeptanz dieser „invention of tradition“ verdankt sich nicht zuletzt der „Mitteleuropa“-Euphorie von Schriftstellern und Intellektuellen jenseits des Eisernen Vorhangs: Mit der „Entdeckung“ eines die nationalen und vor allem die Grenzen des Kalten Krieges
überschreitenden zentraleuropäischen Raums verband sich eine neue imaginäre kulturelle Grenzziehung, nämlich jene zum „Osten“ – womit keine exakt lokalisierbare geographische Beschreibung, sondern eine mentale Codierung des „Anderen“ der europäischen Zivilisation bezeichnet wurde.5
45
Im wissenschaftlichen Feld ist das neue Interesse für den zentraleuropäischen Raum seit den 1980er Jahren durch ambivalentere Zugänge charakterisiert. Die Hintergrundfolie für unterschiedliche Fragestellungen bilden die
krisenhaften Verwerfungen des Modernisierungsprozesses in dieser Region
– Industrialisierung, Demokratisierung und die Herausbildung von Nationalstaaten als Basisprozesse der Modernisierung führten im pluriethnischen
Zentraleuropa nicht zur nationalstaatlichen Homogenisierung, sondern wurden zum Generator für vielfältige national-politische beziehungsweise ethnisch-kulturelle Konfliktkonstellationen.
Mit Zentraleuropa kam eine krisenhafte Moderne ins Blickfeld, die nun –
unter postmodernem Vorzeichen – allerdings nicht mehr als devianter „Sonderfall“ galt, sondern vor den Krisenerscheinungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts an Relevanz gewann. Seit der bahnbrechenden Studie von Carl E.
Schorske über Politics and Culture im Wien der Jahrhundertwende (1980, 1982
in deutscher Übersetzung)6 bildete der Widerspruch zwischen dem kreativen
Potenzial der Wiener Moderne – eine Epochenbezeichnung, die sich ebenfalls
erst in den 1980er Jahren durchgesetzt hat – und seinen „antimodernen“
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, der katholisch-konservativ geprägten, antisemitisch und nationalistisch gefärbten politischen Kultur der Wiener Jahrhundertwende, den Erklärungshintergrund für eine spezifische
Wiener Moderne. Das von Moritz Csáky initiierte Forschungsprogramm
„Moderne. Wien und Zentraleuropa um 1900“ richtete den Fokus auf die
multiethnische Pluralität der Habsburgermonarchie als Erfahrungshorizont
und epistemologischen Kontext der Protagonisten der Wiener Moderne,7
andere Zugänge (Jacques Le Rider8, Steven Beller9) rückten die Identitätssuche der intellektuellen Eliten jüdischer Herkunft in einer antisemitischen
Umwelt in den Vordergrund.
Das Bild von Wien und Zentraleuropa um 1900 gewann in den 1980er
Jahren somit neue Konturen – als Geburtsort oder zumindest als retrospektiver Bezugspunkt eines „postmodernen Denkens“, das sich vom Pathos des
Fortschrittsglaubens und seinem historischen Narrativ, einer teleologischen
Modernisierungstheorie, verabschiedete und den Vereinheitlichungstendenzen der Moderne (der „großen Erzählung“) Vorstellungen von Pluralität entgegensetzte – Jean-François Lyotard hat in seinem Essay Das postmoderne Wissen diese Genealogie in bezug auf den Pessimismus der Generation der Jahrhundertwende in Wien um 1900 angedeutet.10
Die Formulierung neuer Forschungsfragen im Hinblick auf „Wien und
Zentraleuropa um 1900“ folgte aber auch den methodologischen und theore-
46
tischen Veränderungen im wissenschaftlichen Feld. Im Rahmen eines „postmodernen“ kulturwissenschaftlichen Paradigmenwechsels in den Geisteswissenschaften wurde „Identität“ zum Schlüsselbegriff: Die Frage nach der Konstruktion kollektiver und individueller Identitäten erlaubt nicht nur eine
methodische Verschränkung der diskursiven „Konstruktionen sozialer Wirklichkeit“ mit dem sozialen Raum, in dem diese Narrationen produziert und
durchgesetzt und damit identitätsstiftend (oder aber marginalisiert) werden.
Das Selbstverständnis von Individuen und Kollektiven (beziehungsweise Ethnien und Nationen) beruht – so das konstruktivistische „Credo“ – nicht auf
„objektiven“ Kriterien wie einer gemeinsamen Sprache, Geschichte und Kultur, sondern auf jenen Vorstellungen von „Gemeinschaft“ und „Zugehörigkeit“, die den jeweiligen Wissens- und Kommunikationssystemen inhärent
sind.
Betrachtet man die auferlegte/eingeforderte Selbstzuordnung des Individuums in eine (nationale) Solidargemeinschaft als ein zentrales Merkmal moderner, ausdifferenzierter Gesellschaften,11 so ist diese Konstruktion kollektiver und individueller Identitäten im zentraleuropäischen Raum mit einer
komplexen, pluriethnischen Situation konfrontiert, die vielfach keine eindeutigen Kriterien nationaler Zugehörigkeit im Sinne des Herderschen Nationsverständnisses einer Kultur- und Sprachgemeinschaft eröffnete. Auch in
Frankreich, Italien und Deutschland waren die Prozesse des nation building
weitaus komplexer und die regionalen Unterschiede gravierender, als es die
pathetischen Beschwörungen nationaler Einheit beschrieben. Die Vorstellungen einer einheitlichen Nation waren, wie in der Literatur der letzten
Jahre vielfach analysiert, Imaginationen (imagined communities12), formuliert
von Intellektuellen, zunächst vielfach ohne große Resonanz in der breiten,
vor allem der ländlichen Bevölkerung. Der zentraleuropäische Raum unterschied sich davon allerdings im Hinblick darauf, dass sich diese Heterogenität nicht nur in unterschiedlichen Durchdringungsgraden der nationalen
Idee zeigte, sondern zu konkurrierenden nationalen Konzepten innerhalb
eines Staates führte.13 Die (Selbst)zuordnung beziehungsweise das Gefühl der
Zugehörigkeit zu einer „Nation(alität)“ konnte sich in gemischtsprachigen
Gebieten beziehungsweise in den Städten nicht auf essentialistische „Selbstverständlichkeiten“ wie die Sprache berufen, sondern war vielfach eine (politisch motivierte) Entscheidung des Einzelnen. Die Konflikte anlässlich der
regelmäßigen Erhebung der Umgangssprache in der Habsburgermonarchie
geben Einblick in die Fragilität und den machtpolitischen Hintergrund dieser Zuordnungen.14
47
Der Entscheidungsspielraum im Hinblick auf das nationale Selbstverständnis betraf nicht nur das Bekenntnis zur deutschen beziehungsweise ungarischen, einer slawischen oder anderen Sprache (und damit zur jeweiligen
Nation), auch die deutschsprachige Bevölkerung war zwischen Österreichpatriotischem und deutschnationalem Selbstverständnis gespalten. Vertieft
wurde die nationale Konkurrenz- und Konfliktsituation durch weitere politische Fragmentierungen, die zumeist mit unterschiedlichen und vielfach
antagonistischen Vorstellungen über den Charakter der Nation verbunden
waren, wie sie etwa in den Konflikten zwischen urban-liberalen und ländlichklerikalen Konzepten einer „slowenischen Nation“ zum Ausdruck kommen.15
Die latente nationalpolitische Konfliktsituation und die vielfältigen (diskursiven) Grenzziehungen bilden auch den Ausgangspunkt für aktuelle „postkoloniale“ Sichtweisen auf die Habsburgermonarchie. Formuliert wurde dieses Konzept im Rahmen eines literaturwissenschaftlichen Forschungsprojekts
(Wolfgang Müller-Funk, Peter Plener, Clemens Ruthner), das von der Frage
ausgeht, „ob sich nämlich die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie
(und die Habsburger-Monarchie vor 1867) nicht als ein quasi-kolonialer Herrschaftskomplex begreifen lässt“, in dem die hegemoniale Kultur sich beständig durch Grenzziehungen zu ihrem kulturell-zivilisatorischen „Anderen“
legitimiert.16 Im Fall der Habsburgermonarchie lagen die mit dem ethnologischen Blick erfassten exotischen Territorien jedoch nicht außerhalb der Staatsgrenzen, sie waren Bestandteil eines „Vielvölkerstaates“, zu dessen zentralem
Postulat – vor allem in Cisleithanien17 – die sprachliche und nationale Gleichberechtigung zählte.
Wenn hier die Frage nach den neuen Erkenntnissen dieses Zugangs gestellt werden soll, so ist generell festzuhalten, dass jede Rekonstruktion der
Vergangenheit bestimmte Lesarten eröffnet beziehungsweise legitimiert und
andere marginalisiert. Eine „postkoloniale“ Perspektive macht aufmerksam
auf die Legitimierung politischer Hegemonie in der Habsburgermonarchie
mit dem Argument der kulturellen Überlegenheit gegenüber „unterentwickelten“, „rückständigen“ Nationen und Ethnien. Diese Vorstellung einer
zivilisatorisch-kulturellen Hierarchie durchdringt die Fremd- und Selbstzuschreibungen der ethnischen beziehungsweise nationalen Gruppen in der
Habsburgermonarchie vielfach; die Imaginationen kultureller Überlegenheit
beschränken sich nicht auf ein deutschnational beziehungsweise deutschösterreichisch geprägtes Narrativ, sondern prägen – in unterschiedlichen Konstellationen der Zuordnung und Abgrenzung des jeweiligen Kollektivs – auch
die identitätsstiftenden Selbstbeschreibungen der nichtdeutschsprachigen
48
Nationalitäten.18 Gerade auch in das „Erwachen“ der „jungen“ nationalen
Bewegungen und ihrem Streben nach kultureller Emanzipation ist diese Differenzziehung zu zivilisatorisch „rückständigeren“ Ethnien eingeschrieben.
Allerdings verbindet sich mit der postkolonialen Perspektive eine Komplexitätsreduktion, gerade im Hinblick auf die spezifischen Charakteristika
des nation building in Zentraleuropa, die eben nicht nur durch ein „Schlachtfeld der nationalen Chauvinismen, der ethnischen und sozialen Gegensätze
und schlussendlich der Rassismen aller Art und des Antisemitismus“ – so
der von Jacques Le Rider formulierte „schwarze Mythos“ Zentraleuropas 19 –
charakterisiert sind, sondern auch durch die Entwicklung einer supranationalen Staatsnation mit gleichen staatsbürgerlichen Rechten geprägt sind, wie
sie in den Staatsgrundgesetzen formuliert wurden.20
Dem Leitbild des „übernationalen“ Staates entsprachen symbolische Formen einer „Politik der Anerkennung“. In diesem Rahmen verweist auch das
Kronprinzenwerk, nicht zu Unrecht auch ein Schlüsseltext für postkoloniale
Diskursanalysen, auf vielschichtige „soziale Energien“: Dargestellt wird nicht
nur die ethnische Differenz der „Volksstämme“, das Bild ethnischer Authentizität durch die Beschreibung ruraler Sitten und Gebräuche bezieht sich
auch auf die deutschsprachigen Kronländer, zudem sind fallweise auch nationale „Gegennarrationen“ vertreten.21 Dennoch: Bereits durch den Beobachterstatus, die Struktur, die Sprache und die Intention dieses Unternehmens
ist in die Imagination einer harmonischen Völkerfamilie die subkutane, staatspolitisch nicht opportune Hegemonie der deutschsprachigen Kultur eingeschrieben.
Offen zutage traten die Widersprüche zwischen dem Postulat der Anerkennung von Differenz im Sinne des supranationalen Staatsgedankens und
dem Versuch einer Festschreibung des „nationalen Charakters“ angesichts
der demographischen Veränderungen des Urbanisierungsprozesses allerdings
bereits im „Kronprinzenwerk“ selbst, etwa in der Beschreibung der Wiener
Bevölkerung. Der Versuch, das „Wiener Volksleben“ vor dem Hintergrund
der „mächtigen Veränderungen, ja förmlichen Umwälzungen im gesammten
socialen Verkehr“ zu erfassen, vermerkt eingangs die „ gewaltig[en]“ Veränderungen, die die Stadt binnen weniger Jahrzehnte erfahren habe: Nicht nur
in baulicher Hinsicht sei sie „in wenigen Decennien eine andere geworden; es
hat auch das Leben und Treiben und haben die Sitten, Gebräuche, Bedürfnisse und Gewohnheiten der riesig angewachsenen und durch die ungeahntesten Ereignisse durcheinander geschüttelten Bevölkerung eine andere, völlig fremdartige Physiognomie angenommen.“ Die narrative Argumentation
49
im Hinblick auf die Namhaftmachung eines Wiener Volkscharakters angesichts der multiethnischen Bevölkerungsstruktur konfrontiert einen fiktiven
Stadtbewohner des Vormärz mit der Erfahrung des urbanen Lebens in den
1880er Jahren: Wenn dieser, „begleitet von dem modernsten Lärm, dem Schellengeklingel der Tramway, eine der schönsten Straßen dieses Planeten – unserem ureinzigen ‚Ring‘ – auf und ab spazierte und alsdann in die elegante
Lästerallee des neugeschaffenen pittoresken ‚Stadtpark‘ geriethe“, wo die „aufgedonnerte ‚beau monde‘“ flaniere, so würde er sich verwundert fragen:
„Das wären Wiener und Wienerinnen, seine engeren Landsleute? Unmöglich! [...]“. „So ist es auch“, fährt der Verfasser, der Journalist und Schriftsteller Friedrich Schlögl, fort. Doch in den Vorstädten und an den Peripherien der Metropole finde man die „Original-Wiener“:
Nicht nur ihrer äußeren Erscheinung, sondern auch in ihrer Lebensweise, ihren
Thun und Gehaben, ihren Sitten und Gebräuchen nach [...] directe und unverfälschte und unvermischte Nachkommen des Originalstammes, [...] mit dem unvertilgbaren Kennzeichen des „echten Wieners“. [...] sie verschaffen auch dem Gesammtbilde der bunten Stadt, gerade durch ihre markanten Chargen, noch immer das
Gepräge des „Wienerthums“, und man kann und wird deshalb ungeachtet der vielköpfigen Invasion von Repräsentanten anderer Racen, Stämme und Nationalitäten, wenn man von „Wien und den Wienern“ in ihrer Totalität spricht, unter letzteren doch meist nur den – richtigen Wiener im Auge haben.22
Dieser Exklusion der nichtdeutschsprachigen Zuwanderer aus dem „Wiener
Volk“, veröffentlicht in einer offiziösen Beschreibung der österreichisch-ungarischen Monarchie, fehlt der aggressiv-polemische Gestus der deutschnationalen Publizistik, umso deutlicher wird allerdings sichtbar, mit welchen
Argumenten auch unter dem Vorzeichen eines supranationalen Konzepts der
Ausschluss aus einem sozialen Raum legitimiert werden kann. Im sozialen
Handlungsfeld Wiens sollte diese Ausgrenzung vor allem im Hinblick auf die
große tschechische beziehungsweise die jüdische Minderheit konkrete Formen annahmen.23 Aber auch auf kommunaler Ebene wurden entsprechende
Maßnahmen ergriffen: Bereits im Jahr 1900 legte eine Ergänzungsbestimmung zum neuen Wiener Gemeindestatut fest, dass bei jeder Bewerbung um
das Wiener Bürgerrecht ein Schwur geleistet werden musste, den „deutschen
Charakter“ der Stadt nach Kräften zu bewahren. 24 Die Imaginationen der
ethnisch-nationalen Homogenität eines sozialen Raums beziehungsweise politische und kulturelle Maßnahmen zu deren Durchsetzung (und damit der
Ausgrenzung von Minderheiten) lassen sich in unterschiedlichen Konstellationen in vielen urbanen Zentren Zentraleuropas beobachten.
50
Aus heutiger Perspektive ist es aber weniger die offene Diskriminierung
von Minderheiten, sondern das „verborgene“ Narrativ des Ausschlusses beziehungsweise der kulturellen Differenzziehung innerhalb einer von den bürgerlichen Grundrechten basierenden Gesellschaft von Interesse, denn gerade diese Konstellation – das Spannungsfeld zwischen der Anerkennung von
Differenz und den subtilen Mechanismen kultureller Hegemonie – lässt den
zentraleuropäischen Raum zu einem „Laboratorium gegenwärtiger Problemlagen“ und zu einem historischen Bezugspunkt aktueller Erfahrungen ethnischer-nationaler beziehungsweise kultureller Heterogenität werden.25
Die Frage nach den Ursachen für das Scheitern des „multikulturellen
Experiments“ der Habsburgermonarchie ist allerdings nicht nur mit dem
Hinweis auf die in die Denkfigur der kulturellen Differenz eingeschriebenen
Herrschaftsmechanismen zu beantworten – Kultur als Raum von Machtstrukturen zu konzipieren, zählt zu den Grundannahmen einer an den angloamerikanischen Cultural beziehungsweise Postcolonial Studies (Stuart Hall, Edward
Said, Homi K. Bhabha et cetera) beziehungsweise an Theorien kultureller
Hegemonie (Antonio Gramsci, Pierre Bourdieu) orientierten Auffassung von
„Kultur“. Was eine postkoloniale Fragestellung – über das konkrete historische Fallbeispiel der Habsburgermonarchie hinaus – sichtbar machen kann,
sind die latenten Potenziale eines hegemonialen Überlegenheitsanspruchs in
den Meistererzählungen der Moderne, also die latenten Widersprüche im
Hinblick auf die Universalität beanspruchenden Normen und Werte (Aufklärung, Menschen- und Bürgerrechte, Toleranz et cetera) und den konkreten Umgang mit dem „Anderen“ der „modernen Vernunft“. Die Analyse der
subkutanen Strategien eines „unterirdisch murmelnden Diskurses“, der die
Gleichheitsvorstellungen wieder außer Kraft setzt, wie dies Wolfgang MüllerFunk in bezug auf das Kronprinzenwerk postuliert, könnten zur Sensibilisierung gegenüber gegenwärtigen Aporien einer „Politik der Anerkennung“
gegenüber dem Fremden beitragen.26
Wenn „Zentraleuropa“ nicht zum diskursiven Steinbruch für ein nahezu
beliebiges Spektrum von Hypothesen werden soll, so ist jede neue Forschungsperspektive im Hinblick auf die Berücksichtigung der in dieser Region zu
konstatierenden Vielstimmigkeit von Narrationen über das „Eigene“ und das
„Fremde“ zu befragen. Das Deutungsmuster des Postkolonialismus eröffnet
wesentliche neue Erkenntnisse, es sollte allerdings nicht dazu führen, die
Vielschichtigkeit von ethnisch-nationalen Konfliktlagen und die Entwicklung
von Konsenskonzepten auf das dichotome Muster einer hierarchischen Differenz zwischen hegemonialer Elitenkultur und „kolonisierten“ Ethnien be-
51
ziehungsweise Nationalitäten zu reduzieren. Vielmehr stellt sich die Frage,
ob nicht gerade durch diese Dichotomie die Vorstellung eines homogenen
„Anderen“ – in Form der kolonisierten Kulturen – generiert wird. Heuristisch mag es durchaus fruchtbar sein, fiktionale und nicht-fiktionale Texte
der Habsburgermonarchie nun „gegen den Strich“ zu lesen, das innovative
Potenzial einer postkolonialen Lesart wird sich aber daran messen lassen
müssen, inwieweit es über bisherige Analysen der Konstruktion kollektiver
Identitäten in einer pluriethnischen Konstellation hinausgeht.27 Wie sind etwa
die vielschichtigen Selbstbeschreibungen der slowenischen, kroatischen, tschechischen, slowakischen literarischen Moderne um 1900 zu erfassen, wie können die vielfachen Duplizierungen von (binnen-)kolonialen Imaginationen
im Hinblick auf die Konstruktionen des „Eigenen“ und des „Fremden“ bei
den „jungen“ Nationalitäten integriert werden? Wie ist schließlich das Verhältnis Österreich-Ungarns zu den erfolgreichen nationalen Homogenisierungskonzepten, vor allem im Deutschen Reich, zu verorten, im Hinblick auf
die seit 1871 um sich greifende Überzeugung der Rückständigkeit Wiens
gegenüber der dynamischen „Weltstadt“ Berlin? 28
Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Reaktivierung der Vorstellungen von kultureller Überlegenheit (Debatten um das tschechische Atomkraftwerk Temelín, EU-Osterweiterung), die auf das offenkundige Weiterwirken
von abwertenden mentalen Einstellungsmustern gegenüber dem „Osten“ verweisen, ist die Analyse (post-)kolonialer Denkmuster allerdings eine wichtige
neue Perspektive im Rahmen eines multiperspektivischen Zugangs auf „Wien
und Zentraleuropa um 1900“.
Anmerkungen
1 Bei diesem Beitrag handelt es sich um die erweiterte Fassung eines im newsletter MODERNE 5, 1 (2002) publizierten Artikels.
2 Steven BELLER, Reinventing Central Europe, Minneapolis 1991 (Center for
Austrian Studies, Working Paper 92–95).
3 Claudio MAGRIS, Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur, Wien 32000, S. 19.
4 William M. JOHNSTON, Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848 bis 1938, Wien–Köln–Weimar 31992
(Forschungen zur Geschichte des Donauraumes 1), S. 13.
5 Vgl. Janos Matyas KOVACS, Westerweiterung. Zur Metamorphose des Traums von
Mitteleuropa. Eine Einleitung, in: Transit. Europäische Revue 21 (2001), Themenheft Westerweiterung? Zur symbolischen Geographie Osteuropas, S. 3–20.
52
6 Vgl. Carl E. SCHORSKE, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, München–Zürich 1994.
7 Vgl. Moritz CSÁKY, Die Wiener Moderne. Ein Beitrag zu einer Theorie der
Moderne in Zentraleuropa, in: Rudolf HALLER (Hg.), nach kakanien. Annäherung an die Moderne, Wien–Köln–Weimar 1996 (Studien zur Moderne 1),
S. 59–102.
8 Vgl. Jacques LE RIDER, Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die
Krisen der Identität, Wien 1990.
9 Vgl. Steven BELLER, Wien und die Juden 1867–1938, Wien–Köln–Weimar
1993 (Böhlaus zeitgeschichtliche Bibliothek 23).
10 Jean-François LYOTARD, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, hg. v. Peter
ENGELMANN, Wien 1994 (Edition Passagen 7), S. 121 f.
11 Vgl. Herbert WILLEMS, Alois HAHN, Einleitung. Modernisierung, soziale
Differenzierung und Identitätsbildung, in: DIES. (Hg.), Identität und Moderne, Frankfurt a. M. 1999, S. 9–29.
12 Vgl. Benedict ANDERSON, Die Erfindung der Nation, Frankfurt a. M. 21993.
13 Vgl. Ernest GELLNER, Nationalismus und Moderne, Berlin 1991, S. 146 f.
14 Vgl. Emil BRIX, Die Umgangssprachen in Altösterreich zwischen Agitation
und Assimilation. Die Sprachenstatistik in den zisleithanischen Volkszählungen 1880 bis 1910, Wien–Köln–Graz 1982.
15 Einblick in die ideologischen Differenzen, die zum Teil ausgeprägter waren als
das Interesse an nationalpolitischer Kohäsion, gibt zum Beispiel die Kulturpolitik in Laibach/Ljubljana; vgl. Egon PELIKAN, Theater, Politik und Gesellschaft. Aspekte der Geschichte des slowenischen Theaters in Ljubljana/Laibach in den Jahren 1867 bis 1918, in: Heidemarie UHL (Hg.), Kultur – Urbanität –
Moderne. Differenzierungen der Moderne in Zentraleuropa um 1900, Wien
1999 (Studien zur Moderne 4).
16 Vgl. Wolfgang MÜLLER-FUNK, Kakanien revisited. Über das Verhältnis von
Herrschaft und Kultur, in: DERS., Peter PLENER, Clemens RUTHNER (Hg.),
Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie, Tübingen 2001 (Kultur – Herrschaft – Differenz 1), zitiert
nach http://www.kakanien.ac.at/beitr.
17 Vgl. Gerald STOURZH, Die Idee der nationalen Gleichberechtigung im alten
Österreich, in: Erhard BUSEK, Gerald STOURZH (Hg.), Nationale Vielfalt
und gemeinsames Erbe in Mitteleuropa, Wien–München 1990, S. 39–48.
Stourzh weist auf die „grundverschiedene Struktur“ Österreichs und Ungarns
im Bereich des Nationalitäten- und Sprachenrechts hin: Während Ungarn ein
Nationalstaat mit nationalen Minderheiten (und einem Sonderstatus für das als
„politische Nation“ anerkannte Kroatien) war, bildete Österreich einen Nationalitätenstaat, dessen Verfassung von der Gleichberechtigung der Volksstämme ausging. Der Minderheiten-Rechtsschutz im öffentlichen Recht Österreichs
kann „als eines der am weitesten entwickelten Rechtsschutzsysteme im Bereich
von Verfassung und Verwaltung in Europa in den Jahrzehnten vor 1918 angesehen werden.“ Ebenda, S. 43.
18 Vgl. etwa den Beitrag von Elena Mannová in diesem Band.
53
19 Jacques LE RIDER, Mitteleuropa. Auf den Spuren eines Begriffes. Essay, Wien
1994, S. 78.
20 Vgl. Gerald STOURZH, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918, Wien 1985.
21 So weist die Darstellung von Krain sowohl einen Beitrag über „Die deutsche
Literatur“ (von Eduard SAMHABER) als auch über „Die slovenische Literatur“ (von Gregor KREK) auf. Vgl. Die österreichisch-ungarische Monarchie in
Wort und Bild. Kärnten und Krain, Wien 1891, S. 411–416 beziehungsweise
S. 429–448. Zum Kronprinzenwerk im Kontext der Ethnographie in der Habsburgermonarchie vgl. allgemein: Peter STACHEL, Die Harmonisierung national-politischer Gegensätze und die Anfänge der Ethnographie in Österreich,
in: Karl ACHAM (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften 4: Geschichte und fremde Kulturen, Wien 2002, S. 323–367.
22 Friedrich SCHLÖGL, Wiener Volksleben, in: Die österreichisch-ungarische
Monarchie in Wort und Bild. Wien und Niederösterreich. 1. Abtheilung: Wien,
Wien 1886, S. 91–123, hier S. 91–93.
23 Der Kampf gegen eine befürchtete „Vertschechung“ der Stadt wurde unter
anderem mit Hetzartikeln gegen den tschechischen „Pöbel“, mit der Ächtung
von Firmen, die nichtdeutsche Arbeiter beschäftigten, mit dem Boykott tschechischer Geschäfte und der Störung von Versammlungen tschechischer Vereine
geführt. Aus Angst vor Terrorisierung und aus Sorge, die deutsche Kundschaft
zu verlieren, wurden tschechische Firmentafeln vielfach durch deutsche ersetzt,
viele tschechische Familien ließen ihren Namen eindeutschen. Ähnliche Imaginationen der Überfremdung („Verjudung“) dienten auch zur Legitimation
von antisemitischen Aktionen. Vgl. Brigitte HAMANN, Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, München–Zürich 1996, S. 437–446.
24 Vgl. Walter ÖHLINGER, Wien im Aufbruch zur Moderne, Wien 1999 (Geschichte Wiens 5), S. 156.
25 Moritz CSÁKY, Die Vielfalt der Habsburgermonarchie und die nationale Frage, in: Urs ALTERMATT (Hg.), Nation, Ethnizität und Staat in Mitteleuropa,
Wien–Köln–Weimar 1996 (Buchreihe des Instituts für den Donauraum und
Mitteleuropa 4), S. 44–64.
26 Wolfgang MÜLLER-FUNK, Kultur, Kultur. Anmerkungen zu einem Zauberwort, in: Merkur 55 (2001), S. 723.
27 Vgl. dazu exemplarisch: Pieter M. JUDSON, Versuche um 1900 die Sprachgrenze sichtbar zu machen, in: Moritz CSÁKY, Peter STACHEL (Hg.), Die Verortung
von Gedächtnis, Wien 2001 (Passagen Orte des Gedächtnisses), S. 163–174.
28 Vgl. Juliane MIKOLETZKY, Die Wiener Sicht auf Berlin, 1870–1934, in: Gerhard BRUNN, Jürgen REULECKE (Hg.), Metropolis Berlin. Berlin als deutsche Hauptstadt im Vergleich europäischer Hauptstädte 1871–1939, Bonn–Berlin
1992, S. 471–528.
54
Kulturelle Vielfalt und Homogenisierung
Anil Bhatti
I
Es gibt, meines Erachtens, einen grundlegenden Unterschied zwischen Kulturauffassungen, die von einer positiven Bewertung der Plurikulturalität ausgehen und solchen, die von einer gegnerischen adversialen Voraussetzung
ausgehen. Im plurikulturellen Verständnis ist Differenz oder Andersheit ein
Konstituens der Kultur und nicht ein Systemwiderspruch. Im adversialen
Verständnis von Kultur stört die Differenz, oder sie wird in den Bereich des
„Interessanten“ gerückt. Deshalb werden Abgrenzungen vorgenommen, kulturelle Monaden werden konstruiert und zivilisatorische Hierarchien werden behauptet. Im günstigsten Falle kann es zu einer macht- und majoritätsgeschützten protektionistischen Toleranz kommen, die vom „Wohlwollen“ der
Majorität abhängig ist. Sonst ist die Marginalisierung oder gar Ausmerzung
der Differenz im politischen Prozess, wie wir aus der Geschichte wissen, eher
üblich.
Ich betrachte plurikulturelle Verhältnisse als selbstverständlich vorhandene
Kommunikationszusammenhänge. Bilder dafür finden wir etwa in der Polyglossie und Polysemie der plurikulturellen Städte. Diese Plurikulturalität wird
gerade nicht durch den Tourismus hergestellt, sondern sie ist Teil des Alltags. Bei Doderer gibt es eine Stelle, wo der Erzähler ironisch-lakonisch von
der „polyglotte(n) Bereitwilligkeit der Stadt“ spricht.1 Gemeint ist natürlich
Wien, und der Roman handelt vom Schicksal eines jungen Engländers, dessen Vater eine Fabrik in Wien gegründet hat. Der Sohn wächst in England
und Wien auf. „In zwei Ländern jugendlich lebend, umschloss ihn niemals
die Verhärtung in einem einzigen, das dann allein den Blickpunkt bildet.“2
Und in Wien wächst er in einer polyglotten Welt auf, wo deutsch, ungarisch
und slawische Sprachen zu seinem Umfeld gehören. Mehrsprachigkeit ist
hier selbstverständlich. Die dichotomisierende Hermeneutik von „eigen“ und
55
„fremd“ kommt nicht zum Tragen. Die Frage, ob jemand oder etwas (ein
Ausländer oder eine religiös konnotierte Gruppe etwa) integrierbar sei, wäre
aus dieser Sicht und als Frage höchst sonderbar, denn es geht in plurikulturellen Verhältnissen nicht so sehr um Integration (womöglich unter einer
Leitkultur) als um die Ermöglichung funktionierender Kommunikationsverhältnisse in der Entwicklung urbaner Großräume.3 Plurikulturelle Verhältnisse signalisieren freilich keineswegs, dass wir es mit bereits befriedeten,
konfliktfreien Gesellschaften zu tun haben, denn die Rahmenbedingungen
dafür sind komplizierter. Das Zerstörungspotenzial in plurikulturellen Verhältnissen dürfte bei inkludierten und exkludierten Gruppen ungefähr gleich
sein. Es geht eben nur darum, dass wir Alterität normal finden. Sie ist selbstverständlich.
Die Geschichtserfahrung lehrt uns aber, dass mehrsprachige, plurikulturelle Staatsformationen stets gefährdet waren und noch sind. Im nationalstaatlichen Zeitalter gelten sie als problematisch, bestenfalls als transitorische
Geschichtsmomente.4 Ihnen wird Normalität abgestritten. Sie sind stets als
Übergangsmomente gedacht für homogenisierte Zusammenhänge, in denen
es zu einer Kongruenz von bestimmten Merkmalen in der Bevölkerung
(meistens Sprache, Überlieferung, Religion) kommt und die Anderen stigmatisiert werden können. Sprachenkonflikte, die auch Klassenkonflikte sind,
spielen da eine wichtige Rolle. Zum Beispiel bilden die Sprachen Hindi und
Urdu sowohl aus sprachwissenschaftlicher als auch aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht eine nordindische Sprachgemeinschaft. Die Hindi-Variante wird in der aus dem Sanskrit abgeleiteten Devanagari-Schrift und die
Urdu-Variante in der persischen Schrift geschrieben. Wenn man Devanagari
mit „Hindu“ und die persische Schrift mit „Moslem“ konnotiert, hat man
den Keim eines religiösen Konflikts, der eine plurikulturelle Konstellation
zerstört. Dies begann im 19. Jahrhundert im britischen Indien, wobei der
Konflikt zwischen Urdu und Hindi durch die Aspirationen einer neuen
aufstrebenden Hindu-Mittelschicht (middle class), die Arbeit, Anerkennung
und Macht suchte, mitbedingt wurde.5 Strukturell ist dies durchaus vergleichbar mit der Zerstörung der serbo-kroatischen Sprachgemeinschaft in unseren Tagen.6 Dort wo emotive, symbolische Funktionen der Sprache traditionelle, gesellschaftliche und kommunikative Funktionen verdrängen, gewinnen Homogenisierungsmomente den Vorrang und plurikulturelle Verhältnisse brechen zusammen.
Diese Ideologie der Homogenität7 gewinnt ihre Kraft dadurch, dass eine
an sich kontingente Struktur ihre eigene Legitimität dadurch behauptet, dass
56
sie sich mit dem Schein des Natürlichen versieht. Der monochrone, semantisch eindeutige Nationalstaat wird zum Ideal. „Vielfachkodierung“8 gilt als
unnatürlich.
Das Modell, das sich hier durchsetzt, will von der Komplexität zu Einfachheit gelangen oder, anders ausgedrückt, einem vermeintlichen Chaos zur
Ordnung verhelfen. Dieses Motiv bildet sich in der europäischen Kulturtheorie früh aus. Bereits Herder hebt die Diversität europäischer Herkunft
hervor, um sie effektiver zu homogenisieren. Bekanntlich setzte Herder eine
Völkermischung gewissermaßen als Vorbedingung für die Nationalisierung
in Europa voraus. Um 1784 schreibt er:
In keinem Welttheil haben sich die Völker so vermischt, wie in Europa: in keinem
haben sie so stark und oft ihre Wohnplätze, und mit denselben ihre Lebensart und
Sitten verändert. [...] Durch hundert Ursachen hat sich im Verfolg der Jahrhunderte
die alte Stammesbildung mehrerer Europäischer Nationen gemildert und verändert; ohne welche Verschmelzung der Allgemeingeist Europas schwerlich hätte erweckt werden mögen.9
Assimilation ist für Herder die notwendige natürliche Vorgeschichte eines
historischen Prozesses, der zur Komplexität führt und organisatorische Lösungen verlangt. Nur jene Organisationsform, welche die Natürlichste ist,
kann dem Naturplan entsprechen. Da die Natur Familien erziehe, wäre der
natürlichste Staat „also auch Ein Volk mit einem Nationalcharakter“. Aus
dieser Perspektive lehnt Herder die „unnatürliche Vergrößerung der Staaten, die wilde Vermischung der Menschen-Gattungen und Nationen unter
Einen (sic!) Szepter“ ab, eben weil sie als bewusster Akt gegen das Natürliche
gerichtet ist.10 Herders Opposition zum Kolonialismus lässt sich mitunter
auch darauf zurückführen.
Die Zähmung des Chaos und die Herstellung einer taxonomischen Ordnung ist ein integraler Bestandteil der Epistemologie des Kolonialismus. Die
Diversität und Komplexität Indiens zum Beispiel wurde im Rahmen der Wissensaneignung durch den britischen Kolonialismus als Chaos empfunden,
das durch eine beispiellose Entfaltung klassifikatorischer und taxonomischer
Energie beherrscht werden sollte. Im Rahmen der Entwicklung einer kolonialen Kompetenz war die systematische Kodifizierung der modernen Volkssprachen und Mundarten Indiens ein wichtiges Anliegen des britischen Kolonialismus.11 Die Erkenntnis, dass Sprachkenntnisse und Übersetzungsprogramme
für die Ausübung von Herrschaft wichtig sind, führte dazu, dass eine bestimmte Sprachideologie sich durchsetzte. Sprachen mussten gesondert, ka-
57
talogisiert, klassifiziert und als autonome Gebilde betrachtet werden. Die in
der sozialen Praxis vorhandene multilinguale Situation mit Überlappungen
wurde linguistisch eingeebnet.
Das war im britischen Indien. Und es entbehrt nicht einer gewissen historischen Ironie, dass die Komplexität Indiens heute durch den Drang nach
Homogenisierung von fundamentalistischen Hindus gefährdet ist. Die pluralistische soziale Praxis des Hinduismus (man sollte eigentlich von verschiedenen Formen des praktizierten Hinduismus im Plural sprechen) soll zu einem monolithischen Block geformt werden, der dann andere Religionen Indiens (Islam, Christentum zum Beispiel) marginalisiert. Durch die Gefährdung und Relativierung des säkularen Diskurses wird die mehrsprachige,
multikulturelle Landschaft Indiens parzelliert. Diese angeblich autochthone
Bewegung erfüllt damit paradoxerweise eine Forderung europäischer Kolonialideologie, die im amorphen Hinduismus (kein Messias, kein Urtext, keine Kirche!) keine Merkmale fanden, die den Buchreligionen (Christentum,
Islam) entsprechen würden. Die nach Authentizität drängenden Hindufundamentalisten werten sich sozusagen im Kanon der europäischen Religionswissenschaft auf.
Homogenisierung ist eine bewusste Intervention in einen fluiden Praxiszusammenhang, der durch Kodifizierung eingefroren wird. Kodifizierte Praxis
solcher Art gewinnt eine eigene materielle Gewalt, die sich dann als Realität
ausgibt. In diesem Sinne werden soziale Kategorien „erfunden“. Fortan haben die Träger dieser erfundenen Kategorien ein materielles Interesse an
deren Beibehaltung, womit sich der Kreis schließt. Das heterogene „Chaos“
wird domestiziert und das Resultat wird zum „natürlichen“ Akteur im gesamtgesellschaftlichen Prozess. Man vergisst, dass diese sozialen Akteure
Konstruktionen sind. Plurikulturelle Aktionsräume und Kommunikationszusammenhänge werden also erst im Homogenisierungsprozess normativ
aufgeladen. Erst dann bekommen Sprache, Herkunft, Territorium eine Bedeutung in der Öffentlichkeit und erst dann können sie zu Akteuren im
politischen Prozess werden. Während es für die plurikulturelle Situation
typisch ist, dass wir Handlungszusammenhänge konstatieren und sie nicht
kulturell deuten (Ich frage nicht nach der religiösen oder kulturellen Zugehörigkeit meines „Interlocutors“), ist es nun in der Situation der Homogenisierung typisch, dass wir Verstehenszusammenhänge suchen oder blockieren
(Ich kaufe bewusst nicht bei einem Juden oder Moslem ein).
58
II
In mancherlei Hinsicht stellt postkoloniale Theorie ein Gegenmodell zur
Homogenisierung dar, indem sie das so genannte Chaos als nicht begriffene
Komplexität und Mehrdimensionalität auffasst und diese nun reflexiv begriffene Komplexität beziehungsweise Mehrdimensionalität gegenüber der
Monotonie der linearen Welt der Eindimensionalität positiv aufwertet. Es
scheint mir allerdings nach wie vor nützlich zu sein, wenn wir postkoloniales
Gedankengut eher als eine Haltung betrachten, anstatt darin eine systematisch ausgebaute und ausbaufähige Theorie zu erblicken. Sein Arbeitsmaterial, sein Archiv ist der Kolonialismus (in seiner Textualität) und die koloniale
und postkoloniale Weltordnung. Seine Äußerungen sind häufig explizit erfahrungsbezogen und existentiell geprägt. Es geht ihm um Momente des historischen und kognitiven Bruchs (ruptures). Dies erklärt sein ethisch getragenes Pathos.12 Seine wesentliche Leistung besteht darin, dass es eine Umwertung kolonialer Werte in mindestens zwei Richtungen erreicht hat. Die Privilegierung von rassenmäßiger Reinheit, Sprachpurismus, Bodenständigkeit
und Authentizität wurde aufgehoben und durch Termini und Begriffe wie
Hybridität, Migrantentum, Zwischenräume, Transitbereiche ersetzt, die ihrerseits Prozesse signalisieren, die als integraler Bestand des Kolonialismus
und der kapitalistischen Moderne gesehen werden können.13
Aber man muss auch sehen, dass postkoloniales Denken die Exilerfahrung, etwa im europäischen Faschismus, aufgenommen hat, ohne ihre diversen politischen Programme unbedingt mit zu reflektieren. Es ist wichtig
darauf hinzuweisen, dass Begriffe wie Hybridität an politischer Schärfe verlieren, wenn sie lediglich als eine neutrale Zustandsbeschreibung aufgefasst
werden. Wenn alles in der postmodernen und postkolonialen Welt hybrid
ist, bleibt es nur bei der Kritik an älteren rassistischen Ideologien. Ebenfalls
ist die Kritik am triumphalen linearen Prozess der Weltbeherrschung in der
Aufklärungsnarrativik berechtigt, aber ohne an die Dialektik der Aufklärung zu denken, bleibt der postkoloniale Denker bei der Klage über den
Authentizitätsverlust durch den Kolonialismus als vermeintlich singulären
Bruch allein, ohne zu bedenken, dass der antifeudale Kampf mit Mitteln der
Aufklärung durchgeführt wurde und wird.14
59
III
Postkoloniale Reflexionen und Haltungen operieren heute in einem Feld,
wo wir heuristisch von zwei Modellen ausgehen können.
Das erste Modell (beziehungsweise die erste Argumentationslinie) begreift
Kolonialisierung als Deformation, als Störung eines eigenen authentischen
historischen Wegs. Dekolonisation wird als Befreiung vom Außenzwang und
von fremder „Superimposition“ begriffen. Literaturproduktion und Identitätskonstruktion zielen auf Rückgewinnung der reinen, authentischen, ursprünglichen Wurzeln („roots“) der „eigenen“ Tradition. Es geht um unterdrückte, verlorene und wiederzugewinnende Identität. Nationale Identitätsgewinnung wird ausgehandelt zwischen dem postkolonialen, indischen
„Selbst“ und dem internationalen „Anderen“. Dieses „Andere“ ist zwar auch
eine komplexe Konstruktion, die historische Erinnerung und gegenwärtige
Konfrontation auf eine komplexe Weise vernetzt, aber das theoretische Grundmuster dieses Paradigmas geht letztendlich auf ein „romantisches“ Verständnis von Sprache, Nationalität und Staat zurück.
Tendenziell führt dies zu einem „geschlossenen“ Kulturverständnis. Die
Übersetzbarkeit von Kulturen ist Verhandlungssache. Die dichotomisierende
Hermeneutik von „Eigen“ und „Fremd“ hat hier ihren Platz.
Das zweite Modell (beziehungsweise die zweite Argumentationslinie) begreift Kolonialisierung als Teil der widerspruchsvollen Gesamtentwicklung
eines Weltsystems in einem Prozess der zunehmenden Vernetzung. Als Konsequenz werden Fragen der Literaturproduktion und Identitätskonstruktion
als wechselseitige Entwicklungs- und Konstruktionsmomente im internationalen Zusammenhang begriffen. Komplexe Kulturformationen wie Europa
oder Indien sind Resultate dieser Gesamtentwicklung und sind nicht vorgegebene Wesenseinheiten. Europäische und indische Identitätskonstruktionen bedingen sich wechselseitig, und die ökonomische, politische und kulturelle Neuordnung des kolonialen und postkolonialen Zeitalters wird als Prozess begriffen. Tendenziell führt dies zu einem „offenen“ Kulturverständnis.
Grenzen sind porös. Übersetzbarkeit wird bei aller notwendigen Problematisierung stets prinzipiell vorausgesetzt. Man sieht eher die Verflechtungen im Geschichtsprozess, die Solidaritätslinien gleich Betroffener und die
Überlappungen als Trennlinien und Grenzmarkierungen. Hier ist man konsequenterweise hermeneutisch „abstinent“.
Im ersten Modell gestaltet sich das Denken in dichotomisierenden Kategorien wie das Eigene und das Fremde, zwischen denen im Akt des herme-
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neutischen Verstehens Beziehungen geschaffen werden, und dies ist historisch sicherlich die dominante Tradition gewesen. Dies wurde durch die nationalstaatliche Konfiguration des kolonialen und postkolonialen Zeitalters
begünstigt, so dass Toleranz sich über monolinguale und monokulturelle
Trennlinien artikuliert hat.
Dies ist ein gewiss wichtiges Unternehmen und vielleicht haben genuin
monolinguale und monokulturelle Nationen, falls es sie gibt, gar keine andere Wahl. Betrachtet man die Welt jedoch eher als Ensemble von multilingualen und multikulturellen Formation (im Entstehen, im Vergehen […]), die
noch dazu stark vernetzt sind, ist die Metaphorik des Rhizoms15 glücklicher
als die der Wurzel. Nicht eine Verstehenshermeneutik, sondern eher eine
operative Kunst des Aneignens ist gefragt. Wer diese Position vertritt, gibt
zu, dass es wichtiger ist mit einander auszukommen als einander zu verstehen. Ich möchte dies auch als Primat des Agoraprinzips bezeichnen. Die Verteidigung der bürgerlichen Rechte und der Zugang zur Öffentlichkeit bewegen
uns. Metaphorisch gesprochen zählt auch auf dem „Jahrmarkt der Kulturen“
die kommunikative Performanz.16
IV
Die plurikulturelle Geschichte des indischen Subkontinents kann man in der
Spannung zwischen den oben skizzierten zwei Polen situieren und sie in
klärender Absicht mit anderen plurikulturellen Formationen wie der Habsburger Monarchie modellhaft in Beziehung setzen.
Gegen Ende ihrer Herrschaft in Indien, und viel zu spät, haben die Briten genau das versucht. Es gehört zu den bitteren Ironien der Weltgeschichte, dass das britische Empire, das sich Mühe gab, auf der Weltbühne als ein
multiethnisches, multikulturelles Gebilde zu reüssieren, dem religiösen Homogenisierungsdrang nachgeben musste und den indischen Subkontinent
als geteiltes Gebilde in einen religiös geprägten Genozid entließ. Das Empire
erlag seiner Unfähigkeit, die faktisch vorhandene Plurikulturalität anders
als „Inkohärenz“ aufzufassen, das heißt negativ zu konnotieren.
Die Machtübergabe nach dem zweiten Weltkrieg wurde durch die Forderung nach einem unabhängigen muslimischen Staat – Pakistan – entscheidend geprägt. Zwischen der Forderung nach Pakistan und vor allem Nehrus
Konzept eines säkularen Indien gab es eine Kluft, die allerdings nicht unüberbrückbar war. Nehru kritisiert den Missbrauch des Ausdrucks Kultur
61
und die angebliche Unvereinbarkeit von Muslim „culture“ und Hindu
„culture“: „The inevitable deduction from this is (although it is not put
baldly) that the British must remain in India for ever and ever to hold the
scales and mediate between the two ,cultures‘.“ Der inflatorische Gebrauch
des Kulturarguments kommt ihm bereits 1936 überholt vor, denn: „The day
of even national cultures is rapidly passing and the world is becoming one
cultural unit.“17
Zu später Stunde und als es zunehmend klar wurde, dass Großbritannien
Indien nicht mehr halten konnte und wollte, gab es zaghafte Versuche im
Kreise der britischen policy makers, Alternativüberlegungen anzustellen, um
die Einheit Indiens zu bewahren und eine Art gesamtindische Föderation
anzustreben. Als „Precedent“ wurde die Doppelmonarchie mit dem Ausgleich von 1867 vorgeschlagen. Bereits dem britischen Kriegskabinett (Feb.
1945) lag eine Note vor, die bemerkte:
The Habsburg dominions fell into the Austrian and Hungarian halves, which were
united only in the person of the sovereign and their common institutions which
included, the Ministries of Foreign Affairs, War and Finance (the two last-named
only for affairs of common interest) and the Austrian and Hungarian Delegations
composed of representatives of both halves of the Empire, which were to debate on
common Affairs in Vienna and Budapest alternately.
Lakonisch stellt die Note allerdings auch fest: „The financial difficulties of
the dual monarchy were notorious.“18
Im April 1946 schrieb der Abgeordnete Amery auch in diesem Sinne an
Lord Pethick Lawrence, der die Aufgabe der Abwicklung der Machtübergabe hatte, und hob hervor: „This Ausgleich, or joint arrangement, had to
come up for consideration every ten years,“ um dann bezüglich der drohenden Teilung Indiens zu fragen: „Might it not be possible to get agreement at
this moment on the basis of such a dual arrangement?“19
Und noch im Mai 1947 (drei Monate vor der Unabhängigkeit) heißt es in
einem Protokoll der Diskussion zwischen dem letzten Viceroy Lord Mountbatten und indischen Politikern über die heikle Frage der Teilung der indischen Armee: „His excellency the Viceroy said there could be a joint Defence
Headquarters. He quoted the example of the Austro-Hungarian Empire before 1914–1918 War.“ Lakonisch steht dann im Protokoll: „With this Nehru
agreed.“20 Wahrscheinlich war er der Einzige, denn aus diesem Plan wurde
nichts.
62
V
Um zu einer Einschätzung der historischen Leistung des säkularen indischen Staats im Zusammenhang der Aufrechterhaltung plurikultureller Verhältnisse zu gelangen, muss man wissen, dass es eine exkludierende Auffassung von der staatspolitischen Zukunft Indiens sowohl aus hinduistischer als
auch aus muslimischer Sicht im Empire gab.
Aus der Sicht des bedeutenden indischen Dichters und islamischen Philosophen Sir Muhammad Iqbal bildeten die Moslems Indiens eine homogene
Einheit. In seiner Präsidentenrede bei der 25ten Versammlung der All India
Muslim League im Jahr 1930 heißt es:
We are seventy millions and far more homogeneous than any other people in India.
Indeed, the Muslims of India are the only Indian people who can truly be described
as a nation in the modern sense of the word. The Hindus, though ahead of us in
almost all respects, have not yet been able to achieve the kind of homogeneity which
is necessary for a nation, and which Islam has given you as a free gift.21
Für Iqbal bildet die religiös homogene Nation eine reflexiv höhere Stufe, die
in der Vielfalt Indiens, in seiner „infinite variety in climates, races, languages, creeds and social systems“ eine territoriale Verankerung verlangt.
Iqbal war kein Rassist. Seine Gedanken sind konsequente Fortführungen
seines Versuchs einer Erneuerung des Islam im zwanzigsten Jahrhundert,
und es ist denkbar, dass dieser einst glühende pan-indische Patriot von dem
sich entwickelnden Hinduchauvinismus abgestoßen wurde. Aber der ideologische Führer der rechtsgerichteten Hindupartei, der „Hindu Mahasabha“,
Golwalkar rekurrierte 1939 explizit auf rassistische Theorien aus Deutschland, um den Vorrang eines exklusiv hinduistischen Indien zu behaupten.
Deutschland habe erfolgreich gezeigt, behauptete er, dass eine Assimilation
von grundverschiedenen Rassen und Kulturen nicht möglich sei.22 Aus Golwalkars Sicht waren „nicht-Hindus“ schlicht Ausländer. Über die Bedingungen unter denen sie in Indien leben könnten, schreibt er:
The foreign races in Hindusthan must either adopt the Hindu culture and language,
must learn to respect and hold in reverence Hindu religion, must entertain no idea
but those of the glorification of the Hindu race and culture, i.e. of the Hindu nation
and must lose their separate existence to merge in the Hindu race, or may stay in the
country, wholly subordinated to the Hindu Nation, claiming nothing, deserving no
privileges, far less any preferential treatment – not even citizen’s rights.23
63
Der Homogenisierungsgedanke, wir sagten es schon, basiert auf den Anspruch
„natürlich“ zu sein. Die natürliche Ordnung für Mensch und Welt soll die
religiös eindeutig kompakte Ordnung sein. Der säkulare Staat verzichtet dagegen auf den Schutz durch die Natürlichkeit und ist bewusst als utopisches
Konstrukt angelegt. Der Säkularismus verzichtet ebenfalls auf das stammesmäßige „tribale“ Prinzip der religiös/rassistisch/sprachlich motivierten Zusammenrottung. Das erklärt auch seine Verwundbarkeit und seine Fragilität.
Er ist in hohem Maße von der intakten Funktion demokratischer Institutionen abhängig.
In Opposition zum Homogenisierungsversuch, sei er hinduistischer, sei
er muslimischer Prägung, stand das postkoloniale säkular-demokratische Projekt des plurikulturellen indischen Staats beziehungsweise seine Idee.24 Indien
als säkulares Projekt war eher eine Utopie und es kann in dem Sinne nicht als
Willens- oder Solidargemeinschaft im Sinne von Renans Nationsbegriff betrachtet werden. Wenn die rechtsgerichteten Hindutva-Kräfte jetzt ein homogenes Hindu-Indien herstellen möchten, so knüpfen sie wieder an ihre eigenen ideologischen Ursprünge an und liefern das hinduistische Pendant zum
exkludierenden Moslemstaat nach.
Als Gegenkonzept zu allen Homogenisierungsideen zu Indien in der Kulturtheorie fungiert der Palimpsest-Gedanke, der sowohl den Authentizitätsdiskurs als auch die Homogenisierungsthese negiert. In The Discovery of India
hat wiederum Jawaharlal Nehru versucht, die sprachliche und kulturelle
Komplexität Indiens, seine Diversität und die Einheit in der Diversität mit
dem Bild des Palimpsests zu erfassen – allerdings ein Palimpsest, dessen
Gültigkeit in seiner Ganzheit liegt und nicht in irgendeiner Schicht, zu der
man durch einen Akt der Reinigung oder Wegradierung stößt. Indien war
für Nehru wie irgendein
ancient palimpsest on which layer upon layer of thought and reverie had been inscribed,
and yet no succeeding layer had completely hidden or erased what had been written
previously. All of these exist together in our conscious or subconscious selves, though
we may not be aware of them, and they had gone to build up the complex and
mysterious personality of India.25
Das Bild des Palimpsests gibt den Gedanken von der „Gleichzeitigkeit des
Ungleichzeitigen“ (Ernst Bloch) sehr plastisch wieder. Bei der Schichtung
kommt es nämlich auf das Multiple an. Dieses bedeutet Fülle und Reichtum
im historischen Prozess. Dies kehrt sich ins Gegenteilige, wenn die Schichtung als zunehmender Verlust an Authentizität aufgefasst wird. Anstatt die
64
komplexe Totalität zu sehen, bedeutet die Suche nach Wurzeln, dass die
Durchdringung der vertikalen Richtung der Schichtung mit Fragen nach
dem Wahren oder Authentischen oder nach der Suche nach den Quellen
oder nach dem Urtext, der allein Wirklichkeit wäre, gleichgesetzt wird.26 Im
Gegenteil, das sogenannte wirkliche Indien, wenn man es wirklich will, läge
nicht in der Urschicht, sondern bestünde in der Ganzheit und Gleichzeitigkeit des mehrschichtigen Prozesses. Homogenisierungsversuche sind also
Formen der kulturellen Besitzergreifung, die solche Gesamtheiten negieren,
um einer bestimmten Schicht Authentizität zuzusprechen. Aber streng genommen wäre die Urschicht eines solchen Palimpsests ein leeres Blatt. Metaphorisch gesprochen weist der Drang nach Authentizität in einer plurikulturellen Gesellschaft ins Leere.
VI
Der Versuch, „organische“ Gemeinschaften zu konstruieren, führt also tendenziell zum Zusammenbruch von plurikulturellen Staaten und Formationen. Das Ziel des säkularen Projekts in Indien war dagegen eine indische
Gesellschaft als Gegenentwurf zum Projekt einer majoritären Hindu-Gemeinschaft. Dieser Zusammenbruch wird auch durch die Besetzung von Gedächtnisorten begünstigt. Dies geschieht sowohl buchstäblich als auch metaphorisch.
Die Erfindung eines Gedächtnisorts ist ein notwendiger Teil des Homogenisierungsprozesses. Identifikationsfelder werden aus Mythos, Geschichte
und politischer Bewegung konstruiert. In der nordindischen Stadt Ayodhya,
legendärer Geburtsort des Hindu-Gottes Rama, gibt es eine dem Moghul Kaiser Babur (15. Jahrhundert) zugeschriebene Moschee. Erbaut im 15. Jahrhundert soll sie auf zerstörten hinduistischen Tempelresten stehen. Beweise
fehlen, aber darum geht es nicht. Hinduistische Fundamentalisten haben
1991 die Moschee im Namen ihres religiösen Machtanspruchs zerstört.27 Vom
Palimpsest-Gedanken aus gesehen, wäre die Vermutung, dass eine Moschee
auf Resten eines Tempels gebaut wurde, weder eine Überraschung noch unbedingt ein Sakrileg, sondern lediglich etwas, was dem blutigen machtorientierten Gang der Geschichte zugeschrieben werden kann, die man jetzt als
plurikulturelles Resultat aufzufassen gewillt ist. Es käme dann darauf an, den
Gedächtnisort Ayodhya im Sinne des Säkularismus sowohl für Hindus als
auch für Moslems operationell zu machen. Das heißt, beide Religionsge-
65
meinschaften sollen dort ihre Einrichtungen haben und beten können. Aber
genau das widerspricht dem Fundamentalismus jeden Couleurs. Der Fundamentalismus nimmt den Palimpsest-Gedanken zurück, verwirft ihn, um die
Monochronie des reinen Ursprungs zu finden und dabei zu erfinden.
Man könnte schließlich Homogenisierung als eine Form der kulturellen
Besitzergreifung auffassen, die ein spezifisches Verhältnis zwischen Kultur
und Identifikation postuliert. In plurikulturellen Gesellschaften dagegen hat
man zwar Kulturen, man besitzt sie aber nicht. Ich variiere damit eine Formulierung, die Derrida im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zur
Mehrsprachigkeit angestellt hat.28 Derridas Paradoxien über den Monolingualismus („Ja, ich habe nur eine Sprache, aber sie ist nicht meine.“ „Wir
sprechen immer nur eine Sprache. Wir sprechen nie nur eine Sprache.“)
sind auch kulturtheoretisch einleuchtend. Wenn ich eine Haltung einnehme,
die bereit ist zu behaupten, dass meine Kultur mir nicht gehört, dann signalisiere ich ein Interesse für grenzüberwindende Phänomene und den arbiträren Charakter der Grenzziehung. Ich kann dann einsehen, dass gesellschaftliche Transformationen mit Macht und Herrschaft verbunden sind,
dass aber diese nicht unbedingt sprachlich, religiös und rassenmäßig verdinglicht werden müssen.
Anmerkungen
1 Heimito von DODERER, Die Wasserfälle zu Slunj. Roman, München 1971, S. 324.
2 Ebenda, S. 140.
3 Zu Wien: Vgl. Moritz CSÁKY, Ambivalenz des kulturellen Erbes: Zentraleuropa. Moderne und/oder postmoderne Befindlichkeit, in: Moritz CSÁKY, Klaus
ZEYRINGER (Hg.), Ambivalenz des kulturellen Erbes. Vielfachkodierung
des historischen Gedächtnisses. Paradigma: Österreich, Innsbruck u. a. 2000,
S. 31–34.
4 Zum Problem und für Zentraleuropa als „Vorgeschichte“ späterer Nationalstaaten vgl. Johannes FEICHTINGER, Peter STACHEL (Hg.), Das Gewebe der
Kultur. Kulturwissenschaftliche Analysen zur Geschichte und Identität Österreichs in der Moderne, Innsbruck u. a. 2001, S. 8.
5 Vgl. Alok RAI, Hindi Nationalism, Delhi 2001.
6 Vgl. Holm SUNDHAUSSEN, Neue Untersuchungen zum destruktiven Potential von Sprache und zur Überlebensfähigkeit multilingualer Staaten, in: Berliner Osteuropa-Info, 17 (2001), S. 7–9.
7 Der Drang nach Homogenität kann als ein spezifisches Merkmal der europäischen Moderne in ihrer Ausprägung mit dem und durch den Kolonialismus
gesehen werden. Die westeuropäische nationalstaatliche Konsolidierung ging
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Hand in Hand mit der Disziplinierung von komplexen plurikulturellen Überseereichen in einem widerspruchsvollen Prozess. Aus Raumgründen kann ich
auf dieses Thema nicht eingehen Vgl. dazu: Prasanjit DUARA, Rescuing History
from the Nation. Questioning Narratives of Modern China, Chicago and London 1995, S. 20. Und: David ARMITAGE, The British Conception of Empire in
the Eighteenth Century, in: Franz BOSBACH, Hermann HIERY in Zusammenarbeit mit Christoph KAMPMANN (Hg.), Imperium–Empire–Reich. Ein Konzept politischer Herrschaft im deutsch-britischen Vergleich. An Anglo-German
Comparision of a Concept of Rule, München 1999, S. 91–108.
Zum Begriff vgl. Moritz CSÁKY, Klaus ZEYRINGER (Hg.), Ambivalenz des
kulturellen Erbes. Vielfachkodierung des historischen Gedächtnisses. Paradigma: Österreich, Innsbruck u. a. 2000.
Johann Gottfried HERDER, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Frankfurt a. M. 1989, S. 287.
Ebenda, S. 369. Vgl. dazu auch: Anil BHATTI, Aspekte der Grenzziehung; postkolonial, in: Horst TURK u. a. (Hg.), Kulturelle Grenzziehungen im Spiegel der
Literaturen. Nationalismus, Regionalismus, Fundamentalismus, Göttingen 1998.
Grundlegend dazu: Bernhard COHN, The Command of Language and the
Language of Command, in: Ranajit GUHA (Hg.), Subaltern Studies IV, Delhi
1985, S. 276–329; vgl. auch: Anil BHATTI, Zum Verhältnis von Sprache, Übersetzung und Kolonialismus am Beispiels Indiens, in: Horst TURK, Anil BHATTI
(Hg.), Kulturelle Identität. Deutsch-indische Kulturkontakte in Literatur, Religion und Politik, Berlin 1997, S. 3–19; vgl. auch: Anil BHATTI, „Polyglotte
Bereitwilligkeit“. Eine Miszelle über Mehrsprachigkeit und Multikulturalität, in: Herbert ARLT u. a. (Hg.), TRANS. Dokumentation eines kulturwissenschaftlichen Polylogversuchs im WWW (1997–2000), St. Ingbert 2002, S. 77–85.
Vgl. dazu: Leela GANDHI, Postcolonial Theory. A critical Introduction, New
Delhi 1998, S. 176.
Aus der schier uferlosen Literatur zum Thema sei erwähnt: Bill ASHCROFT,
Gareth GRIFFITHS, Helen TIFFIN, Key Concepts in Post-Colonial Studies,
London and New York 1998.
Für eine detaillierte Artikulation dieser Kritik: Vgl. Kumkum SANGARI, Politics
of the Possible. Essays on Gender, History, Narrative, Colonial English, New
Delhi 1999, S. xxxv–xxxix. Über diese Aporie schreibt besonders eingehend:
Dipesh CHAKRABARTY Provincializing Europe. Postcolonial Thought and
Historical Difference, New Delhi 2001.
Vgl. Gilles DELEUZE, Felix GUATTARI, A thousand Plateus. Capitalism and
Schizophrenia (übersetzt von Brian MASUMI), London 1988, S. 15 (franz. Original: 1980). Das französische Original stand mir nicht zur Verfügung.
Es ist immerhin bemerkenswert, dass der historisch funktionierende Säkularismus in Indien erstaunlich arm an hermeneutischer Tätigkeit war. Es gibt
wenige Beiträge aus hinduistischer oder muslimischer Hand über die Religion des jeweils anderen. Beide greifen zur europäischen Wissenschaft, wenn es
um Religionsinterpretation geht. Insofern war der funktionierende plurikulturelle Code in Indien a-hermeneutisch angelegt.
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17 Jawaharlal NEHRU, An Autobiography, New Delhi 1989, S. 469 (Original:
London 1936). Nicht nur im Bereich des Kulturdenkens sondern in dem sensiblen Bereich der Sprache bleibt Nehru gegen Homogenisierung eingestellt:
„Purists object to the use of foreign words, but I think they make a great
mistake, for the way to enrich our language is to make it flexible and capable
of assimilating words and ideas from other languages.“ Vgl. ebenda, S. 456.
Der Freiheitskämpfer Jawaharlal Nehru wurde später der erste Premierminister des unabhängigen Indien.
18 Nicholas MANSERGH (Hg.), The Transfer of Power. The Transfer of Power
1942–1947. London 1970–1983, hier: Volume 5 (1974), S. 535. Ich danke Margit
Köves für diesen Hinweis. Vgl. auch: Mushirul HASAN (Hg.), India’s Partition.
Process, Strategy and Mobilization, Delhi 1993.
19 Ebenda, Volume 7 (1977), S. 300 f.
20 Ebenda, Volume 10 (1981), S. 736.
21 Iqbals Rede wird zitiert nach: Allama Muhammad Iqbal’s 1930, Presidential
Address, 25th Session of All India Muslim League, December 29–30, 1930 at
Allahabad (U.P.) (http://salam.muslimsonline.com/~azahoor/iqbal1930.htm).
Zu Iqbal vgl. Iqbal SINGH, The Ardent Pilgrim. An Introduction to the Life
and Work of Mohammed Iqbal, Delhi 1997, S. 85–96.
22 Madhav Sadasiv GOLWALKAR, We or our Nationhood defined, Nagpur 1939,
hier zitiert nach: Christophe JAFFRELOT, The Hindu Nationalist Movement
and Indian Politics. 1925 to the 1990s, New Delhi 1999, S. 55 (franz. Original:
1993).
23 Ebenda, S. 56.
24 Vgl. Octavio PAZ, Im Lichte Indiens. Ein Essay, Frankfurt a. M. 1999, S. 83–148
(span. Original: 1995). Sunil KHILNANI, The Idea of India, London 1997.
25 Jawaharlal NEHRU, The Discovery of India, New Delhi 1997, S. 26 (Original:
Calcutta 1946). Wir kennen das Palimpsest-Bild sonst als Sinnbild für die Gehirnfunktion aus Schriften von Thomas de Quincy: „What else than a natural
and mighty palimpsest is the human brain? (…) Everlasting layers of ideas,
images feelings, have fallen upon your brain softly as light. Each succession
has seemed to bury all that went before. And yet, in reality, not one has been
extinguished“. Vgl. Aleida ASSMANN, Zur Metaphorik der Erinnerung, in:
Kai-Uwe HEMKEN (Hg.), Gedächtnisbilder. Vergessen und Erinnern in der
Gegenwartskunst, Leipzig 1996, S. 16–46; hier S. 25. Das, was bei De Quincy als
Metapher für das Individualgedächtnis und die Beschaffenheit des Gehirns
fungiert, wird bei Nehru zu einer Metapher für das kulturelle Bewusstsein.
Keine Schicht wird gelöscht.
26 Vgl. BHATTI, Grenzziehungen, S. 346–348.
27 Sarvepalli GOPAL (Hg.), Anatomy of a Confrontation. The Babri Masjid-Ramjanambhumi Issue, New Delhi 1991.
28 Jacques DERRIDA, Monolingualism of the Other; or The Prosthesis of Origin
(translated by Patrick Mensah), Stanford 1998, S. 9 (franz. Original: 1996).
68
Der Mythos des Unterschieds:
Vom Multikulturalismus zur Hybridität
Peter Niedermüller
Die Ethnologie, die Kultur- und Sozialanthropologie sind jene Wissenschaften – wenigstens in ihrer klassischen Auffassung –, die sich mit der Untersuchung unterschiedlicher Kulturen beschäftigen. Sie haben sich zum Ziel gesetzt, möglichst viele, verschiedene Kulturen und Gesellschaftsentwicklungen zu beschreiben und miteinander zu vergleichen. Dieses Ziel und die
damit verbundene Forschungspraxis hat die Ethnologie und die Kulturanthropologie – fast notwendigerweise – zu dem Begriff beziehungsweise zu
dem Konzept der kulturellen Differenz geführt, das – eigentlich bis heute –
eine zentrale, sogar konstitutive Rolle in der modernen Kulturanthropologie
und Ethnologie spielt.1 Die Frage jedoch, wie die moderne Kulturanthropologie über kulturelle Differenzen denkt, wie sie kulturelle Differenzen konzeptualisiert, ist eine schwierige Frage. Einerseits kann man nicht einfach
sagen, dass innerhalb dieser Wissenschaftslandschaft eine allgemein akzeptierte Theorie der kulturellen Unterschiede existiert. Die verschiedenen Forschungsrichtungen folgen durchaus unterschiedlichen Erklärungs- und Deutungsmodellen, um kulturelle Differenzen in verschiedenen Zeiträumen und
sozialen Kontexten auszulegen. Andererseits gibt es aber auch klare Gemeinsamkeiten zwischen den abweichenden theoretischen Überlegungen. Grundsätzlich gehen ethnologische, kulturanthropologische Theorien davon aus,
dass kulturelle Differenzen immer durch Vergleich, durch den vergleichenden Blick entstehen, wahrgenommen und konzipiert werden. Mit Vergleich
sind zum einen jene Beobachtungen und Wahrnehmungen gemeint, die die
Menschen in ihrem Alltag in Bezug auf unterschiedliche Hautfarbe, Sprache, alltägliche Verhaltensformen, Religion und so weiter machen. Diese Unterschiede werden immer im Vergleich zu den eigenen kulturellen Merkmalen wahrgenommen und festgestellt. Welche Art von Differenzen Menschen
im Alltag merken und registrieren, hängt vor allem davon ab, welche Kriteri-
69
en einzelne Gesellschaftsordnungen für kulturelle Differenzen ausgearbeitet
und festgelegt haben. Die Merkmale und Kriterien, anhand derer kulturelle
Differenzen wahrgenommen werden, können sich zwar in den einzelnen Gesellschaftsordnungen voneinander unterscheiden, sie sind jedoch immer politisch und kognitiv festgelegt.2 Unterschiede werden aber nicht nur im Alltag durch alltägliche Interaktionen produziert. Die Geschichts-, Sozial- und
Kulturwissenschaften, die Ethnologie, Kultur- und Sozialanthropologie spielen hier eine besondere Rolle. Diese haben durch ihre vergleichenden Untersuchungen wesentlich zur Herausbildung und Etablierung des modernen
Konzepts von kultureller Differenz beigetragen.3 Wenn man jetzt die Ethnologie und Kulturanthropologie fokussiert, dann kann man innerhalb dieser
Theorielandschaft ganz grob zwei Denkrichtungen festhalten. Die eine Richtung geht davon aus, dass kulturelle Differenz zwischen zwei voneinander
getrennt existierenden, autonomen und homogenen Einheiten – Gruppen,
Gesellschaften, Völkern, Kulturen – existiert beziehungsweise konzipiert werden kann, die entweder als Ganze verschiedenartig dargestellt werden oder
in bestimmten, zentralen Bereichen des kulturellen oder sozialen Lebens
voneinander abweichende Merkmale und Eigenschaften aufweisen. Es handelt sich dabei um jene klassische theoretische Tradition der Sozial- und
Kulturanthropologie, die die verschiedenen Kulturen als lokale Ausformungen kultureller Differenz deutet, oder anders gesagt, kulturelle Differenzen
verräumlicht. Kultur wird in dieser Denktradition als innerlich gleichartige,
nach außen aber – auch im räumlichen Sinne – getrennte und begrenzte Entität verstanden.4 Diese Auffassung kann dann schnell dazu führen, essenzialistisch zu argumentieren und kulturelle Unterschiede als gegebene und
unveränderliche historische Konstanz zu sehen und zu repräsentieren.5 Es
gibt aber auch eine andere – konstruktivistisch genannte – Denkrichtung, die
kulturelle Differenz als Produkt kultureller und symbolischer Konstruktionsprozesse und dementsprechend als relationale, relative und prozessuale
Kategorie versteht, die kontext- und situationsgebunden, also grundsätzlich
verhandelbar und variabel ist und die Machtverhältnisse innerhalb einer
Gesellschaft widerspiegelt. Kulturelle Differenz konstituiert sich hier im Spannungsfeld zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Die Grenze zwischen
dem Eigenen und dem Fremden kann jedoch eine durchaus fließende Trennung darstellen, die die Vorstellung, dass Dinge – Kulturen, Gesellschaften,
Gruppen – voneinander klar und eindeutig getrennt und unterschieden werden können, dass es eindeutige Zugehörigkeiten und Zuordnungen gibt,
durchaus herausfordern und fraglich machen kann.6
70
Die konstruktivistischen Theorien haben deutlich gemacht, dass die Problematik der kulturellen Differenz nicht nur eine Frage der kognitiven Wahrnehmung ist, sondern dass dieses Problemfeld – wenigstens in den modernen
Gesellschaften – in erster Linie politische und gesellschaftliche Deutungsprozesse repräsentiert. Anders gesagt, werden in der modernen Gesellschaftsordnung kulturelle Unterschiede immer politisch und gesellschaftlich gedeutet. Etwas zugespitzt formuliert könnte man sagen, dass kulturelle Differenzen nur insoweit existieren, als sie mit bestimmten, diskursiv produzierten politischen, sozialen und kulturellen Bedeutungen aufgeladen sind. Das
moderne Konzept der kulturellen Differenz dient also nicht dazu, ethnographisch erfassbare Unterschiede der Alltagskultur zu beschreiben, sondern
dazu, die politische und soziale Welt durch kulturell definierte Unterschiede zu deuten. In diesem Sinne funktioniert die Kategorie der kulturellen
Differenz in der Moderne als kognitiver und sozialer Deutungsmechanismus, der die soziokulturelle Welt, den sozialen Raum ordnet, erklärt und
interpretiert. Dementsprechend macht es keinen Sinn darüber nachzudenken, was kulturelle Unterschiede sind, sondern es gilt vielmehr der Frage
nachzugehen, wie kulturelle Differenzen in unterschiedlichen politischen
und sozialhistorischen Situationen konzipiert, interpretiert und gedeutet
werden.7
In den modernen europäischen Gesellschaften kann man dazu zwei zentrale Diskursräume feststellen, in denen kulturelle Differenzen produziert,
repräsentiert und gedeutet werden. Der eine funktioniert im Spannungsfeld
zwischen Tradition und Moderne, während der andere im Rahmen des
Nationalstaates zustande kommt und sich auf die oben schon kurz angeschnittenen Konzepte des Eigenen und des Fremden richtet. Dass kulturelle Unterschiede immer wieder im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne
konzipiert beziehungsweise festgestellt worden sind, bedeutet gerade für die
Ethnologie und Kulturanthropologie eine bestimmte theoretische Trivialität.8 Hier gibt es eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Begriffen – wie etwa
die der „Naturvölker“, der „vormodernen Gesellschaften“, der „Stammesgesellschaften“ –, welche die kulturellen Unterschiede der untersuchten, nichteuropäischen Kulturen im Vergleich zu den modernen westlichen Gesellschaften konzipieren. Neulich hat jedoch Michael Herzfeld nachdrücklich
darauf hingewiesen, wie problematisch die Dichotomisierung der Welt in
traditionelle versus moderne Gesellschaften für die Kulturanthropologie ist.9
Mit seiner Kritik weist Herzfeld darauf hin, dass das Konzept der Modernisierung in der Politik, in den Wissenschaften und in den Medien mit der
71
westlichen Zivilisation gleichgesetzt wurde und wird, und dadurch werden
regionale oder alternative Formen der Moderne kaum noch berücksichtigt.
Genau in diesem Sinne haben kulturanthropologische Studien in den letzten
Jahren immer wieder kritisch nachgefragt, inwieweit man überhaupt – und
gerade in der heutigen globalen Welt – noch von der Moderne reden kann,
was man mit diesem homogenen westlich geprägten Modernitätsbegriff eigentlich beschreiben und erklären kann, ob es nicht schon längst notwendig
wäre von Modernen im Plural zu sprechen.10 Noch problematischer ist es
aber, dass mit „traditionell“ immer „zurückgeblieben“ und mit „modern“
immer „fortschrittlich“ assoziiert wird. Dementsprechend werden auch kulturelle Unterschiede in diesem Kontext des modernen, fortgeschrittenen Zentrums und der traditionellen, zurückgebliebenen Peripherie gedeutet. Wie
dieser Vergleich funktionierte, wie kulturelle Unterschiede in diesem Kontext ausgelegt worden sind, kann man jedoch nicht nur im Vergleich zwischen europäischen und nicht-europäischen Gesellschaften, sondern auch
innerhalb der europäischen Moderne genau beobachten. Hier kann man eine
ganze Reihe verschiedener Beispiele auflisten: die regionalen Modernitätsunterschiede in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, der mediterrane Raum, der Balkan oder Osteuropa sind jene – hier aber nur beliebig ausgewählten – klassischen Beispiele, die ganz genau zeigen, wie sich dieses Konzept von kulturellen Differenzen innerhalb der europäischen Geschichte herauskristallisierte und historisch funktionierte. Es wäre jedoch ein Irrtum zu
meinen, dass dieser Diskursraum heute nicht mehr existiert. Es gibt ja auch
eine Reihe aktueller Beispiele, die beweisen, dass kulturelle Unterschiede
immer noch, auch in den spätmodernen Gesellschaften im Spannungsfeld
von Tradition und Moderne konzipiert werden – wie etwa die europaweite
Diskussion über die Integrationsfähigkeit nicht europäischer oder osteuropäischer Zuwanderer oder aber die in den letzten Zeiten besonders leidenschaftlich geführte Auseinandersetzung über Modernitätsdefizite beziehungsweise über die „kulturelle Rückständigkeit“ des Islams.
Der andere Diskursraum, in dem kulturelle Differenzen produziert und
gedeutet worden sind, hat sich im Rahmen des modernen Nationalstaates im
reflexiven Zusammenhang mit dem Eigenen und dem Fremden entwickelt.
Zwar sind die modernen Nationalstaaten in den verschiedenen europäischen
Regionen unterschiedlichen Entwicklungspfaden gefolgt, sie weisen in Bezug auf die Art und Weise, wie kulturelle Differenzen politisch, diskursiv
und symbolisch hergestellt beziehungsweise interpretiert werden, jedoch prinzipielle Gemeinsamkeiten auf.11 Die konstitutive Logik des Nationalstaates
72
gründet sich nämlich generell auf die Idee von Exklusion und Inklusion. Bei
Exklusion und Inklusion handelt es sich nicht um zwei sich ausschließende
Ideen, sondern um ein gemeinsames Prinzip, da diese Kategorien beziehungsweise die hinter diesen Kategorien verborgenen Prozesse nur in Bezug
aufeinander einen (politischen und/oder sozialen) Sinn haben.12 Der Nationalstaat definiert – zwar in unterschiedlichen Formen, jedoch immer konsequent und eindeutig – die Kriterien der Zugehörigkeit. Anhand dieser Kriterien werden nationale Bürger – kulturell und symbolisch – produziert, beziehungsweise wird die Zugehörigkeit in Form der Staatsbürgerschaft institutionalisiert. In diesem kulturellen und politischen Prozess spielen kulturelle Differenzen eine fundamentale Rolle, da sie das symbolische Mittel darstellen, welches die Zugehörigkeit beziehungsweise die Nicht-Zugehörigkeit
sichtbar macht und gleichzeitig begründet. Sprache, Religion, Rituale, Symbole, Verhaltensformen und so weiter sind jene Bereiche, innerhalb derer
kulturelle Unterschiede auch im Alltag wahrnehmbar sind, die Nicht-Zugehörigkeit einzelner Individuen oder Gruppen als „natürliche“ Tatsache offenbaren und die damit verbundene politische und gesellschaftliche Exklusion rechtfertigen. Einfacher formuliert, markieren kulturelle Differenzen
jene Menschen und Gruppen, die kulturell gesehen nicht zu der Nation
gehören, weil sie eine andere Kultur, Sprache, Religion und so weiter haben
und demzufolge aus dem politischen und sozialen Leben einer Nation ausgegrenzt werden können. In diesem Zusammenhang entstehen dann die kulturell kanonisierten und politisch institutionalisierten Vorstellungen von dem
Eigenen und dem Fremden. Das heißt, dass der Nationalstaat nicht einfach
nur nationale Bürger, sondern notwendigerweise auch kulturelle Differenzen
und Grenzen und dadurch Fremde produziert, weil ohne Fremde, ohne
Menschen, die nicht zu der Nation gehören, die Zugehörigkeit, das „WirGefühl“ und die „Wir-Gruppe“ keinen politischen und kulturellen Sinn
macht.
Kulturelle Differenzen dienen aber in den modernen Nationalstaaten nicht
nur dazu, sich von anderen abzugrenzen und die eigene Identität zu entwickeln. In diesem Diskursraum werden auch die binnengesellschaftlichen kulturellen Unterschiede, beziehungsweise die damit verbundenen inneren
Machtverhältnisse thematisiert und repräsentiert, wie es etwa die Begriffe
„Minderheit“, „Migranten“ oder „ethnische Gruppe“ und deren politische
Nutzung zeigen. In diesem Zusammenhang wird auch deutlich, dass das Ziel
des modernen Nationalstaates nicht unbedingt die völlige, absolute Ausgrenzung von Fremden, nicht die Negierung und Ignoranz von kulturellen Diffe-
73
renzen, sondern vielmehr deren Einordnung, Kategorisierung und Deutung
war, um dadurch kulturelle Herrschaft und politische Macht ausüben zu
können. Es handelt sich hier also um ein zutiefst ambivalentes Verhältnis.
Der Nationalstaat basiert auf der Idee der Gleichförmigkeit, die jedoch nur
dann repräsentiert und vertreten werden kann, wenn anhand der kulturellen
Differenzen die „Ungleichen“, die „Anderen“, die „Fremden“ klar und eindeutig ausgemacht werden können. Diese Ordnung des modernen Nationalstaates repräsentiert die Angst von Ambivalenz einerseits und den Traum von
sozialer und kultureller Reinheit andererseits. Die grundsätzliche Ambivalenz des modernen Konzeptes von kultureller Differenz wird hier nochmals
ganz deutlich. Kulturelle Differenzen dienen dazu, Fremde, die als grundsätzliche Gefahr für den Nationalstaat gesehen werden, sichtbar zu machen,
um sie identifizieren zu können. In diesem Sinne hat dann der moderne
Nationalstaat politische und symbolische Mechanismen entwickelt – wie etwa
die der Assimilation –, um die Gefahr bekämpfen und vernichten zu können.13 Gleichzeitig werden aber Fremde gebraucht, da nur die Fremden, die
die Nicht-Zugehörigkeit symbolisieren, die Zugehörigkeit zu einer Nation,
das Prinzip der Inklusion politisch und kulturell sinnvoll machen. Die europäische Moderne hat in diesem Sinne die (nationalen) Kulturen als „things
with mind“ verstanden,14 und kulturelle Differenzen dazu genutzt, klare Grenzen zwischen verschiedenen Kulturen zu schaffen beziehungsweise diese Grenzen „sichtbar“ zu machen.
In den letzten Jahren oder Jahrzehnten ist aber dieses Konzept der kulturellen Unterschiede und damit gleichzeitig fundamentale Prinzipien des Nationalstaates grundsätzlich ins Schwanken geraten. Gegenwärtige politische,
soziale und kulturelle Prozesse – wie etwa Migration, Globalisierung, Postkolonialismus – haben deutlich gemacht, dass Kulturen nicht als voneinander
klar getrennte homogene Einheiten betrachtet werden können und dass das
Grundprinzip der modernen Gesellschaftsordnung, nämlich, dass die soziale und kulturelle Identität eines Menschen beziehungsweise einer Gruppe
aus einem Ort, aus einem sozialen und einem kulturellen Milieu herauswächst,
auch in der Vergangenheit nicht unbedingt und nicht immer der sozialen
Wirklichkeit entsprach. Kulturanthropologische Forschungen und Theorien der letzten Jahrzehnte haben zwei wesentliche Entwicklungen sehr deutlich gemacht. Zum einen, dass die oben bereits kurz erwähnten soziokulturellen Prozesse das Verhältnis von vielen Menschen zu Orten und zu lokalen
Formen der Kultur grundsätzlich verändert haben,15 zum anderen hat sich
aber auch die Begrifflichkeit, mit der man das sich ändernde Feld der kultu-
74
rellen Differenzen zu beschreiben, zu erklären, zu theoretisieren versuchte,
wesentlich geändert. Und genau diese neue Begrifflichkeit sollte kurz unter
die Lupe genommen werden, um damit die neue Qualität gegenwärtiger kultureller Differenzen prüfen zu können.
Seit den 1970er Jahren haben sich innerhalb der Ethnologie und Kulturanthropologie drei wichtige Theorieentwürfe – die des Multikulturalismus,
des Transnationalismus und der hybriden Identitäten16 – entwickelt, die das Konzept der kulturellen Differenz neu thematisiert und diskutiert haben. Zwar
handelt es sich dabei um unterschiedliche theoretische Ansätze und Auffassungen von kultureller Differenz, jedoch weisen diese bestimmte Gemeinsamkeiten auf. Zum einen handelt es sich hier nicht nur einfach um neue wissenschaftliche Theorien, sondern um Denkmodelle, die politische, gesellschaftliche Vorstellungen und Überlegungen in Bezug auf Umgang mit kulturellen Differenzen beinhalten. Genauer gesagt, geht es hier um Ansätze, die
erstens den öffentlichen, politischen und gesellschaftlichen Diskurs um kulturelle Differenzen und deren vielseitige Konsequenzen und Dimensionen
widerspiegeln; zweitens aber politisch und ideologisch gefärbte soziale Imaginationen, das heißt Gesellschaftsentwürfe, repräsentieren; und schließlich
ethnologische Theorien über die soziale Praxis gelebter kultureller Differenzen enthalten. Zum anderen machen sie einen neuen postnationalen Mythos
des kulturellen Unterschieds deutlich, der dazu führt (oder führen kann),
die national geprägte Gesellschaftsordnung der Moderne neu zu überlegen.
In diesem Sinne stellen sie ein neues Denkmuster der spätmodernen, postnationalen Gesellschaften und eine spezifische diskursive Form der Wahrnehmung, der Interpretation und der Deutung von kultureller Vielfalt und Differenz dar. Und schließlich gehen alle drei Theorieentwürfe über die Grenzen des Nationalstaates hinaus, in dem Sinne, dass sie kulturelle Differenzen
nicht einfach als Unterschiede zwischen Nationalkulturen oder als ethnische
Unterschiede innerhalb eines Nationalstaates ausmachen, sondern andere
Kontexte und Zusammenhänge suchen. Wo jedoch diese Kontexte zu suchen
sind, beziehungsweise in welchen Zusammenhängen kulturelle Unterschiede
konzipiert, produziert und gedeutet werden können, darüber sind die hier
erwähnten Theorien unterschiedlicher Auffassung.
In einer multikulturellen Gesellschaft leben mehrere Kulturen innerhalb
desselben staatlichen Territoriums nebeneinander. In diesem Sinne kann man
natürlich sagen, dass es sich hier nicht um eine neue Entwicklung handelt,
multikulturelle Gesellschaften gab es schon in der Vergangenheit. In den
amerikanischen Großstädten haben sich schon in den 1920er Jahren ethni-
75
sche Viertel herausgebildet, in denen europäische Einwanderer verschiedener Nationalitäten nebeneinander lebten. Und in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie – um ein ganz anderes Beispiel zu nennen – lebten auch
unterschiedliche ethnische Gruppen und nationale Minderheiten nebeneinander. Rein strukturell gesehen, könnte man diese Staaten tatsächlich multikulturell nennen, da sie eine mosaikartige Gesellschaftsordnung, ein räumliches Nebeneinander verschiedener ethnischer und kultureller Gruppen repräsentieren, die als territorial geschlossen und kulturell homogen galten –
genauso wie die gegenwärtigen Vorstellungen vom Multikulturalismus. Nun
besteht das Konzept der multikulturellen Gesellschaft nicht nur aus dem Nebeneinanderleben verschiedener ethnischer Gruppen,17 und dementsprechend
beschränkt sich die Ethnologie nicht auf die ethnographische Beschreibung
tatsächlich existierender kultureller Vielfalt innerhalb einer Gesellschaft. Die
ethnologischen Überlegungen zum Multikulturalismus gehen aus ethnographischen Forschungen hervor, die nicht nur kulturelle Differenzen beziehungsweise eine zunehmende kulturelle Differenzierung in den spätmodernen Gesellschaften registrieren, sondern gleichzeitig den Diskurs des Multikulturalismus beziehungsweise die Frage der Repräsentation von kulturellen
Differenzen untersuchen.18 Wenn man jedoch diese Untersuchungen genauer anschaut, dann kommt man notwendigerweise zu überlegenswerten Konsequenzen. Vor allem wird die Ambivalenz des Kulturbegriffes deutlich. Die
Idee des Multikulturalismus wirbt zwar für kulturelle Vielfalt und für kulturellen Pluralismus, in der Tat arbeitet sie aber mit einem durchaus statischen
Kulturkonzept. Die nicht immer offen ausgesprochene Grundüberlegung ist
nämlich, dass kulturelle Vielfalt und Differenz beibehalten werden sollen.
Die Kultur der verschiedenen ethnischen Gruppen wird als „Tradition“ oder
„kulturelles Erbe“ definiert, die man auch in einer „fremden Heimat“ zu
bewahren und zu beschützen hat. Dementsprechend werden kulturelle Zugehörigkeit und Identität als natürliche Gegebenheit und nicht als Gegenstand
aktiver Konstruktionsprozesse gesehen. In der Philosophie der multikulturellen Gesellschaft kann – und muss sogar – jede ethnische Gruppe das Recht
haben, ihre eigene Kultur öffentlich darzustellen. Diese Kultur muss aber
„authentisch“ bleiben, um als ethnische Kultur und Tradition repräsentiert
zu werden. Dementsprechend sind die ethnischen Gruppen in dieser Philosophie der multikulturellen Gesellschaft symbolisch dazu gezwungen, sich
kulturell zu differenzieren und zu repräsentieren beziehungsweise ihre kulturelle Differenz zu reproduzieren.19 Die multikulturelle Gesellschaft ist also
grundsätzlich auf die Idee der öffentlichen Repräsentation von kultureller
76
Differenz aufgebaut. Da aber kulturelle Differenz auch in den spätmodernen
Gesellschaften zur sozialen Ausgrenzung beitragen kann, führt diese Philosophie – ungewollt, aber doch notwendigerweise – dazu, kulturelle Fremdheit
von bestimmten sozialen Gruppen sichtbar zu machen und damit deren politische und soziale Ausgrenzung kulturell zu rechfertigen.
Während der Multikulturalismus einen durchaus ambivalenten Diskursund Praxisraum um kulturelle Differenz in den spätmodernen Gesellschaften darstellt, weist der Begriff des Transnationalismus vor allem auf die sozialen Praxen von Migranten und Zuwanderer hin.20 Transnationalismus hat
weniger mit kulturellen Differenzen zu tun, stellt aber eine grundsätzliche
Herausforderung für den Nationalstaat dar und zeigt in diesem Sinne ein
anderes Modell im Umgang mit kulturellem Unterschied. Ganz vereinfacht
formuliert, bezeichnet Transnationalismus ein „gleichzeitiges“ Dasein an mehreren Orten und ein dadurch entstandenes neues Identitätsmodell, was als
multilokale Zugehörigkeit beschrieben werden kann. Ethnographische Forschungen machen zunehmend deutlich, dass es immer mehr Menschen gibt,
die zeitweilig oder langfristig an zwei oder mehr Orten leben. Einerseits gibt
es einen konkreten Wohnort, einen Aufenthaltsort, wo man tatsächlich lebt,
arbeitet, soziale Netze und Kontakte aufbaut. Gleichzeitig gibt es aber einen
anderen Ort, in dem man sozial (familiär, durch andere soziale Netze und
Kontakte, und so weiter) und kulturell eingebettet ist. Damit fordern transnationale Lebensformen ein zentrales Prinzip des modernen Nationalstaates
heraus, indem der soziale Ort des Alltagslebens von dem Ort der kulturellen
Zugehörigkeit und Imaginationen getrennt wird. Zwischen dem „sozialen“
Ort und dem „kulturellen“ Ort entstehen transnationale soziale Räume,21 die
die bisherigen politischen, sozialen und kulturellen Grenzen fraglich machen. Dementsprechend können Menschen nicht mehr an einem sozialen
und kulturellen Ort lokalisiert werden beziehungsweise kann Kultur nicht
mehr mit einem geographisch fixierten Ort verbunden werden. Und das
bedeutet, dass man das Konzept der kulturellen Differenzen neu überlegen
muss, da kulturelle Differenzen in transnationalen sozialen Räumen nicht so
interpretiert werden können, wie im Rahmen des Nationalstaates. Transnationale Lebensformen tragen aber nicht nur zur Herausbildung multilokaler
Identitäten und transnationaler sozialer Räume bei, sondern machen es auch
deutlich, dass es kein zwingendes Modell der kulturellen Zugehörigkeit, keine „entweder-oder“, keine „single“ Identitäten gibt, dagegen aber immer mehr
Menschen, die auch im kulturellen Sinne multiplen Identitätsmodellen folgen.
77
Die Theorien, beziehungsweise die ethnographischen Beobachtungen über
multiple Identitäten, haben offensichtlich gemacht, dass sich kulturelle Differenzen in den heutigen Gesellschaften grundsätzlich anders organisieren als
in den modernen Nationalstaaten.22 Man kann im Zuge der Globalisierung
eine immer stärker zunehmende kulturelle Pluralisierung feststellen, die jedoch in den einzelnen Regionen der Welt in unterschiedlichen Formen stattfindet. Diese kulturelle Pluralisierung führt – unter anderem – dazu, dass
man nicht mehr davon sprechen kann, dass kulturelle Differenzen zwischen
Gruppen mit eigenen, spezifischen, homogenen oder geschlossenen Kulturen entstehen beziehungsweise konzipiert werden können. Ethnographische
Untersuchungen zeigen vielmehr eine globale und sich weiter globalisierende Lage, in der Gesellschaften und Kulturen nicht mehr als geschlossene
Einheiten mit mehr oder weniger klaren Grenzen verstanden werden können. Die von Ulf Hannerz analysierte zunehmende kulturelle Komplexität 23
führt zu einer sich immer stärker verbreitenden Situation, was ethnologische Theorien mit den Begriffen „Hybridität“ oder „Kreolisierung“ auszulegen versuchen.24 Beide Kategorien weisen auf zwei wesentliche Entwicklungen hin. Zum einen darauf, dass in der heutigen globalen oder spätmodernen Welt die kulturelle Zugehörigkeit und Identität für immer mehr Menschen nur in pluralen Kategorien zu verstehen und zu praktizieren ist. Da
die spätmoderne Gesellschaft für immer mehr Menschen ein Netz von sozialen Kontakten und verschiedenen kulturellen Strömungen ist, in dem man
keine feste soziale und kulturelle Bindungen hat beziehungsweise braucht,
fühlen sich Menschen nicht zu der einen oder anderen Kultur dazugehörig,
sondern identifizieren sich gleichzeitig mit mehreren unterschiedlichen
Kulturen. Zum anderen weisen diese Kategorien auch darauf hin, dass kulturelle Zugehörigkeiten und Identitäten sich nicht auf die eine oder andere
Kultur beziehen, sondern aus unterschiedlichen Kulturen zusammengebastelt werden. Diese aus mehreren unterschiedlichen Kulturen zusammengebastelten Identitätsmodelle werden heute als hybride Identitäten beschrieben.25 Die unterschiedlichen cultural flows und die unterschiedlichen kulturellen Bedeutungen bringen neue notwendigerweise individuelle, sich situativ ändernde Identitätskonstellationen zustande. Es lässt sich eine klare Tendenz der Individualisierung feststellen, was aber nicht gesellschaftliche Atomisierung oder eine Art Subjektivismus bedeutet, sondern „die Auflösung
vorgegebener sozialer Lebensformen“ darstellt.26 In dieser Welt der kreolen
oder hybriden Identitäten, in der soziale Akteure aus ganz unterschiedlichen
soziokulturellen Welten, mit eigenen Identitäten, Weltanschauungen und
78
Glauben agieren, funktioniert die Idee der vorgegebenen Kollektivität kaum
noch; daher müssen Identitäten, Normen und Werte innerhalb eines sozialen Raumes, innerhalb einer Gesellschaft ausgehandelt werden.27 Damit werden aber natürlich auch die Machtverhältnisse innerhalb einer Gesellschaft
neu verhandelt und definiert; die Bedeutung von Zentrum und Peripherie
wird umgedeutet.
Spätestens an diesem Punkt wird deutlich, dass die Frage der kulturellen
Differenz untrennbar mit der Frage der politischen und gesellschaftlichen
Macht verbunden ist. So war es in der Vergangenheit und so ist es heute
noch. Daher scheint es besonders wichtig zu sein, die theoretischen Kategorien der Kulturwissenschaften aus der Perspektive der Politik und gesellschaftlichen Macht in konkreten historischen wie auch ethnographischen Fallstudien immer wieder zu überprüfen.
Anmerkungen
1 Man muss natürlich darauf hinweisen, dass die Problemgeschichte der Kulturanthropologie wesentlich komplizierter ist, als ich das hier flüchtig angedeutet habe.
Siehe dazu: Marvin HARRIS, The Rise of Anthropological Theory. A History
of Theories of Culture, London 1968; vgl. Johannes FABIAN, Time and the
Other. How Anthropology Makes Its Object, New York 1983; vgl. Michael
HERZFELD, Anthropology. Theoretical Practice in Culture and Society, Oxford
2001.
2 Zu dieser Problematik siehe ausführlicher Stuart HALL, Die Frage der kulturellen Identität, in: DERS., Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte
Schriften, Bd. 2, Hamburg 1994, S. 180–222; vgl. Ulrich BECK, Wie aus Nachbarn Juden werden. Zur politischen Konstruktion des Fremden in der reflexiven Moderne, in: Max MILLER, Hans-Georg SOEFFNER (Hg.), Modernität
und Barbarei. Soziologische Zeitdiagnose am Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1996, S. 318–343.
3 Siehe dazu zusammenfassend: Joachim MATTHES (Hg.), Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs. Soziale
Welt, Sonderbd. 8, Göttingen 1992; vgl. Hartmut KAELBLE, Jürgen SCHRIEWER
(Hg.), Diskurse und Entwicklungspfade. Der Gesellschaftsvergleich in den
Geschichts- und Sozialwissenschaften, Franfurt a. M. 1999.
4 Diese Denkrichtung wird ausführlich vorgestellt durch: Gisela WELZ, Die soziale Organisation kultureller Differenz. Zur Kritik des Ethnosbegriffs in der
anglo-amerikanischen Kulturanthropologie, in: Helmut BERDING (Hg.),
Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des
kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1994, S. 66–81;
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5
vgl. Akhil GUPTA, James FERGUSON, Beyond „Culture“. Space, Identity, and
the Politics of Difference, in: Cultural Anthropology 7 (1992), S. 6–23.
Dieses Problemfeld wirft weitere wesentliche Fragen auf, die ich hier nicht diskutieren kann. Siehe dazu die klassischen Überlegungen von Clifford GEERTZ,
After the Revolution. The Fate of Nationalism in the New States, in: DERS.,
The Interpretation of Cultures, New York 1973, S. 234–254.
Die diesbezügliche Literatur ist kaum überschaubar, siehe z. B. Martin FUCHS,
Eberhard BERG, Phänomenologie der Differenz. Reflexionsstufen ethnographischer Repräsentation, in: DIES. (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise
der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt a. M. 1993, S. 11–108, vgl.
James CLIFFORD, Travelling Cultures, in: DERS., Routes. Travel and Translation in the Late Twentieth Century, Cambridge, Massachussetts 1997, S. 17–46.
Siehe dazu in einem etwas anderen Zusammenhang Stuart HALL, Was ist „schwarz“
an der popularen schwarzen Kultur, in: DERS., Cultural Studies. Ein politisches
Theorieprojekt. Ausgewählte Schriften, Bd. 3, Hamburg 2000, S. 98–112.
Das klassische Beispiel hier: Robert REDFIELD, The Primitive World and its
Transformations, Ithaca 1953.
Siehe HERZFELD, Anthropology, S. 81–84.
Damit meine ich nicht nur die allgemein bekannten theoretischen Überlegungen der postcolonial studies, sondern vor allem jene kulturanthropologischen
Forschungen, die verschiedene regionale Formen der Moderne untersucht haben. Siehe dazu exemplarisch: Aihwa ONG, Anthropology, China, and Modernities. The Geopolitics of Cultural Knowledge, in: Henrietta MOORE (Hg.),
The Future of Anthropological Knowledge, London 1996, S. 60–92; vgl. David
SUTTON, „Tradition and Modernity“. Kalymnian Constructions of Identity
and Otherness, in: Journal of Modern Greek Studies 12 (1994), S. 239–260.
Zu den Differenzen und Gemeinsamkeiten der europäischen Nationsbildungen siehe: Liah GREENFELD, Nationalism. Five Roads to Modernity, Cambridge, Massachussetts 1992.
Vgl. Ernesto LACLAU, Inklusion, Exklusion und die Logik der Äquivalenz.
Über das Funktionieren ideologischer Schließungen, in: Peter WEIBEL, Slavoj
ZIZEK (Hg.), Inklusion : Exklusion. Probleme des Postkolonialismus und der
globalen Migration, Wien 1997, S. 45–74; vgl. Chantal MOUFFE, Inklusion/
Exklusion: Das Paradox der Demokratie, in: WEIBEL, ZIZEK (Hg.), Inklusion :
Exklusion, S. 75–90.
Vgl. Zygmunt BAUMAN, Unbehagen in der Postmoderne, Hamburg 1999,
S. 35–65.
Vgl. HERZFELD, Anthropology, S. 28.
Vgl. Nigel RAPPORT, Andrew DAWSON, Home and Movement. A Polemic,
in: DIES. (Hg.), Migrants of Identity. Perceptions of Home in a World of
Movement, Oxford 1998, S. 19–38; vgl. Arjun APPADURAI, The Production of
Locality, in: DERS., Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis 1996, S. 178–199; vgl. Roland ROBERTSON, Glokalisierung.
Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit, in: Ulrich BECK (Hg.),
Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a. M. 1998, S. 192–220.
16 Andere Theorien, wie etwa die der Postcolonial Studies oder des Kosmopolitanismus können hier leider nicht diskutiert werden.
17 Und dementsprechend wäre es irreführend, die Österreichisch-Ungarische Monarchie als multikulturell zu bezeichnen.
18 Der Diskurs um die multikulturelle Gesellschaft hat sich natürlich nicht nur
auf diese Fragen beschränkt, sondern hat die Menschenrechte, die politische
Teilnahme, die Frage der Integration und Assimilation und so weiter thematisiert. Vgl. David BENNETT (Hg.), Multicultural States. Rethinking Difference
and Identity, London 1998; vgl. Tariq MODOOD, Pnina WERBNER (Hg.),
The Politics of Multiculturalism in the New Europe. Racism, Identity and
Community, London 1997.
19 Dabei geht es jedoch um kulturelle, symbolische und ästhetische, nicht aber
um politische Repräsentation. Siehe dazu ausführlicher: Peter NIEDERMÜLLER, Urban ethnicity between the global and the local, in: Regina BENDIX,
Herman ROODENBURG (Hg.), Managing Ethnicity, Amsterdam 2000, 41–60.
20 Siehe dazu zum Beispiel: Ulf HANNERZ, Transnational Connections, London
1996; vgl. Aihwa ONG, Flexible Citizenship. The Cultural Logic of Transnationality, Durham 1999.
21 Siehe dazu: Ludger PRIES, Transnationale soziale Räume, in: Ulrich BECK
(Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a. M. 1998, S. 55–86.
22 Das betrifft ganz besonders die sogenannten postkolonialen Gesellschaften.
Auf diese Problematik gehe ich jedoch hier nicht ein. Gleichzeitig muss man
auch darauf hinweisen, dass kulturelle Pluralisierung auch kulturelle Abgrenzung und Absonderung bedeuten kann.
23 Siehe Ulf HANNERZ, Cultural Complexity. Studies in the Social Organization of Meaning, New York 1992.
24 Siehe zum Beispiel: Ulf HANNERZ, The World in Creolisation, in: Africa 57
(1987), S. 546–559; vgl. Jan Nederveen PIETERSE, Globalisation as Hybridisation, in: International Sociology 9 (1994), S. 161–184.
25 Vgl. Hans-Rudolf WICKER, Flexible Cultures, hybrid Identities and reflexive
Capital, in: Anthropological Journal of European Cultures 5 (1996); vgl. Elisabeth BRONFEN, Benjamin MARIUS, Hybride Kulturen. Einleitung zur angloamerikanischen Multikulturalismusdebatte, in: DIES. (Hg.), Hybride Kulturen, Tübingen 1997, S. 1–29.
26 Vgl. Ulrich BECK, Elisabeth BECK-GERNSHEIM, Individualisierung in modernen Gesellschaften – Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie, in: DIES. (Hg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in
modernen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1994, S. 10–39.
27 Vgl. HANNERZ, Cultural Complexity, S. 261–267.
81
Das Eigene und das Andere /
Der, die, das Fremde.
Zur Begriffsklärung nach Hegel, Levinas,
Kristeva, Waldenfels
Wolfgang Müller-Funk
Denn es kann sein, daß die Zukunft der
Welt und damit der Sinn der Gegenwart
und die Bedeutung der Vergangenheit
letztlich von der heutigen Interpretation
der Hegelschen Schriften abhängen.
Alexandre Kojeve, 1946
Unsere gesamte Epoche […] trachtet
Hegel zu entkommen.
Michel Foucault, L’ordre du discours
Weshalb kämpfen die Menschen für ihre
Knechtschaft, als ginge es um ihr Heil?
Gilles Deleuze
An Hegel kommt man anscheinend nicht vorbei, ja es ließe sich sogar behaupten, dass Hegel die Themen und die Art des Philosophierens vorgibt,
die man unter dem Sammelbegriff des „Postmodernen“ fasst, und sei es auch
nur ex negativo. Ich denke dabei an seine Dikta vom Ende der Geschichte und
vom Ende der Kunst1 ebenso wie an das wohl berühmteste und dramatischste
Kapitel in seiner philosophischen Meistererzählung Phänomenologie des Geistes, die im vorliegenden Fall von wesentlichem Interesse ist.2 Sie verklammert
gleichsam zwei zentrale Fragen: jene nach dem Ursprung, der Tragweite und
der Zukunft von Herrschaft als einer asymmetrischen Relation zwischen Herr
und Knecht und jenen Diskurs, der nach dem Zweiten Weltkrieg so konstitutiv für die französische Philosophie geworden ist: die obsessive theoretische Beschäftigung mit Alterität und Differenz.3 Dieses Kapitel, Teil eines
strukturell besehen klassischen Bildungsromanes, der den Weg des In-derWelt-Seins von seinen bescheidenen Anfängen in der sinnlichen Gewissheit
bis zum krönenden Abschluss in der Absolutheit des Geistes gleichsam nach-
83
zeichnet und vorgibt, ragt ein Stück aus dem Ganzen des Buches heraus.
Zwar schreitet der Geist zu seiner Vollendung im Absoluten fort, löst sich
gleichsam von den Bedingungen ab, die ihn möglich machten, aber der Stachel des vermeintlichen, besiegten Anderen, dem er sein Selbstbewusstsein
verdankt ist gleichsam im Körper zurück geblieben, von dem er sich im Fortlauf abzuheben trachtet. In die Abgelöstheit des absoluten Geistes ist nämlich der Weltentzug, der Verlust des Konkreten in der aktiven Beschäftigung
eingeschrieben. Dies war der dialektische Triumph des Anderen, dass sich
seine Niederlage im Kampf in einen Sieg verkehrt durch Weltpartizipation,
während das herrliche Bewusstsein abhängig wurde vom knechtischen Tun.
Der unterlegene Andere ist somit – auf die Logik von Hegels Werk übertragen – das vergessene alter ego des absoluten Geistes. So meistert der Philosoph das Andere der Vernunft, aber mit seiner eigenen Denkfigur darf angenommen werden, dass er von diesem knechtischen Anderen der Vernunft am
Ende selbst heimgesucht wird.
Unübersehbar bleibt, dass dieser dialektische Ansatz, der die Denkfigur
der Relation ins Spiel bringt, in höchstem Maße zirkulär ist. Dieser Kampf
um Alles oder Nichts war in Hegels Denkfigur notwendig für das zu sich
kommende, vernünftige In-der-Welt-Sein. Ohne Kampf kein Selbstbewusstsein, denn Selbstbewusstsein bemisst sich nicht an sich selbst, sondern vielmehr am anderen. Umgekehrt setzt das Gedankenspiel in Hegels früherem
Werk jenes Selbstbewusstsein immer schon voraus, das doch eigentlich das
Ergebnis des Kampfes sein sollte: Denn der Kampf bestimmt sich dadurch,
dass zwei einander gegenübertreten, die sich in bewusster Agonalität befinden. Oder soll man an einen Kampf denken, der von den Beteiligten als
solcher noch nicht „realisiert“ wird, so dass sie erst im Nachhinein der agonalen Struktur ihres In-der-Welt-Seins inne werden?
In jedem Fall ist dieses hochkarätige Stück Philosophie in der Tat von
universaler Bedeutung: Die weltgeschichtlich gescheiterte marxistische Befreiungsdialektik verdankt ihm ebensoviel wie der Alteritätsdiskurs. Noch in
seinem Spätwerk wird einer der bedeutendsten Philosophen des Anderen,
Emanuel Levinas,4 die Bedeutung der Hegelschen Philosophie herausstellen
und die Wichtigkeit betonen, die den Herrn zum Knecht des Knechts und
den Knecht zum Herrn des Herrn macht. Denn die Alteritätsphilosophie
gründet nicht auf dem dialogischen Gegenüber von Subjekten, die sich zuvor
wie Münchhausen selbst aus den Niederungen vorsubjektiven Daseins gezogen haben und sodann freundlich miteinander plaudern, sondern ihr Selbst
und ihr Anderes sind das Resultat eben dieser Relation, und nur in dieser
84
Relation hat der Terminus „Subjekt“ seine Bedeutung. Parmenides hatte darauf insistiert, dass das Sein ist und das Nichts nicht ist, aber entscheidend
ist, dass die Differenz von Sein und Nichts ist. So ersetzt die Fokussierung
auf die Differenzrelation die Rede vom substantiellen Subjekt, das ohne diese
Relation gedacht ist.
Der Verweis auf Hegel ist – trotz Max Weber und Hannah Arendt5 – auch
in Hinblick auf die Analyse von Herrschaft produktiv, womöglich ohne die
Prämisse der Marxschen Entfremdung und Befreiung. Die vermeintliche
Zuspitzung durch Marx, der die Hegelsche Theorie vom Kopf auf die Füße
zu stellen beansprucht, erweist sich als Reduktion und Einengung der Hegelschen Denkfigur. Sie identifiziert den unterworfenen Anderen, dessen
Unterwerfung ich mein Selbstbewusstsein verdanke und der meine Herrlichkeit schmälert, indem er mich in Abhängigkeit von eben diesem anderen
hält, einseitig mit dem Industrieproletariat des 19. Jahrhunderts und interpretiert ihn darüber hinaus als antagonistischen sozialen Konflikt, in dem
der Bürger durch die Unterwerfung des Proletariats Bürger wird, während
das Proletariat Proletariat wird, indem es durch seine Knechtsdienste das
Bürgertum in strukturelle Abhängigkeit verwickelt, die erst mit der sozialistischen Revolution, die jedweder Form von Herrschaft und Unterdrückung
ein Ende bereitet, ihren dialektisch-versöhnlichen Abschluss findet.
In Wirklichkeit aber sind das Selbe und das Andere weder sozial, noch
kulturell, noch geschlechtsmäßig konzipiert: class, race und gender – um die
Terminologie der angelsächsischen Cultural Studies zu bemühen – lassen
sich vielleicht auf dieser Stufe der Abstraktion als symbolische Ausformungen von Agonalität begreifen, zur Erhellung der Struktur des Konflikts tragen sie selbst nichts bei. Der „Selbe“ und der „Andere“ sind Denkfiguren auf
allerhöchster philosophischer Ebene. Verbindet man die Alteritätsfrage mit
jener nach der Genese und der Zukunft von Herrschaft, dann erhält man ein
so abstraktes Denkmodell, dass die Differenzen der Differenzen – soziale,
religiös-weltbezügliche, sprachliche, nationale ethnische, sexuelle – auf dieser Ebene nicht zum Tragen kommen. Wer jenseits von Hegel kulturwissenschaftlich argumentieren will, der wird nicht um eine Phänomenologie der
Differenzen von Differenzen herumkommen, und sie könnte zeigen, dass die
andere nicht identisch mit dem anderen ist, weder mit dem personalen, noch
mit dem „neutralen“, dass „der (kulturelle) Fremde“ und „der Andere“ nicht
notwendig zusammenfallen. Mit dem Diskurs über „das Fremde“, „das Andere“, „das Eigene“ und „das Selbe“ befindet man sich sogleich in jenem theoretischen Minenfeld, das durch Begriffe wie „Universalismus“ und „Kultura-
85
lismus“ abgesteckt ist. Eine kulturwissenschaftlich gewendete Phänomenologie wird daher die Unterschiede, Abstufungen und Differenzen, ihre fließenden Übergänge, aber auch ihre kontrastiven Akzente zwischen den verschiedenen Modi des Fremden, etwa – um die in diesem Fall präzisere englische Terminologie zu gebrauchen – zwischen the other, the stranger und the
foreigner zu markieren haben.
Genau diese Differenzen verwischt das von der Lacanschen Psychoanalyse
beeinflusste Werk von Julia Kristeva L’etranger à nous même. Kristeva gebraucht
den mittleren, unspezifischen Begriff des „Fremden“. Aber ganz augenscheinlich denkt sie dabei an den Ausländer, den Menschen, der aus einer fremden
Kultur kommt, den Immigranten oder Asylanten:
Der Fremde, Figur des Hasses und des anderen, ist weder das romantische Opfer
unserer heimischen Bequemlichkeit noch der Eindringling, der für alle Übel des
Gemeinwesens die Verantwortung trägt. Er ist weder die kommende Offenbarung
noch der direkte Gegner, den es auszulöschen gilt, um die Gruppe zu befrieden. Auf
befremdliche Weise ist der Fremde in uns selbst.6
Der Fremde ist längst in uns vorhanden, noch ehe er seinen äußeren Auftritt
hat. Deshalb kommt es – so Kristeva – darauf an, das Fremde anzuerkennen,
nicht nur moralischer und politischer Optionen „sondern um unserer selbst
willen“. Daraus leitet Kristeva auch eine Art psychopolitischer Utopie ab:
„Können wir innerlich, subjektiv mit den anderen, die anderen erleben?
Ohne Ächtung, aber auch ohne Nivellierung?“7
Im Unterschied zum traditionellen und ritualisierten Umgang mit dem
Fremden, wie er etwa in der Gastfreundschaft zu Tage tritt,8 geht es nicht
mehr um die Aufnahme und die Integration des Fremden, sondern um eine
Kohabitation unter und zwischen Fremden. Die Anerkennung des Fremden
beinhaltet im Kern das Eingeständnis, dass wir uns selbst Fremde sind: „Nicht
mehr die Aufnahme des Fremden in ein System, das ihn auslöscht, sondern
nach Zusammenleben dieser Fremden, von dem wir erkennen, daß wir alle es
sind.“9
Fremd sind wir uns aber, so die Psychoanalytikerin, weil das Andere das
uns „eigene Unbewusste“ ist, das Unheimliche, das Angst auslöst. So ist der/
die Fremde nichts anderes als der/die symbolische stuntman/stuntwoman, der/
die unser unbewusstes anderes Ich verdeckt. Die Angst vor dem Fremden
fällt auf uns selbst zurück: auf die eigenen Anteile, die uns fremd sind.
Kristevas letztendlich optimistische Botschaft kulminiert im Aufruf zu
einer paradoxen Selbsterkenntnis, die das Eingeständnis der Unerkennbar-
86
keit des Fremden mit einschließt: dessen nämlich, was symbolisch nicht eingemeindet und was als Fremdkörper jedweder Kultur verstanden werden kann.
Diese psychoanalytisch geweitete und durchgearbeitete Reflexion gestattet es
dabei, mit dem äußerlich Fremden sein Auskommen zu finden, jenseits der
traditionellen Strategien, ihn entweder (durch Nivellierung und Auslöschung)
aus der Welt zu schaffen, suchen oder ihn durch Überhöhung oder Erniedrigung auszugrenzen. Der fremde irritierende Rest, jenes symbolisch nicht
Einholbare, das eigentlich a-kultural ist (wie ja die gesamte Psychoanalyse
grosso modo das Unbewusste als kulturell unspezifisch ansieht),10 steht in
keinem privilegierten Bezug zu jener Fremdheit, die mir mit dem kulturell
Fremden entgegentritt.
Der konkrete Hintergrund des Buches ist schnell auszumachen: Es ist die
seit den 1990er Jahren grassierende Abwehr der europäischen Bevölkerung
gegen eine zunehmende Einwanderung von Fremden, insbesondere aus außereuropäischen Ländern. Auffällig changiert Kristeva zwischen dem Begriff eines „exterritorialen Anderen“, das diese Fremden repräsentieren, und
jenem Anderen, das unser sogenanntes „Unterbewusstsein“ darstellt. Obschon die psychopolitisch sympathische Annahme stimmen mag, dass Menschen mit dem kulturellen Privileg paradoxaler Selbsterkenntnis, hoher Bildung und ökonomischer Sicherheit nicht in panische Angst vor dem Fremden
geraten, so besteht zumindest kein innerer Zusammenhang zwischen den Fremden jenseits unserer kulturellen Vertrautheit und dem „Fremden“, das man als
das Andere der Vernunft bezeichnen kann. Die einzige Gemeinsamkeit, die sie
beinhalten, ist ihr hypostasierter Status der Unverständlichkeit.
Interessant am Fremden ist – darauf hat schon Hermann Broch11 hingewiesen – dass all jene Elemente Angst auslösen, die nicht in den eigenen
symbolischen Haushalt zu integrieren sind. Wenn der Mensch mit Broch
und Cassirer12 ein Lebewesen ist, das des kulturellen Symbolismus bedarf,
um in der Welt zu sein, dann stellt das Fremde in der Tat einen Grenzbegriff
dar, nämlich die Grenze des symbolisch Beheimatbaren.
Kristevas Konzept des Fremden ist universalistisch, nicht kulturalistisch.
Interessant am Fremden ist nicht dessen fremde Kultur, sondern seine Fremdheit als solche, die uns mit der eigenen Fremdheit konfrontiert. „Die Unterschiedlichkeit dieses Gesichts enthüllt schlaglichtartig, was jedes Gesicht dem
aufmerksamen Blick offenbaren sollte: die nicht existierende Banalität des
Menschen.“13
Was Kristeva postchristlich vorschwebt, ist eine Welt, in der alle gleich
sind, weil sie sich selbst und einander fremd sind, Kosmopoliten in einem
87
ganz neuen Sinn, keine katholische, wohl aber eine psychoanalytisch gebildete Weltgemeinde. Unbedacht bleibt die Frage, ob jene Fremden, die unter
unserem Blick zu imaginären reizvollen oder bedrohlichen Wesen werden,
überhaupt in diesem Zustand der Fremdheit zu sich selbst und das heißt,
auch der kulturellen Unbehaustheit zu leben vermöchten. Das gilt natürlich
auch von jenen, die sich ein Bild über sie machen, um sich von ihnen abzugrenzen.
Der Alteritätsdialog, der von Hegel seinen Ausgangspunkt nahm und hier
durch die Konzeption des Freudschen Unheimlichen modifiziert wurde, hat
Hegels realistische Frage, ob sich nämlich nicht an Alterität Formen von
Herrschaft entzünden, buchstäblich in die Frage meiner eigenen Befindlichkeit aufgelöst. Man muss gewiss über Hegel hinaus gelangen und die Spuren
nachzeichnen, die die Verklammerung von Herrschaft und kultureller Differenz bewirkt, aber die Reduktion auf ein innerpsychologisches Phänomen
wie auch der Aufruf an eine psychoanalytische Selbsterkenntnis greifen sowohl phänomenologisch als auch politisch entschieden zu kurz.
Im Gegensatz zu Kristeva ist das Alteritätsmodell Levinas’ dezidiert und
ausdrücklich nicht-psychologisch und an entscheidender Stelle auch gegen
die Psychoanalyse gewandt. Levinas Texte14 stehen am Ende eines langen phänomenologischen und existenzialphilosophischen Diskurses, in dem es
keineswegs um den kulturell Anderen geht, sondern um die Struktur eines
nach-klassischen Subjektes, in das die Vorgängigkeit des Anderen stets schon
eingeschrieben ist. Immer hat es – wie das bucklicht Männlein, das Walter
Benjamin so bewegt hat,15 bereits den Platz besetzt, den das Selbst für sich
beansprucht. Von aller traditionellen Ethik unterscheidet sich Levinas durch
eine existenzielle Verankerung des Ethischen. Dieses tritt nicht als ein weiteres Problem hinzu, sondern ist immer schon vorhanden, durch das Gesicht
des Anderen, das zugleich ein akustisches Phänomen ist: eine Stimme; auf
dieses Gesicht und auf diesen Zuruf des symbolisch nicht kodierten Anderen
muss der Mensch reagieren, er entkommt dem Anderen nicht. Liebe und
Gewalt bilden die beiden Extrempole im Umgang mit dem Anderen: „Gewiß, das Andere, das sich anzeigt, besitzt dieses Sein nicht so wie das Subjekt
es besitzt; sein Ausgreifen auf mein Sein ist geheimnisvoll, nicht unbekannt,
sondern unerkennbar, widerständig gegen jedes Licht.“16 Levinas setzt sich
bewusst von Hegel ab bzw. lässt dessen Analyse in einem anderen Licht erscheinen. Weder durch Kampf (wie bei Hegel) noch durch Verschmelzung
lässt sich dieses doppelgängerische Andere abschütteln, es kommt immer
wieder. „Es ist weder ein Kampf noch ein Verschmelzen noch ein Erken-
88
nen.“17 Der Andere ist dadurch charakterisiert, dass er sich – in diese Richtung ging auch bereits die Bestimmung des Fremden bei Broch – entzieht:
„Wenn man den anderen besitzen, ergreifen und erkennen könnte, wäre er
nicht der andere. Besitzen, Erkennen, Ergreifen sind Synonyme des Könnens.“18
Im frühen Werk von Levinas ist es einzig die Liebe, die die Vorgängigkeit
des Anderen angemessen ins Licht rückt: „Was man als Mißlingen der Kommunikation in der Liebe ausgibt, stellt gerade die Positivität des Verhältnisses
dar; diese Abwesenheit des anderen ist gerade seine Anwesenheit als des anderen.“19
In diesem Kontext wird das Weibliche zum anderen und damit die heterosexuelle Liebe zum Paradigma von Alterität. Sie repräsentiert das, was Levinas als Dualität des Seienden bezeichnet. Augenfällig ist, dass Levinas die
Möglichkeit einer weiblichen Perspektive auf den Anderen gar nicht eigens
in Rechnung stellt und an dieser Stelle seine abstrakte existenzielle Analyse
zumindest im Ansatz durchbricht. Denn das Alteritätsmodell, das von der
Differenz von Mann und Frau ausgeht, ist, auch wenn man den radikalen
kulturalistischen Konstruktivismus verwirft, ein zutiefst symbolisch amalgamiertes und ganz spezifisches. Diese Form der Alterität ermöglicht es Levinas indes, die Struktur und das Schicksal des Begehrens zu beschreiben:
Die Leidenschaft der Liebe besteht jedoch in einer unüberwindlichen Dualität des
Seienden. Es ist ein Verhältnis zu dem, das sich immer entzieht. Das Verhältnis
neutralisiert nicht ipso facto die Andersheit, sondern bewahrt sie. Die Leidenschaftlichkeit der Wollust besteht darin zu zweit zu sein. Das andere als anderes ist hier
nicht ein Objekt, das das unsrige wird oder das wir wird; es zieht sich im Gegenteil
in sein Geheimnis zurück.20
In seinem mystischen Konzept von Liebe wird der Andere als die Instanz
erkannt, derer ich zur Entwicklung meines Selbst bedarf und die Liebe ist
jenes Moment, das mir ein Selbst beschert, dessen Glück nicht zuletzt darin
besteht, dass es allem Anspruch zum Trotz nicht autonom ist, sondern die
Andersheit des Anderen, die keine bloß äußere ist, lustvoll anerkennt. Der
Andere ist in diesem Konzept keine Aufforderung zum Kampf, keine Herausforderung, der ich mich entgegenstelle, keine Bedrohung, sondern er ist jenes
Element, dessen ich als Selbst bedürftig bin: „Der andere ist kein Wesen, dem
wir begegnen, das uns bedroht oder das sich unserer bemächtigen will.“21
Der Ausgang von Hegels Geschichte von Herr und Knecht macht für Levinas sinnfällig, dass der Kampf den Anderen verfehlt, aber, so ließe sich
89
mutmaßen, beruht auf dieser Verfehlung des Anderen jede Identität durch
Abgrenzung.
In späteren Schriften hat Levinas seine Emphase spürbar zurückgenommen, ja sogar revidiert, und zwar nicht aus Gründen, die mit möglichen
Gegenargumenten aus den Gender Studies oder den Kulturwissenschaften
zusammenhängen, sondern deshalb, weil die Liebe ein Verhaltensmodell ist,
das nicht repräsentativ, sondern exklusiv ist, einen Sonderfall darstellt: „Lieben heißt existieren, als wären Liebender und Geliebter allein auf der Welt.“22
Nicht der intime Andere, der uns noch im vertrautesten Augenblick fremd
bleibt, sondern der abstrakte Andere ist es, dem der Status des Dritten zukommt, der ein Außen repräsentiert und der seine Ansprüche durchaus prosaisch, etwa in Gestalt des Mediums Geld geltend macht. Nicht der bevorzugte Geliebte, sondern der Unbekannte verkörpert nun jene Instanz des Fremden, der ich nicht entkomme und der ich stets unterliege. Insofern Levinas
die Kultur des Geldes und die Zivilgesellschaft zusammendenkt, impliziert
seine politische Wende auch eine Wende seiner Existenzialethik zu einer
Philosophie, die das Politische mitdenkt.
Dabei bleibt das Philosophieren von Levinas einem utopischen Impuls
verpflichtet. Gegen die gerade in der westlichen Kultur so perfektionierte
Technik der Selbstbeherrschung setzt er auf eine Geste der Gelassenheit: Die
Anerkennung von Alterität geht nämlich mit dem Eingeständnis einher, das
Andere weder aneignen noch kontrollieren zu können. Das mystische Moment, das insbesondere in seiner Phänomenologie der Liebe zum Austrag
kommt, ist genau jene Grenzlinie, an der der Prozess symbolischer Weltaneignung zum Erliegen kommt. Das Unsagbare bildet wie alle „Un-“ einen
Grenzwert der Kultur.
Die Kehrseite der Philosophie ist ihr Absehen vom Konkreten. Die Urszene, die Hegel beschreibt, ist eine Fiktion. Immer befinden wir uns in einer
Welt, in der Herrschaft bereits vorhanden und kulturell ausgeprägt ist. Diese
Gestaltetheit der Welt ist es auch, die andere Denkfiguren überlagert. Weder
entsteht die Gewalt durch die Urszene eines Kampfes, vor dem es keine Herrschaft und keinen kulturellen Symbolismus gibt, noch ist die kulturalistische
Ansicht haltbar, wonach die Gewalt wie die Frau ein Effekt der Sprache und
deren Gewalt ist. Liebe und Gewalt, Tausch und Rivalität sind Varianten
jenes Verhältnisses, das nie frei von Herrschaft sein kann.
Levinas’ Modell ist auf andere Weise abstrakt-universalistisch als jenes
von Kristeva. Weder der kulturelle Symbolismus noch die Asymmetrie der
Macht sind in dieses Verhältnis einbezogen: „Das Selbe“ und „das Andere“
90
begegnen sich in einer Urszene, in einem luftleeren Raum. Der kulturell
Fremde kommt dabei gar nicht in Betracht. Er ist entweder – wie in der
Version des späten Levinas – der „gleichgültige“ Andere, den ich im symbolischen Geld- und Tauschverhältnis als vorgeordnete soziale Instanz anerkenne, oder er ist ein Effekt meines Unterbewusstseins, ein Produkt meines mir
selbst unheimlichen kulturell unspezifisch Fremden – denn die Psychoanalyse denkt sich wie auch das Unbewusste nicht kulturspezifisch. Hier erkenne
ich mich in dem Fremden nicht, weil ich das mir Fremde nicht kenne. Das
Fremde, das etwa zum Opfer von Gewalt und Unterdrückung wird, kann
aber auch als ein Produkt des sprachlichen Symbolismus angesehen werden,
der den Fremden, die Sprache und die Gewalt erst erzeugt. Judith Butlers
auf Foucault gründende Engführung von Sprache und Macht geht letztendlich
davon aus, dass es der binäre Code ist, der in seiner Polarisierung etwa im
Hinblick auf das geschlechtlich Andere erst die polare Gegenüberstellung von
Mann und Frau erzeugt und jedes Dritte ausschließt.23 Bernhard Waldenfels24
folgt diesem radikalen Konstruktivismus nicht, doch auch bei ihm wird die
Gewalt, als die mögliche Form der Reaktion auf den Fremden nur durch den
begleitenden Diskurs möglich, der die Ausübung von Gewalt legitimiert.
Es ist interessant, diesen verschiedenen Konzepten von Alterität im Schatten Hegels bestimmte individuelle und kollektive Strategien in der postmodernen civil society zuzuordnen: Kristevas Konzept der psychotherapeutischen
Selbstaufklärung, der radikale Konstruktivismus den Dispositiven politischer
und sexueller Korrektheit und der Emphase für den ethnischen und sexuellen „Hybriden“, die Phänomenologie eines Levinas der politischen Utopie
einer Bürgergesellschaft als eines Ensembles von Menschen, die gleichermaßen
einem Dritten, aber nicht wechselseitig einander unterworfen sind.
Ohne die Verdienste solcher Konzepte schmälern zu wollen und entgegen
eines radikal konstruktivistischen Verständnisses des cultural turn, wird man
davon auszugehen haben, dass Hunger, Tod, Unterdrückung, Demütigung,
Vergewaltigung und Versklavung nicht bloß sprachliche Effekte und Gebilde
sind. Überdies ist der Kampf, der nicht am Nullpunkt stattfindet, sondern
auf Vorgefundenes reagiert, keineswegs sinnlos: Besitz, Karriere, Eigentum,
Sicherheit, Reichtum sind nicht rein symbolisch, sie sind im Rahmen einer
Gesellschaft konkurrierender Individuen durchaus „real“. Das heißt nicht,
dass der kulturelle Symbolismus, ohne den diese Prozesse nicht stattfinden
könnten, sekundär wäre. Im Begriff der Anerkennung scheinen sich der
reale und der symbolische Aspekt zu überkreuzen. Die Anerkennung des
Anderen setzt meine eigene voraus und umgekehrt.
91
Kultur ist nicht bloß ein Instrument, nicht bloß falsches Bewusstsein und
nicht bloß das Unbewusste einer Gesellschaft. Das Verhältnis zwischen sozialem Funktionalismus und kulturellem Symbolismus ist weder egal noch analog und auch nicht hierarchisch. Der Symbolismus, weit davon entfernt bloßer Widerschein zu sein, ist Motor und Medium der Differenzsetzung zugleich.
Kultur wäre demnach als eine symbolische Maschinerie zu verstehen, die
nicht nur Bedeutung, sondern auch Differenz erzeugt. In ihr wird offenbar,
was wichtig und unwichtig, bedeutend oder unbedeutend ist. Nur der Symbolismus der Kultur liefert jene Rangfolgen und Abstufungen, die für den
realen wie auch den vermeintlichen Platz in der Gesellschaft maßgeblich ist.
Er produziert auch eine Stufenleiter des Fremden: Einige sind nämlich
kulturell fremder als die anderen. Diese symbolische Hackordnung, die in
der Differenz virulent wird, lässt sich binnen- und intrakulturell wenden.
Keineswegs ist die kulturelle Wertigkeit der Menschen in ein und derselben
Gesellschaft dieselbe, noch die jener Menschen, die als extern symbolisiert
werden. Ein moderater kulturell-wissenschaftlicher Paradigmenwechsel verbindet die Anerkennung realer Herrschaftsverhältnisse mit einer Analyse der
Differenzen von Differenzen.
Die Differenzen von Differenzen variieren die kulturelle Bandbreite und
werden negativ offenbar im unterschiedlichen Auftritt der Gewalt: Zwischen
Woyczek, dem psychiatrischen Grenzgänger, der seine treulose Geliebte umbringt, und einer Bande, die einen dunkelhäutigen Ausländer mit einer weißen Frau am Arm zu Tode hetzt, zwischen den Gewaltfantasien im Sexualakt
und den reihenweisen Vergewaltigungen von Frauen im Krieg, zwischen der
Ermordung der Einheimischen im Gefolge des Kolonialismus und der Shoah lassen sich Unterschiede ausmachen. Im Hinblick auf den kulturell Fremden scheint der Auftritt in der Gruppe, der „Hetzmasse“ die Tötungshemmung aufzuheben.25 Die Anwesenheit anderer ist nicht etwa beschämend,
sondern ermutigend, weil es die Etablierung eines Einverständnisses erleichtert, dass man den töten darf, der als externer Fremder angesehen wird,
nicht als ein ebenbürtiger Anderer. Überhaupt scheinen alle traditionellen
Konzepte im Umgang mit dem Fremden darauf hinauszulaufen, ihm genau
jenen Status der Alterität vorzuenthalten, der bei Levinas zentral ist und der
den Ausgangspunkt bei Hegel bildet: die prinzipielle Ebenbürtigkeit. Diese
stellt die Voraussetzung dafür dar, den Vorrang des Anderen anzunehmen
beziehungsweise – was in Hegels Denkmodell vorausgesetzt ist – den Anderen
als gleichberechtigten Konkurrenten zu akzeptieren. Vornehmlich die gegenkulturelle Gewalt, das heißt die Gewalt gegen den als kulturell extern
92
Markierten ist diskursbedürftig. Die Externalisierung muss im Zweifelsfall
sprachlich affirmiert werden. Kulturelle Irrtümer sind dabei nicht auszuschließen, wie ein Detail aus einem Gespräch mit dem Wiener Jugendgerichtspräsident Udo Jesionek veranschaulicht: Auf die Frage, warum sie einen kanadischen Jugendlichen halb tot geschlagen haben, meinten diese: Sie
hätten ihn für einen Türken gehalten, wenn sie gewusst hätten, dass er ein
Kanadier gewesen wäre, hätten sie das nicht getan.
Hier gerät die Fremdheitszuschreibung in der Tat zum potenziellen Todesurteil, jene Fremdzuschreibung, die in einem anderen Fall romantische
Bewunderung hervorruft. Der Fremde, der uns „unsere“ Frauen wegnimmt
(der Jude, der Schwarze, der Inder und so weiter), ist die eine Seite des
kulturell Anderen, die Bewunderung des Anderen, dessen Fremde auf uns
einen Reiz ausübt, so wie die Jazzmusik in den 1920er Jahren, die Körperlichkeit des Schwarzen, die jüdische Intelligenz, die indische Mystik. Der
„Rassismus“ ist nur der undurchschaute Ausdruck dieser Relation, die stets
im Spiel ist, wenn der Andere der kulturell Fremde ist. Es lässt sich vermuten, dass diese Gespanntheit zunimmt, wenn sich die Differenzen verkoppeln: die sexuelle Fremdheit mit der ethnischen und der sozialen.
Der Umschlag von der Akzeptanz des Anderen in dessen versuchte Vertilgung hingegen geschieht, anders als das Pogrom oder die Attacke gegen
Ausländer, im stummen, klammheimlichen einsamen und zweisamen Vollzug, wie nahezu alle Kriminalstatistiken belegen. Zum Gemeinverständnis
gehört, dass sie so alltäglich wie sanktioniert ist. Die alltägliche Gewalt ist
beinahe leise und privat, so stumm wie jene in Büchners Woyczek und in
Horvaths Letztem Tag. Ihrer dramatischen Kunst gelingt es, dass die Täter in
ihrem Ausgeliefertsein fast so Mitleid erregend anmuten wie die weiblichen
Opfer. Stumme Hilflosigkeit und Wut kennzeichnen die gewalttätige Entladung gegen das Andere, kollektive Erregtheit der Sprache und persönliche
Unbeteiligtheit die Entladung gegen das Fremde: Die postmoderne Xenophobie, ein temperierter Faschismus, bedarf kaum mehr des Hasses als energetischen Antriebs. Deshalb erweist sich eine bestimmte Art von aufgeregter
Aufklärungsrhetorik ihm gegenüber als hilflos.
Die Grenzen zwischen dem Anderen und dem Fremden sind selbstredend fließend: In einer bestimmten Situation kann uns ein persönlich und
kulturell vertrauter Mensch als ein Wesen aus einer fremden Symbolwelt erscheinen, fremd, rätselhaft und unverständlich wie ein Wesen von einem
anderen Planeten, und umgekehrt gibt es Situationen, wo der kulturell Fremde
uns zum nahen Anderen wird, von dem wir auf die paradoxe Art, wie sie
93
Levinas beschrieben hat, unsere Anerkennung beziehen, und zwar über die
symbolische und diplomatische Akzeptanz hinaus, „daß Neger auch Menschen sind“ (wie der humanistische Lehrer in Horvaths Jugend ohne Gott
einen rassistisch eingestellten Schüler belehrt).26 In der intimen Begegnung
von Menschen aus ethnisch verschiedenen Herkunftswelten überkreuzen sich
permanent binnen- und intrakulturelle Alteritäten. Daran aber, dass gerade
im kulturwissenschaftlichen Blickwinkel „das Fremde“ und „das Andere“
strukturell nicht homolog und nicht einmal analog sind, ändert dies wenig.
Ob der „Hybrid“ jenes nachmoderne globale Subjekt sein könnte, das diese
Verwerfungen aufhebt (wie es in manchen Texten der Postcolonial Studies suggeriert wird), ist lebenspraktisch wie theoretisch-politisch eher zweifelhaft.
Eine eigentümliche strukturelle Antinomie wird sichtbar: Dem scheinbar
kompakten singulären Eigenen steht eine Pluralität fremder Konfigurationen gegenüber. Das Eigene, das sich vom Anderen abzugrenzen trachtet und
doch von ihm konstruiert ist, sieht sich in seiner Uneigentlichkeit einem
Heer von Alteritäten und Fremdheiten gegenüber, das womöglich seine
uneigentliche Eigentlichkeit noch einmal fragmentiert. Es gerät, diesem vielfältig Fremden gegenüber, das sich im klassischen Modell der Alterität nicht
wirklich abbilden lässt, unter Symbolisierungs- und Reflexionszwang, den es
annehmen oder verwerfen kann. Anders als im luftleeren Raum des philosophischen Diskurses ist Reflexion kulturwissenschaftlich an die Existenz des
kulturell Fremden geknüpft: sich mit dessen/deren Augen zu sehen, wird
zur Chance und Zumutung einer globalen Welt, die sich zugleich kulturell
diversifiziert und regionalisiert.
Anmerkungen
1 Vgl. Arthur C . DANTO, Kunst nach dem Ende der Kunst (dt. von Christiane
Spelsberg), München 1996, S. 20.
2 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich HEGEL, Phänomenologie des Geistes. Werke in
20 Bänden, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1970, S. 145–155.
3 Vgl. Vincent DESCOMBES, Das Selbe und das Andere, Frankfurt a. M. 1981,
S. 17–24.
4 Vgl. Emmanuel LEVINAS, Zwischen uns. Versuche über das Denken an den
Anderen (dt. von Frank Miething), München 1995, S. 167–193.
5 Vgl. Hannah AHRENDT, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 21981,
S. 36.
6 Julia KRISTEVA, Fremde sind wir uns selbst (dt. von Xenia Rajewski), Frankfurt a. M. 1991, S. 11.
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24
25
26
Ebenda.
Vgl. Hans-Dieter BAHR, Die Sprache des Gastes, Leipzig 1994.
KRISTEVA, Fremde, S. 12.
Vgl. Mario ERDHEIM, Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit.
Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozeß, Frankfurt a. M. 1984,
S. 220.
Vgl. Hermann BROCH, Massenwahntheorie. Kommentierte Werkausgabe,
Bd. 12, hg. von Paul M. LÜTZELER, Frankfurt a. M. 1979.
Vgl. Ernst CASSIRER, Philosophie der symbolischen Formen (1953), Wiesbaden 101994.
KRISTEVA, Fremde, S. 13.
Emmanuel LEVINAS, Die Zeit und der Andere (übersetzt und mit einem Nachwort von Ludwig WENZLER), Hamburg 1984, S. 13.
Vgl. Walter BENJAMIN, Berliner Kindheit um 1900, hg. von Rolf TIEDEMANN,
Frankfurt a. M. 2000, S. 162–164.
LEVINAS, Zeit und der Andere, S. 47.
Ebenda, S. 59.
Ebenda, S. 61.
Ebenda, S. 65.
Ebenda, S. 57.
Ebenda, S. 58.
LEVINAS, Zwischen uns, S. 33.
Vgl. Judith BUTLER, Das Unbehagen der Geschlechter (dt. von Katharina
Menke), Frankfurt a. M. 1991.
Vgl. Bernhard Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt a. M. 1998;
DERS., Der Stachel des Fremden, Frankfurt a. M. 1991.
Vgl. Elias CANETTI, Masse und Macht, Frankfurt a. M. 1995, S. 49–54.
Vgl. Ödön von HORVATH, Jugend ohne Gott, Frankfurt a. M. 1999.
95
Mestizaje und hybride Kulturen.
Lateinamerika und die Habsburger-Monarchie
in der Perspektive der Postcolonial Studies
Michael Rössner
Die Zusammenstellung Lateinamerika und Österreich-Ungarn mag auf den
ersten Blick gewagt erscheinen; ich habe sie freilich schon an anderer Stelle1
unternommen und meine, dass bei allen Gegensätzlichkeiten des kulturellen
Geflechts ein produktiver Vergleich zwischen den beiden genannten Kulturen durchaus möglich ist, wie ich hier darzulegen versuchen werde. Aufhänger bei einem solchen Vergleich ist das tertium comparationis, der Gegensatz –
nämlich die – ethnisch, religiös, sprachlich – „reinen“ Kulturen, für die im
europäischen Kontext wohl vor allem die französische und die englische, mit
einer gewissen Verspätung auch die deutsche und italienische stehen können: „Nationalkulturen“ im Sinn des späten 18. und des 19. Jahrhunderts,
und – nicht ganz zufällig – auch jene Kulturen, die mit den dominierenden
Kolonialmächten der in dieselbe Zeit fallenden Blüte der kolonialen Aufteilung der Welt zusammenfallen. Für die im globalen Sinne „postkoloniale“
Entwicklung des eben zu Ende gegangenen 20. Jahrhunderts war es daher
ganz bezeichnend, dass diese fehlende „Reinheit“ zunächst als Makel empfunden und verbal verdrängt (Lateinamerika) oder praktisch (das 20. Jahrhundert als fortgesetzter Prozess der freiwilligen oder erzwungenen „ethnisch-kulturellen Separierung“ – um es euphemistisch zu sagen –) bekämpft
wurde. Erst seit den traumatisierenden Erfahrungen der Jahrhundertmitte
ist ein Umdenkprozess im Gange, der zu einer Neubewertung der kulturellen „Unreinheit“ geführt hat – im mitteleuropäischen Kontext steht dieser
freilich stets zugleich unter „Nostalgieverdacht“, während er im lateinamerikanischen Bereich sich wesentlich ungestörter entfalten konnte, ja zeitweise
sogar als politisch „fortschrittlich“ eingestuft wurde.
Natürlich ist es nicht möglich, im Rahmen dieses Beitrages auch nur
andeutungsweise eine Geschichte dieser Identitätsdebatte zu schreiben. Ein
paar Eckdaten müssen genügen: Ein erster Schub in Richtung Anerkennung
der Kulturmischung als Reichtum erfolgt im Rahmen des Modernismo der
97
Jahrhundertwende und dann noch stärker nach der mexikanischen Revolution und bei einigen Avantgardegruppen. Allerdings bleibt das stets ein abstrakter und mythisierter Begriff der Rassen- und Kulturmischung (mestizaje),
der in utopischen Entwürfen einer „Über-Rasse“ (der raza cósmica von Vasconcelos2) oder einer symbolischen Indio-Eigenschaft wie dem Kannibalismus der brasilianischen Anthropophagos-Gruppe zum Ausdruck kommt, bei
dem der Brasilianer die „europäische Kulturtünche“ auffrisst, damit darunter
der wahre, nackte, natürliche Mensch zum Vorschein kommen soll.3
Ein späterer, konkreterer Umdenkprozess wurde, wie ich vor rund 15
Jahren in einer umfassenden Studie gezeigt habe,4 in Lateinamerika vor allem durch die exotistischen Tendenzen der europäischen (insbesondere französischen) Avantgarde angeregt. Die in Europa an solchen Gruppen beteiligten Autoren entwickeln unter dem Eindruck des anscheinenden Untergangs
europäischer Kulturtradition in der Barbarei des Nazi-Regimes während und
kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ein neues Selbstbewusstsein, das zum Etikett der neuen lateinamerikanischen Literatur in der Theorie des „Wunderbar Wirklichen“ oder des „Magischen Realismus“ wird und in einigen Ländern (Mexiko) ein geradezu als Staatsdoktrin eingesetztes Konzept des kulturellen „mestizaje“ ausbildet, also der Rassenmischung, von der natürlich im
Alltag in kultureller Hinsicht nicht die Rede sein konnte. In keinem lateinamerikanischen Land, so hoch der Anteil indigener und mestizischer Bevölkerung auch sein mag, kann man tatsächlich von einer auch nur annähernd
gleichwertigen Berücksichtigung indigener Kulturelemente sprechen, nicht
hinsichtlich der Hoch- und nicht einmal hinsichtlich der Populärkultur.
Auch im „Magischen Realismus“ und den verwandten Bewegungen bleibt die
indigene Perspektive eine artifizielle, die aber immerhin neue ästhetische
Effekte ermöglicht und die Wertschätzung des eigenen indigenen Kulturelements verbessert, ohne es tatsächlich zu integrieren.
Was aber tatsächlich in Lateinamerika – auch schon vor dem Zweiten Weltkrieg – Realität ist, das ist eine Hybridisierung der Kultur, sowohl im vertikalen Sinn (viel stärkere Überlappung von „Hoch“- und „Populärkultur“) als
auch horizontal, hinsichtlich der ethnisch-sprachlichen Elemente derselben,
wobei es eben nicht um indigen versus europäisch, sondern um ein viel komplexeres Geflecht aus bereits früh eingetretener Mestizisierung und einer in
Europa weithin undenkbaren Mischung verschiedenster Kulturelemente ohne
dominante „Leitkultur“ – wenn ich diesen unseligen politisch eingesetzten
Begriff hier einmal ohne ideologischen Gehalt verwenden darf – geht. Eine
solche Hybridisierung, die in der jüngsten Zeit auch theoretisch von der
98
lateinamerikanischen beziehungsweise lateinamerikanistischen Kulturanthropologie (Néstor García Canclini5, José Joaquín Brunner6, Beatriz Sarlo7, Jesús
Martín-Barbero8, Alfonso de Toro)9 genauer untersucht und von Autorengruppen der jüngeren Generation (Crack in Mexiko, McOndo in Chile)
geradezu zum Markenzeichen eines neuen kontinentalen Selbstbewusstseins
gemacht worden ist, lässt sich wenigstens in einigen Aspekten mit Begriffen
beschreiben, die aus dem Theoriegebäude der Postcolonial Studies,
insbesondere in der Version Homi Bhabhas, stammen: Hybridization, InBetween oder Third Space und anderes mehr, aber natürlich auch die Interaktion von Zentrum und Peripherie mit den entsprechenden Kommunikationskanälen und den sich daran knüpfenden Problemen – allerdings nur dann,
wenn man diese Begriffe in die Mehrzahl setzt und als relative fasst: Es gibt in
einer solchen Betrachtungsweise kein absolutes Zentrum und keine absolute
Peripherie wie im klassischen Bild der postkolonialen Kultur – und schon
gar keine Einbahnstrasse des kulturellen Einflusses, wie sie Edward Said für
das Verhältnis Okzident/Orient postuliert, sondern nur relative Zentren und
relative Peripherien hinsichtlich bestimmter zwischen einzelnen Räumen,
Ethnien, Staaten und Kulturen und in bestimmten Bereichen für eine abgegrenzte historische Phase bestehender Relationen.
Wenn man die Sache so betrachtet, dann – so meine ich – lassen sich
einige Parallelen zu der kulturellen Situation im alten Österreich ausmachen, die eben auch von einer größeren „Unsauberkeit“, einer im Vergleich
zu anderen Kulturen wesentlich höheren Durchlässigkeit zwischen verschiedenen kulturellen Schichten im vertikalen und horizontalen Bereich geprägt
gewesen ist – was zum Teil Gott sei Dank trotz aller ethnischen und kulturellen „Säuberungen“ immer noch fortwirkt.
In dem Rahmen dieser kurzen Darstellung können wohl nur Perspektiven von Forschungsdesideraten entwickelt, nicht jedoch Ergebnisse geliefert
werden, aber auch das scheint nicht ganz unnötig zu sein, wenn man einerseits
in Rechnung stellt, dass eine solche Verbindung bislang kaum jemals auch
nur angedacht worden ist und andererseits, dass gerade in der jüngsten Vergangenheit in Lateinamerika das alte Österreich sozusagen „in Mode“ gekommen ist: In Argentinien und in Mexiko sind mehrere Publikationen über
das Wien der Jahrhundertwende erschienen, und die Vertreter einer der
beiden prominenten jüngeren Autorengenerationen, die mexikanischen Literaten der „Crack“-Gruppe, nennen plötzlich als ihre Vorbilder nicht nur
die Borges-Lektüren Kafka und Mauthner und die Cortázar-Vorbilder Hofmannsthal und Robert Musil, sondern auch mitteleuropäische Autoren, de-
99
ren Kenntnis man in Mexiko nicht vermutet hätte: Von Hermann Broch ist
da die Rede, von Max Brod und von Joseph Roth, um nur einige wenige zu
nennen. Das zeigt wohl, dass es angebracht wäre, über Gemeinsamkeiten,
aber auch über Differenzen nachzudenken, und einen ersten Versuch, ein
Programm für eine solche Reflexion zu entwickeln, sollen die folgenden
Ausführungen darstellen.
Lateinamerika: „Periphere Modernität“ und/oder „Postkoloniale Postmoderne avant
la lettre“?
Freilich ist an unserem Ausgangs-Dreieck Lateinamerika – Postcolonial Approach – Habsburgermonarchie nicht nur die Verbindung zwischen Lateinamerika und dem alten Österreich ungesichert. Ursprünglich sind die Postcolonial Studies ja ausschließlich für ein bestimmtes Kolonialreich, nämlich
das britische, entwickelt worden. Homi Bhabha selbst sagte im Herbst 2002
bei unserem Graduiertenkolleg in München, er sei immer wieder beeindruckt,
für welch vielfältige Anwendungen man die von ihm und seinen Kollegen für
einen ganz konkreten, eng umgrenzten Bereich entwickelten Ansätze fruchtbar mache – und er sagte es mit der typisch britischen Mischung aus Bewunderung und leicht ironischer Verwunderung. Aber ein bisschen Koketterie
ist da natürlich auch dabei. Die Postcolonial Studies sind, in semikolonialer
Weise von den USA aus verbreitet, mittlerweile allerorten zu einer wesentlichen neuen Theoriegrundlage im Bereich der Kulturwissenschaften geworden, und dabei wird nur allzu oft – es ist in den Beiträgen zu diesem Symposium mehrfach deutlich geworden – Unvergleichbares über einen Leisten
geschoren.
Gerade in Lateinamerika und unter Lateinamerikanisten wird die Debatte über die Legitimität des Begriffes „postkolonial“ aber sehr engagiert geführt. Im vereinfachenden Extrem wird der Begriff schon deshalb abgelehnt,
weil in Lateinamerika nie eine Entkolonialisierung im eigentlichen Sinne stattgefunden habe. Die Unabhängigkeit wurde letztlich von den Kreolen, also
den im Land geborenen Nachkommen europäischer Einwanderer erkämpft –
im übrigen oft eben mit dem Ziel, sich von allzu indiofreundlichen Gesetzen
zu befreien –, nicht aber von den „kolonisierten“ Ureinwohnern, die daher in
den lateinamerikanischen Gesellschaften (sofern sie nicht ausgerottet sind) ebenso
wie die afroamerikanischen Bevölkerungsgruppen eine „Peripherie der Peripherie“10 bilden. Jorge Klor de Alva formuliert deshalb unmissverständlich:
100
[…] Where there was no decolonization there could be no postcolonialism,
and where in a post-independance society no postcolonialism can be found,
the presence of a preexisting colonialism should be put in question.11
Zweifellos ist diese These in mehrfacher Hinsicht zutreffend: Auf die Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten – sie ist im übrigen wie die
staatliche Eigenständigkeit Österreichs außerhalb des Heiligen Römischen
Reichs eine Frucht der napoleonischen Kriege – folgt ja eine Phase, in der an
die Stelle einer offiziellen Kolonialmacht wenigstens zwei, wenn nicht drei
heimliche treten: auf kulturellem Gebiet ist es Frankreich, dessen Hauptstadt
Paris für jeden intellektuellen Lateinamerikaner der Angelpunkt der Welt
ist; in wirtschaftlich-technischer und in so manch anderer Hinsicht ist es
Großbritannien, das auch noch militärisch am stärksten präsent ist, mit Ausnahme der an die USA angrenzenden Bereiche Mexiko und Mittelamerika,
wo als dritte „heimliche Kolonialmacht“ die USA auftreten und bis heute
ihren Einfluss nicht abgebaut, sondern ausgedehnt haben.
Auch hinsichtlich des Selbstbewusstseins der lateinamerikanischen Gesellschaften und ihrem Verhältnis zum indigenen Erbe beziehungsweise zum
Aufbau einer eigenen neuen nationalen Identität kann man sehr lange nicht
von einer Überwindung des kolonialen Verhältnisses zu Europa sprechen,
wie selbst die Geschichte der lateinamerikanischen Literatur in unserem Jahrhundert zeigt. Der guatemaltekische Literaturnobelpreisträger Miguel Angel Asturias, selbst Mestize, ist ein überzeugendes Beispiel dafür. Zunächst
verdammt er, selbst linker Studentenvertreter und Mitarbeiter des Kulturministers der mexikanischen Revolutionsregierung, in seiner Dissertation die
Indios „wie jede degenerierte Rasse“ zu einer „massiven Kreuzung“ mit gesunden Rassen wie Bayern, Holländern oder Tirolern und warnt davor, sie in
ihrer eigenen Sprache zu akkulturieren; dann entdeckt er an der Sorbonne
und in Surrealistencafés das europäische Interesse am exotischen indianischen Denken, beginnt sich unter der Führung des Pariser Altamerikanisten
Georges Raynaud in die Denkweise und die Sprache der alten Mayakultur
einzufühlen, macht diese Perspektive in Legenden aus Guatemala und dem
Roman Maismenschen literarisch fruchtbar und präsentiert sich nach 1945 bei
europäischen Verlagspräsentationen als „Große Zunge der Mayas und Sprecher meines Stammes“, obwohl er nie eine Indiosprache erlernt hat; dennoch
ist es ihm – freilich sozusagen unter europäischer Anleitung – gelungen, ein
Sprachkunstwerk im Geist der „Heiligen Bücher“ (Popol Vuh) der MayaQuiché zu schaffen (Maismenschen, 1949), das zu einem der zentralen Bezugspunkte der neueren lateinamerikanischen Literatur werden sollte.12 Erst die
101
Infragestellung der Boom-Rezepte mit dem neuen historischen Roman der
1980er und 1990er Jahre und den jungen Generationen der Jahrhundertwende löst sich wenigstens von der beinahe servilen Europa-Orientierung,
auch wenn die USA weiterhin eine dominante Rolle spielen.
Auf der anderen Seite lässt sich jedoch auch behaupten, dass ein Denken
von „postkolonialen Kategorien“ im lateinamerikanischen Kontext schon wesentlich früher stattgefunden hat. Sara Castro-Klarén13 datiert es bis auf den
Inca Garcilaso de la Vega zurück, den Sohn eines spanischen adeligen Konquistadoren und einer Inkaprinzessin, der in seinen Comentarios reales zu
Beginn des 17. Jahrhunderts einerseits die für die Theoretiker der modernen Postcolonial Studies charakteristische Diaspora realisiert (er schreibt im
spanischen Córdoba und für spanische Leser in einem untadeligen petrarkistischen Stil der europäischen Humanisten-Internationale), andererseits die
Begriffe von Zentrum und Peripherie in Frage stellt, wenn er sich als „Bürger von Cuzco, das ist das andere Rom in jenem Kontinent“ definiert. So
erfülle er, laut Castro-Klarén, die Definition, die Bhabha vom „postcolonial
intellectual“ gibt, und sei daher ein Beweis dafür, dass Lateinamerika nicht
nur „post-colonial avant la lettre“14, sondern auch „post-colonial before the
,post‘“ sei.15 Tatsächlich muss man wohl anerkennen, dass man mit dem Inka
Garcilaso zu einem Zeitpunkt einen Vertreter einer „travelling culture“ vor
sich hat, zu dem selbst der Kolonialismus für die eigentlichen Kolonialländer
noch in ferner Zukunft liegt. Natürlich ist der Inka in Sprache und Denkweise vom europäischen Kontext geprägt, in dem er schließlich auch lebt und
schreibt (er hat seit seiner Übersiedlung nach Spanien mit knapp über 20
Jahren seine Heimat Peru nicht wiedergesehen), aber eben deshalb entwirft
er sozusagen eine Zwei-Welten-Theorie: Neben dem ersten Rom in Europa,
von dem die translatio imperii ausgeht, existiert ein zweites Rom, und damit
ein zweiter Nabel der Weltgeschichte, in der Neuen Welt, und durch Verbindungen wie die seiner Eltern werden die beiden Weltgeschichten zusammengefügt, die sich zueinander in etwa so verhalten wie Altes und Neues Testament: Die Inkas haben sich als Zivilisatoren der „wilden“ Indios in etwa so
verhalten wie die Spanier später ihnen gegenüber; sie hatten zwar noch nicht
das Licht, aber doch den „Schimmer“ oder „Widerschein“ desselben geahnt
und zu den Naturvölkern gebracht, also wie Johannes der Täufer Christus,
den die Spanier brachten, den Weg bereitet, wodurch natürlich bereits die
Inkas als „Kolonisatoren“, nämlich „Prä-Kolonisatoren“ auftreten, deren Werk
dann die Spanier vollenden.
102
Erwartungsgemäß sind diese Thesen des Inka Garcilaso im kolonialen
Amerika auf heftigen Widerspruch gestoßen, und zwar sowohl bei Spaniern,
die die Indios insgesamt verachteten wie der bolivianische Petrarkist Diego
Dávalos y Figueroa, der eine andere Facette post-kolonialer Haltung verwirklicht, die ich das „Überholen“ des Zentrums nennen würde, indem er sich
vom bolivianischen Altiplano aus unter Umgehung der „Zwischenzentren“
Lima, Mexiko-Stadt und Madrid in die Diskussion über die italienische Literatursprache unter den toskanischen Humanisten einzuschalten versucht, als
auch bei manchen Indios wie Waman Puma de Ayala, der wiederum die Inkas
als Unterdrücker brandmarkt und für eine Rückkehr zu (ebenfalls nach dem
Vorbild der ständischen europäischen Gesellschaft zwischen Spätmittelalter
und Renaissance konzipierten) präinkaischen Verhältnissen und eine strikte
apartheid-ähnliche Trennung zwischen Weißen und Indios eintritt.
Aber auch bei ihnen zeigt sich so etwas wie ein „dritter Raum“ zwischen
indigener und/oder zumindest außereuropäischer Kultur und dem europäischen Zentrum, im konkreten Fall des 16. Jahrhunderts eben Italien, es zeigt
sich aber auch – was mir auf die Situation des alten Österreich am ehesten
übertragbar erscheint – eine verwirrende Konfusion zwischen Zentren und
Peripherien: Was in einem Verhältnis Zentrum ist (zum Beispiel Madrid für
die Vizekönigreiche) ist in einem anderen Peripherie, über die man sich
durchaus hinwegsetzen kann, um direkt mit dem „Ober-Zentrum“ in Dialog
zu treten, wie der Fall Dávalos’ ebenso zeigt, wie der halb in Bildern, halb in
radebrechendem Spanisch unternommene Versuch Waman Pumas, eine neue
Weltordnung auf teils indianischer und teils spanischer Kulturgrundlage zu
errichten und diese direkt dem Kaiser zu unterbreiten. Und wenn dieser
kühne Versuch der Verknüpfung von europäischen und amerikanischen Diskursformen nur das Werk eines marginalisierten Außenseiters war, so hat die
hispanische/hispanoamerikanische Welt doch – immer noch nach CastroKlarén – mit Bartolomé de Las Casas den ersten und einzigen „post-kolonialen Europäer“ hervorgebracht, der die Rationalität der „Anderen“ und die
Notwendigkeit des Dialogs betont habe. Las Casas jedoch war alles andere als
ein Außenseiter: Er setzte sich bekanntlich in der berühmten Disputation
über die „Menschenrechte“ der indigenen Bevölkerung Mitte des 16. Jahrhunderts gegen Ginés de Sepúlveda durch und erreichte damit die Einführung der die Rechte der indigenen Bevölkerung verankernden Leyes de Indias, die freilich nie in vollem Umfang angewendet wurden.
Man könnte nun in der Geschichte weiterschreiten und Ansätze dieser
Infragestellung der Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie in der
103
Unabhängigkeitsliteratur, im Modernismo und in der Avantgarde, in der
Boom-Literatur und schließlich bei den „Post-Modernen“ suchen – letztlich
läuft das Ergebnis wohl stets auf den Satz hinaus, den der junge Jorge Luis
Borges schon 1932 formulierte (in El escritor argentino y la tradición16): Dass
nämlich die Lateinamerikaner wie die Juden das Recht hätten, nicht über
eine isolierte nationale Kulturtradition, sondern über die gesamte europäische Kultur zu verfügen – womit sie gleichzeitig die Möglichkeit zu einer
Hybridisierung besitzen, die den an die eigene Tradition gebundenen europäischen Autoren nicht ohne weiteres offen steht – und die vielleicht im Zeitalter der sich tatsächlich vollziehenden politischen Einigung des Kontinents
eine nicht zu unterschätzende Bedeutung als Leistung der Peripherie für
das einstige Zentrum darstellen könnte.
Lateinamerikanische Theorie: „Postkolonialität“, Dezentrierung und Dialogizität
Schließlich ist noch die lateinamerikanische Theorietradition selbst zu berücksichtigen, die mit der ausschließlichen Orientierung an der „heiligen
Dreifaltigkeit“ der Postcolonial Studies (Said-Bhabha-Spivak) keineswegs zufrieden ist; so fordert vor allem die Richtung der Latin-American Area Studies in den USA (zum Beispiel Walter Mignolo)17, die Priorität lateinamerikanischer Denker wie O’Gorman und Angel Rama18 anzuerkennen, die schon
vor Said & Co. auf den Spuren Heideggers die Gültigkeit westlicher Logik in
Frage gestellt hätten.
Walter Mignolo prägt zudem einen Begriff, der gegen das Konzept des
„Postkolonialen“ ausgespielt wird: den „Postokzidentalismus“. Unter diesen
Auspizien kann dann ein Autor, der auf der Basis des europäischen Wissens
und Denkens koloniale Perspektiven in Frage stellt wie Carlos Fuentes als
„post-colonialista“ gegen einen Autor, der einfach in der Schreibpraxis die
Hegemonie des eurozentrischen Denkens überwindet wie Juan Rulfo, ausgespielt werden (so bei Alcántara Mejía19). Bei der Frage, wie eine solche postokzidentale Schreibpraxis zu benennen wäre, sind wir schließlich bei den
originellen Ansätzen der lateinamerikanischen Theorie, die dann von Alfonso de Toro für eine „Postkolonialität“ reklamiert werden, und von denen
hier drei kurz erwähnt seien:
1) Das Konzept der „Heterogeneität“ der lateinamerikanischen Kultur des
chilenischen Kultursoziologen José Joaquín Brunner: Brunner wendet sich
gegen den Mythos von der verlorenen „ursprünglichen Identität und Rein-
104
heit“ und stellt die lateinamerikanische Kultur mit dem Bild des „gesprungenen/zerbrochenen Spiegels“ vor, der ein Durcheinander verschiedenster
Facetten populärer und hoher, Massen- und Folklorekultur reflektiert, die
durch keine „Ordnung“ mehr auf irgend einen Fortschritt, ein Ziel oder
eine Richtung fokussiert werden.
2) Das Konzept des spanisch-kolumbianischen Kommunikationstheoretikers Jesús Martín-Barbero: Dieser sieht in ähnlicher Weise eine Identitätsbildung durch „Ent-Totalisierung“ vor; bei ihm tritt an die Stelle der Suche
nach nationaler oder kontinentaler „Identität“ ein ungelöstes Spannungsverhältnis von Historischem und Gegenwärtigem in einem „dritten Raum“, einem „Dazwischen“, das für eine „Entterritorialisierung“ des VolkstümlichUrsprünglichen der Peripherie und seine „Reterritorialisierung“ im Zentrum sorgen soll; und
3) Das Konzept der „Hybridisierung“ des argentinisch-mexikanischen Kultursoziologen Néstor García Canclini: Dieses Konzept sieht eine dynamische
Interaktion zwischen „Massen-, Volks- und Hochkultur“, zwischen „Lokalem
und Kosmopolitischem“ vor.
Im deutschen akademischen Umfeld hat Alfonso de Toro versucht, diese
Konzepte mit poststrukturalistischen Theoremen von Lacan bis Derrida und
Deleuze-Guattari zu verbinden: Er sieht in diesen lateinamerikanischen Ansätzen (die er ausdrücklich als postkolonial bezeichnet) „rhizomatisches“ Denken, für das er in Anlehnung an Derridas „différance“ den Begriff „altaridad“ – statt „alteridad“ (Alterität) – von Mark Taylor20 übernimmt.
Wie immer man zu diesen Begriffen stehen will: Richtungsweisend scheint
mir de Toros Ansatz, damit eine Bipolarität Zentrum/Peripherie, Hegemonie/Dependenz zu überwinden und zu einer „wechselseitigen Dependenz
und Kontamination“ von Peripherie und Zentrum, zu einer „Dezentrierung
und Vervielfachung des Zentrums“ zu gelangen. So definiert de Toro, der
Lateinamerikas Position als die einer „peripheren postkolonialen Postmoderne“ sieht, die „Postkolonialität“ (im Unterschied zum Postkolonialismus)
als „Diskurs, der nach einem Raum der Dialogizität sucht, der als Potentialität existiert“, und für den die „Globalisierung neue Chancen bietet“.
Ob man diese Schlussfolgerung annehmen will, wird zu diskutieren sein.
Die Relativierung der Beziehung Zentrum/Peripherie im Sinne einer „Metaphorisierung“ erscheint mir jedenfalls als ein weiter zu verfolgender Ansatz,
der zwar aus der spezifischen lateinamerikanischen Situation resultiert, aber
wohl auch – als wesentliches Korrektiv einer zu einfachen bipolaren postkolonialen Sehweise – auf andere Kulturen übertragbar wäre.
105
Eine solche Definition scheint mir nämlich durchaus die Chance zu bieten, in adaptierter Form (unter Umständen sogar unter Streichung des weitgehend ausgedünnten Dachbegriffs „Post-Kolonial“) diese Fragestellungen
und Begriffe auf die kulturellen und politischen Relationen im alten Österreich anzuwenden.
Mögliche Ansätze für zukünftige Forschungen
Auf dieser Grundlage ließen sich, meine ich, aus dem ganz anders gelagerten
und doch ähnlichen Beispiel der lateinamerikanischen Kulturen einige Ansätze auf die Erforschung der Kulturen der ehemaligen Habsburgermonarchie übertragen:
1) Die Überlappungsbereiche zwischen verschiedenen hierarchischen
Schichten der Kultur (Hoch- und Populärkultur, Kunst und Kleinkunst).
Wir haben vor einigen Jahren mit einem Band zur Kaffeehausliteratur in
achtzehn Städten, in dem sowohl Mitteleuropa als auch Lateinamerika vertreten waren, einen ersten Schritt gesetzt. Aber es scheint mir, dass einige andere Bereiche – zum Beispiel die Musik und das Musiktheater (Strauss und EMusik), das populäre Drama (Posse, Boulevard und Komödie) – folgen könnten. Frappierend sind auch hier die Ähnlichkeiten mit einigen lateinamerikanischen Ländern, etwa Argentinien, wo das moderne Theater um 1900 aus
dem Zirkus (!) und der musikalischen Revue eine „Wiedergeburt“ erlebt, die
es zu einem eigenen Stil des hochliterarischen Theaters („grotesco criollo“)
führt und wo der gesungene Tango eine so enge Partnerschaft mit der Literatur eingeht, dass nach Urteilen mancher Kritiker die wichtigsten TangoDichter (etwa Enrique Santos Discépolo) zugleich zu den bedeutendsten Lyrikern des 20. Jahrhunderts zählen.
2) Die Dezentrierung oder der Polyzentrismus, der, wie wir gesehen haben, schon die frühe lateinamerikanische Literatur charakterisiert und in
der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, verschärft durch die sprachliche Vielfalt, wiederkehrt. Für alle nicht nur in Österreich-Ungarn vertretenen Völker gibt es notwendigerweise literarische Zentren mit Vorbildwirkung außerhalb (Berlin, Florenz, Venedig, Rom, und so weiter), aber auch
für die anderen ist nicht ausschließlich Wien, Budapest oder Prag beziehungsweise (dem Panslawismus entsprechend) St. Petersburg als Zentrum
maßgeblich, sondern zum Beispiel in der Literatur und Malerei auch Paris
(so pilgert, um nur ein Beispiel zu nennen, der 22jährige Lajos Kassák 1909
106
zu Fuß nach Paris, um danach 1915 mit dem ungarischen „Aktivismus“ die
erste echte Avantgardegruppe auf österreichischem Boden zu begründen,
und für die tschechischen und südslawischen Avantgarden gilt eine ähnliche Ausrichtung). Und andererseits zeigt sich innerhalb der österreichischungarischen Länder eine ähnlich verwirrend abgestufte Zentrum/PeripherieRolle der einzelnen Kulturzentren wie in Lateinamerika: Ist Buenos Aires
für Paris Peripherie, so ist es für Paraguays Hauptstadt Asunción Zentrum,
und Asunción ist seinerseits Zentrum für die paraguayische Provinz; analog
ließen sich noch viel kompliziertere Beziehungen zwischen Wien und Prag,
Wien und Brünn, Wien und Czernowitz herstellen. Dafür sind die Kanäle
kultureller Kommunikation und die Dominanz zu untersuchen, aber auch
die fruchtbare Wirkung des „Rauschens“ und der „Verschmutzung“ sowie
des nie ganz auszuschließenden „Feed-backs“, durch das jede Peripherie auf
„ihr“ Zentrum zurückwirkt. Eine bis ins Detail exakte Karte dieser Einflüsse
wird sich allerdings wohl nie zeichnen lassen, wohl aber vielleicht eine „Karte“ in der Art, wie Deleuze und Guattari21 diesen Begriff verstehen, also eine
Art bewegliche Annäherung an das kreative Potential, das durch diese Konstellation entstanden ist und noch immer fortwirkt.
Conclusio
Es will also scheinen, als ließe sich auf dem Wege einer Flexibilisierung, wie
sie im lateinamerikanischen Umfeld bereits erfolgt ist, so mancher Ansatz
der Postcolonial Studies für die Darstellung der Kulturen der ehemaligen
Habsburgermonarchie durchaus fruchtbar machen. Das findet im weiteren,
politisch-wirtschaftlichen Kontext durchaus seine Entsprechung. Über die
gegenseitige Relativierung von „relativen Zentren“ wie Wien und Budapest
etwa im Verhältnis zu den Kroaten im politischen Bereich ist an anderer
Stelle in diesem Band die Rede. Noch komplizierter – aber auch faszinierender – wird es wohl, wenn wir diese Perspektive in beide Richtungen hin erweitern – einmal durch die Orientierung an kulturellen und/oder wirtschaftlich/technologischen Zentren außerhalb der Monarchie (Berlin, Paris, London), die durchaus auch für die „nichtdeutschsprachigen“ Bevölkerungsteile in manchen Bereichen Vorbildfunktion hatten. So wären, wie oben dargestellt, die tschechische und die ungarische Avantgarde ohne die Kontakte zu
Paris nicht denkbar gewesen. Und in der anderen Richtung durch das hier
als „Mikrokolonialismus“ bezeichnete Phänomen, bei dem die periphere Stadt
107
zum Zentrum für das Umland, die „historische“ Nation zum „Kolonisator“
für die „nicht-historische“ wird und anderes mehr.
Das hinter uns liegende 20. Jahrhundert hat bis zum letzten Moment eine
solche „Dezentrierung und Vervielfachung des Zentrums“ (de Toro) zu verwischen versucht, zu überschreiben, zu tilgen. Auch die „spät gekommenen“
Nationen, die zu Ende dieses Jahrhunderts ihre Eigenstaatlichkeit erlangt
haben – nur um sofort in die Europäische Union zu streben – wollten noch
ihr „kulturelles Erbe“ in den Bildern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts,
als „reine“ Nationalkultur gestalten. Natürlich ist es für die lateinamerikanischen Nationen, die alle (mit Ausnahme Brasiliens) dieselbe Sprache sprechen und in unmittelbarer Nähe des neuen Zentrums der Globalisierung,
der USA, leben, leichter anzuerkennen, dass ihre Identität vielleicht eben in
dieser Hybridität liegt, in diesem Sich-Überkreuzen der Diskurse in einer
von US-amerikanischer Alltagskultur geprägten und doch „lokal verschmutzten“ Realität. Es wäre für das zusammenwachsende Europa vermutlich aber
ein wesentlicher und positiver Impuls, den Schritt vom Europa der Nationen
zu einem Europa zu tun, das in seinem Erbe wenigstens ebenso viel an „unreinen“ wie an „reinen“ Kulturen besitzt, und zu dessen Geschichte besonders
in Mitteleuropa, immer schon ein „Raum der Dialogizität, der als Potentialität existiert“, gehört hat.
Anmerkungen
1 Vgl. Michael RÖSSNER, Skepsis und religionsfreie Mystik im zentraleuropäischen Raum, in: Moritz CSÁKY, Klaus ZEYRINGER (Hg.), Pluralitäten, Religionen und kulturelle Codes, Innsbruck–Wien–München 2001, S. 49–67.
2 José VASCONCELOS, La raza cósmica, Barcelona 1927.
3 Vgl. Michael RÖSSNER, Spuren der europäischen Avantgarde im „modernistischen Jahrzehnt“ in Brasilien, in: Harald WETZLAFF-EGGEBERT (Hg.),
Europäische Avantgarde im lateinamerikanischen Kontext, Frankfurt a. M. 1991,
S. 31–50.
4 Vgl. Michael RÖSSNER, Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Zum
mythischen Bewusstsein in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M.
1988.
5 Vgl. Néstor GARCÍA CANCLINI, Culturas híbridas. Estrategias para entrar y
salir de la modernidad, Mexico 1990.
6 José Joaquín BRUNNER, Tradicionalismo y modernidad en la cultura latinoamericana, Santiago de Chile 1992.
7 Vgl. Beatriz SARLO, Una modernidad periférica. Buenos Aires 1920 y 1930,
Buenos Aires 1988.
108
8 Vgl. Jesús MARTÍN-BARBERO, Communication, Culture and Hegemony. From
the Media to Mediations, London–Newbury Park–New Delhi 1993.
9 Vgl. auch Hermann HERLINGHAUS, Utz RIESE (Hg.), Sprünge im Spiegel.
Postkoloniale Aporien der Moderne in beiden Amerikas, Bonn 1997; vgl. Hermann HERLINGHAUS, Monika WALTER (Hg.), Postmodernidad en la periferia. Enfoques latinoamericanos de la nueva teoría cultural, Berlin 1994; vgl.
Carlos RINCÓN, La no simultaneidad de lo simultáneo. Postmodernidad, globalización y culturas en Latinoamérica, Bogotá 1995; vgl. Birgit SCHARLAU
(Hg.), Lateinamerika denken. Kulturtheoretische Grenzgänge zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen 1994.
10 Vgl. Alfonso DE TORO, Fernando DE TORO (Hg.), El debate de la postcolonialidad en Latinoamérica. Una postmodernidad periférica o cambio de paradigma en el pensamiento latinoamericano. Frankfurt a. M.–Madrid 1999 (vgl.
den Beitrag von Martin LIENHARD, Periferias internas: la antropología cubana y las voces del otro, S. 289–303).
11 Jorge KLOR DE ALVA, Colonialism and Postcolonialism as (Latin) American
Mirages, in: Colonial Latin American Review 1, 1–2 (1992), S. 3–23, hier S. 4.
12 Vgl. RÖSSNER, Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies, S. 200–207; vgl.
die von Claude Couffon wieder zugänglich gemachte Dissertation Asturias’:
Miguel Angel ASTURIAS, El problema social del indio (y otros textos), hg. v.
Claude COUFFON, Paris 1971.
13 Vgl. Sara CASTRO-KLARÉN, Mimicry revisited: Latin America, post-colonial theory and the location of knowledge, in: Alfonso DE TORO, Fernando DE
TORO (Hg.), El debate de la postcolonialidad en Latinoamérica, S. 137–164.
14 Vgl. Nicolás CASULLO, El debate modernidad-postmodernidad, Buenos Aires 1991.
15 Sara CASTRO-KLARÉN, Mimicry revisited, S. 146.
16 Jorge Luis BORGES, El escritor argentino y la tradición, in: DERS., Discusión
[1932], heute in: DERS., Prosa completa, Barcelona (Bruguera) 1980, S. 215–223.
17 Vgl. Walter MIGNOLO, The Darker Side of Renaissance. Literacy, Territoriality & Colonization, Ann Arbor 1995 und DERS., La razón postcolonial: herencias colonials y teorías postcoloniales, in: Alfonso DE TORO (Hg.), Postmodernidad y postcolonialidad. Breves reflexiones sobre Latinoamérica, Frankfurt a. M. 1997, S. 51–70.
18 Vgl. Ángel RAMA, La ciudad letrada, Hannover 1984.
19 Vgl. José Ramón Alcántara MEJÍA, La transferencia de lo colonial: el mestizaje
y el control del discurso literario en México, in: Alfonso DE TORO, Fernando
DE TORO (Hg.), El debate de la postcolonialidad en Latinoamérica, Frankfurt
a. M. 1999, S. 305–316.
20 Vgl. Mark TAYLOR, Altarity, Chicago–London 1987.
21 Vgl. Gilles DELEUZE, Félix GUATTARI, Anti-Oedipe, Paris 1972 (dt. AntiÖdipus, Frankfurt a. M. 1974); vgl. DIES., Rhizome. Introduction, Paris 1976
(dt. Rhizom, Berlin 1977).
109
K.u.k. Kolonialismus als Befund,
Befindlichkeit und Metapher:
Versuch einer weiteren Klärung
Clemens Ruthner
„Kolonisation ist [...] ein Phänomen von kolossaler Uneindeutigkeit“1, schrieb
Jürgen Osterhammel noch 1995. Die in den Jahren um die Jahrtausendwende aufgekommene kulturwissenschaftliche Diskussion, inwieweit nun die
Theoriebildung der so genannten Post/Colonial Studies auch auf innereuropäische Verhältnisse anwendbar wäre, zeitigt indes immer neue Ergebnisse.2
Dies hat auch den Verfasser des vorliegenden Beitrags – der am Zustandekommen eben jener Diskussion nicht ganz unschuldig war – dazu gebracht,
seine eigenen Positionen, die erst eher programmatisch als mit dem Anspruch auf Vollständigkeit geäußert wurden, neu zu überdenken. In Ergänzung zu früheren Texten3 erscheint es ihm angebracht, die verschiedenen
Anwendungen zu differenzieren, in denen das Paradigma „Kolonialismus“ in
Hinblick auf „Kakanien“ operationalisiert wird. Im Wesentlichen dürfte es
sich dabei um folgende Fälle handeln:
1. Österreich-Ungarn wird historisch-sozialwissenschaftlich als PseudoKolonialmacht angesehen, die sich anderssprachiger Territorien imperialistisch bemächtigt hat, um sie zu beherrschen und ökonomisch auszubeuten
(innerkontinentaler Kolonialismus).
2. Es wird eingeräumt, dass die k.u.k. Monarchie zwar keine Kolonialmacht im engeren Sinne war, dass aber ihre spezifischen symbolischen Formen ethnisch differenzierender Herrschaft – das heißt ihre kulturellen Bilderwelten – Ähnlichkeiten zu jenen überseeischer Kolonialreiche aufweisen
(Imagologie und Identitätspolitik).
3. Wie in Fall 1 wird der späten Habsburgermonarchie unterstellt, eine
Kolonialmacht zu sein, jedoch geschieht dies in rhetorischer Form im Rahmen eines jeweils zeitspezifischen Diskurses (als Metapher).
Im Weiteren soll versucht werden, diese drei Positionen noch einmal darzustellen und einen präliminaren Beitrag zu ihrer Diskussion zu leisten.
111
Kolonialismus als Befund – der sozialwissenschaftliche Diskurs
Hier lohnt es sich, zunächst eine sozialwissenschaftliche Definition von Kolonie beziehungsweise Kolonialismus heranzuziehen, wie sie in gängigen Handbüchern und Fach-Enzyklopädien vorgetragen wird. Gleichermaßen empfiehlt sich eine gewisse Vorsicht im Hinblick auf ältere Werke dieses Genres,
die häufig auf Grund ihrer zeitlichen und sogar geistigen Nachbarschaft zur
Endphase des europäischen Kolonialismus in der Nachkriegszeit wenig
brauchbar scheinen.4 Dennoch liegt bereits mit Rupert Emersons Definition
in der International Encyclopedia of the Social Sciences (1968) eine praktikable
Arbeitshypothese vor:
Colonialism is the establishment and maintenance, for an extended time, of rule
over an alien people that is separate from and subordinate to the ruling power. It is
no longer closely associated with the term „colonization“, which involves the settlement abroad of people from a mother country as in the case of the ancient Greek
colonies or the Americas. Colonialism has now come to be identified with rule over
peoples of different race inhabiting lands separated by salt water from the imperial
center. [...] Some further features of the „colonial situation“ are: domination of an
alien minority, asserting racial and cultural superiority over a materially inferior
native majority; contact between a machine-oriented civilization with Christian
origins, a powerful economy, and a rapid rhythm of life and a non-Christian civilization that lacks machines and is marked by a backward economy and a slow rhythm
of life; and the imposition of the first civilization upon the second.5
Dies entspricht im Wesentlichen auch den Ansätzen, die mehr als drei Jahrzehnte später zur Blütezeit der Post/Colonial Studies vorgetragen werden.6
Wesentlich ist dabei, dass der aus den antiken Kolonien sich herleitende
Siedlungsgedanke zu Gunsten der Fokussierung auf eine externe, kulturell
fremde Herrschaft revidiert worden ist: „Modern colonialism was not characterized by settlements but by external control“ (Hodder-Williams).7 Dies hat
auch dazu geführt, dass die meisten Theoriebeiträge die Begriffe „Kolonisierung“/„Kolonisation“ und „Kolonialismus“ von einander abzuheben trachten.8 Der deutsche Historiker Wolfgang Reinhard schreibt in seinem Beitrag, „Kolonisierung“ habe zwar prinzipiell mit „Migration“ zu tun; der Begriff verliere jedoch seine relativ neutrale Bedeutung („Siedlungswesen“) im
Lauf des 19. Jahrhunderts, was – so wäre hinzuzufügen – seiner breiten Anwendung und metaphorischen Aufladung im Rahmen eines gesamteuropäischen Kolonialismus Vorschub leistet:
112
We have no choice but to accept the change of meaning that colonialism has undergone, though we can try to neutralize political emotions. In this sense, colonialism
can be defined as the control of one people by another, culturally different one, an
unequal relationship which exploits differences of economic, political, and ideological development between the two.9
Kolonialismus lässt sich somit im Kern als Praxis jener Fremdherrschaft bestimmen, die kulturelle Differenz als Rechtfertigungsstrategie für politische
und sozioökonomische Ungleichheit operationalisiert. Mehrere Autoren haben darauf hingewiesen, wie schwierig es hier ist, das (marxistisch konnotierte) Paradigma Imperialismus und das Konzept des Kolonialismus von einander
abzugrenzen, indem man etwa Letzteren als konkrete Ausprägung des Ersteren begreift, wie dies unter anderem Hannah Arendt getan hat.10 Neben den
genannten kulturellen, (geo)politischen – und wirtschaftlichen11 – Parametern
sind jedoch auch rechtliche Aspekte von Belang,12 wenn etwa das Handwörterbuch der Sozialwissenschaften (1959) „Kolonien“ definiert als
Gebietsteile, denen [...] ein bestimmter, vom Regime des Hauptlandes verschiedener rechtlicher Sonderstatus zugewiesen worden ist. [...] Das rechtliche Sonderregime typischer Kolonialländer besteht in aller Regel darin, dass die Bevölkerung
eines Kolonialgebiets nicht, oder jedenfalls nicht gleichberechtigt, am politischen
Leben des Mutterlandes teilnimmt und dass sie ihrerseits auch in Bezug auf das
Kolonialgebiet keine oder keine volle Selbstregierung besitzt.13
Fast alle erwähnten Werke schlagen nun zusätzlich zu diesen Definitionen
einen Katalog von verschiedenen Kolonietypen14 vor (auf den hier aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden kann); im Extremfall führt dies
zur Skepsis, ob sich die disparaten Ausprägungen des Kolonialismus von der
Antike bis zur Gegenwart überhaupt „durch eine Theorie in eine systematisch geordnete Gesamtheit verwandeln“ lassen oder ob sie lediglich von Fall
zu Fall historisch beschreibbar sind. Für unsere Themenstellung interessant
ist indes die mehrfach versuchte Ausweitung des Kolonie/sierungs/begriffs; in
keinem der im Folgenden genannten Fälle wird freilich auf das daraus resultierende Konzept beziehungsweise dessen Konsequenzen näher eingegangen.
Emerson etwa verweist auf belgische Bestrebungen in der Frühzeit der Vereinten Nationen „to broaden the concept of colonialism to include all ethnically distinct minorities discriminated in their home countries“ – ein Vorstoß,
der von der UNO abgelehnt worden sei.15 Reinhard führt den Terminus semicolonies für China und das Osmanische Reich um 1900 an.16 Hodder-Williams
wiederum versucht, den Begriff internal colonialism zu beschreiben als „broadly
113
similar processes at work within a single state. Thus, particular groups,
through their dominance of political and economic power, ensured that other
groups are kept in long-term subservience“; als Beispiel dafür wird unter
anderem Südafrika angeführt.17
Schon der Beitrag im Handwörterbuch der Sozialwissenschaften hatte darauf
hingewiesen, dass es durchaus vorkomme, „dass Gebiete, welche soziologisch
Kolonialland sind, ohne rechtliche Sonderregelung als Bestandteil des Hauptlandes regiert werden, so etwa Sibirien als Teil Rußlands oder die Mandschurei als Provinz Chinas.“18 Ansätze in Richtung einer inneren Kolonisierung schlagen auch Arendt19 und Said20 vor; der viel diskutierte21 Begriff wird aber in
der Folge aufgrund seiner zunehmenden Polyvalenz immer ungenauer (wenn
er etwa bei einigen Forscher/inne/n psychologisiert und ins Individuum hinein verlegt wird22).
Bereits aus dieser kurzen Darstellung der sozialwissenschaftlichen Begrifflichkeit von Kolonie beziehungsweise Kolonialismus geht nun hervor, dass
Österreich-Ungarn um 1900 kein Kolonialreich im engeren Sinn gewesen
sein beziehungsweise gehabt haben kann:23 Weder das Moment großer (überseeischer) Entfernung noch jenes großer kultureller Differenz kann für seine
multiethnischen Herrschaftsverhältnisse geltend gemacht werden – es sei denn,
man besteht darauf, dass es sich hier lediglich um quantitative beziehungsweise graduelle Unterschiede handelt. (Hiermit liefe man allerdings Gefahr, durch
Nivellierung der Betrachtungsweise die großen Verbrechen des zeitgenössischen Kolonialismus in Afrika und Asien – wie etwa den Genozid in Belgisch-Kongo24 – zu verharmlosen.) Auch die Dichotomie von Zentrum versus
Peripherie/n 25 ist hier nicht von uneingeschränkter Gültigkeit, gibt es doch in
der späten Habsburgermonarchie einerseits neben „armen“ Randgebieten (wie
zum Beispiel Galizien) auch solche wie Böhmen, die wirtschaftlich entwickelter
sind als das österreichische Kernland und andererseits auch mehrere Metropolen (Wien, Budapest, Prag).26
Den einzig möglichen Anwendungsfall für eine Kolonialismusdebatte im
engeren Sinn könnte Bosnien-Herzegowina darstellen, dessen militärische
Besetzung (1878), Verwaltung und Annexion (1908) gewisse (semi)koloniale
Züge aufweisen, wie dies zum Beispiel der belgische Historiker Raymond
Detrez im Anschluss an ein denkwürdiges Buch der bulgarischen Forscherin
Maria Todorova behauptet hat.27 Im Falle dieser letzten Expansion der Habsburgermonarchie gäbe es durchaus auch rechtlich-sozialwissenschaftliche
Kriterien, die die Verwendung des polemischen Kolonialismus-Terms rechtfertigen würden: so etwa die Tatsache, dass die Bosnier/innen vorderhand
114
über kein politisches Mitbestimmungsrecht innerhalb der Monarchie verfügten wie deren anderen „Völker“; ein bosnischer Landtag wurde erst nach
der Annexion28 eingerichtet. Hier ist freilich seitens österreichischer und
bosnischer Forscher/innen eine noch eingehendere sozial-, wirtschaftswissenschaftliche sowie (rechts)historische Klärung der Zustände zwischen 1878
und 1918 von Nöten, um ein endgültiges Urteil fällen zu können.29
Kolonialismus als Befindlichkeit – der kulturwissenschaftliche Diskurs
Kolonialismus ist eine Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven, bei welcher die
fundamentalen Entscheidungen über die Lebensführung der Kolonisierten durch
eine kulturell andersartige und kaum anpassungswillige Minderheit von Kolonialherren unter vorrangiger Berücksichtigung externer Interessen getroffen [...] werden. Damit verbinden sich in der Neuzeit sendungsideologische Rechtfertigungsdoktrinen, die auf der Überzeugung der Kolonialherren von ihrer eigenen kulturellen Höherwertigkeit beruhen.30
Diese kulturalistische Definition Osterhammels, die das Moment „überseeischer Distanz“ aufgibt, öffnet gleichsam wieder die innerkontinentalen Räume für eine Kolonialismus-Debatte. Erhellend ist auch die Zusatzbemerkung
des Autors, Kolonialismus sei nicht nur ein „strukturgeschichtlich beschreibbares Herrschaftsverhältnis, sondern zugleich auch eine besondere Interpretation dieses Verhältnisses“;31 diese basiere im Wesentlichen auf drei diskursiven Strategien: auf der „Konstruktion von inferiorer ,Andersartigkeit‘“, auf
„Sendungsglaube[n] und Vormundschaftspflicht“ (der Kolonisatoren) sowie
auf der „Utopie der Nicht-Politik“ (das heißt eines „politikfreien Verwaltens“).32 Osterhammel muss hier einräumen, dass es derartige Herrschaftsverhältnisse ebenso zwischen Zentren und Peripherien „innerhalb von Nationalstaaten oder territorial zusammenhängenden Landimperien“ gebe.33
Diese diskursanalytische Aufzählung von Herrschaftsdoktrinen trifft sich
freilich auch mit einer Bemerkung des Triestiner Germanisten Claudio Magris. In seiner folgenreichen Studie zum „habsburgischen Mythos“ (gemeint
ist das monarchie-nostalgische Konstrukt eines utopisch multikulturellen „Vielvölkerstaats“ als Gegenentwurf zum „Völkerkerker“-Narrativ diverser zentrifugaler Nationalismen) sieht er diesen durchaus funktional bestimmt in der
„kulturelle[n] Kolonisation Osteuropas“.34 (Auch Wolfgang Reinhard schreibt,
dass von „Mitteleuropa“ eine „Ostkolonisation“ ausgegangen sei – ohne dabei
an die Habsburgermonarchie zu denken; gemeint ist das Zarenreich.35)
115
Unter historischen Zeitzeugen der k.u.k. Monarchie hat es indes nicht an
– auch unverdächtigen – Aussagen gemangelt, die Österreich-Ungarn als
„Kolonialreich“ beschreiben beziehungsweise als solches denunzieren. Belege
dafür finden sich etwa in der Autobiographie der jüdischen Österreicherin
Hilde Zaloscer,36 geboren 1903 in Banja Luka, 1918 nach Wien geflüchtet und
1938 weiter nach Alexandria; Beobachtungen der Autorin im semi- bis postkolonialen Milieu Ägyptens werden hier als prinzipiell kritisches Narrativ
auf ihre Kindheit in Bosnien zurückgespiegelt.37 Quasi auf der anderen
Seite steht der deutsche Reisejournalist Heinrich Renner, der sich 1896 im
Sinn des Zivilisations-Narrativs zum Apologeten einer kolonialen Pax Austriaca
in Bosnien machte:
Dem grossen Publikum blieben [...] diese Gefilde gänzlich unbekannt; das bosnische Dornröschen schlief noch den jahrhundertelangen Zauberschlaf und fand seine Auferstehung erst, als die kaiserlichen Truppen die Grenzen überschritten und
die neue Aera einleiteten. Jetzt wurde das Dickicht, das um Dornröschens Schloss
wucherte, gelichtet und nach rastloser und schwerer Arbeit von nicht zwei Jahrzehnten steht Bosnien bekannt und geachtet vor der Welt. Was in diesem Lande geleistet
wurde, ist fast beispiellos in der Kolonialgeschichte [!] aller Völker und Zeiten
[...].38 Auch den in Europa jetzt so zahlreichen Kolonialpolitikern ist ein Besuch zu
empfehlen; in Bosnien wird praktische Kolonialpolitik [!] getrieben und was geleistet wurde, stellt den leitenden Personen und Oesterreich-Ungarn im Allgemeinen das höchste Ehrenzeugniss aus. Einst gänzlich zurückgeblieben, reiht sich heute
die bosnische Schwester europäischen Ländern als würdige Genossin an.39
An dieser Stelle könnte man den kulturalistischen Faden Osterhammels aufgreifen und – ganz im Stil der Post/Colonial Studies unserer Gegenwart – argumentieren, dass es sich hier weniger um sozial- und politikwissenschaftliche
Befunde, sondern um kulturelle Befindlichkeiten handelt. Es ginge also nicht
darum, ob Österreich-Ungarn tatsächlich eine Kolonialmacht sensu stricto
gewesen ist und damit den westeuropäischen Großmächten ähnlicher als angenommen; interessanter wäre die Frage nach dem kulturellen Ausdruck beziehungsweise Niederschlag von Dominanzverhältnissen zwischen Herrschaftszentren und beherrschten, andersethnischen Peripherien – insbesondere, als
der Kultur ja in der Definition Osterhammels eine zentrale Rolle bei der
Formulierung, Vermittlung und Interpretation solcher Herrschaftsverhältnisse zukommt.40
Als eines von vielen Beispielen für österreichisch-ungarische Formen der
Identitätspolitik, das heißt der strategischen Erzeugung kultureller Differenz,
soll hier ein besonders anschaulicher Textbeleg wiederholt41 werden; es han-
116
delt sich um ein ethnographisches Werk aus und über Siebenbürgen (Transsylvanien), das eine ethnische Hierarchie insinuiert und dabei den Siebenbürger Sachsen die „goldene (bürgerliche) Mitte“ zuweist gegenüber den
„unzivilisierten“ rumänischen Bauern und der latent „verschwenderischen“
ungarischen Gentry:
Ziehen wir neben diesem Kastenunterschied [!], der sich auch auf die Jugend erstreckt, noch einen gewissen Hang zum beschaulichen Leben, womöglich ohne
Arbeit und Mühe, in Betracht, so dürfen wir uns nicht im geringsten darüber wundern, daß der transsilvanische Rumäne sich selten über die allerprimitivsten Lebensverhältnisse emporschwingt; denn wahr bleibt es immerhin, daß ihm der Wahlspruch gilt: Sitzen sei besser als Gehen, Liegen besser als Sitzen, Schlafen besser als
Wachen, das Beste von allem aber ist das Essen! Auf diesen unleugbaren Umstand
ist daher zurückzuführen die traurige Bemerkung mancher Philoromanen, daß der
rumänische Bauer, trotz aller Gleichheit vor dem Gesetze, noch immer in einer
ärmlichen Hütte, der magyarische Herr und der sächsische Bürger aber in einer
bequemen Stadt- oder Landwohnung lebt. Dieser Hang zu einem beschaulichen
Leben muß auch auf seine Intelligenz übertragen werden; er ist begriffstutzig [sic]
und verhält sich abwehrend gegen jede neue Idee, die man ihm beibringen will.42
Formen dieser Rhetorik einer stur primitiven „Faulheit“, die der zivilisierten
„Anleitung“ bedarf, finden sich nahezu weltweit, ob es sich nun um Afrikaner, „Orientalen“ oder um Finnen unter zaristischer Herrschaft handelt.
Will man sich nun in Bezug auf die k.u.k. Monarchie auf die oben skizzierte
Sichtweise der kulturellen Imagination und Vermittlung einlassen, so wären
dann vor allem Bilder des Eigenen und Fremden in den diversen Medien
(Gebrauchstexte, Literatur, Bildmedien et cetera) der habsburgischen Kultur/en im großen Rahmen – oder zumindest in stringenten Stichproben – zu
untersuchen;43 es handelt sich dabei meist um Formen der Konstruktion von
„Identität“ beziehungsweise „Gemeinschaft/en“44 – seien diese nun Ethnien,
Nationen oder die Staatsnation (das „Reich“) Österreich(-Ungarn) selbst –
die der Folie eines jeweils „Anderen“ bedürfen. Hier könnte sich die These
als sehr fruchtbar erweisen, dass sich die Imagination von Auto- und Heterostereotypen45 unter Bedingungen der Fremdherrschaft in innerkontinentalen Vielvölkerstaaten und in transkontinentalen Kolonialreichen durchaus
ähneln können,46 wie zum Beispiel in den zitierten pathetischen Inszenierungen eines „Zivilisationsgefälles“:
Allerdings funktionieren innerhalb des Machtgefüges Europa nicht alle diskursiven Oppositionen [...] auf dieselbe Weise. Während die Paare Metropole vs. Peripherie und Zivilisation vs. Barbarei/Archaik in beiden Fällen analog figuriert sind,
117
sind bei der Frage der Ethnie und der Konfession andere, innereuropäische „Maßstäbe“ relevant. 47
Diese „postkolonialen“ Frageperspektiven, welche die Wiener Romanistin
Birgit Wagner exemplarisch in Bezug auf Sardinien entwickelt hat, könnten
durchaus auch im zentral- und (süd)osteuropäischen Kontext als Anregung
dienen. Genauso aber ließen sich hier folgende Phänomene beschreiben: „Erosion und Neu-Erfindung von Identität, sprachliche und kulturelle Hybridisierungsprozesse, Re-Lokalisierungen.“48
Abgesehen von diesen meist positiv konnotierten Ausprägungen multiethnischen Zusammenlebens ist freilich – wie schon die anzitierten Textquellen suggerieren – auch im zentraleuropäischen Kontext zu beachten, dass
eine hegemoniale Kultur so etwas wie Definitionsmacht ausübt. Dies hat zum
produktiven Missverständnis des Wiener Slawisten Stefan Simonek geführt,
der monierte, man wolle bei derartigen Habsburg-Forschungsprojekten49
lediglich mit deutschsprachigen Quellen arbeiten und etwa die subalternen
südslawischen Kulturen „nur als stummes Objekt [des hegemonialen Diskurses, CR], nicht aber als selbst sprechendes Subjekt zur Kenntnis“ nehmen.50
Dem ist keineswegs so: Ein komparatistisches Herangehen an den Untersuchungsgegenstand in Form von (kontrastiven) Lektüren kultureller Texte
„gegen den Strich“ – Edward Saids „contrapuntal reading“51 – versteht sich
von selbst.
Wohl aber gilt es auch zu berücksichtigen, dass die deutsch-österreichische und die ungarische Kultur über Machtprivilegien verfügen, um ihre
Bilder und Sichtweise(n) durchzusetzen; am extremsten zeigt sich das in einem Polizeitext der k.u.k. Militärverwaltung in Montenegro aus dem Ersten
Weltkrieg, wo der Geruch (und damit ein Hygiene-Diskurs) zum selektiven
Merkmal sozialer wie ethnischer Differenz für die sanktionierende Behörde
wird:
Der Tischler riecht nach Firnis, der Maschinist nach Schmieröl, der Krankenwärter
nach Karbol, der Pferdeknecht hat den bekannten Stallgeruch, die Zigeuner den
lange in einem geschlossenen Raum wahrnehmbaren Zigeunergeruch etc. Schließlich
wird auf den ganz eigenartigen Geruch serbischer Soldaten (Gefangener) aufmerksam gemacht.52
Ein anderes denkwürdiges Phänomen ist, dass nicht-hegemoniale Kulturen
nicht nur dazu tendieren, diese aufoktroyierten und vielfach entwürdigenden Bilder zu verweigern, sondern sie ebenso durch Habitualisierung53 zu
verinnerlichen: Herrschaft funktioniert nicht nur mit Gewaltmitteln und
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ökonomischem Druck, sondern auch durch eine gewisse kulturelle Akzeptanz der Betroffenen den an sie herangetragenen Fremdbildern gegenüber.54
Damit ist jedoch nicht gesagt, dass es innerhalb von „beherrschten“ Kulturen keine opponierenden, subversiven oder hybridisierenden Perspektiven
gäbe (will man nicht eines der wesentlichen Existenzprinzipien von künstlerischem Schaffen überhaupt in Frage stellen): „If culture means the critique
of empires, it also means the construction of them. [...] The national unity
which is sealed by Culture is shattered by culture“ (Terry Eagleton).55 Dies
alles ließe sich etwa an einem satirischen Text des ukrainischen Autors Ivan
Franko zeigen, der 1901 in Form einer Galizischen Schöpfungsgeschichte die
ethnische als soziale Differenz von ruthenischen Bauern und polnischen
Gutsherren – ohne sie explizit zu nennen – am Produktimage von Schnaps
und Wein festmacht und gleichzeitig sozialkritisch konterkariert:
Im Anfang war der Schnaps. Er war zuerst chaotisch. Ein jeder durfte ihn brennen,
verkaufen oder auch höchsteigen trinken. Da kam aber der Ungarwein ins Land.
Und der war theuer. Und so schied Gott die Schnapstrinkenden von den Weintrinkenden und gab den letzteren eine Gewalt über die ersteren. Und so kam es, daß die
einen nur den Schnaps brennen und trinken mußten, aber brennen für die anderen
und trinken für ihr gutes Geld – die anderen aber bekamen den fertigen Schnaps
und verkauften ihn für ihre Rechnung, um sich mit Ungarnwein volltrinken zu
können.56
So werden die k.u.k. Kulturen auch zu Medien eines ethnisch kodierten „Kampfes um Bedeutung“. Wie die österreichische Historikerin Heidemarie Uhl zu
Recht eingeworfen hat, sollte aber eine „postkoloniale“ Sichtweise des habsburgischen Zentraleuropa „nicht dazu führen, die Vielschichtigkeit von ethnisch-nationalen Konfliktlagen und die Entwicklung von Konsenskonzepten
auf das dichotome Muster einer hierarchischen Differenz zwischen hegemonialer Elitenkultur und ,kolonisierten‘ [...] Nationalitäten zu reduzieren“
und so „die Vorstellung eines homogenen ,Anderen‘ zu generieren“57 – wie
wohl auch aus den zitierten Textbeispielen hervorgegangen ist.
„Kolonialismus“ als (heuristische) Metapher und Anstoß
Man kann nun freilich in der Hypothese einer Binnenkolonisierung in Österreich-Ungarn auch nichts Anderes als eine – mitunter polemische – Metapher sehen. Damit ist vielfach die Problematik verbunden, dass jener Kolonialismusvorwurf gegen eine Zentralmacht häufig schon im Rahmen nationalis-
119
tischer Diskurse seit dem 19. Jahrhundert selbst so weit instrumentalisiert
wurde, dass er im 21. Jahrhundert eine unbeabsichtigte Parteinahme, ja Desavouierung des externen wissenschaftlichen Beobachters bedeuten könnte.
Diesem Vorwurf ist leicht zu opponieren, waren doch die Post/Colonial
Studies seit den Arbeiten von Edward Said58 bestrebt, den nur schwer abreißenden Gewaltzyklus zu beschreiben, wo die Vorherrschaft bestimmter ethnischer Gruppen, die sich meist hinter dem pathetischen Unionismus der
Großreiche verbirgt, und die nationalistische Gegengewalt der Dekolonisation einander bedingen, also beide nicht zu einem wie auch immer gearteten
politischen remedium taugen (im Wechselspiel zwischen Vielvölkerstaaten und
ihren internen Nationalismen wird letztlich immer „Teufel mit Beelzebub
ausgetrieben“ – wenn man den politischen Problemkern polemisch fassen
möchte). Trotzdem wäre noch weiter zu fragen, was eine „postkoloniale“
Zugangsweise konkret in einem (zentral)europäischen Kontext leisten kann,59
will sie mehr sein als eine politisch korrekte Trauerarbeit, die pikanterweise
häufig in den ehemaligen Herrschaftszentren ihren Ausgang genommen hat.
Der in Hongkong lehrende österreichische Kulturwissenschaftler Markus Reisenleitner hat ebenso wie Heidemarie Uhl darauf aufmerksam gemacht, dass das vorgeschlagene postkoloniale Modell vor allem eine Lesart sei
(„an interdisciplinary set of reading practices“), die dem „habsburgischen
Mythos“ opponiert: „a desire to make a political intervention against appropriations of the idea of Central Europe as an essentialized space with a common heritage and a common culture for contemporary political claims of
hegemony and nostalgia through glorified imaginings of the Habsburg past.“60
Es geht hier also auch um so etwas wie eine Reevaluation der habsburgischen
Vergangenheit, ja um ein „Reinventing Central Europe“,61 hinter dem nicht
selten (partei-)politische Perspektiven stehen – verstehen sich doch etwa die
österreichischen Konservativen bis zum heutigen Tag vielfach als Bewahrer
des habsburgischen Erbes und dessen „multikultureller Tradition“ in „Mitteleuropa“. „Postkoloniale“ Zugangsweisen dienen nun häufig der Hinterfragung gerade jenes naiven Verständnisses von „Multikulturalismus“.
Die Kritik Reisenleitners läuft darauf hinaus, dass postkoloniale Theorien von den „neuen Kakanier/innen“ als „Werkzeugkasten“ („a tool set“) betrachtet werde, den man ohne Rücksicht auf die konkrete Machtsituation der
amerikanischen „academic hegemony“, in der er entstanden sei, auf Österreich-Ungarn übertragen könne. Dieser Transfer-Problematik ist leicht intern zu entgegnen, dass gerade das displacement jener theoretischen Ansätze –
die selbstverständlich in sich selbst als divergent anzusehen sind – die beste
120
Gewähr bieten, diese ganz im Sinne postkolonialer Theoriebildung62 aus ihrer Befangenheit beziehungsweise ihrer konkreten und nicht immer klaren
politischen und institutionsgeschichtlichen Verortung zu lösen.
Nützlicher als diese etwas angestaubt anmutenden prinzipiellen Vorbehalte gegen akademische Aktivitäten als Machtpraktiken – die man besser
unterlässt, will man nicht stante pede die eigene Forschungsarbeit beenden
müssen63 – sind indes die konkreten Anregungen von Reisenleitners Text:
- Did the Habsburg lands have something comparable to the essentializing and
morally loaded concept of „Englishness“, so strongly tied to the British empire, its
language and its literary canon? This question was raised by Edward Said when he
explains why he specifically does not talk about some parts of the world, including
the Habsburg monarchy.64
- [The] nexus between nation and narration could usefully be unpacked and unhinged in a critique of hegemonic cultural practices in the Habsburg lands.65
- There can be no doubt that even the most marginalized and oppressed ethnicities
in the Habsburg monarchy had access to relatively good printing and publishing
resources, but this does not imply that they were not subaltern, or that the concept of
subalternity cannot be fruitful in considering the situation there; it does imply,
however, that the concept of voice has to be even more refined than it has already
been in the context of India and the Subaltern Studies Group.66
- How can it be avoided that such a movement promotes, intentionally or unintentionally, the same recentralization and hegemony of knowledge production that
it sets out to criticize?67 (Diese Problematik stand etwa beim erwähnten Forschungsprojekt FWF 14727 im Mittelpunkt – die Lösung liegt in der Errichtung eines
möglichst dezentralen Netzwerks an Mitarbeiter/innen, das ebenso in der Lage ist,
die Sünden der Nationalgeschichtsschreibung und -philologie in einem Kaleidoskop aufzulösen.)
Reisenleitner träumt durchaus im Sinn dieser geplanten Projekte von
a serious engagement with postcolonial theory not so much in terms of an „application“ but rather as a project of juxtaposition that re-shuffles the deck and thus
provides a platform for tangential and guerilla readings that do not fall prey to
oversimplifications and remain stuck in legitimizing binaries of dominance and
oppression. Engaging with the terms and reading practices of postcolonial theory
could very well help to displace the terms of opposition in which the question of
„applicability“ is couched (e.g. center and periphery, dominant vs. suppressed ethnicities, but also the concept of a Leitkultur).68
Diese Vision teilen wahrscheinlich die meisten in derartige Forschungsprojekte Involvierten. In diesem Kontext wäre die Postkolonialismus-Debatte dann
nichts Anderes als eine heuristische Metapher, die die Aufmerksamkeit auf
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die Modellierung kollektiver Identitäten (oder Identifikationen) unter den
Herrschafts- und Kulturbedingungen des k.u.k. Vielvölkerstaats lenkt – in
jener Zeitumgebung, da die EU drauf und dran ist, ein neues, besseres Staatengebilde schaffen zu müssen. Gerade unter diesen Vorzeichen – so schreibt
Heidemarie Uhl unter Berufung auf Moritz Csáky – werde das späthabsburgische „Spannungsfeld zwischen der Anerkennung von Differenz und den
subtilen Mechanismen kultureller Hegemonie [...] zu einem ,Laboratorium
gegenwärtiger Problemlagen‘“69 (Literaturkenner/innen mögen hier freilich
das Kraus’sche Wort von Österreich-Ungarn als der „Versuchsstation des
Weltuntergangs“ durchhören.) Allein schon deshalb sollte es nie so weit kommen, wie der österreichische Diplomat und Historiker Emil Brix selbstkritisch und pro domo auf einer Budapester Tagung im November 2002 meinte:
Eine „post/koloniale“ Zugangsweise zu den Kulturen der k.u.k. Monarchie
und ihrer Nachfolgestaaten, die als Gegenmodell zum Habsburgischen Mythos gedacht sei, laufe nolens volens Gefahr, dessen letztes historisches rescue
team zu werden.
Anmerkungen
1 Jürgen OSTERHAMMEL, Kolonialismus. Geschichte – Formen – Folgen, München 32001, S. 8.
2 Vgl. etwa die laufende Diskussion auf der wissenschaftlichen Internetplattform www.kakanien.ac.at; weiters den Sammelband: Wolfgang MÜLLER–
FUNK, Peter PLENER, Clemens RUTHNER (Hg.), Kakanien revisited. Das
Fremde und das Eigene (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie, Tübingen–Basel 2002 (Kultur – Herrschaft – Differenz 1); darin exemplarisch: Wolfgang MÜLLER-FUNK, Kakanien revisited. Über das Verhältnis von Herrschaft und Kultur, ebenda, S. 14–32.
3 Vgl. Clemens RUTHNER, „K.u.k. (post-)colonial“? Prolegomena zu einer neuen
Sichtweise Österreich-Ungarns in den Kulturwissenschaften, in: newsletter
Moderne 1, 4 (2001), S. 5–8; erw. Fassung in: Kakanien revisited, S. 93–103.
Internetabdruck unter: www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/CRuthner1.pdf
[2001]; vgl. DERS., Kulturelle Imagines und innere Kolonisierung. Ethnisch
kodierte Selbst- und Fremdbilder in der k.u.k. Monarchie – eine Projektskizze,
in: Klaus ZEYRINGER, Moritz CSÁKY (Hg.), Paradigma Zentraleuropa III,
Innsbruck–München 2002, S. 30–53.
4 Vgl. die Lemmata „Kolonien (I und II)“, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, hg. von Erwin v. BECKERATH u. a., Stuttgart 1956–68, Bd. 6, S. 57–74.
Eine Theoriebildung deutscher Provenienz in Sachen (Post-)Kolonialismus wäre
freilich ein interessantes Objekt für eine eigene Untersuchung. Bei den erwähnten Handwörterbuch-Artikeln etwa fällt auf, wie sie einerseits verhalten
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kolonialismuskritisch auftreten, andererseits eine Fundgrube nicht nur für
rousseauistische, sondern auch für rassistische Klischees (nach 1945!) darstellen, zum Beispiel, wenn von der „Rassenmischung“ in den Kolonien die Rede
ist: „Die Verbindung zwischen Individuen verschiedener Rassen bringt im allgemeinen Individuen hervor, die durchschnittlich hochwertiger sind als die
Vorfahren. [...] Natürlich gibt es auch Vermischungen, bei denen die Nachkommen minderwertiger [...] sind, so die Mischlinge von Weißen und Negern,
die Mulatten“; (ebenda, hier S. 60). Von „Hybridität“ kann hier also noch keine
Rede sein.
Rupert EMERSON, Colonialism [Lexikonartikel], in: International Encyclopaedia of the Social Sciences, hg. von David L. SILLS, New York–London 1968,
Bd. 3, S. 1–5, hier S. 1.
Vgl. International Encyclopaedia of the Social & Behavioural Sciences, hg. von
Neil J. SMELSER und Paul B. BALTES, Amsterdam u. a. 2001, Bd. 4, S. 2237–
2245; vgl. OSTERHAMMEL, Kolonialismus, S. 21.
Richard HODDER-WILLIAMS, Colonialism: Political Aspects, in: International Encyclopaedia of the Social & Behavioural Sciences, S. 2237–2240, hier
S. 2238; vgl. OSTERHAMMEL, Kolonialismus, S. 19; vgl. Wolfgang REINHARD, Kleine Geschichte des Kolonialismus, Stuttgart 1996, S. 1. Ähnliche
Bedingungen für den kolonialen Status eines Gebiets nennt schon das deutsche Handwörterbuch der Sozialwissenschaften von 1958: „daß die Entstehung
des Staates der Gründung der Kolonie vorhergegangen war“ (S. 57) und „daß
die Kolonie in einem Abhängigkeits- oder Inferioritätsverhältnis zum Mutterland steht, sei es wegen ihrer weiten Entfernung [...], sei es, weil ihre einheimische Bevölkerung als rassisch minderwertig [!] gilt“ (ebenda).
Vgl. etwa OSTERHAMMEL, Kolonialismus, S. 7–22.
Wolfgang REINHARD, History of Colonization and Colonialism, in: International Encyclopaedia of the Social & Behavioural Sciences, Bd. 4, S. 2240–
2245, hier S. 2240; vgl. REINHARD, Kleine Geschichte des Kolonialismus, S. 1.
Vgl. HODDER-WILLIAMS, Colonialism, S. 2237; vgl. Hannah ARENDT, Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, Frankfurt a. M. 1955, insbesondere
S. 309 ff.; vgl. Edward SAID, Culture and Imperialism, London u. a. 1994; vgl.
OSTERHAMMEL, Kolonialismus, S. 26 ff.; vgl. REINHARD, Kleine Geschichte des Kolonialismus, S. 1; vgl. auch Michael HARDT, Antonio NEGRI, Empire,
Cambridge (Mass.)–London 2000.
Vgl. OSTERHAMMEL, Kolonialismus, S. 78–88. Hier werden folgende features
kolonialer Wirtschaft genannt: „Beutewirtschaft“ der Kolonisatoren (wie
beispielsweise Bodenschätze), „Übernahme der Steuerhoheit sowie der Kontrolle über Außenhandel und Währung durch Fremde“ (S. 79), Festschreibung
der Kolonialökonomie auf Landwirtschaft (Bauernhaushalte beziehungsweise
Plantagen, S. 81–86), während eine Industrialisierung weitgehend unterbleibt
(S. 87–88).
Eine Diskussion militärischer Aspekte – und inwieweit diese Prätextcharakter
für die Politik haben – muss hier aus Platzgründen leider unterbleiben.
Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 6, S. 69. Im Weiteren wird auf
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„die größten Verschiedenheiten in Bezug auf die staatsrechtliche Stellung der
Eingeborenen“ (S. 72) in den jeweiligen Kolonien der europäischen Mächte
hingewiesen: Es gäbe dort meist keine Gleichheit vor dem Gesetz, aber etwa
teilweise das Fortbestehen alter Partikularprivilegien (S. 72), die parallele Existenz zweier Rechtssysteme („Europäerrecht“ versus „Eingeborenenrecht“,
S. 72–73), spezielle Eigentumsrechte in Bezug auf Grundbesitz und unegalitäre Sozialrechte (S. 73). Wesentlich ist in jedem Fall der Status rechtlicher Ungleichheit zwischen den Kolonisatoren und den Kolonisierten. Vgl. auch die
abstraktere Kolonie-Definition bei OSTERHAMMEL, Kolonialismus, S. 16.
Das Handwörterbuch der Sozialwissenschaften unterscheidet etwa zwischen
Gebieten, die Kolonien „im juristischen Sinne“ sind, von solchen, die „nur in
sozialer Hinsicht kolonialen Status haben“ (USA, Neuseeland historisch gesehen) (S. 57). Typologisch wird weiters zwischen Siedlungskolonien („die den Bevölkerungsüberschuss des Mutterlandes aufnehmen“ – zum Beispiel die USA,
Australien, Neuseeland), Ausbeutungskolonien (z.B. die iberischen Kolonien in
Lateinamerika), Handelskolonien (z.B. die Besitzungen der venezianischen Republik am Mittelmeer), strategischen Kolonien (zum Beispiel Hongkong, Gibraltar) und Kolonien für besondere Zwecke (Strafkolonien, Wetterstationen und
Ähnliches) differenziert (S. 58); was die Beziehungen zwischen Mutterland und
Kolonie betrifft, macht das Handwörterbuch Unterschiede zwischen Niederlassungen, Eroberungskolonien, Assoziationskolonien, Assimilationskolonien und autonomen Kolonien (ebenda). Vgl. dazu REINHARD, History of Colonization and
Colonialism, S. 2242–2243 sowie DERS., Kleine Geschichte des Kolonialismus, S. 2–3, wo nur zwischen Herrschafts-, Stützpunkt- und Siedlungskolonien
unterschieden wird (wie auch bei OSTERHAMMEL, Kolonialismus, S. 17–18).
EMERSON, Colonialism, S. 1.
Vgl. REINHARD, History of Colonization and Colonialism, S. 2240–2241.
HODDER-WILLIAMS, Colonialism: Political Aspects, S. 2239; vgl. OSTERHAMMEL, Kolonialismus, S. 22.
Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 6, S. 69.
Vgl. ARENDT, Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, S. 359 ff., wo
zwischen „überseeischem“ und „kontinentalem Imperialismus“ unterschieden
wird beziehungsweise Zusammenhänge sichtbar gemacht werden. Dies erinnert an den Gegensatz von „Meerschäumern“ und „Landtretern“ bei Carl
SCHMITT, Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung [1942], Köln
1981; vgl. ARENDT, Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, S. 361.
Arendt macht beispielsweise „eine Art von Konkurrenzneid auf England“ hinter den innereuropäischen Expansionsbestrebungen Deutschlands, ÖsterreichUngarns und Russland geltend (ebenda.).
Bei SAID, Culture and Imperialism, ist etwa auf S. xvi und S. 8 von einem
„white colonialism“ die Rede, mit dem etwa die britische Herrschaft über
Irland gemeint ist.
Vgl. Robert J. HIND, The Internal Colonial Concept, in: Comparative Studies
in Society and History 26 (1984), S. 543–568; vgl. Hans-Heinrich NOLTE
(Hg.), Internal Peripheries in European History, Göttingen 1991.
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22 „Der Begriff der ,Inneren Kolonisierung‘ umfasst Prozesse, die sich innerhalb
eines Subjekts ereignen, das sich – wie ein Territorium – als entdeckt, erforscht
und kolonisiert beschreibt. Die Darstellung der ,inneren Kolonisierung‘ geht
von Bildern der äußeren Kolonisierung aus. Territoriale Eroberungen und
Besetzung geographischer Gebiete schreiben sich bis zu Breitengraden eines
Ich fort, das historisch kolonisiert ist oder sich in Beziehung zu historisch
Kolonisierten setzt.“ (Andrea ALLERKAMP, Die innere Kolonisierung. Bilder
und Darstellungen des/der Anderen in deutschsprachigen, französischen und
afrikanischen Literaturen des 20. Jahrhunderts, Köln–Wien–Weimar 1991, S. 1).
23 Kein einziger der konsultierten Texte zum Thema „Kolonialismus“ erwähnt
die Habsburgermonarchie, wohl aber Russland. Vgl. auch Walter SAUER (Hg.),
k.u.k. kolonial. Habsburgermonarchie und europäische Herrschaft in Afrika,
Wien–Köln–Weimar 2002, S. 7–8.
24 Vgl. Adam HOCHSCHILD, Schatten über dem Kongo. Die Geschichte eines der
großen, fast vergessenen Menschheitsverbrechen (übers. von Ulrich ENDERWITZ u. a.), Stuttgart 2000.
25 Vgl. etwa Stein ROKKAN, Centre periphery structures in Europe. An ISSC
Workbook in Comparative Analysis, Frankfurt a. M. 1987.
26 Ein gegenwärtig in Planung befindliches FWF-Projekt unter der Leitung von
Wolfgang MÜLLER-FUNK (Zentren und Peripherien. Kulturen und Herrschaftsverhältnisse Österreich-Ungarns 1867–1918) wird sich der Erforschung dieser Problematik widmen.
27 Vgl. Raymond DETREZ, Colonialism in the Balkans. Historic realities and
contemporary perceptions, in: www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/RDetrez1.pdf
[2002]; vgl. Maria TODOROVA, Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil (aus dem Engl. von Uli Twelker), Darmstadt 1999, S. 35–36.
28 Auf Grund des Landesstatuts von 1910 in Form eines Kurienwahlsystems, geteilt
nach Konfessionen. Dadurch, dass Bosnien und die Herzegowina gleichsam als
Corpus separatum gemeinsam von Cisleithanien und dem Königreich verwaltet
wurden, waren bosnische Abgeordnete weder im Reichsrat noch im ungarischen
Parlament vertreten. (Diese Information verdanke ich dem Grazer Historiker
Christian Promitzer, vgl. auch seinen Beitrag im vorliegenden Sammelband.)
29 Der Verfasser des vorliegenden Beitrages arbeitet an einem größeren kulturwissenschaftlichen (Habilitations-)Projekt zum Thema Konstruktionen des Fremden in der österreichischen Literatur und Kultur: Bosnien-Herzegowina 1878–1918.
30 OSTERHAMMEL, Kolonialismus, S. 21 [im Original kursiv].
31 Ebenda, S. 20 [im Original kursiv].
32 Ebenda, S. 113–116 [im Original kursiv].
33 Ebenda, S. 22.
34 Claudio MAGRIS, Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur [ital. Erstausgabe 1966], Wien ³2000, S. 26.
35 REINHARD, Kleine Geschichte des Kolonialismus, S. 7. Auch hier wäre meiner Einschätzung nach streng genommen zwischen „Kolonisation“ im Sinne
von Besiedlungspolitik und „innerem Kolonialismus“ in einem globaleren
Sinn terminologisch zu unterscheiden.
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36 Hilde ZALOSCER, Eine Heimkehr gibt es nicht. Ein österreichisches curriculum vitae, Wien 1988, S. 14, S. 24, S. 32, S. 129.
37 Vgl. dazu RUTHNER, „K.(u.)k. postcolonial“?, S. 93–94, S. 96–97.
38 Durch Bosnien und die Hercegovina kreuz und quer. Wanderungen von Heinrich RENNER, Berlin 1896, S. V [Rechtschreibung wie im Orig.].
39 Ebenda, S. 480.
40 Vgl. dazu die Beiträge in: SAUER, k.u.k. kolonial, 2002 (zur Stellung ÖsterreichUngarns in der europäischen Kolonialpolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert) beziehungsweise in: MÜLLER-FUNK u. a., Kakanien revisited (zum kulturellen und vor allem literarischen Niederschlag binnenkolonialer Verhältnisse).
41 Vgl. RUTHNER, „K.(u.)k. postcolonial“?; vgl. DERS., Kulturelle Imagines und
innere Kolonisierung.
42 Heinrich von WLISLOCKI, Aus dem Leben der Siebenbürger Rumänen, in:
Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge, hg. v. Rudolf
VIRCHOW und Wilhelm WATTENBACH, Hamburg 1889/90, S. 579–619,
hier S. 603.
43 Dies geschieht gegenwärtig im Rahmen des FWF-Projekts 14727 unter dem
Titel Herrschaft, ethnische Differenzierung und Differenz in Österreich-Ungarn 1867–
1918; Informationen dazu und erste Ergebnisse auf der Internet-Plattform
www.kakanien.ac.at.
44 Grundlegend dazu: Benedict ANDERSON, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts ( übers. von Benedikt Burkard und Christoph Münz), Berlin 1998; vgl. Jürgen LINK, Wulf WÜLFING (Hg.), Nationale
Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen
und Funktionen von Konzepten nationaler Identität, Stuttgart 1991; vgl. Moritz CSÁKY, Elena MANNOVÁ (Hg.), Collective Identities in Central Europe
in Modern Times, Bratislava 1999.
45 Vgl. Hugo DYSERINCK, Karl Ulrich SYNDRAM (Hg.), Europa und das nationale Selbstverständnis. Imagologische Probleme in der Literatur, Kunst und
Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts, Bonn 1988; vgl. Michael PICKERING,
Stereotyping. The Politics of Representation, Basingstoke–New York 2001.
46 Eine andere Frage ist, ob die zeitgenössische Völkerpsychologie, der Kolonialismus sowie das ethnische Gefüge in Vielvölkerstaaten um 1900 nicht allesamt
konkrete Ausprägungen eines übergreifenden modernen Konzepts von Identität und Alterität im Spannungsfeld von Macht(begehren) sind, die dann wohl
globaler – etwa mit anthropologischen Methoden – zu beschreiben wären.
47 Vgl. Birgit WAGNER, Postcolonial Studies für den europäischen Raum. Einige Prämissen und ein Fallbeispiel, in: Christina LUTTER, Lutz MUSNER (Hg.),
Kulturstudien in Österreich, Wien 2002, sowie in: www.kakanien.ac.at/beitr/
theorie/BWagner1.pdf [2002], S. 1.
48 Ebenda, S. 2. Analysen zu Hybridisierung und Mehrsprachigkeit bei slawischen Autoren der Monarchie unter anderem bei Stefan SIMONEK, FehlLektüren der Wiener Moderne. Tadeusz Rittner versus Josef Svatopluk Machar,
in: www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/SSimonek1.pdf.
49 Erwähnt sei hier neben dem FWF-Projekt 14727 auch das Vorhaben von Diana
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Reynolds zu Bosnien in Ikonografie und Kunstgewerbe um 1900; vgl. ihren
Beitrag im vorliegenden Sammelband.
Vgl. Stefan SIMONEK, Mit Clemens Ruthner unterwegs im Wilden Osten, in:
newsletter Moderne 2, 4 (2001), S. 30–31 und in: www.kakanien.ac.at/rez/
SSimonek1.pdf [2002], S. 1 [im Original]. Zu den Leistungen dieses Textes
gehört, auf Modelle der sowjetischen Kultursemiotik (Jurij Lotman) als heuristisch interessante Parallelaktion zu postkolonialen Herangehensweisen aufmerksam gemacht zu haben.
SAID, Culture and Imperialism, S. 78.
K.u.k. Militär-Gouvernement in Montenegro: Gesichtspunkte für den kriminellen Ausforschungsdienst, Cetinje 1916, S. 5.
Zur aktuellen Fassung der Habitustheorie vgl. Pierre BOURDIEU, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft (übers. von Achim RUSSER u. a.),
Frankfurt a. M. 2001, S. 165 ff.
Wie zum Beispiel das Narrativ von der nicht-europäischen, „asiatischen“ Herkunft der Ungarn, das in deutschnationaler Polemik zum Motiv des Ausschlusses, in ungarischen Texten aber zur Identitätsstiftung instrumentalisiert wird
(vgl. Cornelia GROSSER u. a., Genug von Europa. Ein Reisejournal aus Österreich-Ungarn, Wien 1999, S. 124 ff.).
Terry EAGLETON, The Idea of Culture, Oxford 2000, S. 44 und S. 62.
Ivan FRANKO, Die galizische Schöpfungsgeschichte, in: Die Zeit XXVII/341
von 13.4.1901, S. 18. Interessant sind hier auch folgende Hybridisierungsprozesse beziehungsweise Allianzen, die der Text suggeriert: ethnische Kodierungen der Herrschaft („polnisch“ und „ungarisch“) werden hier quasi synonym;
andererseits erscheint dieser sozialkritische Text eines ukrainischen Autors in
der Hegemonialsprache Cisleithaniens (Deutsch) in einem Periodikum des
Herrschaftszentrums Wien. Zum Hybriditätsdiskurs vgl. Endre HARS, Hybridität als Denkfigur. Homi K. Bhabhas theoretisches Engagement, in:
www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/EHars1.pdf; vgl. Jan NEDERVEEN PIETERSE, Der Melange-Effekt. Globalisierung im Plural, in: Ulrich BECK (Hg.),
Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a. M. 1998, S. 87–124. Zu Ivan
Franko vgl. den Beitrag Stefan Simoneks in diesem Band.
Heidemarie UHL, Zwischen „Habsburgischem Mythos“ und (Post-)Kolonialismus. Zentraleuropa als Paradigma für Identitätskonstruktionen in der (Post-)Moderne, in: newsletter Moderne 1, 5 (2002), S. 2–5 und in: www.kakanien.ac.at/
beitr/theorie/HUhl1.pdf [2002], S. 3.
Vgl. dazu die aktuelle Auseinandersetzung bei Ursula REBER, Kolonialismus
im „Osten“? Imperialismus, Orientalismus und das „Reale“ bei Edward Said,
in: www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/UReber1.pdf [2002].
Vgl. auch die bereits erwähnten Vorschläge bei WAGNER, Postcolonial Studies für den europäischen Raum, 2002.
Markus REISENLEITNER, Central European Studies in Search for a Theory,
or: The Lure of „Post/colonial Studies“, in: Spaces of Identity 2, 2 (August
2002), siehe: www.spacesofidentity.net/. Vgl. UHL, Zwischen „Habsburgischem
Mythos“ und (Post-)Kolonialismus, S. 1–2.
127
61 Steven BELLER, Reinventing Central Europe. Working Paper 92-95, Minneapolis 1991; vgl. Jacques LE RIDER, Mitteleuropa. Zusatz auf den Spuren eines
Begriffes. Essay (aus d. Franz. von Robert Fleck), Wien 1994; vgl. Vladislav
MARJANOVIC, Die Mitteleuropa-Idee und die Mitteleuropa-Politik Österreichs 1945–1995, Frankfurt a. M. u. a. 1998.
62 Vgl. dazu Homi K. BHABHA, The Location of Culture, London–New York
1994.
63 Da es nun einmal keine privilegienlosen und machtfreien Räume gibt, von
denen aus Wissenschaft „glaubwürdiger“ sprechen könnte als im zugegebenermaßen prekären Rahmen von Universitäten, akademischen Verlagen und
Kanons.
64 Vgl. SAID, Culture and Imperialism, S. xxii.
65 REISENLEITNER, Central European Studies in Search for a Theory.
66 Ebenda.
67 Ebenda.
68 Ebenda.
69 UHL, Zwischen „Habsburgischem Mythos“ und (Post-)Kolonialismus, S. 3.
128
Möglichkeiten und Grenzen
postkolonialistischer Literaturtheorie
aus slawistischer Sicht
Stefan Simonek
Konservativ und konventionell ausgerichtete slawistische Zeitgenossen tun sich
wahrscheinlich schwer mit den bisher vorliegenden Versuchen, Ansätze der
in erster Linie von Homi Bhabha geprägten postcolonial studies für die slawischen Kulturen der Donaumonarchie nutzbar zu machen – da wurde etwa im
Rahmen einer Tagung, die im Sommer 2002 in Klosterneuburg stattfand,
Marie von Ebner-Eschenbach aus postkolonialistischer Perspektive ein verzerrtes Bild der Tschechen in ihren Texten vorgehalten, gleichzeitig sprach
die Referentin aber unter souveräner Außerachtlassung der tschechischen
Orthoepik konsequent von einem Roman namens Bouèena (statt korrekt
Bozena); wer sich im Besitze der postkolonialistischen Wahrheit befindet, ist
offenbar jeglicher weiterer Annäherung an seinen Untersuchungsgegenstand
enthoben. Ein analoges Beispiel scheint auch Endre Hárs’ vor kurzem vorgelegter Versuch darzustellen, Bhabhas Theoreme auf eine Erzählung des Tschechen Richard Weiner zu applizieren.1 Ohne hier die Resultate dieses Unternehmens selbst bewerten zu wollen, springt der Umstand ins Auge, dass der
Verfasser lediglich mit der deutschen Übersetzung des Textes und unter völliger Ausblendung des entsprechenden Forschungsstandes in der Bohemistik gearbeitet hat.
Auch in Bhabhas nicht gerade einfach zu lesender Studie mag dem Slawisten manches auffallen; so etwa Bhabhas extrem verkürzte, von seinem postkolonialistischen Anliegen deformierte Ansicht, Goethes kulturelles Konzept
von Weltliteratur reiche nur bis nach England und Frankreich2 (zwei klassische Kolonialmächte), die den mannigfachen Verbindungen Goethes zur slawischen Welt keine Beachtung schenkt. Auch bei jenem Autor, den Bhabha
zu einem der Hauptzeugen seines theoretischen Engagements macht, nämlich Joseph Conrad, springt ins Auge, dass dieser bei Bhabha einzig als Apologet des britischen Empire firmiert, ohne dass auf die Züge des Hybriden,
^
129
zwischen den Kulturen Positionierten hingewiesen wird, für die sich die
literarische Karriere des als Teodor Józef Konrad Korzeniowski in der heutigen Ukraine geborenen Autors doch in besonderem Maße anbieten würde.
Conrads von Bhabha immer wieder zitierter Text Heart of Darkness mag
auch den Ausgangspunkt meiner Überlegungen bilden, die zunächst um die
Frage kreisen, in welcher Weise die slawischen Kulturen im Verbund der
Donaumonarchie nicht nur als besprochene Objekte, sondern auch als ihrerseits sprechende Subjekte im Rahmen postkolonialer Theoriebildung positioniert werden können. Slawische Kulturen sollten aus der Position jenes rudimentären und defizitären Sprechens gelöst werden, das in Conrads Text der
afrikanischen Bevölkerung konzediert wird und das der nigerianische Schriftsteller Chinua Achebe wie folgt kritisiert: „In the entire novel Conrad allows
two sentences in broken English to Africans: the cannibal who says ,Catch
’im, eat ’im‘, and the half-caste who announces ,Mistah Kurtz – he dead‘.“3
Das Beharren darauf, slawischen Kulturen mehr an Artikulationsfähigkeit zuzugestehen als „Mistah Kurtz – he dead“, würde auch verhindern,
dass diese sich in Form des hypostasierten totalen „Anderen“ plötzlich als
Oppositionspaar in einer erneut konfigurierten binaristischen Gegenüberstellung wiederfinden; diese würde nämlich in der Annahme, slawische Kulturen könnten im Rahmen der Donaumonarchie einzig als sprachloses Objekt einer Kolonialisierung präsent sein, in wohlmeinender, aber nichtsdestotrotz paternalistischer Weise zu einer ungewollten Duplizierung des kolonialistischen Diskurses führen. Es wäre an dieser Stelle Bhabhas Postulat zu
erwähnen, wonach (in der Formulierung von Elisabeth Bronfen) „die intersubjektiven Erzählungen, die ein Subjekt in seiner kulturellen Verortung
wiederzugeben versuchen, von einer Situation ausgehen sollten, die eher durch
Ambivalenz, Differenz sowie einer doppelten, wenn nicht sogar multiplen
Sichtweise geprägt ist.“4 Umgelegt auf die konkrete literaturwissenschaftliche
Arbeit könnte dies etwa bedeuten, dass das Bild, das deutschsprachige Reiseberichte, Briefe oder Autobiographien von den slawischen Kulturen der
Monarchie im Sinne der Alterität zeichnen, in Rekurs auf die zuvor erwähnte
doppelte Sichtweise mit entsprechenden slawischen Quellen gegengelesen
werden sollte, so dass sich objektbezogenes Fremdbild und subjektbezogenes
Selbstbild ergänzen und einander kommentieren. Ein heuristischer Ansatz,
der generalisierend von einem flächendeckenden Kulturkolonialismus innerhalb der Monarchie ausgeht, greift meines Erachtens nach insofern zu kurz,
als er ein einseitig vektoriales Bild zeichnet, in dem der kolonialisierende
Impuls alleine von deutsch-österreichischer und ungarischer Seite ausgeht,
130
das aber in seiner Verallgemeinerung die hinter beziehungsweise unter dieser generellen Stoßrichtung verlaufenden, vielleicht als Mikro- oder Binnenkolonialismen zu bezeichnenden Prozesse übersieht.
Als Beispiel für eine auf diese Weise revidierte Sicht könnte man etwa die
Situation in Galizien heranziehen, die aus der Sicht des Zentrums wohl pseudokoloniale Züge aufweisen mag, wie Clemens Ruthner vermerkt, die sich
aber doch etwas anders präsentiert, wenn man polnische und vor allem ukrainische Quellen heranzieht.5 Gerade in der ukrainisch-galizischen Belletristik der Jahrhundertwende wird die Auseinandersetzung mit dem politischen
und kulturellen Zentrum Wien oft mit der Abwehr der als weit bedrohlicher
und repressiver sowie viel unmittelbarer empfundenen Dominanz von polnischer Seite her verbunden beziehungsweise von dieser sogar überlagert. So
bietet zum Beispiel das umfangreiche Werk von Ivan Franko mit der auf ukrainisch verfassten, aber mit einem deutschen Titel versehenen Erzählung
Schönschreiben (1884) ein Paradebeispiel für den von Bhabha erwähnten „Triumph der öffiziösen [sic] Schrift der kolonialistischen Macht“6 in Hinblick
auf die von Franko geschilderte Kalligraphiestunde in der Schule; daneben
steht freilich Frankos im Jahre 1903 veröffentlichte Erzählung Otec’-humoryst
[Ein Pater mit Humor], in der das Deutsche als mit Hilfe von Grammatikübungen eingesetztes Disziplinierungsmittel wiederum in der Schule mit dem
Polnischen in analoger Funktion gegengeschnitten wird:
Ó÷åíèê, ùî ñèä³â îá³ê ìåíå, âèêëèêàíèé ç í³ìåöüêî ãî , ìàâ ïåðåêëàñòè ðå÷åííÿ: Im
Sommer herrscht grosse Hitze. ³í ïåðåêëàâ ïî-ïîëüñüêè: W lecie panuje wielkie
gor¹co. Äàë³ éøëî ðå÷åííÿ: In der Hitze spazieren ist schädlich. Ó÷åíèê çàöóêàâñÿ.
– W go... w gora...
– Hy, ùo? ßê æå áóäå: In der Hitze?
– W gor¹cem!
– ßê-ÿê?
– W gor¹cu.
– Ãa-ra-ra! ßê-ÿê?
– W go... go... gor¹coœci, – ï ð î áóëüêî ò³â çáèòèé ç ïàíòåëèêó xëoïeöü.7
[Der Schüler, der neben mir saß, wurde in Deutsch aufgerufen und mußte den Satz
„Im Sommer herrscht große Hitze“ übersetzen. Er übersetzte auf polnisch: „W lecie
panuje wielkie gor¹co“. Dann kam der Satz: „In der Hitze spazieren ist schädlich.“
Der Schüler verhaspelte sich.
– W go... w gora...
– Nun, also? Was heißt: „In der Hitze?“
– W gor¹cem!
– Wie?
131
– W gor¹cu.
– Ha-ha-ha! Wie?
– W go... go... gor¹coœci, – stammelte der aus dem Konzept gebrachte Junge.]
Aus Sicht der Ukrainer lässt sich der kolonialistische Impetus neben der
österreichischen also auch der polnischen Seite zuschreiben. In polnischen
Texten nun wird sich wohl auf der einen Seite Kritik an der österreichischen
kolonialisierenden Herrschaft, auf der anderen aber auch ein nun seinerseits
kolonialisierender Blick auf die Ukrainer finden lassen. Schon aus diesen
Beispielen sollte klar geworden sein, dass sich eine eindimensionale, vektorial ausgerichtete Konzeption von Kolonialismus innerhalb der Monarchie aus
slawistischer Sicht nicht halten lässt. Das zuvor skizzierte Bild lässt sich nämlich möglicherweise noch stärker in sich ausdifferenzieren, wenn man etwa
die Darstellung der Huzulen in der ukrainischen Literatur über die Zuschreibung des Anderen, Exotischen und Ursprünglichen als binnenkolonialistischen Blick innerhalb einer Literatur beziehungsweise einer Ethnie bezeichnen möchte. So mag – um ein konkretes Beispiel aus der wissenschaftlichen Praxis zu bieten – eine Untersuchung des Huzulenbildes im Werk von
Karl Emil Franzos durchaus Elemente eines kolonialistischen Blickes zu Tage
fördern; die Gültigkeit dieses Befundes lässt sich jedoch nur dann auf die
Ebene der Monarchie insgesamt transferieren, wenn als entsprechende Gegenprobe auch polnische und ukrainische Texte ihre Berücksichtigung finden.8
Eine analoge, in sich selbst gegliederte Konstellation könnte sich auch bei
einer Untersuchung der Triestiner Kultur unter slawistischer Perspektive
ergeben; analog zu den Ukrainern in Galizien dürften sich – so zumindest
meine Hypothese – die kulturellen und politischen Emanzipationsbestrebungen des slowenischen Bevölkerungsanteils in Triest wohl weniger gegen kolonialisierende Tendenzen des Zentrums als vielmehr gegen die italienische
Dominanz in der Stadt gerichtet haben, die ihrerseits teilweise antihabsburgisch eingestellt war. Ein ähnliches Bild könnten auch die Relationen im
westslawischen Raum ergeben; auch hier wäre zu fragen, ob sich eine vereinheitlichende, an Wien und Budapest gebundene kolonialistische Konzeption
nicht noch weiter in sich ausdifferenzieren ließe, etwa im kolonialisierenden
deutsch-österreichischen Blick auf die Tschechen, der seinerseits wiederum
im tschechischen Phantasma einer der Slowakei zugeschriebenen Authentizität und Ursprünglichkeit sein Pendant findet.9
Eine weitere Anregung, die man aus slawistischer Sicht auch dann aus
Bhabhas Studie ziehen kann, wenn man mit dessen unausgesetztem Herumhantieren mit dem Lacanschen Begehren und der Derridaschen différance
132
weniger anzufangen vermag, ist die Konzeption der Hybridität. Auch muss
dabei freilich im Auge behalten werden, dass Bhabha seine Studie wohl ganz
bewusst nicht als kohärentes und ohne weitere Probleme verallgemeinerbares
Theoriegebäude verstanden, sondern ganz im Gegenteil jene Spuren zusammenhängender Argumentation, die eine solche Verwendung problemlos
erlauben würden, strategisch verwischt hat. Die Übernahme des Hybriditätskonzeptes kann deshalb nur in sehr vermittelter und axiomatisch umstrukturierter Weise erfolgen. Kapituliert man nun vor Bhabhas enigmatischer Stilistik und orientiert sich stattdessen an den von ihm als Beispiele für Hybridität angeführten Schriftstellern, so zeigt sich, dass er mit V. S. Naipaul,
Derek Walcott, Salman Rushdie und Toni Morrison eine schmale Schicht
kosmopolitischer, privilegierter Intellektueller berücksichtigt, die wohl weder für die von Bhabha immer wieder angeführten Diskurse des Marginalisierten und Minoritären einzustehen vermögen, noch sich so recht als destabilisierende Faktoren des eurozentristischen literarischen Kanons eignen, in
den sie spätestens seit der Verleihung des Nobelpreises an drei von ihnen
ohnehin längst integriert sind. Von diesen Schriftstellern führt wahrscheinlich ebenso wenig ein Weg in die Donaumonarchie wie von der positiven
Axiomatik, mit der Bhabha sein Konzept der Hybridität als Negieren eines
essentialistischen Denkens in Gegensätzen versieht.
Was sich aber abseits dieser Punkte für die kulturelle Konstellation der
Monarchie als fruchtbar erweisen könnte, ist der destabilisierende Impetus,
der vom Ansatz der Hybridität und der „DissemiNation“ in bezug auf Vorstellungen einer in sich geschlossenen Nationalliteratur mit klar gezogenen
Grenzen ausgeht. So gab es in der Monarchie im 19. und beginnenden 20.
Jahrhundert eine ganze Reihe wichtiger zweisprachiger Schriftsteller, deren
Zweisprachigkeit sich nur schwer mit der teilweisen Funktionalisierung als
„Nationaldichter“ beziehungsweise dem durch Herder inspirierten Streben
nach einer eigenen nationalkulturellen Tradition in Übereinstimmung bringen lässt. Die Zweisprachigkeit von so zentralen Autoren wie den Romantikern France Prešeren und Petar Preradoviæ beziehungsweise den Vertretern
der Moderne Tadeusz Rittner und Ivan Cankar oder die Dreisprachigkeit
Ivan Frankos (ukrainisch-polnisch-deutsch) wurde zwar in der Fachliteratur
schon mehrfach konstatiert und untersucht,10 die implizite Herausforderung,
die diese Bi- beziehungsweise Multilingualität an die Konzeption einer kohärenten Nationalliteratur richtet, scheint meines Erachtens nach aber bis dato
nicht ausreichend wahrgenommen worden zu sein.11 Bezeichnenderweise
wurde etwa Frankos literarische Polyphonie bei der Erstellung der fünfzig-
133
bändigen Werkausgabe 1976–1986 weitestgehend getilgt, indem man die deutschen und einen Großteil der polnischen Texte ins Ukrainische rückübersetzte, wodurch eine sprachliche Homogenität suggeriert wird, die in dieser
Form niemals existiert hat.
Das Moment des Hybriden reicht bei Franko aber über das rein Sprachliche auch in die Struktur seiner Texte hinein, die gerade im Zeichen des
kolonialisierenden Blickes ganz verschiedene, bisweilen auch widersprüchliche Positionen einnehmen. So kann man den deutschsprachigen Gendarmen im 1887 veröffentlichten Poem Pans’ki zarty [Scherze eines Gutsherren]
über seine Funktion als Vertreter der staatlichen Ordnungsmacht, der lediglich
ein fehlerhaftes Ukrainisch spricht und in seiner Rede vor den rebellierenden ukrainischen Bauern auf das Wohlwollen des Kaisers verweist,12 durchaus
als Objekt einer postkolonialistisch angelegten Analyse ins Auge fassen.
Daneben steht freilich Frankos auf deutsch geschriebener und 1905 in Wien
herausgegebener Bericht Eine ethnologische Expedition in das Bojkenland, in
dem postkolonialistisch sensibilisierte Zeitgenossen durchaus den kolonialisierenden Blick des Verfassers ausmachen könnten, der an der Alltagskultur
der westlich der Huzulen in den Karpaten siedelnden Ethnie das Altertümliche und Primitive betont.13 An der von Franko gebrachten Anekdote, wonach
die Bojken, deren Öfen den Rauch direkt in die Wohnstube entließen, auf
Anordnung des Bezirkshauptmannes Rauchfänge auf ihre Dächer setzten,
die aber reine Attrappen waren und keinerlei Verbindung zu den Öfen
darunter aufwiesen, hätte (im Zeichen einer dekonstruierenden Mimikry seitens der kolonialisierten Bevölkerung) wohl auch Bhabha seine Freude.14
Auch der zuvor erwähnte Tadeusz Rittner, der den Großteil seines Lebens
in Wien verbrachte und hier mit einigen Autoren der Wiener Moderne (wie
etwa mit Arthur Schnitzler15 oder Peter Altenberg) persönlich verbunden
war, ließe sich wohl im Zeichen von Bhabhas Hybridität betrachten,16 war er
doch ein Paradebeispiel für einen zweisprachigen Autor. Seine Dramen wurden in der deutschen Fassung oft an Wiener Bühnen uraufgeführt, die polnischen Parallelversionen (die eigenständige Texte und keine bloßen Selbstübersetzungen darstellen) hingegen an polnischen Theatern. Gerade an Rittner
(wie auch an Franko) ließe sich jedoch auch die axiomatische Differenz zwischen Bhabhas Position und der Konstellation innerhalb der Monarchie aufweisen: Für Bhabha stellt Hybridität im Zeichen der Ambivalenz und des Dazwischen ein lustvolles Movens beim Aufbrechen binärer, essentialistischer
Oppositionen dar, für Rittner hingegen hat sich seine Position zwischen
polnischer und österreichischer Literatur letztlich nicht ausgezahlt, konnte
^
134
er doch weder in der einen noch in der anderen richtig Fuß fassen. In der
kulturpolitischen Situation der geteilten polnischen Nation, in der die Literatur als Einigungs- und Stabilisierungsfaktor eine über das rein Ästhetische
hinausreichende Funktion innehatte, scheint Rittners geographische wie auch
geistige Exterritorialität nicht akzeptabel gewesen zu sein. Umgekehrt
wiederum zählte ihn Hans Heinz Hahnl 1984 zu den vergessenen österreichischen Schriftstellern,17 was insofern besonders bemerkenswert ist, als sich die
Wiener Moderne (der Rittner über sein deutschsprachiges Werk wohl zuzurechen ist) seit Jahren ungebrochener Aufmerksamkeit seitens einer breiteren Öffentlichkeit erfreut. Das, was bei Bhabha als subversive Strategie einer
privilegierten Elite firmiert, war für Rittner eine prekäre und letztlich unbedankte Gratwanderung zwischen den Kulturen, die er 1917 auch selbst in der
Zeitschrift Das literarische Echo entsprechend thematisiert hat:
Ich stehe zwischen Deutsch und Polnisch. Das heißt: ich kenne und empfinde beides.
Meiner Abstammung, meinen innersten Neigungen nach bin ich Pole. Und oft fällt
es mir leichter, in dieser als in jener Sprache zu denken. Aber zuweilen verhält es
sich umgekehrt. Von so manchem, das ich geschrieben habe, sagen die Deutschen,
es sei Polnisch [sic], und die Polen, es sei deutsch. Man behandelt mich vielfach auf
beiden Seiten als Gast. Und ich sehe so vieles hier und dort, mit dem unbefangenen
Blick eines Fremden. Dies sei künstlerisch von Vorteil, meinen einige. Rein menschlich genommen ist es eine Art Gebrechen. Es ist wie eine Last, die ich tanzend zu
tragen habe; die anderen Seiltänzer haben es leichter.18
Worauf abschließend noch zu verweisen wäre, ist die bemerkenswerte Prä-/
Post-Umkehrung, die sich ergibt, wenn man versucht, Bhabhas postkolonialistische Theoreme für die Epoche der Donaumonarchie nutzbar zu machen:
Postkolonialistisch würde in diesem Kontext ja eigentlich bedeuten, sich mit
den Literaturen der neugegründeten Nachfolgestaaten der Monarchie (als
untergegangenem Kolonialreich) zu befassen; diese scheinen aber, soweit es
die slawischen Literaturen betrifft, gerade unter diesem Aspekt nur von bedingtem Interesse zu sein. Das kulturelle Erbe der Monarchie wurde hier
zumeist in den weiter gefassten Innovationstendenzen der historischen Avantgarde der 1920er und 1930er Jahre rasch entsorgt, und Kaiser Franz Joseph,
wie in der Erzählung Wiosna [Frühling] von Bruno Schulz 1937 zu lesen ist,
pars pro toto für die Monarchie insgesamt auf die Größe einer Briefmarke
reduziert.19 Im Gegensatz dazu aber lassen sich jene Phänomene, wie eben
zum Beispiel Hybridität, in bezug auf die Donaumonarchie weniger als postkolonialistische denn als kolonialistische Phänomene interpretieren (es sein
denn, man geht für die Endphase der Monarchie bereits von einem internen
135
postkolonialistischen Zustand aus): Gerade die kulturpolitische Konstellation der Jahrhundertwende scheint für Autoren wie Franko oder Rittner einen Freiraum des Da-zwischen eröffnet zu haben, jenes „inter“ also, das laut
Bhabha den Hauptanteil kultureller Bedeutung in sich trägt.20 Offenbar existierte damals die Möglichkeit eines „tertium datur“ (vielleicht auch eines dritten
Raumes im Sinne Bhabhas21) abseits binaristischer Gegensätze zwischen Nationalkulturen – ein „tertium datur“, das sich nach dem Verschwinden der
Monarchie in der Verknüpfung von Nationalliteratur und Nationalstaat zu
einem „tertium non datur“ verengte. In diesem Sinne ließen sich auch die
Todesdaten von Franko, Cankar und Rittner, also die Jahre 1916, 1918 und
1921 gewissermaßen als literarische Fakten interpretieren; es scheint so, als ob
diese Autoren außerhalb des Rahmens der Monarchie keine literarische Existenzmöglichkeit mehr gehabt hätten.
Auch wenn man Bhabhas methodologischem Eklektizismus und seiner
Argumentationsweise kritisch gegenüberstehen mag, so kann sein Beharren
auf dem prekären Zustand des Da-zwischen gerade bei der Beschäftigung mit
der Donaumonarchie den Blick für das Ambivalente und Ununterscheidbare, für das zeitlich wie räumlich jeweils nur bedingt Gültige schärfen. Und so
lässt sich in einer paradoxen Volte vielleicht gerade gemeinsam mit Homi
Bhabha ein strategisches Zweckbündnis gegen jene Bestrebungen schließen,
die seine Theoreme allzu vorschnell und in einem zu verallgemeinerten Anspruch auf Kultur und Politik der Monarchie insgesamt richten wollen. In
jedem Falle aber sollte dieses Bündnis dazu führen, die slawischen Kulturen
in die Position des Sprechenden zu bringen. Eine so zentrale Figur wie Vuk
Karadziæ als „Vuk Kardic“ zu präsentieren, wie dies in der deutschen Übersetzung von Jean-François Lyotards Postmodernem Wissen geschieht,22 legt nämlich abgesehen von der damit einhergehenden Lächerlichkeit den impliziten
Schluss nahe, dass die Slawen (wiederum im Rückgriff auf Joseph Conrad)
nicht viel mehr zu sagen haben als „Mistah Kurtz – he dead“.
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Anmerkungen
1 Vgl. Endre HÁRS, Hybridität als Denk- und Auslegungsfigur. Homi K. Bhabhas theoretisches Engagement, in: www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/
EHars1.pdf (21.1.2002).
2 Vgl. Homi K. BHABHA, Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von
Elisabeth Bronfen. (Deutsche Übersetzung von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl), Tübingen 2000, S. 17.
136
3 Chinua ACHEBE, Why Afro-European dialogue fails, in: West Africa, 25. Feb.
1980, S. 343.
4 Elisabeth BRONFEN, Vorwort, in: BHABHA, Verortung der Kultur, S. X.
5 „Was das Habsburger Reich allgemein anbelangt, so erschiene es freilich adäquater, von einem k.u.k. Kulturkolonialismus [Kursivsetzung v. C. R.] oder
-imperialismus zu sprechen, als dessen Reaktionspartner beziehungsweise
Widerpart eben der Nationalismus der betroffenen Sprachkulturen auftritt.“
Clemens RUTHNER, Imaginäre Gemeinsamkeit als Identitätskonstruktion.
Eine kritisch ,kakanische‘ Re-Lektüre von Benedict Andersons Imagined Communities, in: kakanien revisited. http://www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/
CRuhtner2.pdf (27.5.2002). Das angeführte Zitat befindet sich auf S. 6. Auch
Ursula Rebers Position, wonach in der Donaumonarchie zwei Nationen einen
gemeinsamen Imperialismus über Nachbar-„kolonien“ ausüben, scheint aus
diesem Blickwinkel heraus als zu apodiktisch formuliert. Ursula REBER, Kolonialismus im „Osten“? Imperialismus, Orientalismus und ,das Reale‘ bei
Edward W. Said, in: kakanien revisited. http://www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/UReber1.pdf (8.5.2002). Das angeführte Zitat befindet sich auf S. 15.
6 BHABHA, Verortung der Kultur, S. 158.
7 Ivan FRANKO, Zibrannja tvoriv u 50-y tomach, tom 21, Kyjiv 1979, S. 293.
8 Zur Darstellung der Huzulen bei Franzos vgl. Alexander MALYCKY, The Influence of Karl Emil Franzos on the German Image of the Hutsuls, in: Wiener
Slavistisches Jahrbuch 10 (1963), S. 109–119; eine komparatistische Gegenüberstellung deutschsprachiger, polnischer und ukrainischer Quellen bietet Alois
WOLDAN, Die Huzulen in der Literatur, in: Galizien. Ethnographische Erkundung bei den Bojken und Huzulen in den Karpaten. Begleitbuch zur Jahresausstellung ’98 im Ethnographischen Museum Schloss Kittsee vom 6. Juni
bis 2. November 1998, Kittsee 1998, S. 151–166.
9 Vgl. dazu etwa Gertraude ZAND, Jakub Deml und die Slowakei, in: Wiener
Slavistisches Jahrbuch 47 (2001), S. 185–194.
10 Zu zweisprachigen Autoren der Donaumonarchie allgemein vgl. Günther WYTRZENS, Sprachkontakte in der Dichtung. Zweisprachige Autoren im Alten
Österreich, in: Die slawischen Sprachen 4 (1983), S. 143–151; zu Rittner vgl.
Oskar Jan TAUSCHINSKI, Kakanischer Balanceakt. Versuch einer Information über Thaddäus Rittner, in: Österreichische Osthefte 16 (1974), S. 414–429
beziehungsweise Ulrich STELTNER, Grenzgänger zwischen der deutschen und
der polnischen Literatur. Tadeusz Rittner und Stanis³aw Przybyszewski, in:
DERS. (Hg.), Auf der Suche nach einer größeren Heimat... Sprachwechsel /
Kulturwechsel in der slawischen Welt. Literaturwissenschaftliches Kolloquium anlässlich der Verleihung des Andreas-Gryphius-Preises an Milo Dor und
Ludvík Kundera, Jena 1999, S. 105–115; vgl. zu Franko: Leonid RUDNYC’KYJ,
Tr’oma movamy dlja tr’och kul’tur, in: Slovo i èas 1996/10, S. 70–74.
11 Vgl. dazu Stefan SIMONEK, Ivan Frankos deutschsprachiges Werk als Problem (nicht nur) der Ukrainistik – eine Skizze, in: IV miznarodnyj konhres
ukrajinistiv. Odesa, 26-29 serpnja 1999. Literaturoznavstvo, Knyha 1, Kyjiv
2000, S. 466–471.
^
137
12 Vgl. aus der Rede des Gendarmen: „Vam cisar panšèynu taruje. / Tanyn ne
putete pljatyv. / Naj koštyj sam sopi pracjuje!“ [Der Kaiser erlässt euch den
Frondienst. / Ihr werdet keine Abgaben mehr zu entrichten haben. / Jeder soll
für sich selbst arbeiten!] FRANKO, Zibrannja tvoriv, tom 2, S. 88. Der Gendarm ist nicht in der Lage, stimmhafte Konsonanten auszusprechen („taruje“
statt korrekt „daruje“, „tanyn“ statt „danyn“, „putete“ statt „budete“, „koštyj“
statt „kozdyj“ beziehungsweise „sopi“ statt „sobi“).
13 Vgl. als entsprechende Beispiele etwa: „da dieses Dorf in mancher Hinsicht
exzeptionell günstig situiert ist, eben was die Aufbewahrung altertümlicher
Züge in der Kultur und Lebensart betrifft“; „Höchstens werden den aufmerksamen Ethnologen jene in Tälern und auf Bergabhängen ziemlich dicht gesäeten primitiven Heuschober interessieren“; „ist dieses Bojkenbrot für die Talbewohner der Inbegriff einer elenden Kost“; „Die bojkische Wohnstube macht
einen nichts weniger als gemütlichen Eindruck“; „Diese Ohrgehänge aus Lavoène verdienen wegen ihrer ausgesprochen prähistorischen Form eine besondere Aufmerksamkeit“; „Wegen ihrer Primitivität, wegen Mangels an künstlerischem Instinkt und Geschmack, wie er die huzulischen Produkte auszeichnet,
sind diese bojkischen Sachen auf die engste Verbrauchssphäre beschränkt“.
Ivan FRANKO, Eine ethnologische Expedition in das Bojkenland, Wien 1905,
S. 18, S. 23, S. 33, S. 35, S. 42 beziehungsweise S. 45.
14 Vgl. ebenda, S. 35.
15 Zur Wahrnehmung Rittners in den Tagebüchern Arthur Schnitzlers vgl. Stefan
SIMONEK, Distanzierte Nähe. Die slawische Moderne der Donaumonarchie
und die Wiener Moderne, Bern u. a. 2002, S. 33 ff.
16 „Dieser zwischenräumliche Übergang zwischen festen Identifikationen eröffnet die Möglichkeit einer kulturellen Hybridität, in der es einen Platz für
Differenz ohne eine übernommene oder verordnete Hierarchie gibt“. BHABHA,
Verortung der Kultur, S. 5.
17 Vgl. Hans Heinz HAHNL, Vergessene Literaten. Fünfzig österreichische Lebensschicksale, Wien 1984, S. 119–122.
18 Zit. nach STELTNER, Grenzgänger, S. 111. Steltner spricht in bezug auf Rittner und Przybyszewski von einer „künstlerischen Heimatlosigkeit“ sowie von
dem „existenziellen Desaster, als Schriftsteller über keine der beiden Sprachen
wirklich zu verfügen“ (Ebenda, S. 110).
19 Vgl. im Original: „Œwiat by³ naówczas ograniczony Franciszkiem Józefem I.
Na ka¿dej marce pocztowej, na ka¿dej monecie i na ka¿dym stemplu stwierdza³ jego wizerunek niezmiennoœæ œwiata [...]“. [Die Welt war zu dieser Zeit von
Franz Joseph I. begrenzt. Auf jeder Briefmarke, jeder Münze und auf jedem
Stempel bestätigte sein Bildnis die Unveränderlichkeit der Welt.] Bruno SCHULZ,
Opowiadania. Wybór esejów i listów. Opracowa³ Jerzy JARZÊBSKI, Wroc³aw u.
a. 1989, S. 144. Vgl. in diesem Zusammenhang Jolanta KRZYSZTOFORSKADOSCHEK, Das Bild Kaiser Franz Josephs in der Erzählung Wiosna von Bruno
Schulz, in: Leopold R. G. DECLOEDT (Hg.), An meine Völker. Die Literarisierung Franz Joseph I., Bern 1998, S. 185–193; Witold KOŒNY, „Bo czym ¿e jest
wiosna, jeœli nie zmartwychwstaniem historyj“. Zu Bruno Schulz’ Erzählung
^
138
Wiosna, in: Zeitschrift für Slavische Philologie 55 (1995/96), S. 313-322; in
einem weiter gefassten Kontext vgl. Alois WOLDAN, Franz Joseph I. in der
polnischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Der Kaiser als mythische
Größe, in: DECLOEDT, An meine Völker, S. 167–184.
20 „Dabei sollten wir immer daran denken, dass es das ,inter‘ – das Entscheidende
am Übersetzen und Verhandeln, am Raum da-zwischen [Kursivsetzung von H.
K. B.] – ist, das den Hauptanteil kultureller Bedeutung in sich trägt“. BHABHA,
Verortung der Kultur, S. 58.
21 Vgl. ebenda, S. 55 ff.
22 Jean-François LYOTARD, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Aus dem
Französischen von Otto PFERSMANN, Wien 41999, S. 66. – Im französischen Original ist ebenfalls fehlerhaft von „Vuk Karadic“ die Rede. Jean-François LYOTARD,
La Condition Postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris 1979, S. 37.
139
Bevormundung oder Selbstunterwerfung?
Sprache, Literatur und Religion
der galizischen Ruthenen als Ausdruck
einer österreichischen Identität?
Alois Woldan
Analysiert man die kulturelle Situation der ukrainischen Bevölkerung Galiziens – der Ruthenen im Sprachgebrauch der Habsburgermonarchie – zu Beginn des 19. Jahrhunderts, so drängt sich der Vergleich mit einer Situation
200 Jahre vorher auf, mit einer kulturgeschichtlichen Periode, die Mychajlo
Hruševs’kyj als die Erste ukrainische Wiedergeburt1 bezeichnete, während die
ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts generell als ukrainische Wiedergeburt
apostrophiert werden. Gleich ist auch der Ort, an dem diese beiden Prozesse
stattfanden – Leopolis, L’viv beziehungsweise Lemberg. Beide Wiedergeburten
können als wesentlich emanzipatorische Bewegungen aufgefasst werden, die
auf eine zumindest kulturelle Befreiung aus einer Hegemonie, die im Rahmen eines Imperiums besteht, zielen (schon von daher scheint der Ansatz der
Postkolonialen Studien eine gewisse Berechtigung zu haben). In beiden Fällen lässt sich diese emanzipatorische Bewegung hin zu einer eigenen, partikulären und periphären Kultur an den Parametern Sprache, Literatur und
Religion ablesen, die in einer sowohl an der Wende vom 16. zum 17. wie auch
an der vom 18. zum 19. Jahrhundert nicht säkularen Situation auf das engste
miteinander verknüpft sind.
Um 1600 richtete sich die ukrainische emanzipatorische Bewegung gegen
die Dominanz der polnisch-lateinisch-katholischen Kultur in demjenigen Staat,
in dem um diese Zeit der größere Teil der ukrainischen Bevölkerung lebte –
der polnisch-litauischen Adelsrepublik, in deren Namen Rzecz Pospolita (von
lat. Res Publica) ein gemeinsames Interesse, eine Art Commonwealth nicht nur
der beiden Titularnationen angesprochen ist. Seit den beiden Unionen, der
staatlichen von Lublin 1569, die das Königreich Polen mit dem Großfürstentum Litauen in Personalunion verband, und der nicht minder wichtigen
kirchlichen von Brest 1596, die, von zwei Ausnahmen abgesehen, alle orthodoxen Diözesen auf dem Gebiet dieses Staates unter die Jurisdiktion des römischen Papstes brachte,2 erhob das erwähnte polnisch-lateinisch-katholische
141
Paradigma einen bislang nicht zur Schau gestellten Totalitätsanspruch und
gebärdete sich expansiv – nach Osten, wo ein ukrainisch-griechisch-orthodoxes Paradigma damit unter Druck geriet. Aus dieser Situation existentieller
Bedrohung entstand die große Leistung der Ersten ukrainischen Wiedergeburt:
der lingua franca im Imperium, dem Polnischen, stellte man eine eigene, an
der Volkssprache orientierte Schriftsprache gegenüber, die deshalb auch prosta
mova (einfache Sprache)3 hieß und in der man nun zum ersten Mal auch
druckte; der Autorität des Lateinischen gegenüber pochte man auf die griechischen Ursprünge des Christentums und den Kampf gegen einen militanten Katholizismus nahmen auf ukrainischer Seite zunächst engagierte Laien
auf, die Mitglieder der berühmten Bruderschaften, von denen die in Lemberg wohl die wichtigste war – sie unterhielt eine Schule, eine Druckerei,
finanzierte den Bau einer eigenen Kirche ebenso wie die Herausgabe apologetischer Schriften und anderes mehr. Es ist hier nicht der Ort, auf diese
Phänomene ausführlicher einzugehen, es sei aber doch angemerkt, dass auch
diese „Gegenkultur“ – ganz im Sinn von Edward Said – keine reine, nur ukrainische, sondern vielmehr eine hybride war:4 Latinismen und Polonismen auf
allen Ebenen der prosta mova, antike und barocke Gattungen in der literarischen Produktion und schließlich die systematische Übernahme des spätscholastischen Lehrbetriebs an der Kiewer Akademie – um den bislang überlegenen Lateinern auch in der Apologetik gewachsen zu sein – zeugen von
der notwendigen Verflechtung zweier konkurrierender kultureller Paradigmata, die im Rahmen eines Imperiums aufeinander stießen.
Zurück zur Situation um 1800. Seit 1772 ist ein großer Teil der von Ukrainern bewohnten Gebiete der Rzecz Pospolita bei Österreich, ist Teil des Königreichs Galizien und Lodomerien (auch diese künstliche, latinisierende Bezeichnung verdiente es, unter dem Aspekt der Legitimation von Herrschaft
betrachtet zu werden). Die politische Hegemonie der polnischen Krone ist
damit weggefallen und hat einer solchen des österreichischen Kaiserreichs
Platz gemacht, die kulturelle des polnisch-lateinisch-katholischen Paradigmas ist mit dem Verfall der staatlichen Macht geschwächt; es ist im neuen
Staatsverband zudem von der Mitte an den Rand – auch im Sinne seiner
hegemonialen Ansprüche – abgedrängt worden: aus der Mitte des neuen
Imperiums, aus Wien, kommt eine kulturelle Formation, die zunächst deutsch
ist (neue Amts- und Verwaltungssprache), das Latein aber ebenso kennt wie
den Katholizismus, wenngleich nicht mehr in der ursprünglichen Ausschließlichkeit (Toleranzedikt Josephs II.). Der alte Gegner im kulturpolitischen
Sinn ist weggefallen, die neue Macht im Zentrum tritt nicht mehr als Gegner
142
in Erscheinung, sondern als Protektor, der bei entsprechend loyalem Verhalten Schutz gegen Vereinnahmung durch neue kulturelle Hegemonialmächte
– das zaristische Russland – gewähren kann. Im Diskurs mit der dominanten
Kultur des neuen Imperiums gilt es einmal mehr, sich der eigenen Identität
zu versichern, was nun nicht so sehr ein kontradiktorisches, als ein komplementäres Anliegen scheint.
Einmal mehr wird die Sprache in ihrer Bedeutung für die Identität der
ruthenischen Bevölkerung erkannt, nicht nur vor dem Hintergrund der geistigen Situation der Zeit, die im Anschluss an Herders Ideen den Geist eines
Volkes in dessen Sprache und Literatur zum Ausdruck kommen lässt, sondern auch, um sich gegen Vereinnahmungen durch Stärkere zur Wehr zu
setzen: ist das Ukrainische eine eigene Sprache – und nicht nur ein Dialekt
des Polnischen oder Russischen –, so sind auch die Ruthenen ein eigenständiges Volk, dem im Vielvölkerstaat Österreich gleiche Rechte gebühren wie
anderen Nationalitäten. Den Beweis dafür aber hat die Philologie zu erbringen, indem sie die Eigenständigkeit des ruthenischen Idioms nachweist, zu
einem Zeitpunkt, da es noch keine kodifizierte Schriftsprache, keine verbindliche Grammatik und kein Lexikon, ja nicht einmal eine graphische Norm
gibt.
In dieser schwierigen Situation bot das Zentrum seine Hilfe an, die, wie
die Postkolonialen Studien zeigen, allerdings nie ganz uneigennützig kommt.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Bartholomäus (Jernej) Kopitar, Zensor für slawische Bücher an der Kaiserlichen Hofbibliothek in Wien,
die unumschränkte Autorität in allen slawischen Fragen, an den sich die
damals fast ausschließlich dem geistlichen Stand angehörenden Ruthenen in
Wien wandten, in der zweiten Hälfte ein anderer Slowene, Franz Miklosich,
erster Inhaber des Wiener Lehrstuhls für Slawistik, bei dem eine ganze Reihe ukrainischer Philologen studierte. Beide Gelehrte vertraten in bezug auf
das Ukrainische richtige und zukunftsweisende Ansichten, Kopitar, der auf
der lebendigen Volkssprache als Basis für die zu schaffende Schriftsprache
insistierte,5 und Miklosich, der mit Nachdruck die Eigenständigkeit des Ukrainischen vertrat.6 Umgekehrt waren aber beide der Ansicht, das Ukrainische solle mit lateinischen Buchstaben geschrieben werden, weil die Ruthenen ja katholisch seien (Kopitar) beziehungsweise „ein entsprechend vermehrtes
lateinisches Alphabet zur Bezeichnung der Laute beider Sprachen [des Ukrainischen und des Bulgarischen – A.W.] angemessener ist als das cyrillische“ (Miklosich7). Wenn der Streit um das Alphabet,8 der „Alphabet-Krieg“,
wie Ivan Franko das ironisch nannte, letztlich nicht im Sinn der Wiener Po-
143
sition gelöst wurde, so zeigen die angeführten Einflussnahmen doch deutlich, wie nahe Hilfestellung und Bevormundung, Entwicklungshilfe und
Machtanspruch liegen.9 Und auch der wissenschaftliche Diskurs war für diesen Sachverhalt in der Regel nicht sehr sensibel, wie eine Wiener Dissertation
aus 1923 zeigt, deren Verfasser, Johann Welyhorskyj, über Kopitars Einfluss
enthusiastisch schreibt: „Als Katholik und österreichischer Patriot wollte
Kopitar, dass die Ukrainer eine selbständige Kultur entwickeln, das lateinische Alphabet in ihre Literatur einführen, warnte unentschlossene Ukrainer
vor Gravitation nach Russland (Zubryckyj) – und wollte alle Slaven unter Österreichs Szepter sehen!“10
Als 1837 drei aufmüpfige Seminaristen aus dem Lemberger GriechischKatholischen Generalseminar einen kleinen Band von Volksliedern und eigenen poetischen Versuchen, Rusalka Dnistrova (Die Nixe vom Dnester) erstellten und mit viel Mühe in Budapest drucken ließen, der genau diesen
Postulaten entsprach – in der Volkssprache geschrieben und mit modernen
kyrillischen Lettern gedruckt –, veranstaltete die österreichische Polizei im
Einvernehmen mit den Spitzen der griechisch-katholischen Kirche eine gigantische Hetzjagd auf dieses Büchlein, so dass von den gedruckten 1000
Exemplaren nur noch wenige nach Galizien und an den Leser kamen. Das
sollte nicht der erste und nicht der letzte Fall sein, dass sich das ruthenische
Establishment im Konflikt mit unliebsamen Kräften aus den eigenen Reihen
des Arms der österreichischen Behörden bediente und damit die koloniale
Ordnungsmacht selbst anforderte.
Die Auseinandersetzung um die Schriftsprache, deren dialektale Basis,
Orthographie und Alphabet ziehen sich bis in die 1860er Jahre hin. Sie
nehmen in der Zeit der Reaktion nach 1848 eine neue interessante Wendung.
Hatte sich der Ruthenische Hauptrat als das führende Organ der Autonomiebewegung von 184811 für das moderne Projekt einer Literatursprache auf
Basis der Volkssprache – wie schon die Romantiker zwei Jahrzehnte zuvor –
ausgesprochen, so verfiel man gleich nach 1850, wohl unter dem Eindruck
der Reaktion, auf ein gegenteiliges Konzept: Man schuf ein künstliches Idiom, Jazyèyje genannt, eine sonderbare Mischung aus Kirchenslawisch, ukrainischer Volkssprache und Russisch, die zum einen den Verzicht auf die revolutionären Forderungen von 1848, zum anderen eine ebenso künstlich konstruierte nationale Identität der galizischen Ruthenen zum Ausdruck bringen sollte. Jazyèyje will weder polnisch noch russisch, aber auch nicht das
Idiom eines einfachen Volkes sein, sondern es suggeriert die Vorstellung von
Gebildetheit, alt-ehrwürdigem Charakter und kirchlicher Legitimation. Eine
144
besondere Bedeutung kam in diesem Fall dem Graphem zu – man griff auf
alte kirchenslawische Lettern zurück, die nur mehr bei liturgischen Texten
in Verwendung waren. Betrachtet man die Inhalte der so gesetzten Texte, so
zeigt sich, dass der archaische Code eine ebenso anachronistische wie künstliche Message unterstreicht, ja selbst Teil dieser Message wird: eine extreme
Loyalität der galizischen Ruthenen zum Haus Habsburg wird hier in Gattungen beschworen, die an die Panegyrik der Barockzeit erinnern.12
Die Gefahren, die eine solche künstliche und anachronistische Definition der nationalen Identität über die Sprache in sich birgt, wird schon ab
1860 sichtbar, als man den Anteil der Russizismen in dem Jazyèyje-Gemisch so
weit steigert, dass dieses sich kaum mehr vom Russischen unterscheidet und
damit den Beweis erbracht hat, dass dieses nun als kleinrussisch bezeichnete
Idiom nichts anders als eine bescheidene Variante des Großrussischen ist,
die Ruthenen demzufolge sich auch nicht wesentlich von den Russen unterscheiden. So wird Jazyèyje in den 1860er und 1870er Jahren zum Idiom und
Argument der moskophilen Kreise in Galizien, während es diese Funktion
zuvor für die austrophilen Altruthenen gehabt hatte.13 Auf jeden Fall aber
spricht eine derartige Konstruktion des Eigenen für eine Selbstunterwerfung unter die hegemoniale Kultur des Zentrums als eine Form der Verflechtung von Kolonisierten und Kolonisten.14
So wie um 1600 ist auch nach 1800 die literarische Produktion der nun
österreichischen Ruthenen ein Gradmesser für kulturelle Eigenständigkeit
beziehungsweise Abhängigkeit von einem Zentrum, das auch diesbezüglich
Maßstäbe vorgibt. Dazu einige Beispiele. Der bereits erwähnte Sammelband
von 1837, Dusalka Dnistrova, gilt im Kontext der Wiedergeburt als erstes Werk
einer neuen ukrainischen Literatur in Galizien, seine drei Verfasser, die
Theologiestudenten Markijan Šaškevyè, Ivan Vahylevyè und Jakiv Holovac’kyj
als deren Wegbereiter. Um die Existenz einer eigenständigen ukrainischen
Literatur und Kultur zu beweisen, greifen die Autoren auf die Folklore zurück, die im Geist der slawischen Romantik zur vollwertigen Quelle literarischen Schaffens aufgewertet wird. Sowohl die Komposition dieses Bandes als
auch die zitierten Quellen – etwa serbische Volkslieder aus der Sammlung
von Vuk Stefan Karadziæ (1787-1864) – weisen darauf hin, dass dieser Versuch
einer Definition nationaler Identität nicht unabhängig von ähnlichen Unternehmungen bei anderen slawischen Nationalitäten Österreichs geschieht. So
eignet sich auch Jan Kollárs in Wien entwickelte Idee einer Literarischen Wechselseitigkeit der Slawen (als Buch 1837 in Pest erschienen) als Formel für die
Konstruktion eigener nationaler Identität. Die Drehscheibe für die Bezie^
145
hungen zwischen den prominenten Vertretern einer tschechischen und slowakischen, serbischen und kroatischen, polnischen und ukrainischen nationalen und literarischen Wiedergeburt war Wien,15 wo auch die maßgeblichen
theoretischen Konzepte entwickelt und nach der Peripherie vermittelt wurden. Die kulturelle Eigenständigkeit der Ruthenen – so könnte man überspitzt formulieren – definiert sich damit als Funktion einer multilateralen
Wechselseitigkeit im Rahmen eines Beziehungsgeflechts zwischen Zentrum
und Peripherie des Imperiums.
Eine für die Literatur der galizischen Ruthenen gegen Ende des 19. Jahrhunderts typische Erscheinung ist die ukrainisch-deutsche Zweisprachigkeit
(im Unterschied zu einer ukrainisch-polnischen in der ersten Hälfte), die bis
heute von der Wissenschaft nicht im gebührenden Maß berücksichtigt wurde; auch sie lässt sich mit den Kategorien der Postkolonialen Studien beschreiben und damit in Analogie zum englischsprachigen Schrifttum indischer und karibischer oder dem französischsprachigen afrikanischer Autoren setzen. Die deutsch-ukrainische Zweisprachigkeit in Galizien und vor
allem der Bukowina ist nicht bloß auf die multinationale Zusammensetzung
der jeweiligen Bevölkerungen zurückzuführen, sondern vielmehr auf den
Einfluss eines zentralen Bildungssystems, das zwar im Grundschulbereich
mehrsprachig war – es gab ruthenische und polnische Elementarschulen –,
das aber trotzdem eine Vorrangstellung des Deutschen mit einschloss. Vor
allem war das Deutsche der Schlüssel zur höheren Bildung – Standardtexte
aus den Bereichen Wissenschaft und Kunst waren den gebildeten Ruthenen
in der Regel nur im deutschen Original oder auch der deutschen Übersetzung zugängig, und entsprechend wurden die wissenschaftlichen Arbeiten
ruthenischer Gelehrter in der Regel auf Deutsch verfasst.
Auch die Literaten bedienten sich des Deutschen aus unterschiedlichen
Gründen und mit unterschiedlichen Absichten. Jurij Osyp Fed’kovyè (1834–
1888), der wohl wichtigste Lyriker der Bukowina in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts, wäre von seiner Herkunft – sein Vater war polnischer Gutsverwalter, seine Mutter stammte von den Bauern der Bukowina ab – für die
ukrainisch-polnische Zweisprachigkeit prädestiniert gewesen (einige seiner
Briefe sind auch auf Polnisch verfasst), er wandte sich aber – unter dem Einfluss des regen deutschsprachigen literarischen Lebens in Czernowitz – dem
Deutschen als alternativen Medium seiner literarischen Tätigkeit zu, das er
aus dem österreichischen Gymnasium und noch besser aus der österreichischen Armee, in der er ein Jahrzehnt lang als Offizier gedient hatte, bestens
kannte. Mit seinen deutschen Gedichten, die in den verschiedensten Zeit-
146
schriften der Monarchie erschienen, erreichte Fed’kovyè einen unvergleichlich größeren Leserkreis als mit seinen parallel dazu verfassten ukrainischen
Texten. Hand in Hand damit geht aber eine frappierende Verschiebung seiner Themen: Schildert Fed’kovyè in seinen ukrainischen Texten die Leiden
der huzulischen Bauern seiner Umgebung, die mit der Einberufung zum
österreichischen Militär ihren Höhepunkt erreichen, so ist von diesem kritischen Potential in seinen deutschen Texten nichts zu spüren:16 Es sind Genrebilder aus den exotischen Bergwäldern seiner Heimat, bevölkert von kühnen Jägern und Flussnixen, spätromantische Versatzstücke, die auch hinsichtlich ihrer literarischen Qualität weit hinter den ukrainischen Texten
zurückstehen. Hat Fed’kovyè mit dem Übergang in einen anderen Code auch
die Message geändert? War es eine Art von political correctness, die ihn, den
ehemaligen Offizier, dazu bewog, seine Heimat zwar als Ort einer fremden
Schönheit, aber ohne deren konkrete Nöte und Mängel darzustellen? Ließ
er sich bei seiner Message von der Peripherie ins Zentrum des Imperiums von
vorgegebenen ästhetischen Standards und Konventionen leiten?
Ähnlich und doch anders liegen die Dinge bei Ol’ha Kobyljans’ka (1863–
1942), die gut 20 Jahre später mit deutsch verfassten Erzählungen debütierte, die deshalb auf Deutsch geschrieben wurden, weil das die schriftliche
Norm war, welche die Autorin (auch sie stammte aus einer gemischten, ukrainisch-polnischen Familie) am besten beherrschte, und das nach nur vier
Jahren deutscher Grundschule. Kobyljans’ka musste das Ukrainische – dessen schriftliche Norm – erst perfektionieren, bevor sie später nur mehr ukrainisch schrieb. Noch im Alter von 28 Jahren schreibt die Autorin 1891 an den
Herausgeber der ukrainischen Zeitschrift Narod, Mychajlo Pavlyk, in Lemberg einen deutschen Brief, in dem sie ihre erste mit Müh und Not ins
Ukrainische übersetzte Novelle anbietet:
Mit heutigem nehme ich mir die Freiheit an Ihr geschätztes Blatt meine Novelette
„Lorelei“ (Inhalt: Frauenfrage) einzusenden [...] Bevor ich aber weiter rede, will ich
Sie bitten, mich nicht im vorhinein zu verurteilen, daß ich als Ruthenin deutsch
schreibe. Ich drücke mich im Deutschen ungleich rascher und leichter aus und weil
ich jetzt mit verschiedenster Arbeit überhäuft bin und mir für meine Interessen so
gut wie gar keine Zeit zur Verfügung steht, so nehme ich, um Zeit zu gewinnen,
wieder einmal Zuflucht zum Deutschen.17
Auch Kobyljans’ka machte aus der Not eine Tugend; schon vor 1900 veröffentlichte sie in den großen deutschen Zeitschriften in Wien und Berlin, die
sie zuvor im heimatlichen Czernowitz abonniert hatte, ihre ersten eigenen
147
Beiträge,18 und 1901 erschien in Minden/Westfalen ihr erstes Buch: Kleinrussische Novellen mit vier deutsch verfassten Erzählungen, die von der Verfasserin später alle ins Ukrainische übertragen wurden. Bald aber ist diese diachrone Zweisprachigkeit zu Ende, Kobyljans’ka verzichtet offenbar auf den
deutschsprachigen Leser, weil sie im ukrainischen Publikum, das erst allmählich zu einem lesenden erzogen werden muss, ihren eigentlichen Adressaten und ihre Hauptaufgabe sieht.
Ganz und gar nicht auf den deutschsprachigen Leser beziehungsweise
den größeren Adressatenkreis verzichten wollte Ivan Franko (1856-1916), der
wohl bedeutendste Autor der Westukraine, der schon aufgrund seiner Biographie eng mit dem Zentrum Wien verbunden war. Kurz vor und nach 1900
verfasste Franko, der übrigens in vier Sprachen schrieb (ukrainisch, polnisch, deutsch19 und russisch), eine Reihe von journalistischen und literarischen Arbeiten für führende Wiener Blätter, allen voran Die Zeit, die 1894
von Hermann Bahr, Heinrich Kanner und Josef Singer begründet worden
war. Franko hatte in der Zeit so etwas wie ein Monopol auf die Berichterstattung aus Galizien, das er nach Kräften nutzte, um die dortigen Missstände
auch in Wien und im ganzen deutschen Sprachraum anzuprangern. 20 Als
leidenschaftlicher Verfechter der Interessen seiner nationalen Gruppe, der
Ruthenen, kämpfte Franko gegen deren Unterdrückung durch die polnische Oberschicht in Galizien, die im Rahmen der Habsburgermonarchie vor
allem seit der sogenannten Galizischen Autonomie von 1867 ein Faktum darstellte, wenngleich sie laut den Gesetzen dieses Staates nicht bestehen hätte
dürften. Dabei bezieht Franko eine von Edward Said im Rahmen des Verhältnisses von Kolonialisten und Kolonisierten beschriebene typische Position:21
Er kritisiert die vom Zentrum sanktionierten Machtverhältnisse, hält aber
sehr wohl an den vom Zentrum auf die Peripherie ausgedehnten Institutionen fest. Nicht der österreichische Parlamentarismus ist schuld an der Unterrepräsentiertheit der Ruthenen in der Verwaltung Galiziens, sondern die
Manipulationen bei den Wahlen, die von den regionalen, polnischen Behörden immer wieder vorgenommen werden. So ist Franko – ungeachtet seiner
Kritik an den herrschenden Verhältnissen – dennoch ein echtes Kind der
k.u.k. Monarchie, aufgewachsen in deren Bildungssystem, vertraut mit deren Sprachen und überzeugt von den dort gültigen Werten und Normen, die
sich auch in seinen Werken als eine „Struktur der Einstellung und Referenz“22 aufweisen lassen.
Wie weit lässt sich von einer kolonialisierenden Wirkung der Habsburgermonarchie im Bereich von Religion und Kirche sprechen? Auch hier gilt es
148
mehr als bisher geläufige Meinungen zu hinterfragen, diverse Texte gegen
den Strich zu lesen und auf das hin zu befragen, was sie nicht explizit sagen.
Auch hier ist der Rückblick auf die Situation der Ersten Wiedergeburt hilfreich. Gerade die Diözese Lemberg hatte sich in der ganzen Metropolie von
Kiew am längsten gegen die Union gesträubt und diese erst um 1700, auf
massives Drängen der polnischen Krone, angenommen. Im 19. Jahrhundert
aber wird genau diese aufgedrängte Konfession zum ukrainischen Bekenntnis schlechthin, und sowohl im 19. wie auch im 20. Jahrhundert gilt die
griechisch-katholische Kirche auch als die Größe, die die ukrainische Identität bewahrt hat.23 Ein solcher fundamentaler Wandel in der Einstellung zur
Union ist im Wesentlichen auf knapp 150 Jahre habsburgische Herrschaft in
Galizien zurückzuführen.
Die zahlreichen Vergünstigungen, die schon unter Maria Theresia und
Joseph II. der griechisch-katholischen Kirche – auch diese Bezeichnung, die
eine Gleichwertigkeit mit der römisch-katholischen nahelegt, stammt aus der
österreichischen Zeit – zuteil wurden, sind bekannt:24 Die Errichtung des
Seminars bei der Barbara-Kirche 1774 in Wien und dessen Verlegung nach
Lemberg zehn Jahre später sollten eine solide Ausbildung des Klerus gewährleisten, die Wiedererrichtung der Metropolie von Halyè im Jahr 1808
machte den Erzbischof von Lemberg, der bisher den Titel eines Metropoliten von Kiew trug, auch zum Metropoliten im eigenen Land; eine Besoldung
der Kleriker führte zu deren sozialer Absicherung. Dass diese Maßnahmen
von der Kirchenspitze, vor allem den Metropoliten auf dem Georgs-Hügel,
mit absoluter Loyalität und Dankbarkeit erwidert wurden, ist verständlich.
Dass man umgekehrt die Auswahl dieser Kirchenfürsten in Wien traf – bis
ins späte 19. Jahrhundert gab es keinen Metropoliten, der nicht auch in Wien
studiert hatte25 – entsprach nicht den Traditionen der ukrainischen Kirche,
dafür aber dem Geist des Josephinismus. Die höchste Autorität, die der Metropolit beim Volk genoss – es gab keine Fürsten mehr und auch so gut wie
keinen ukrainischen Adel – war auf diese Weise immer auch Garant für die
Treue des einfachen Volkes dem Haus Habsburg gegenüber. Betrachtet man
heute die Porträts dieser Metropoliten an den Säulen der Georgskathedrale
in Lemberg, so fällt auf, dass ein jeder dieser Herren über seinem Ornat
auch einen hohen österreichischen Orden trägt – die Verdienste der geistlichen Führer der Ruthenen standen also auch für Wien außer Zweifel.
Das Jahr 1848 zeigte einmal mehr, wie sehr die oberste Kirchenführung
auch die Führung der Nation übernahm. Der Bischof Hryhorij Jachymovyè
stand an der Spitze des Ruthenischen Hauptrates26, jenes Gremiums, das sich
149
als oberste Vertretung der Ruthenen in Lemberg konstituierte und das sehr
gemäßigte Forderungen in Form einer Petition an den Kaiser Ferdinand
formulierte. Ist es Zufall, dass eben jener Jachymovyè zehn Jahre später zum
neuen Metropoliten bestimmt wurde?
Die allzu große Österreich-Nähe der griechisch-katholischen Kirche, die
auch in Rom nicht immer auf Verständnis stieß, führte zu einer ernsten
Krise im Jahr 1882, als eine einfache Gemeinde in Galizien offiziell darum
bat, von der griechisch-katholischen zur russisch-orthodoxen Kirche übertreten zu dürfen, weil dort die genuin byzantinischen Traditionen besser erhalten seien27 – österreichischer und römischer Einfluss hätte in der Landeskirche das Wesentliche verdrängt. Das musste wie ein Blitz aus heiterem Himmel gewirkt haben, und wenn man darauf auch mit großen personalen Veränderungen in der Hierarchie reagierte, konnte das dennoch nicht über einen großen Autoritätsverlust hinweg täuschen. Die griechisch-katholische
Kirche genoss nicht mehr das Vertrauen der nationalen Bewegung der
Jungruthenen, sie hatte den Einfluss auf die nationale Intelligenz verloren,
die neu gegründeten politischen Parteien standen ihr feindlich gegenüber.
Es bedurfte wohl einer Persönlichkeit wie der des Metropoliten Andrij Graf
Šeptyc’kyj (1865–1944)28, um diese Verluste im 20. Jahrhundert wieder gutzumachen.
Auch diese wenigen Daten aus der Geschichte der griechisch-katholischen
Kirche zeigen, wie Loyalität auf der einen und Bevormundung auf der anderen Seite miteinander korrelieren, wobei der Abhängige – in Saids Terminologie der „Kolonisierte“ – Einstellungen, Denkweisen und Wertvorstellungen
der Schutzmacht übernimmt, die dadurch auch Züge einer kolonialen Macht
annimmt.
Anmerkungen
1 Mychajlo HRUŠEVS’KYJ, Istorija ukrajins’koji literatury, Bd. 5, 2, Kyjiv 1995,
Untertitel.
2 Vgl. Oskar WAGNER, Reformation und Orthodoxie in Ostmitteleuropa im 16.
Jahrhundert, in: Zeitschrift für Ostforschung 35 (1986), S. 18–61, insbesondere
S. 49–51.
3 Vgl. Michael MOSER, Kleine Sprachgeschichte des Ukrainischen der mittleren Periode, in: Juliane BESTERS-DILGER, Michael MOSER, Stefan SIMONEK (Hg.), Sprache und Literatur der Ukraine zwischen Ost und West, Bern u. a.
2000, S. 127–144, insbesondere S. 135–138.
150
4 Vgl. Edward SAID, Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik
im Zeitalter der Macht, Frankfurt a. M. 1994 (engl. Original: 1993), S. 30, S. 51.
5 Vgl. Johann WELYHORSKYJ, Die Anfänge der ukrainischen Literatur in Galizien mit besonderer Berücksichtigung der literarischen Tätigkeit des Markijan Šaškevyè, Dissertation Universität Wien 1923, S. 81–88.
6 Vgl. Katja STURM-SCHNABL, Franz Miklosich als Wegbereiter bei der Entstehung der ukrainischen Schriftsprache, in: Juliane BESTERS-DILGER, Michael MOSER, Stefan SIMONEK (Hg.), Sprache und Literatur der Ukraine
zwischen Ost und West, Bern u. a. 2000, S. 195–209.
7 Zit. nach ebenda, S. 197.
8 Vgl. Hermann BIEDER, Ukrainistische Sprachwissenschaft im österreichischen
Galizien (1848–1918), in: Juliane BESTERS-DILGER, Michael MOSER, Stefan
SIMONEK (Hg.), Sprache und Literatur der Ukraine zwischen Ost und West,
Bern u. a. 2000, S. 177–193, vor allem S. 185–186.
9 Vgl. Paul R. MAGOCSI, The Language Question in Nineteen-Century Galicia,
in: Riccardo PICCHIO, Harvey GOLDBLATT (Hg.), Aspects of the Slavic Language Question, Volume 2, New Haven 1984, S. 49–64, insbesondere S. 54–55.
10 WELYHORSKYJ, Die Anfänge der ukrainischen Literatur, S. 82–83.
11 Vgl. Stefan BARAN, Die erste ukrainische politische Organisation, in: Ukraine
in Vergangenheit und Gegenwart 1, 2 (1954), S. 80–84.
12 Vgl. dazu das Huldigungsgedicht auf Franz Joseph anlässlich seines Besuches
in Lemberg 1855, in: Zorja Halycka 8 (1855), Nr. 25 vom 22. Juni.
13 Vgl. Oleh TURIJ, Halyc’ki rusyny miz moskofil’stvom i ukrajinstvom (do pytannja pro tak zvane „starorusynstvo“), in: Tretij miznarodnyj kongres ukrajinistiv. Istorija èastyna I, Charkiv 1996, S. 108–112.
14 Vgl. SAID, Kultur und Imperialismus, S. 268–275.
15 Vgl. Zoran KONSTANTINOVIÆ, Wien als Schnittpunkt slawischer Sprachbesinnung, in: Ingeborg OHNHEISER (Hg.), Wechselbeziehungen zwischen slawischen Sprachen, Literaturen und Kulturen in Vergangenheit und Gegenwart, Innsbruck 1996, S. 17–25.
16 Eine vollständige Ausgabe aller deutschen FEDKOVYÈ-Gedichte findet sich
in: Poezyji Osypa Jurija Fed’kovyèa. Perše povne i krytyène vydanje, Bd. 1, L’viv
1902, S. 711–783.
17 Ol’ha KOBYLJANS’KA, Do Mychajla Pavlyka, in: DIES., Tvory v p’jaty tomach,
Bd. 5, Kyjiv 1962–63, Lysty, S. 249.
18 Vgl. Alois WOLDAN, Zur Rezeption der ukrainischen Literatur im deutschen
Sprachraum, in: Peter JORDAN, Andreas KAPPELER, Walter LUKAN, Josef
VOGL (Hg.), Ukraine. Geographie – Ethnische Struktur – Geschichte – Sprache und Literatur – Kultur – Politik – Bildung – Wirtschaft – Recht, Wien u. a.
2001 (Österreichische Osthefte Sonderband 15), S. 609–628, insbesondere
S. 615–616.
19 Vgl. Günther WYTRZENS, Zum literarischen Schaffen Frankos in deutscher
Sprache, in: Wiener Slavistisches Jahrbuch 37 (1991), S. 103–112.
20 Der Großteil dieser Beiträge findet sich in: Eduard WINTER, Peter KIRCHNER (Hg.), Ivan Franko. Beiträge zur Geschichte und Kultur der Ukraine.
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Ausgewählte deutsche Schriften des revolutionären Demokraten (1882–1905),
Ost-Berlin 1963.
Vgl. SAID, Kultur und Imperialismus, S. 275.
Ebenda, S. 107.
Vgl. Oleh TURIJ, Griechisch-Katholiken, Lateiner und Orthodoxe in der Ukraine: gegeneinander, nebeneinander oder miteinander? Druckfassung eines
Vortrags vom IV. Kongress Renovabis, Freising, 15.09.2000.
Vgl. Alexander OSTHEIM-DZEROWYCZ, Österreich und die Ukraine. Ein
Beitrag zur Kulturpolitik, in: Viribus Unitis. Österreichs Wissenschaft und
Kultur im Ausland. Impulse und Wechselbeziehungen. Festschrift für Bernhard
STILLFRIED aus Anlass seines 70. Geburtstags, Bern u. a. 1996, S. 313–320.
Vgl. John-Paul HIMKA, The Greek Catholic Church in Nineteenth-Century
Galicia, in: Geoffrey HOSKING (Hg.), Church, Nation and State in Russia and
Ukraine, London 1991, S. 52–64.
Vgl. G. PROKOPTSCHUK, Lemberg – Mittelpunkt des kirchlichen Lebens, in:
Ukraine in Vergangenheit und Gegenwart 1, 2 (1954), S. 56–71, insbesondere
S. 64.
Vgl. HIMKA, The Greek Catholic Church, S. 59.
Vgl. PROKOPTSCHUK, Lemberg – Mittelpunkt, S. 64–71.
152
Zum Problem der Kolonisierung Galiziens.
Aus den Debatten des Ministerrates
und des Reichsrates in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts
Hans-Christian Maner
Vor dem Ersten Weltkrieg stellte der Reichsratsabgeordnete Ignaz Rosner
fest, dass Galizien „nicht das ‚befriedigte‘ und österreichische Land gewesen
sei, das man gerne gehabt hätte.“1 Diese Aussage charakterisiert treffend die
Periode der österreichischen Herrschaft über Galizien, die zumindest eines
verdeutlichen will: das Scheitern der Politik Wiens gegenüber dem nordöstlichen Kronland.
Entgegen dieser Entwicklung waren die Habsburger nach dem Erwerb
Galiziens nach der ersten Teilung Polens im Jahr 1772 zunächst darum bemüht, „mit umsichtiger Sorgfalt“ das neue Gebiet der Monarchie einzugliedern. Dazu dienten umfangreiche staatliche Maßnahmen – wie das Stichwort
„Einrichtungswerk Galizien“ verdeutlicht –, die die Abschaffung des polnischen Ständestaates, die Bildung einer in allen Ländern der Monarchie ähnlichen Zentralverwaltung, letztendlich den Ausbau Galiziens zum Musterland der neuen Staatsordnung zum Ziel hatten. Die Schlagworte waren Modernisierung, Vereinheitlichung und Modellisierung. Die Grundvoraussetzung für diese Vorgehensweise, nämlich der historische Anspruch auf den
Besitz von Galizien, wurde ebenfalls planstabsmäßig geschaffen. So konnte es
in einer Denkschrift dann auch heißen, dass sich die Rechte Österreichs
„also von älteren Zeiten her begründen, als die Pacta Conventa und Nobilitar-Privilegien der Pohlnischen Nation sind“, daher „sind […] wir also ohne
mindesten Anstand berechtigt […], alle diejenigen Veränderungen in diesem
Antheil zu treffen, welche Uns billig denen Umständen angemessen und
Nutzbahr und Räthlich scheinen.“2
Doch trotz dieser Bemühungen tauchten bereits bei der Inbesitznahme
Galiziens in Wien jene ambivalenten Positionen hinsichtlich der Funktion
des neuen Gebietes auf, die auch während des 19. Jahrhunderts immer wieder
zum Vorschein kamen. In den Vorstellungen Maria Theresias und Josephs II.
sollten die besetzten polnischen Gebiete „als Aushilfe und Unterstützung der
153
übrigen Erbländer“ dienen.3 Zugleich offenbarte Joseph II. aber auch eine
unstete und widerspruchsvolle Haltung. Der Kaiser strebte zwar einerseits
den Aufbau der Provinz an, doch war für ihn andererseits die Angliederung
der neuen Gebiete an die Monarchie nur eine vorübergehende Maßnahme.
Dieser Zustand hielt an: „Die Wiener Zentralbehörden hatten sich bis in die
1880er Jahre noch immer nicht endgültig entschieden, ob Galizien als dauernder oder nur als ein vorübergehender Besitz des Habsburger Reiches anzusehen sei.“4
Im Folgenden soll es nun darum gehen, der Herrschaftspolitik Wiens in
Galizien im Spiegel der Debatten des Minister- und des Reichsrates an zwei
konkreten Beispielen nachzugehen, am Januaraufstand von 1863 mit seinen
Implikationen für Galizien als Teil der Habsburgermonarchie sowie am Beispiel der polnischen Autonomiebestrebungen für Galizien nach 1868. Diese
Ereignisse beschäftigten nicht nur die beiden Wiener Foren ausführlich, sie
legten auch Grenzen und Möglichkeiten einer Politik der Kolonisierung offen.
Die zweideutige Haltung Wiens gegenüber Galizien hielt sich hartnäckig
und kam während eines zentralen Ereignisses des 19. Jahrhunderts für die
Region, des polnischen Aufstandes von 1863, erneut zum Vorschein. Die
Ausbreitung des Aufstandes im russisch besetzten Teil Polens bis hin nach
Litauen ging mit steigenden politischen Spannungen in Galizien einher, die
insbesondere durch den Zuzug von Aufständischen aus verschiedenen Ländern sowie aus Russisch-Polen genährt wurden.5 Durch die beinahe offene
Werbung der Polen in Galizien für den Aufstand sah sich Österreich mit
dem Vorwurf Russlands konfrontiert, die aufständische Bewegung würde
aus Galizien weitere Impulse erhalten. Nicht nur diese Anschuldigung, die
Wien bemüht war zu widerlegen, begünstigte die Agitation und verunsicherte die Bevölkerung und insbesondere die Bauern in Galizien. Der Minister
Joseph Lasser Ritter von Zollheim betonte in diesem Zusammenhang in der
Sitzung des Ministerrates am 10. März 1863, dass „man durch unzeitige und
allzu eifrig betriebene Widerlegungen von Fragen, zum Beispiel Wiederherstellung Polens, Abtretung Galiziens und dergleichen, die ja als gar keiner
Frage unterliegend gelten sollten, die Irrtümer erst auf dem flachen Land
recht verbreite.“6
Diese Aussagen bestätigte der Statthalter von Galizien, Graf MensdorffPouilly, in einem Bericht an General Graf Degenfeld-Schonburg. Es herrschte demnach die Meinung vor, dass die Monarchie geneigt sei, Galizien gegen
eine Entschädigung im Süden abzutreten, um so die Wiederherstellung Polens zu ermöglichen.7 Wien bemühte sich zwar, solche Vermutungen und
154
Stimmungen gezielt durch Zeitungsartikel zu zerstreuen, und auch der Kaiser ließ in einem Beschluss vom 10. März verlauten, dass er „am Besitz von
Galizien festhalten“ wolle,8 doch konnten die Unsicherheiten nicht endgültig ausgeräumt werden.
Die labile Position Galiziens wurde auch während der Verhandlungen
der Großmächte bezüglich der Abhaltung eines Kongresses über die polnische Frage erneut sichtbar. Inmitten des diplomatischen Austausches über
den polnischen Aufstand – am 17. April 1863 hatten Frankreich und England
sehr ähnliche Noten und die Österreicher eine etwas mildere Note an Russland übergeben, in denen die Einhaltung der 1815 von Russland gegenüber
Polen übernommenen Verpflichtungen gefordert wurde – beriet der Ministerrat über das künftige Vorgehen. Kurz vor dieser Beratung hatte Österreich von Frankreich die Aufforderung erhalten, seine Position entschiedener zu formulieren, und auf jeden Fall sollte sich Österreich auch der Forderung nach einem Waffenstillstand in Polen anschließen.9
Der Außenminister wehrte sich gegen Frankreich, das die Sachlage zu
verdrehen bemüht sei. Österreich gehe es einzig und allein um den Frieden,
den es für seine innere Entwicklung benötige. Gegen die Forderung Frankreichs sagte der Minister, dass sich Russland den Waffenstillstand mit der
Revolution nicht vorschreiben lassen könne, dies würde eher eine Anstachelung zum Krieg sein. Österreich wolle auch keine Politik verfolgen, die das
Übergewicht Frankreichs auf dem Kontinent fördere.10 Als Folge dieser Machtausdehnung fürchtete Österreich um seinen inneren Frieden nicht nur in
Ungarn, Siebenbürgen, den südslawischen und italienischen Ländern, sondern auch und insbesondere in Galizien.11
Der Staatsminister wies darauf hin, dass das eigentliche Ziel der napoleonischen und auch der englischen Politik „die Restauration eines unabhängigen Polenreiches“ sei. Damit würde auch der Verlust Galiziens einhergehen.
Diese Politik der Restauration lehnte Österreich nicht nur deswegen ab. Mit
der Erstehung Polens als souveränem Staat würde an den Grenzen ein Herd
der Revolution geschaffen, wobei der Funke leicht auch nach Ungarn und
Siebenbürgen überspringen könnte. Zwar sei Russland kein „guter Nachbar“, „aber was kann man von einem durch die Revolution geschaffenen und
durch zügellose Parteien abwechselnd beherrschten Polen erst erwarten“.12
Zugleich würde auch das Opfer Galizien nicht dazu führen, in Frankreich
einen treuen Freund und eine Garantie für den Besitz in Italien zu gewinnen. Ein Zusammengehen mit den Westmächten bedeute lediglich den Verlust einer „schöne[n] Provinz“ „ohne irgendeine Kompensation“. Doch Ös-
155
terreich fürchtete nicht nur Frankreich, sondern auch Russland, die beide
Unruhe in die Kronländer bringen würden.
„Bei solchen Aussichten erscheint es klüger und würdiger, dass Österreich bei der Wahl seiner Politik in der polnischen Frage nur seine eigenen
Interessen zu Rate ziehe und sein gutes Recht auf Galizien zu schützen bedacht sei.“13 Leitender Grundsatz der künftigen österreichischen Politik bezüglich des polnischen Aufstandes war neben der Wahrung der inneren
Ruhe und Sicherheit das Festhalten an der Neutralität nach außen hin. Ähnlich wie zehn Jahre zuvor während des Krimkrieges war Wien darum bemüht, auf Zeit zu spielen, um von einer neutralen Position aus den inneren
Frieden zu wahren. Dabei sollte sowohl ein Bruch mit Russland als auch ein
Konflikt mit den Westmächten vermieden werden. Außerdem sollten keine
Konzessionen an Russland befürwortet werden, zumal man in Wien fürchtete, dass neben Ungarn und Venetien auch Galizien gegenüber solche Begehren angestellt werden könnten.14
Die Antwortnote aus St. Petersburg auf das Vorgehen der Westmächte war
zwar in einem versöhnlichen Ton gehalten, doch lehnte Russland einen Waffenstillstand ab, da er vom praktischen Standpunkt aus unmöglich sei. Zugleich
verwarf St. Petersburg den Konferenzvorschlag. Nach russischen Vorstellungen sollte die polnische Frage zunächst von den Territorialmächten Österreich, Preußen und Russland vertraulich besprochen werden. Das Ergebnis
sollte dann der Konferenz der acht Mächte zur Ratifizierung vorgelegt werden. Auf diesen Vorschlag konnte Österreich unter gar keinen Umständen
eingehen, weil dadurch Galizien in die Verhandlungen hineingezogen worden wäre, und das sollte um jeden Preis vermieden werden.
Die russische Reaktion rief in Wien Sorgen hervor, da man im Westen, wo
die Konferenz und der Waffenstillstand als Hauptpunkte angesehen worden
waren, nun Schritte unternehmen könnte, die nicht mehr gutzumachen wären. Außenminister Graf Rechberg empfahl daher, dass Österreich die Initiative zu ergreifen habe: Es sollte die russischen Vorschläge zwar ablehnen,
aber gleichzeitig neue unterbreiten. Letztere sollten in folgende Richtung
gehen: Statt der Dreierkonferenz sollte eine Vorkonferenz zwischen Österreich, Frankreich, England und Russland abgehalten werden; das Resultat
sollte der Konferenz der acht Mächte (England, Frankreich, Österreich, Portugal, Preußen, Russland, Schweden, Spanien) zur Ratifizierung unterbreitet werden.15
Die diplomatische Lage Österreichs schien sich durch die polnische Frage gerade im Hinblick auf Galizien zu verschlechtern. In der Sitzung des
156
Ministerrates vom 1. November 1863 sah der Außenminister einen Frieden
noch in weiter Ferne. Daher skizzierte er die Position Österreichs gegenüber
einem möglichen bevorstehenden Krieg:16
1. Der Abschluss eines Bündnisses mit Russland würde den Angriff Frankreichs, Piemonts sowie Revolutionen an den südlichen Landesgrenzen zur
Folge haben. Außerdem wäre in diesem Fall eine Kooperation mit Preußen
notwendig.
2. Der Anschluss Österreichs an die Westmächte gegen Russland würde
zur Wiederherstellung Polens führen, doch benötige Wien Garantien für
den Fortbesitz Galiziens.
3. Die vollkommene Neutralität wäre für Österreich die beste Lösung,
doch sei sie nicht möglich. Ein vereintes Deutschland als starken Partner,
das die Neutralität ermöglichen könnte, gebe es nicht. So wäre man dann
allein Frankreich oder möglicherweise den Verbündeten Frankreich und
Russland ausgesetzt.
Nachdem auch Metternich diesem Szenario des Außenministers zugestimmt
hatte, folgerte der Staatsminister daraus, dass der einzig gangbare Weg eine
Allianz mit den Westmächten sei, das heißt, man müsse, wenn es die Umstände
erforderten, „mit den Wölfen heulen“. Man wäre also für die Erfüllung der
Forderungen. Einzig und allein einer Wiederherstellung Polens mit dem Verlust Galiziens könne nicht zugestimmt werden. „Es wäre politischer Selbstmord, den Damm zu zerstören, der das zerwühlte Kongresspolen von Ungarn
scheidet, und keine Eroberungen an der unteren Donau oder sonst wo könnten uns für den Verlust der treugesinnten galizischen Landbewohner entschädigen. Daher verschaffe man sich über diesen Besitz die positivsten Garantien!“17
Im Fall einer Allianz mit den Westmächten müssten Wien ganz klare Garantien für den Erhalt Galiziens gegeben werden. Während Fürst Metternich solche Garantien von Seiten Frankreichs nicht für unmöglich erachtete,
warnte der Kriegsminister davor, Paris zu weitreichende Zusicherungen zu
geben. Der Finanzminister brachte einen weiteren Aspekt in die Überlegungen ein. Wegen der laufenden Darlehensverhandlungen dürfe es zu keinem
Krieg kommen, Napoleon sollte hingehalten werden, und bezüglich der sechs
Punkte betreffend Polen sollte man ihm möglichst weit entgegenkommen.
Zeit könnte man außerdem gewinnen, indem man die Einführung von restriktiven Maßnahmen in Galizien verkünden würde. Aus den Beratungen
schlussfolgerte der Kaiser:18 Erstens werde Galizien nicht aufgegeben, zweitens
werde man sich zu keiner abenteuerlichen Politik hinreißen lassen, sondern
die bisherige politische Richtung verfolgen. Drittens sollte im Einvernehmen
157
mit England auf die Fortsetzung des Friedens hingearbeitet werden. Sollte es
viertens im Frühjahr zu einem Krieg kommen, in dem Österreich nicht neutral bleiben könne, müsse man von den Westmächten „kategorische Erklärungen über die Garantie des Besitzes von Galizien begehren, da die Wiederherstellung eines selbständigen Gesamtpolenreiches nicht zugegeben werden
könne.“ Der Außenminister ergänzte dazu, dass der Fortbestand Galiziens
neben einem unabhängigen Polen „nicht haltbar sein werde.“
Das Vorgehen Russlands gegen die Aufständischen führte schließlich zu
einem Erlahmen der Aktionen in Kongress-Polen. Damit schwand auch die
Gefahr einer kriegerischen Auseinandersetzung der Großmächte zusehends.
Im Gegensatz zur außenpolitischen Beruhigung war jedoch die Lage im Inneren noch sehr gespannt. Der Zuzug von flüchtenden Aufständischen nach
Galizien sowie der absehbare Zusammenbruch des Aufstandes spitzten die
Lage zu. Die Probleme aus Kongress-Polen schienen sich nach Galizien zu
verlagern, in Krakau gewannen die politischen Aktivitäten für die Polen immer
größere Bedeutung. Es tauchten sogar Gerüchte über einen möglichen Aufstand in der Monarchie auf.19 Wien reagierte mit Sondermaßnahmen und
der Kaiser genehmigte wegen der Lage in Galizien die folgenden außerordentlichen Bestimmungen:20 erstens die Überweisung der Untersuchungen
über Mord und Hochverrat an die Militärgerichte; zweitens die Außerkraftsetzung des Gesetzes über die persönliche Freiheit; drittens die Einräumung
einer „diskretionären Gewalt“ für den galizischen Statthalter, ähnlich jener,
wie sie die Statthalter von der Lombardei und von Venetien erhalten haben;
viertens die Erlassung eines Manifests an die Bewohner Galiziens, in dem die
Gründe für die obengenannten Punkte eins bis drei erläutert würden.
Dass der Kaiser dann im Manifest seinen Willen explizit ausdrückte, „die
Verbindung Galiziens mit der Gesamtmonarchie aufrechtzuerhalten“, zeigt,
dass Bedenken über die Sicherheit des Besitzes von Galizien nach wie vor vorhanden waren. Zugleich machten auch die Stellungnahmen der Minister deutlich, dass der Belagerungszustand eine labile Situation festigen sollte, zumal
sich Galizien „in einer Art von politischer und administrativer Dekomposition“
befinde.21 Beobachtungen der Sicherheitsdienste bestätigten diese Haltung.
Durch die steigende Zahl von Revolutionären aus den verschiedensten Ländern innerhalb der Monarchie stieg die Furcht vor einem Aufstand „dies- und
jenseits der Grenze“22. Wien sah den Bestand von Galizien gefährdet, zumal
die Rebellion die Grenze außer Kraft zu setzen drohte.
Der Januaraufstand hatte neben den außenpolitischen Auswirkungen und
Einwirkungen auf Galizien auch innenpolitisch weitreichende Folgen. Mit
158
seinem Ende setzte die Phase des pragmatischen Realismus ein – „praca organiczna“ (organische Aufbauarbeit). Das heißt, die polnische adelige Führungsschicht änderte ihr politisches Ziel: Statt Unabhängigkeitskampf verfolgte sie
nun die Landesautonomie.23 Die Loyalität zum Gesamtstaat sollte die möglichst
freie Entfaltung des Landes und der nationalen Kultur ermöglichen.24 Galizien drohte nun nicht mehr, Wien durch außenpolitische Konstellationen
und zentrifugale Kräfte verloren zu gehen. Mittels einer neuen Konzeption
sollte das Kronland nun innerhalb der Monarchie neu platziert werden. Nach
dem polnischen Aufstand änderte Wien seine Politik gegenüber Galizien.
Die außenpolitischen Erfahrungen sowie insbesondere die innenpolitischen
Zwänge, wie der Ausgleich mit Ungarn, führten dazu, dass Wien die direkte
Einwirkung auf Galizien den lokalen Politikern im Kronland selbst überließ
und somit die Polonisierung förderte. Dieser eingeschlagene Weg bot Wien
jedoch keineswegs eine Garantie für den weiteren Bestand des Gebietes innerhalb der Monarchie. In den Debatten des Abgeordneten- und Herrenhauses forderten Vertreter des Polenklubs selbstbewusst immer mehr nationale Selbstverwaltungsrechte. In ihren Begründungen scheuten sie sich auch
nicht, Österreich die historische Legitimation für den Besitz von Galizien
abzusprechen: Es sei „ohne Vertrag“ an Österreich gekommen. Statthalter
Go³uchowski bezeichnete Galizien öffentlich als einen „Teil Polens“ und er
sah, dass die autonomen Bestrebungen die Wiederentstehung Polens und damit das Ausscheiden Galiziens aus der Monarchie beabsichtigten.25 Diese Debatte führte zwar zur Demission des Ministerpräsidenten Graf Carl Auersperg
am 24. Oktober 1868 und zur Entlassung von Graf Go³uchowski als Statthalter, doch die Entwicklung konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden.
Symptomatisch war daher die Äußerung des Abgeordneten des Polenklubs
Jaworski, der sich im Februar 1890 beschwerte, die österreichischen Beamten
würden Galizien wie ein besetztes Land behandeln:
Als Galizien nach der ersten Teilung Polens an Österreich fiel, war es während der
französischen Kriege der Spielball der Politik. Je nach den Ereignissen auf dem
Kriegsschauplatze fiel bald dieser, bald jener Teil des Landes Österreich zu oder ab.
Man glaubte in Wien nicht an den festen Besitz dieses Landes und war bestrebt so
viel als möglich Geld- und Menschenmaterial herauszupressen. Als sich nach dem
Kriege von 1815 die Zustände in Europa konsolidiert hatten und Galizien mit dem
Reiche verbunden wurde, ging man nicht daran, die Wunden, die der Krieg geschlagen hatte, zu heilen, nicht daran, das Land in kultureller und ökonomischer Hinsicht zu heben, nein, Galizien war das gelobte Land einer von allen Gegenden hergelaufenen Bureaukratie, der es nur darum zu tun war, Karriere zu machen und sich zu
bereichern.26
159
Diese Äußerung blieb nicht unwidersprochen, Minister Zaleski entschuldigte sich sogar für seinen Klubkollegen. Langfristig zeichneten die Argumente
aber dennoch den Weg, der zum Ausscheiden Galiziens aus der Monarchie
führen sollte.
Die Ablösung der Germanisierungs- durch eine Polonisierungspolitik hatte
noch weitere Auswirkungen zur Folge. Insbesondere die „galizische Resolution“ von 1868, die die nationalen Forderungen der Polen beinhaltete, rief den
Protest der Ruthenen hervor. Diese beharrten nun ihrerseits auf einer administrativen Abtrennung Ostgaliziens und der Einführung der ruthenischen
Sprache in Ämtern und Schulen in diesem Gebiet.27 Die Haltung der Ruthenen gegenüber dem kolonisatorischen Vorgehen der Polen in Galizien wird
in dem Schreiben des Metropoliten Sembratowicz an den Kaiser von 1870
deutlich, in dem er sich gegen die vom galizischen Landtag verabschiedete
Resolution wehrte:
Denn sie nimmt dem ruthenischen Volk seine politische Stellung, macht die ruthenische Frage zu einer inneren Angelegenheit Galiziens und überlässt die Ruthenen
der Willkür der unnatürlichen polnischen Mehrheit des Landtages, die von der
Gleichberechtigung der Ruthenen mit den Polen nichts wissen will. Die Resolution
ist nicht der Ausdruck der Mehrheit der Bevölkerung Galiziens.28
Im Reichsrat war der Konflikt zwischen Polen und Ruthenen in Galizien
durch die regelmäßigen Beschwerden ruthenischer Abgeordneter über den
sich wiederholenden Wahlmissbrauch der Polen präsent.29 Zugleich kristallisierte sich in den während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eskalierenden Auseinandersetzungen zwischen Polen und Ruthenen immer deutlicher auch eine Spaltung des Gebietes in West- und Ostgalizien heraus. So
protestierten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Ruthenen gegen den Gedanken der Einbeziehung Ostgaliziens in einen künftigen polnischen Staat.30 In
diesem Zusammenhang gab es unter den Ruthenen unterschiedliche Vorstellungen, die auch im Reichsrat bekannt wurden. Während eine Fraktion den
großrussischen Standpunkt vertrat und eine Vereinigung mit Russland anstrebte, forderten die so genannten Kleinrussen eine Vereinigung aller ruthenischen Gebiete zu einem Sonderstaat. Beide Gruppierungen traten aber gegen eine polnische Vorherrschaft in Galizien auf.31 Besondere Sorge bereiteten Wien jedoch die russophilen Ruthenen, die sich hilfesuchend an Russland
wandten und zugleich auch die Abtrennung von Ostgalizien vorantrieben.32
160
*
Der Januaraufstand von 1863 legte die labile Lage Galiziens innerhalb der
Habsburgermonarchie offen, dadurch geriet eine erfolgreiche Weiterführung
der Kolonisierung von Wien aus ins Stocken. Zugleich deckten die Ereignisse
der 1860er Jahre, wie sie aus den Debatten des Ministerrates in Wien hervorgingen, die Bedingungen und Grenzen der Kolonisierung im Falle Galiziens
auf. Die Umstände, unter denen das Gebiet an Österreich kam, forderten
von Wien immer wiederkehrende Legitimitätsdiskurse zur Rechtfertigung
seines Besitzes. Erschwerend kam hierfür die uneinheitliche und zweideutige Position Wiens bezüglich der Funktion und Position des nordöstlichen
Erwerbs hinzu. Schließlich war die Kolonisierungspolitik Wiens sehr stark
von Galizien als Grenzregion geprägt und unterlag der labilen außenpolitischen Konstellation in besonderem Maße.
Die im Zusammenhang mit der Entfaltung der Autonomie in Galizien
einsetzende Binnenkolonisierung kann sozusagen gemäß den Debatten im
Reichsrate als eine logische Folge der Ereignisse um den Januaraufstand verstanden werden. Die von den Polen ausgehende Aktion hatte ihrerseits mit
Problemen der Abgrenzung und Legitimation zu kämpfen, die schließlich
nicht in einer Vereinheitlichung und Homogenisierung, sondern in einer
Differenzierung mündeten.
Anmerkungen
1 Dieser Beitrag entstand im Rahmen des von der VW-Stiftung geförderten
Forschungsprojekts „Grenzräume und ihre Funktionen an den Rändern Europas:
Galizien und die Bukowina im Kalkül der Donaumonarchie im 19. Jahrhundert“.
Zitiert nach Ursula PRUTSCH, Die Polen- und Ruthenenpolitik der k.u.k.
Monarchie 1911–1918 aus der Sicht Leopold von Adrians, in: Wolfgang MÜLLER-FUNK, Peter PLENER, Clemens RUTHNER (Hg.), Kakanien revisited.
Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie,
Tübingen–Basel 2002, S. 279.
2 Zitiert nach Horst GLASSL, Das österreichische Einrichtungswerk in Galizien
(1772–1790), Wiesbaden 1975, S. 100; dazu auch Leo J. HACZYNSKI, Two Contributions to the Problem of Galicia, in: East European Quarterly IV/1 (1970),
S. 94 f.
3 Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Wien, Hofkanzlei, Kart. 229. Pro Nota des Grafen Pergen v. 30. August 1772; hier zitiert nach
GLASSL, Das österreichische Einrichtungswerk, S. 35.
161
4 Vgl. ebenda, S. 91. Vgl. Stanis³aw GRODZISKI, Historia ustroju spo³ecznopolitycznego Galicji 1772–1848. Wroc³aw u. a. 1971, S. 128–144; vgl. Roman
ROSDOLSKY, Untertan und Staat in Galizien. Die Reformen unter Maria Theresia und Joseph II., Mainz 1992, S. 249–255.
5 Aus der Fülle der Literatur zum Aufstand siehe Stefan KIENIEWICZ, Powstanie styczniowe, Warszawa 1972; vgl. Hans-Werner RAUTENBERG, Der polnische Aufstand von 1863 und die europäische Politik im Spiegel der deutschen
Diplomatie und der öffentlichen Meinung, Wiesbaden 1979; zu Galizien vgl.
außerdem den Dokumentenband von Stefan KIENIEWICZ, I. MILLER (Hg.),
Powstanie Styczniowe. Materia³y i dokumenty. Galicja w powstaniu styczniowym, Wroc³aw 1980.
6 Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848–1867. V. Abt., Bd. 5:
3. November 1862–30. April 1863. Bearb. v. Stefan MALFÈR, Wien 1989, Nr.
328, S. 284; vgl. Hanns SCHLITTER, Die Frage der Wiederherstellung Polens
im österreichischen Ministerrat 1863, in: Österreichische Rundschau 58 (1919),
S. 63–69; vgl. Richard B. ELROD, Austria and the Polish Insurrection of 1863.
Documents from the Austrian State Archives, in: International History Review
8 (1986), S. 416–437.
7 Sitzung des Ministerrates vom 13. März 1863, in: Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848–1867. V. Abt., Bd. 5, Nr. 330, S. 293–294.
8 Ebenda.
´
9 St. von KOZMIAN,
Das Jahr 1863. Polen und die europäische Diplomatie.
Wien 1896, S. 288–292, S. 303.
10 Sitzung des Ministerrates vom 19. Mai 1863, in: Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848–1867. V. Abt., Bd. 6: 4. Mai 1863–12. Oktober 1863.
Bearbeitet v. Thomas KLETEÈKA, Klaus KOCH, Wien 1989, Nr. 355, S. 39.
11 Ebenda, S. 40.
12 Ebenda, S. 41.
13 Ebenda, S. 41; vgl. Francis Roy BRIDGE, Österreich (-Ungarn) unter den Großmächten, in: Adam WANDRUSZKA, Peter URBANITSCH (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Bd. VI/1: Die Habsburgermonarchie im System
der internationalen Beziehungen, Wien 1989, S. 225–226.
14 Sitzung des Ministerrates vom 19. Mai 1863, in: Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848–1867. V. Abt., Bd. 6: 4. Mai 1863–12. Oktober 1863.
Bearbeitet v. Thomas KLETEÈKA, Klaus KOCH, Wien 1989, Nr. 355, S. 98.
15 Sitzung vom 22. Juli 1863, in: Ebenda, Nr. 377, S. 204.
16 Sitzung vom 1. November 1863, in: Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848–1867. V. Abt., Bd. 7: 15. Oktober 1863–23. Mai 1864. Bearbeitet
v. Thomas KLETEÈKA, Klaus KOCH, Wien 1992, Nr. 420, S. 52–53.
17 Ebenda, S. 54.
18 Ebenda, S. 55.
19 Emil KNORR, Die polnischen Aufstände seit 1830 in ihrem Zusammenhang
mit den internationalen Umsturzbewegungen, Berlin 1880, S. 242; vgl. Henryk WERESZYCKI, Austrja a powstanie styczniowe. Lwów 1930, S. 288–290.
20 Vgl. Sitzung vom 5. November 1863, in: Die Protokolle des Österreichischen
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Ministerrates 1848–1867. V. Abt., Bd. 7: 15. Oktober 1863–23. Mai 1864. Bearbeitet v. Thomas KLETEÈKA, Klaus KOCH, Wien 1992, Nr. 412, S. 67–68.
Sitzung vom 6. November 1863, in: ebenda, Nr. 413, S. 72.
Sitzung vom 18. Februar 1864, in: ebenda, Nr. 445, S. 245–246; vgl. Gustav
KOLMER, Parlament und Verfassung in Österreich. Bd. 1: 1848–1869, Graz
1972, S. 149, S. 161.
Christoph Freiherr Marschall von BIEBERSTEIN, Freiheit in der Unfreiheit.
Die nationale Autonomie der Polen in Galizien nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867. Ein konservativer Aufbruch im mitteleuropäischen Vergleich, Wiesbaden 1993; vgl. Jozef BUSZKO, Galicja 1859–1914. Polski Piemont? Warszawa 1989; vgl. Konstanty GRZYBOWSKI, Galicja 1848–
1914. Historia ustroju politycznego na tle historii ustroju austrii, Kraków et.
al. 1959.
Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848–1867. V. Abt., Bd. 5: 3.
November 1862–30. April 1863. Bearbeitet v. Stefan MALFÈR, Wien 1989, S.
XLVI; vgl. Henryk BATOWSKI, Die Polen, in: Adam WANDRUSZKA, Peter
URBANITSCH (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 3,1: Die
Völker des Reiches, Wien 1980, S. 529–554; vgl. Piotr WANDYCZ, The Poles in
the Habsburg Monarchy, in: Andrei S. MARKOVITS , Frank E. SYSYN (Hg.),
Nationbuilding and the Politics of Nationalism, Cambridge, Massachusetts
1982, S. 68–93; vgl. James SHEDEL, Austria and its Polish Subjects, 1866–
1914: A Relationship of Interests, in: Austrian History Yearbook 19/20, (1983–
84), S. 23–41.
KOLMER, Parlament und Verfassung in Österreich, Bd. 1, S. 354.
Ebenda, Bd. 4: 1885–1891, Graz 1978, S. 281.
Ebenda, Bd. 1, S. 397–398; vgl. Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines
Verwaltungsarchiv, Ministerratspräsidium, Nr. 369; vgl. PRUTSCH, Die Polen- und Ruthenenpolitik, S. 276–281; vgl. Wolfdieter BIHL, Die Ruthenen, in:
Adam WANDRUSZKA, Peter URBANITSCH (Hg.), Die Habsburgermonarchie,
Bd. 3,1, S. 555–584; vgl. Ivan L. RUDNYTSKY, The Ukrainians in Galicia
under Austrian Rule, in: Andrei S. MARKOVITS, Frank E. SYSYN, Nationbuilding, S. 23–67; vgl. Jan KOZIK, The Ukrainian National Movement in
Galicia 1815–1849, Edmonton 1986.
KOLMER, Parlament und Verfassung in Österreich, Bd. 2: 1869–1879, Graz
1972, S. 69.
Ebenda, Bd. 6: 1895–1898, Graz 1978, S. 193–194.
Ebenda, Bd. 8: 1900–1914, Graz 1980, S. 246, S. 562; vgl. ebenda, Bd. 4: 1885–
1891, Graz 1978, S. 372.
Ebenda, Bd. 2: 1869–1879, S. 163; vgl. ebenda, Bd. 3: 1879–1885, Graz 1972, S. 205.
Ebenda; vgl. Anna Veronika WENDLAND, Die Russophilen in Galizien. Ukrainische Konservative zwischen Österreich und Russland, 1848–1915, Wien 2001;
vgl. DIES., Die Rückkehr der Russophilen in die ukrainische Geschichte: Neue
Aspekte der ukrainischen Nationsbildung in Galizien, 1848–1914, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 49, 2 (2001), S. 195.
163
Machtansprüche und kulturelle Muster
nichtperipherer Regionen:
Die Kernlande Böhmen, Mähren und Schlesien
in der späten Habsburgermonarchie
Robert Luft
Die Tschechoslowakei (ÈSR, Èeskoslovenská republika) war in den zwanziger
Jahren des 20. Jahrhunderts einer der wichtigsten Industriestaaten Europas, ja der Welt. Die neugegründete Republik war der einzige europäische
Staat östlich und südöstlich von Deutschland, in dem die Produktion von
Investitionsgütern schneller wuchs als diejenige der Konsumgüter.1 Als Exportland gehörte die ÈSR zu den zehn stärksten Volkswirtschaften der Welt
und übertraf alte Industrie- und Handelsstaaten wie Belgien und die Niederlande, insbesondere jedoch Österreich und alle anderen Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie. Im globalen Maßstab nahm die ÈSR in der
allgemeinen Bewertung, vor allem hinsichtlich des Bruttosozialprodukts pro
Einwohner und des Anteils am Welthandel einen Platz zwischen der 12. und
18. Stelle ein.2 Trotzdem hätte die Tschechoslowakei aus politischen und wirtschaftlichen Gründen gute Chancen gehabt, Mitglied eines politischen Zusammenschlusses der zehn wichtigsten Wirtschaftsmächte der Welt – vergleichbar der heutigen G-7-Gruppe des Weltwirtschaftsgipfels – zu werden, wenn
es dazu vor der Weltwirtschaftskrise von 1929 gekommen wäre. Österreich
mit Wien als altem Herrschaftszentrum der böhmischen Länder oder Ungarn hätten diesem Gremium jedoch keinesfalls angehört. Entscheidend war
dabei, dass sich die Wirtschaftskraft der Tschechoslowakei in ihrer westlichen Staatshälfte konzentrierte. Betrachtet man allein diese Teilregion der
Tschechoslowakei, die mit den alten habsburgischen Kronländern Böhmen,
Mähren und Österreichisch-Schlesien identisch war, so wird deren ökonomische Überlegenheit gegenüber anderen Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie noch deutlicher.
Im Rahmen der europäischen Politik gehörte die Tschechoslowakei in der
Zwischenkriegszeit zu den international einflussreichen Staaten. Auch im
Völkerbund übertraf ihr Gewicht dasjenige Österreichs oder Ungarns. Zudem
war die Tschechoslowakei das einzige Land Mittel- und Osteuropas, das in
165
der Zwischenkriegszeit bis Anfang 1938 eine hohe soziale, ethnische und
politische Stabilität aufwies. Anders als Österreich und Ungarn überwand
die ÈSR in den 1920er Jahren alle politischen und sozialen Krisen und Umsturzversuche von links wie von rechts ohne größere Verwerfungen und ohne
Etablierung eines autoritären oder gar totalitären Herrschaftssystems. Obwohl national deutlich weniger homogen als die Rumpfstaaten DeutschÖsterreich oder Trianon-Ungarn war die ÈSR als multinationaler und multikonfessioneller Nationalstaat bis Mitte der 1930er Jahre politisch stabiler als
alle anderen Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie.3
Kulturell gehört die ÈSR seit den 1920er Jahren ebenfalls zur europäischen Avantgarde. Künstlerisch waren Prag, Brünn (Brno) und Bratislava
(Preßburg) dem damaligen kulturellen Weltzentrum Paris in jeder Hinsicht
näher als Wien oder Budapest. Funktionalistische Architektur, Tonfilm und
Design mögen an dieser Stelle als Stichworte für die Bedeutung der Tschechoslowakei in der künstlerischen und technischen Moderne genügen.4 Nicht
die krisenhafte Moderne Wiens, sondern die nahezu bruchlos verlaufende,
optimistische, erfolgreiche Moderne charakterisierte die böhmischen Länder.5
Es handelt sich somit bei der Tschechoslowakei, genauer: bei den böhmischen Ländern, um den seltenen Fall, dass nach einer Sezession eine Nebenlandschaft, eine nicht den alten Herrschaftsmittelpunkt enthaltende Region
sich rasch etabliert und den Staat, der das vormalige imperiale Zentrum enthält und der völkerrechtlich und materiell den untergegangenen Staat beerbt, in nahezu allen Bereichen auf den zweiten Platz verweist. Nicht Österreich mit dem alten Reichsmittelpunkt Wien, auch nicht Ungarn mit der
zweiten Hauptstadt Budapest, sondern die Tschechoslowakei wurde zur neuen dominierenden Kraft. Inwieweit eine Vergleichbarkeit mit der Entwicklung von Finnland nach dem Zerfall des Russischen Reiches 1917, von Slowenien nach dem Zerfall Jugoslawiens 1991 oder von Katalonien im heutigen
spanischen Staatsverband gegeben ist, muss anderen Untersuchungen überlassen bleiben.
Dieser Befund erlaubt den Schluss, dass für die ÈSR und insbesondere
für die böhmischen Länder somit nach 1918 eine ganze Reihe von Voraussetzungen gegeben war, die sich in kolonisierten Gesellschaften meist nicht entwickeln können. In den böhmischen Ländern war schon im Rahmen der
Habsburgermonarchie ein ausreichendes politisches, ökonomisches, gesellschaftliches und kulturelles Potential vorhanden. Es hatten sich bereits eigene Traditionen und Erfahrungen, ein beachtliches Selbstbewusstsein und
166
eine große Entwicklungsdynamik gebildet. Allein dies erlaubt es auszuschließen, dass es sich um ein Territorium und eine Gesellschaft handelte, die sich
in einem kolonialistischen Abhängigkeits- und Nachrangigkeitsverhältnis zu
einem hegemonialen Machtzentrum befanden. Die Situation nach 1918 ist ein
starkes Argument dafür, dass schon vor 1914 die Differenzen zwischen den
böhmischen Ländern und dem Herrschaftsmittelpunkt nicht das Ausmaß
hatten, das imperialistische und kolonialistische Machtstrukturen sowie Denkund Wahrnehmungsmuster üblicherweise bestimmt. Schließlich bedingt nicht
jede regionale Nachrangigkeit oder Abhängigkeit und nicht jedes Herauslösen aus lang anhaltenden Macht- und Herrschaftszusammenhängen eine kolonialistisch-postkolonial hybride Identität.
Meine These lautet daher: für die drei böhmischen Länder – und im
engeren Sinne damit auch für die tschechische Gesellschaft und ihre Kultur
– kann für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht von einer Binnenkolonisierung durch das Zentrum Wien und das deutschsprachige Innerösterreich gesprochen werden. Die besondere Gunstlage und Geschichte der böhmischen Länder schützte diese vor einer inneren Kolonisierung. Auch wenn
es innerhalb der böhmischen Länder einzelne Orte innerer Kolonisierung
gegeben haben mag, so können Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien als Ganzes nicht als ein Ort österreichischer Kolonisierung interpretiert
werden. Die ökonomische, politische und kulturelle Entwicklung und die
Stabilität dieses Raumes deuten eher auf das Potenzial für imperiale Ambitionen hin. Die Entwicklung der böhmischen Länder nach 1918 ist beweiskräftig genug. Diese deduktive Beweisführung soll im Folgenden durch acht Teilanalysen ergänzt werden. Dabei werden für verschiedene Sphären die Bedeutung und das Ausmaß der Differenz zwischen dem kaiserlichen Zentrum Wien
und den böhmischen Ländern untersucht.6
1. Die Geographie
Edward W. Said und andere Vertreter postkolonialer Theorien gehen von
einer „Praxis der kulturellen Vorherrschaft eines metropolitanen Zentrums
über weit entfernte Territorien“ aus. Für die Habsburgermonarchie oder
möglicherweise auch das Osmanische Reich gilt dies nicht. Daher sind diese
Ansätze durch das Konzept der Binnenkolonisierung von Nachbargebieten
und Nachbarvölkern konkretisiert worden.7 Doch ähnlich wie bei der Theorie der „inneren Peripherien“, die ebenfalls nicht für die böhmischen Län-
167
der greift,8 muss die Relativität der Entfernungen beachtet werden. Peripherien und „imaginierte Regionen“ binnenkolonialistischen Denkens stehen
nicht nur dem Zentrum gegenüber, sondern unterscheiden sich auch von
semiperipheren Räumen und von Zentrallandschaften zweiten Grades.9
Die böhmischen Länder waren für die Habsburgermonarchie Kernlandschaften. Sie befanden sich sowohl bezogen auf die tatsächlichen Entfernungen und auch auf Erreichbarkeit als auch hinsichtlich der Vorstellungs- und
Erfahrungswelt der Zeitgenossen dem Zentrum nahe. Im Zeitalter der Eisenbahnen und des Telegraphen schrumpfte diese Distanz noch. In Altösterreich führten sowohl einige der ersten wie auch die am stärksten frequentierten Bahnlinien von Wien nach Mähren und Schlesien und nach Böhmen.
Die böhmischen Länder waren der Reichshauptstadt in jeder Hinsicht näher
als periphere Gebiete wie Dalmatien, Siebenbürgen, die Bukowina oder Ostgalizien, teilweise sogar näher als österreichische Kernlandschaften wie Kärnten
oder Tirol. Die geographische und die imaginierte räumliche Differenz zum
Zentrum war vergleichsweise gering.
2. Herrschaft, Macht und Recht
Böhmen, Mähren und Schlesien waren weder eroberte noch gewaltsam annektierte Gebiete. Böhmen gehörte als altes Reichsland und als einziges mittelalterliches Königreich des Heiligen Römischen Reiches seit Jahrhunderten in denselben machtstaatlichen Verband beziehungsweise zur selben dynastischen Territorialunion wie Niederösterreich mit Wien. Der habsburgische Erbanspruch auf diese Gebiete war weder durch die habsburgische Herrschaft nach der „Schlacht am Weißen Berg“ noch durch die josephinische
Zentralisierungspolitik am Ende des 18. Jahrhunderts nachdrücklich in Frage gestellt worden. Die Ideologie des „Böhmischen Staatsrechts“, die im 19.
Jahrhundert vom Adel und von der tschechischen Politik propagiert wurde,
betonte regionale Autonomierechte, stellte aber nicht die habsburgische Dynastie und ihre Herrschaft in Frage. Ohne die böhmischen Länder wären
das Herrscherhaus und der sich bildende österreichische Staat nicht zur
Dominante im östlichen und südöstlichen Mitteleuropa geworden.
Das über Generationen erfolgreich fortgeführte Engagement der Habsburger, diese Gebiete zu beherrschen, völlig zu integrieren und strukturell
dem eigenen engeren Machtbereich anzupassen, zeigt, dass es sich nicht um
machtpolitisch periphere Regionen handelte. Die Vereinigung der böhmi-
168
schen Hofkanzlei mit derjenigen Innerösterreichs im späten 18. Jahrhundert ist ein Beleg dafür. Dass die Integration weitgehend erfolgreich und
nach 1648 auch ohne größere militärische Konflikte – wie sie die polnische
oder die ungarische Entwicklung kennzeichneten – verlief, ist ein weiteres
Indiz für die breite gesellschaftliche Akzeptanz der zum beiderseitigen Nutzen wirkenden Vereinheitlichungs- und Modernisierungsprozesse.
Böhmen, Mähren und Schlesien waren für die Habsburger ein Kernraum
ihrer Herrschaft, was auch die zeitweise Residenzfunktion von Prag belegt.
So verlegte nicht nur Kaiser Rudolf II. den Reichsmittelpunkt nach Prag,
auch Kaiser Ferdinand residierte nach seiner Abdankung auf dem Hradschin. Zudem nahm im Vormärz mit Erzherzog Rudolf von Habsburg ein
Mitglied der Herrscherfamilie auch den Stuhl des Erzbistums Olmütz (Olomouc) ein. Mähren war in Krisenzeiten für die Habsburger und ihren Hof
neben Innsbruck das wichtigste Rückzugsgebiet. Der beachtliche Anteil von
wirtschaftlich ertragreichem Besitz der Herrscherfamilie, insbesondere in
Mähren – und der verschwägerten Linie Sachsen-Teschen in ÖsterreichischSchlesien – weist ebenfalls auf die besondere Stellung der böhmischen Länder im Staatsverband hin.
Die Länder der böhmischen Krone waren Gebiete mit eigenen Rechtstraditionen und einer alten, durchgehenden, je nach Periode in unterschiedlichem Maße ausgestalteten autonomen Verwaltungsstruktur von der Kommune bis zur Ebene des Kronlandes. Wenn es um Fragen von Abhängigkeiten
und Kolonisierungstendenzen geht, sollte der Blick von der politischen Makroebene auch auf andere Herrschaftsebenen gewendet werden. Die Bedeutung stadtrechtlicher Traditionen und der Formen lokaler Selbstverwaltung
kann für die Beurteilung von Machtstrukturen und eines landeseigenen Demokratisierungspotenzials kaum überschätzt werden. Regionale Eliten partizipierten in den böhmischen Ländern an der lokalen und regionalen Macht
und wurden in der Folge auch immer wieder neu in die Herrschaftssphären
des Zentrums integriert.
Einen besonderen Aspekt stellt in diesem Zusammenhang die Verrechtlichung der Herrschaftsverhältnisse seit dem Mittelalter dar. Das hohe Niveau
der weitgehend regional autonomen Rechtsentwicklung der böhmischen Länder zeigt, dass diese nicht nur nicht nachgeordnet waren, sondern mit anderen Teilen Österreichs auf gleicher Ebene standen. Mehrfach wurden seit
der Zeit von Maria Theresia und Joseph II. Reformen des Rechtswesens zuerst
in Böhmen oder Mähren durchgeführt, so dass diese Länder dann für Nieder- oder Oberösterreich Vorbildcharakter bekamen.
169
3. Die Ökonomie
In wirtschaftlicher Hinsicht war die Differenz zwischen Wien und den böhmischen Ländern gering. Die böhmischen Länder waren, wie oben bereits
ausgeführt, ein Gebiet mit einem hohen ökonomischen Niveau, in dem quantitatives Wachstum sich mit qualitativer Entwicklung verband. Die ökonomische Stärke in Stadt und Land baute auf mehreren Faktoren auf. Dazu gehörten der Reichtum an Bodenschätzen und Naturgegebenheiten, die Einbindung in europäische Handelsnetze sowie die Verrechtlichung und Spezialisierung im Handwerk und im selbständigen Bauerntum. Ein wichtiger Faktor war das traditionell hohe organisatorische Niveau in Wirtschaft und Gesellschaft (vom Stadtrecht über die Zünfte bis hin zum Genossenschaftswesen
und den Interessenverbänden). Trotz reicher Bodenschätze lag die wirtschaftliche Potenz dieses Raumes weniger in den Rohstoffen (von Silber über Eisen,
Uran, Stein- und Braunkohle bis hin zu Leinen, Wolle, Zucker und Holz) als
vielmehr in der Weiterverarbeitung (Tuche, Metallwaren, Instrumente und
Maschinen, Glas- und Porzellanwaren und Kunstgegenstände). Alle wesentlichen Phasen der Modernisierungen von der Protoindustrialisierung über
die Industrialisierung der Textil-, Montan- und Chemie- sowie Elektrobranche bis hin zum Automobilbau erfassten die böhmischen Länder. Neben der
Verdichtung war die Differenziertheit der wirtschaftlichen Tätigkeiten ein
wesentlicher Grund für die erfolgreiche Entwicklung. Auch wenn die meisten Banken und Firmensitze in Wien angesiedelt waren, kam es nicht zu
einem kolonialistischen Kapitalabzug, da im Lande in großem Umfang in
technische Modernisierung, Infrastruktur und Bildung investiert wurde. Die
Entwicklung eines Prager Bankwesens, insbesondere die Entstehung einer
nationaltschechischen Bank, der Zivnostenská banka (Gewerbebank), relativierte nach 1900 schließlich sogar im Finanzbereich die Abhängigkeit von
Wien. Auch wenn die ökonomische Orientierung auf die Reichshauptstadt
Wien bis zum Kriegsende bestehen blieb, wurden von den damaligen Eliten,
insbesondere auch von denen aus Wien, die böhmischen Länder – anders als
beispielsweise Galizien mit seinen Ölquellen – niemals als ökonomisch periphere oder abhängige Regionen angesehen.
Für die wirtschaftliche Entwicklung bedeutsam war die hohe Wertschätzung der technischen Bildung für Tschechen und Deutsche, eine Gemeinsamkeit, die durch die Fokussierung auf die nationalen Auseinandersetzungen oft übersehen wird. Technik war ein wesentlicher Bestand des kulturellen Selbstverständnisses der böhmischen Länder. Hingewiesen sei nur auf
^
170
die Rolle von Gewerbevereinen und Industrieausstellungen, die im Vormärz
zu den wichtigsten der Monarchie wurden. In keinem anderen Teil der Habsburgermonarchie entstanden um die Mitte des 19. Jahrhunderts so viele Technische Museen wie in den drei böhmischen Ländern. Hoch war auch die
Zahl der Anmeldungen aus Böhmen und Mähren im Wiener Patentamt. Damit in Verbindung steht auch das ungewöhnliche Verhältnis von zwei Universitäten zu drei Technischen Hochschulen. Böhmen und Mähren waren
die einzigen Kronländer, in denen an Technischen Hochschulen mehr Studenten immatrikuliert waren als an Universitäten.
Die entwickelte Wirtschaftsstruktur und ökonomisch-technische Kultur
der drei böhmischen Länder verhinderten sowohl im 19. Jahrhundert wie in
den Jahrhunderten zuvor, dass es zu einer kolonialistischen Ausbeutung kam.
Die Nutzung der Steuerkraft und Wirtschaftsdynamik dieser Region war für
Wien und die Habsburgermonarchie bedeutend ertragreicher als eine extensive Ressourcennutzung.
4. Gesellschaft, Eliten und soziale Deklassierungen
Böhmen, Mähren und Schlesien wiesen eine über Jahrhunderte gewachsene,
sehr differenzierte Sozialschichtung auf. Dazu zählten insbesondere ein landständischer Adel, ein altes Stadtbürgertum, eine starke Bauernschaft und in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch eine breite Arbeiterschaft und
eine zahlenmäßig nicht kleine Beamtenschaft. Alle Bevölkerungsgruppen
waren ohne Diskriminierungen in die entsprechenden sozialen Gruppierungen der Nachbarregionen und in die Schichtungen und Wertesysteme mitteleuropäischer Gesellschaften eingebunden. Ein Elitenaustausch vollzog sich
mit dem Wiener Zentrum wie auch mit anderen entwickelten Teilen Europas.
Der Adel der böhmischen Länder war durch Konnubium mit dem Adel in
allen Teilen Europas, insbesondere im Bereich Mitteleuropas, verbunden.
Die Peregrinatio der Studenten und Akademiker trotzte auch den Abschottungstendenzen der Metternich-Zeit. Hochschulen in Deutschland zu besuchen, war für deutsche und tschechische Mittel- und Oberschichten aus den
böhmischen Ländern keine Besonderheit. Beamte und Militärs der böhmischen Länder kamen in Ungarn ebenso wie in Österreich und in den südslawischen Kronländern zum Einsatz. Wandernde Handwerker und Arbeitsmigranten erlebten in der Fremde Deutschlands oder Wiens zwar Abgrenzung,
bewegten sich aber dabei meist weiterhin in einer vertrauten gesellschaftli-
171
chen Normenwelt. Dass die Migrationen nicht nur als Abwanderung erfolgten, zeigen der Zuzug von Adelsfamilien aus Deutschland und Ungarn oder
von österreichischen Universitätslehrern nach Prag, die Ansiedlung von
Unternehmern aus Belgien und Großbritannien in Mähren oder die Zuwanderung von Arbeitern aus Galizien. Verwiesen sei auch auf das Beispiel der
Familie Thonet, die als Handwerker vom Rheinland kommend nach Wien
übersiedelt waren, dann aber als Unternehmer nach Mähren wechselten.
Wesentlich für die Entwicklung der böhmischen Länder war es, dass im
Rahmen des enormen Wandels im 19. Jahrhundert keine größere soziale Gruppierung als Ganzes neu zuwanderte und dass keine bedeutendere Gesellschaftsschicht eine Deklassierung erlebte. Auch in früheren Jahrhunderten hatte
das Herrschaftszentrum Wien die böhmischen Länder nicht mit Landesfremden regiert, sondern stets auch Beamte bis zu den höchsten Positionen aus
dem Lande rekrutiert. Vor allem aber fehlte die Gentry, der Kleinadel, eine
Schicht, aus der in Ländern wie Polen oder Ungarn in Folge von Verarmung
und Funktionsverlusten im 19. Jahrhundert das Potenzial für ausgeprägt zentrumsfeindliche Positionen kam.
Die Aristokratie, durch das Incolat regional verfasst und sozial gesichert,
wusste in den drei böhmischen Ländern auch nach 1900 die ihr verbleibenden politischen und ökonomischen Vorrechte zu nutzen. Sie blieb in die
Erste Wiener Gesellschaft und in das Wiener Machtzentrum integriert, ohne
ihre regionale Verwurzelung zu verlieren. Es war eher umgekehrt so, dass
die böhmisch-mährische Hocharistokratie – davon viele mediatisierte, also
ehemals reichsunmittelbare Familien – einen wesentlichen Bestandteil der
Oberschicht der Wiener Metropole ausmachte. Großes Gewicht hatten die
böhmisch-mährischen Hochadeligen in Wien bei Hof, in Ministerien,
insbesondere in der Außenpolitik, und im Herrenhaus. Im Stadtbild ist ihre
Präsenz durch die zahlreichen und aufwendigen Palais bis heute unübersehbar.
Das Bürgertum der böhmischen Länder nahm an den Umbrüchen des
19. Jahrhunderts aktiv teil und partizipierte an den Wandlungen materiell
und prestigemässig. Der Aufstieg durch Bildung zu Besitz ist ebenso wie die
sprachnationale Teilung dieser Schicht ein regionales Charakteristikum. Neben einem Wirtschaftsbürgertum etablierte sich in allen drei Kronländern
eine landesbezogene breite Schicht des Bildungsbürgertums. Die Zahl der
bürgerlichen Ministerpräsidenten sowie der deutschen und tschechischen
Minister der Habsburgermonarchie, die aus diesem Raum stammten, war
überproportional groß.
172
An der Technisierung und Industrialisierung der Landwirtschaft nahmen
das deutsche wie das tschechische Bauerntum teil. Die ertragreichste Neuerung der Landwirtschaft im 19. Jahrhundert, die Einführung des Zuckerrübenanbaus, ließ aufgrund der Boden- und Klimaverhältnisse Mittelmähren
und das böhmische Elbetiefland zu den bevorzugten Anbaugebieten und zu
den prosperierendsten Regionen der Habsburgermonarchie werden. Damit
verbunden war eine Kapitalisierung und Mechanisierung des Agrarsektors,
was weitere Agrarrevolutionen auslöste.
Die Herausbildung einer Arbeiterklasse erfolgte in der Habsburgermonarchie einerseits im großstädtischen und urbanen Milieu von Wien, Budapest, Prag, Brünn oder Pilsen (Plzeò), andererseits im protoindustriell geprägten nordwestlichen Böhmen an der Grenze zu Sachsen. Über Sachsen
kommend ging von Nordböhmen – nicht von Wien – der Impuls zur Gründung der Arbeiterbewegung aus. Zeitweise hatte die österreichische Gewerkschaftsbewegung ihre Zentrale daher in Nordböhmen, bevor sie nach Wien
verlegt wurde. Um die Jahrhundertwende lösten das Ostrau-Karwiner-Kohlenrevier mit den Eisenhütten von Witkowitz (Vítkovice) im mährisch-schlesischen Grenzgebiet Nordböhmen als führende Industrieregion der Habsburgermonarchie ab. Trotz mehrerer schwerer Krisenperioden bedeutete das späte
19. Jahrhundert aber nicht nur einen politischen Aufstieg der Sozialdemokratie in den drei böhmischen Ländern, sondern führte auch zu einer partiellen Teilhabe der Industriearbeiterschaft und anderer Unterschichten am
materiellen Wohlstand und an den Bildungschancen.
Selbst das Kleinbürgertum, das am ehesten zu den Verlierern des Modernisierungsprozesses zu zählen ist und das gerade in den Städten in eine prekäre Lage kam, blieb sowohl in den urbanen Agglomerationen als auch in
den Landstädten der böhmischen Länder von Depravation und sozialem
Abstieg weitgehend verschont. Die Möglichkeiten kleingewerblicher Tätigkeiten im Urbanisierungsprozess und die sich neu eröffnenden Perspektiven
in der expandierenden Verwaltung nahmen den Wandlungsprozessen die
Schärfe. Die Einbeziehung in die Bildungsrevolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts sicherten dieser Schicht Chancen im tertiären Sektor.
Selbst die Tendenzen zur Plebejisierung der Landarbeiterschaft und der
unteren städtischen Schichten blieben, trotz latifundienartigem Großgrundbesitz und Kapitalismus, im böhmisch-mährischen Raum begrenzt. So war
beispielsweise das für Wien typische Phänomen der „Bettgeher“ (des wohnungslosen Arbeiters) in Prag, Pilsen, Brünn und anderen Städten kaum
vorhanden.
173
Ohne die sozialen Krisen und Brüche des 19. Jahrhunderts zu bagatellisieren, lässt sich für die böhmischen Länder somit der Trend erkennen, dass
ein beachtlicher Teil aller Schichten und Klassen, wenn auch nicht jeder
einzelne, an Aufstiegsprozessen und an der wachsenden regionalen Prosperität teilhatte. Damit war, trotz der großen Zahl von böhmischen und mährischen Arbeitsmigranten in Wien, die soziale und materielle Differenz zwischen dem Reichszentrum und den böhmischen Ländern vergleichsweise
gering. Ein beachtlicher Teil der Bevölkerung erlebte somit einen sozialen
Aufstieg, der offensichtlich eher durch die Folgen des nationalen deutschtschechischen Konkurrenzverhältnisses im Lande als durch Vorgaben oder
Beschränkungen des imperialen Machtzentrum begrenzt wurde.
5. Politische Kultur und Identifikationen
Die Gesellschaft der böhmischen Länder zeichnete nach 1900 ein hohes Maß
an Politisierung aus. Die Dichte des Vereinswesens, des Parteiwesens und
eine Beteiligung von mehr als 90 Prozent der Berechtigten bei den allgemeinen Wahlen von 1907 und 1911 sind dafür Indikatoren. Maßgeblich war dafür,
dass Böhmen und Mähren ebenso wie Innerösterreich im Rahmen des politischen Systems der Habsburgermonarchie zu den privilegierten Regionen
gehörten. Dies galt sowohl für die tschechische wie für die deutsche Bevölkerung, die rechtlich und hinsichtlich ihrer politischen Freiheiten nicht nur
einander gleich gestellt waren, sondern – wie alle die Einwohner aller anderen Kronländer – dieselben staatsbürgerlichen Rechte wie die Bewohner des
Zentrums hatten.
Die gewährten Möglichkeiten zur Partizipation und Repräsentation breiter Schichten der böhmischen Länder bedingten auch eine partielle Integration der politischen Führungsgruppen und ihrer Wähler und Anhänger in
die Sphären des Wiener Machtzentrums. Die deutschen Politiker fühlten
sich bereits vor 1848 als Teil des Zentrums und dominierten dieses in der
liberalen Ära der 1860er und 1870er Jahre nahezu vollständig. Seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts bestimmte aber auch die tschechische Politik nicht mehr der politische Kampf gegen Wien, sondern ein Kampf um
die Macht in Wien.
„Wir verurteilen ebenso wie unsere lieben deutschen Landsleute die Politik der Regierung, die dazu geführt hat, dass wir in Österreich hinter den
übrigen Kulturstaaten zurückgeblieben sind.“10 Dieses aus Passagen von Par-
174
lamentsreden eines tschechischen Politikers komponierte Zitat beschreibt die
widersprüchlichen Positionen tschechischer Politik nach 1900. Auffällig sind
die verschiedenen identifikatorischen Kategorien. Richtig entschlüsselt würde der Satz lauten: „Wir, die sprach- und national bewussten Tschechen,
verurteilen ebenso wie unsere lieben deutschen Landsleute, das heißt wie die
Deutschböhmen, die Politik der zisleithanischen Regierung, die dazu geführt hat, dass wir zisleithanische Staatsbürger in Österreich hinter den übrigen Kulturstaaten zurückgeblieben sind.“ Der Wir-Begriff meint dreierlei:
die Nation, hier konkret die tschechische, das Kronland mit seiner gesamten
Einwohnerschaft ohne nationale Differenz und schließlich den österreichischen Staat als Gemeinschaft aller Staatsbürger.
Politik- und Identifikationsebenen waren in Böhmen und Mähren im späten
19. Jahrhundert stets mehrdimensional, nicht immer eindeutig bestimmbar
und teilweise sogar austauschbar oder instrumentalisierbar. Ob in diesem
Zusammenhang die Verwendung des Begriffs „hybrid“ einen Erkenntnisgewinn verspricht, erscheint fraglich, da im Rahmen des gesamten Demokratisierungs- und politischen Partizipationsprozesses kaum zwischen von oben
gesetzten und von unten selbst gewählten Formen und Inhalten zu unterscheiden sein dürfte. Zudem macht der Begriff der Hybridität nur dann
einen Sinn, wenn zugleich eine nichthybride politische Kultur nicht nur als
Idealtypus beschreibbar ist, sondern tatsächlich als Gegenwelt existierte.11
Zumindest im Bereich des Politischen war aber die Verzahnung zwischen
den böhmischen Ländern und Wien untrennbar eng.
Eine Untersuchung der Bündniskonstellationen nach 1900 zeigt, dass der
politische Gegner auf einer Ebene oder einem Politikfeld häufig ein notwendiger, unverzichtbarer Partner auf einer anderen Ebene oder in einer anderen Konstellation war, wo andere Opponenten im Spiel waren. Dies gilt für
alle Beteiligten: für die kaiserliche Regierung ebenso wie für die tschechische Nationalbewegung oder die politischen Fraktionen des Adels, für einzelne tschechische Parteien und Lager ebenso wie für die Sozialdemokratie,
die Deutschliberalen, die deutschen Christlichsozialen oder andere deutsche
Parteien. Vier Beispiele für verschiedene Bündniskonstellationen seien kurz
vorgestellt.
1906 kam ein inoffizielles Interessenbündnis aus nationalen Tschechen,
Sozialdemokraten aller Nationalitäten und Kaiser Franz Joseph zustande,
das gegen den Widerstand der Deutschliberalen und anderer deutscher Parteien sowie von Polen und der Konservativen des Herrenhauses die Demokratisierung des Wiener Zentralparlaments durchsetzte. Damit wurde reichsweit
175
das allgemeine und gleiche Wahlrecht für Männer verwirklicht. Die kurz vor
Ausbruch des Ersten Weltkrieges durchgeführten Militärreformen und die
aufgelegten aufwendigen Rüstungsprogramme, die vom Kaiser und dem Adel
gegen den Widerstand von Sozialdemokratie und nationalistisch radikalen
Tschechen forciert wurden, fanden sowohl bei tschechischen bürgerlichen,
katholischen und agrarischen Parteien als auch bei den deutschen Parteien
Unterstützung. Hingegen verhinderte die Allianz von Kaiser, deutschen Parteien und deutscher Sozialdemokratie, dass die Bemühungen um eine Einführung des Tschechischen als innerer Amtssprache für höhere Verwaltungsebenen Erfolg hatten. Auf der Ebene des Landes Mähren war hingegen 1905
eine Reform der politisch verfassten Strukturen, der „Mährische Ausgleich“
nur möglich, weil nach einem Jahrzehnt der Verhandlungen eine Übereinkunft zwischen den Adelsfraktionen sowie deutschen und tschechischen bürgerlich-nationalen Parteien zustande kam, bei der die deutschen und tschechischen Parteien aus Böhmen und Wien, der Wiener Hof und die Sozialdemokratie ausgeschlossen wurden.
Die Beispiele zeigen, dass Bündnispartner nicht nur potenziell austauschbar waren, sondern dass generell eine formale Gleichrangigkeit der Akteure
gegeben war. Dies gilt insbesondere für das Verhältnis von Parteien aus den
böhmischen Ländern zu den politischen Gruppierungen, die im Machtzentrum Wien etabliert waren. Auch hier zeigt sich, in welch beachtlichem Maße
deutsche wie tschechische politische Gruppierungen nach 1900 in das österreichische Herrschaftszentrum einbezogen waren. Alle Beteiligten (der Hof,
die Zentralverwaltung ebenso wie die Nationalbewegungen oder einzelne Parteien) strebten danach, den eigenbestimmten Bereich, also Sphären autonomer Entscheidungsrechte auszudehnen. Machtpolitik wurde dabei nach gemeinsamen Spielregeln in Handlungsräumen betrieben, die nicht allein vom
Zentrum definiert worden waren. Aufgrund der parlamentarischen Aktionsebene war das Verhältnis zwischen dem Zentrum und den Kernlandschaften,
trotz erheblicher Kräfteunterschiede, nicht auf eine Polarität von Macht und
Ohnmacht reduziert.
Wendet man das Konzept der Binnenkolonisierung auf den Bereich der
politischen Kultur der späten Habsburgermonarchie an, kommt man zu paradoxen Ergebnissen. Die reichsweite, unterschiedslose und damit homogenisierende Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen
Männerwahlrechts in allen österreichischen Kronländern (also ohne die ungarische Reichshälfte und ohne das annektierte österreichisch-ungarische
Reichsland Bosnien-Herzegowina) könnte formal als kolonialistische Über-
176
formung autochthoner Politikformen und regionaler Wahlrechtstraditionen
verstanden werden. Demokratisierung gilt jedoch üblicherweise als ein Element der postkolonialen Entwicklung. Die Rollen waren aber auch in anderer Hinsicht vertauscht. So ging der Impuls zur Demokratisierung nicht vom
Zentrum Wien, sondern von Böhmen und Mähren aus. Entschieden wurde
diese politische Auseinandersetzung zwar in Wien, doch könnte man den
Prozess auch als eine machtpolitische Durchdringung der politischen Kultur des Zentrums durch die Provinz interpretieren. Während das Herrschaftszentrum eher konservierend und beharrend agierte, wurden in nichtperipheren Reichsteilen neue politische Formen und Konzepte entwickelt und
schrittweise auch im Zentrum etabliert.
Böhmen, Mähren und Schlesien waren somit im Bereich der politischen
Kultur nicht nur nicht von einer Binnenkolonisierung betroffen, vielmehr
setzten sich die in dieser Region stark gewordenen politischen Ideen und
Politikformen dann reichsweit durch. Falls andere Reichsteile wie BosnienHerzegowina von einer inneren Kolonialisierung betroffen waren, so ist sogar
davon auszugehen, dass daran deutsche und tschechische politische Führungsgruppen aus den böhmischen Ländern maßgeblichen Anteil hatten. Der
Machtanspruch der Provinz konnte somit sowohl ins Zentrum als auch in
periphere Regionen reichen.
6. Nationalismus, Homogenisierung und Hegemonie
Der Nationalismus, gleich welcher Spielart und für welche Nationalität, enthält ein kolonisatorisches Element, da er alle vor- und nichtnationalen Kulturen, die „indifferenten“ oder „entfremdeten“ nationalkulturell „erwecken“,
bekehren und überformen will. Die Homogenisierungsbestrebungen führen
zu besonderen Solidarisierungsanforderungen und können bis hin zum rechtlich verankerten Bekenntniszwang im „nationalen Kataster“ reichen, wie er
im Falle Mährens 1906 fixiert wurde. Der häufig beschriebene janusköpfige
Charakter des Nationalismus zeigt sich auch im Zusammenhang postkolonialer Überlegungen. Einerseits volksnah, integrativ, demokratisch und antiimperial ausgerichtet, sind nationale Ideologien und Konzepte andererseits
zugleich auf Homogenisierung angelegt, wenden sich gegen nationalkulturelle Hybridität, gegen Vielfalt und Indifferenz, sind tendenziell zentralistisch und können in Totalitarität gegenüber ko-nationalen und andersnationalen Mitbürgern ausarten. Ob postkoloniale Sichtweisen etwas dazu beitra-
177
gen können, das vielschichtige Phänomen des Nationalismus neu zu dechiffrieren, erscheint fraglich. Vielmehr besteht die Gefahr, dass die Fehler und
Irrwege der wissenschaftlichen Nationalismusdiskurse unter neuer Begrifflichkeit noch einmal gemacht werden.
Zudem weisen nichtdominante nationale Ideologien, wie sie in der Habsburgermonarchie üblich waren, stets hegemoniale und expansive Elemente
auf. Die Nationalismen der Habsburgermonarchie entstanden nicht im Zentrum und nur selten in peripheren Gebieten, sondern gingen in der Regel
von Semizentren aus, bevor sie nationale Peripherien durchdringen konnten
und auch die „eigene“ Bevölkerung im Zentrum erfassten. So entwickelte
sich die tschechische Nationalbewegung in Prag, Innerböhmen und Mittelmähren, bevor sie schrittweise in die gemischtsprachigen Regionen, dann
nach Südböhmen, Nordmähren sowie Schlesien und schließlich auch nach
Wien vordringen konnte. Mit der Nationalisierung eines Teils der Wiener
Tschechen begann die tschechische Nationalbewegung auch direkt auf die
gesellschaftliche und politische Entwicklung Wiens Einfluss zu nehmen.
Als Modernisierungs- und Emanzipationsideologie waren die nationalen
Ideologien der Habsburgermonarchie sowohl gegen das Reichszentrum als
auch gegen ältere regionale Formen der Selbstverwaltung und das traditionelle Territorialsystem der Kronländer gerichtet. Hinzu kommt, dass auch
der Nationalismus als eine Kultur- und Politikform verstanden werden kann,
die von semiperipheren Gebieten ausgehend das Machtzentrum ideologisch
eroberte oder kolonisierte. Wien als Herrschaftszentrum, nicht als städtische
Gemeinschaft, versuchte lange dem Primat des Nationalen zu widerstehen
und andere gesellschaftliche Prinzipien wie ständisch hierarchische, territoriale oder religiöse Ordnungssysteme zu bewahren. Der normierende Anspruch des nationalen Konzepts stand damit im Gegensatz zur imperialen
Herrschaft, die aus System, Indifferenz oder Schwäche faktisch eine große
politische und gesellschaftliche Pluralität zugelassen und gefördert hatte.
Der in den nichtperipheren Regionen erstarkte Nationalismus zeigte damit
einen weitreichenden Machtanspruch und vermochte die Machtstrukturen
und die Politikformen im Zentrum verändern. So kam es dazu, dass das
Austarieren der ethnisch-nationalen Kräfte den bislang vorherrschenden regionalen Proporz der Kronländer ablöste. An die Stelle der regionalen Rechtssubjekte traten allmählich die Nationalitäten als neue Rechtssubjekte.
Nach 1878 wusste das Machtzentrum Wien jedoch keine anderen Strategien mehr anzuwenden als ein „divide et impera“. Das Vorgehen Wiens gegenüber dem tschechischen und dem deutschen Nationalismus unterschied sich
178
dabei nur graduell. Regelmäßig beschwerten sich die Vertreter beider nationaler Lager, dass die Anderen bevorzugt würden und dass die eigene Nationalität Ungerechtigkeiten ausgesetzt sei. Aus herrschaftspolitischem Überlebenskalkül wurden vom Machtzentrum häufig schwächere Nationalismen
gegenüber stärkeren nationalen Kräften gefördert, um so letztere in ihre
Schranken zu weisen. So profitierten die Ruthenen gegenüber den Polen,
die Tschechen zeitweise gegenüber den Deutschliberalen, die Polen in Schlesien gegenüber Tschechen und Deutschen. Andererseits musste sich Wien
immer wieder mit den großen nationalen Gruppierungen, mit den Deutschen, mit den Tschechen und mit den Polen arrangieren, da allein diese
mehrheitsbildend und staatstragend sein konnten. Meist wird übersehen, in
welch großem Maße sie alle dies auch waren, die polnischen Parteien aus
Galizien ebenso wie die Mehrzahl der tschechischen Parteien.
Erstaunen mag in diesem Zusammenhang, dass die habsburgische Politik
nach 1890 zumindest in Böhmen und Mähren keinerlei antinationalistische
Integrationsideologien mehr förderte. Die übergeordnete patriotische Idee
eines österreichischen Nationalstaats französischer Prägung hatte schon lange vor 1867 aufgehört, ein politischer Integrationsfaktor zu sein. So waren
seit den 1890er Jahren insbesondere vornationale, anationale oder binationale Gesellschaftsmilieus dem Homogenisierungsanspruch der nationalen Großideologien des Deutschtums und Tschechentums schutzlos preisgegeben. Dies
gilt auch für regionalistische Konzeptionen und für ethnographische Sonderfälle wie die polnisch-tschechisch-deutschen Schlonsaken im Teschener
Gebiet. Dem deutschen und tschechischen nationalen Absolutheits- und Reinheitsanspruch waren wechselseitig auch die jeweiligen nationalen Minderheiten ausgesetzt.
Der expansive Charakter des Nationalismus zeigt sich im Fall der tschechischen Nationalbewegung auch noch in einer anderen Form. Obwohl der
tschechische Nationalismus sich an der deutschen Dominanz beständig abarbeitete, gab es nach 1900 Ansätze für einen tschechischen Kolonialismus. Dieser konzentrierte sich regional nicht nur auf die deutsch besiedelten Teile
der böhmischen Länder, die polnischen Teile Österreichisch-Schlesiens und
das slowakische Oberungarn, sondern orientierte sich vor allem auf den südslawischen Raum innerhalb und außerhalb der Habsburgermonarchie sowie
auf andere slawische Regionen in Ost- und Südosteuropa. Tschechische Politiker und Ökonomen sahen in weniger entwickelten slawischen Völkern –
insbesondere in Slowenen, Kroaten, Serben – Schutzbefohlene und in deren
Siedlungsgebieten vielversprechende Expansionsräume. Unter dem Schlag-
179
wort von der slawischen Wechselseitigkeit, verbunden mit einer Mischung
aus missionarischer Verpflichtung und dem Selbstbewusstsein vielfältiger
Überlegenheit, wurde eine kulturelle und ökonomische Durchdringung dieser Gebiete durch tschechische Institutionen und Ideen propagiert. Die Zivnostenská banka (Gewerbebank) sah insbesondere Bosnien-Herzegowina als
das Erschließungsgebiet an, auf dem sie sich aufgrund postulierter slawischer Gemeinsamkeiten den Wiener Banken überlegen fühlte. Die Gründung einer allslawischen Bank und einer allslawischen Presseagentur waren
daher zentrale Punkte der neoslawischen Bewegung, die von tschechischer
Seite für kolonialistisch expansive Politik auf dem Balkan genutzt wurden.
Daher unterstützten auch die meisten tschechischen Parteien die Expansion
Österreich-Ungarns nach Südosten und vor allem die Annexion von Bosnien und Herzegowina im Jahr 1908.
^
7. Kulturelle Differenz
Die kulturelle Differenz zwischen den böhmischen Ländern und Wien war
insgesamt gering. Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts – ebenso wie Innerösterreich – erfolgreich rekatholisiert, lag der katholische Bevölkerungsanteil in Böhmen und Mähren nach den Toleranzpatenten bei mehr als 95
Prozent. Auch die Struktur der religiösen Minderheiten von Juden und Protestanten Augsburger und Helvetischer Konfession war ähnlich. Aufbauend
auf älteren Bildungstraditionen führten Schulreformen unter Maria Theresia und Joseph II. dazu, dass die Analphabetenquote in Böhmen eine der
niedrigsten Europas war und unter der Innerösterreichs lag. Große Teile
der Bevölkerung der böhmischen Länder sahen sich selbst uneingeschränkt
als Teil der deutschsprachigen Hegemonialkultur Österreichs. Dies galt bis
in die siebziger und achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts auch unvermindert
für viele tschechischsprachige Bewohner.
Adelskultur, Kunstformen, Kunsthandwerk und Kunstgewerbe unterschieden sich nicht von der des Zentrums. Kunstschaffende wie Auftraggeber waren in reichem Maße vorhanden und standen in Wechselbeziehungen mit
den europäischen Metropolen. Weder existierte im Vergleich zum Zentrum
ein „cultural lag“, noch kann – ausgenommen die mit Sprache und Schrift
verbundenen Künste – von einer Hybridität der Kultur in den böhmischen
Ländern ausgegangen werden. Kunst und Kultur in den böhmischen Ländern spiegelten im späten 19. Jahrhundert nicht nur alle grundlegenden
180
mitteleuropäischen Strömungen wider, sondern bildeten auch bemerkenswerte regionale Formen aus. Aus dem Bereich der Kunst sei nur auf die kubistische Architektur verwiesen. Unabhängig von dem Grad der Rezeption
durch die Wiener Kulturszene bildeten alle diese Kunstströmungen formal
wie faktisch einen Teil der österreichischen Hegemonialkultur, die sich, wie
die Weltausstellungen zeigen, oft nur als Summe der regionalen und nationalen Kulturen definierte. Integraler Teil der habsburgischen Kultur war auch
die tschechische Kultur, selbst wenn diese eigene Rezeptionswege ging und
für die böhmischen Länder ebenfalls die kulturelle Hegemonie anstrebte.
Die Abgrenzung von Wien ging dabei meist mit einer Distanzierung von der
deutschen Kultur im Lande einher.
Prag war als Hauptstadt des Königreiches Böhmen kulturell dem Reichszentrum Wien unterlegen. Das „Goldene Prag“, das sich zunehmend slawisch stilisierte und als tschechisches Nationalzentrum wirksam wurde, machte
sich seit der Jahrhundertwende bereits auf den Weg von einer Provinzhauptstadt zur internationalen Metropole. Die Beziehungen, die zwischen den Städten Prag und Paris gepflegt wurden, sind ein Symbol dafür. Die künstlerische Rezeption der französischen Moderne erfolgte im direkten Austausch
und nicht mehr auf dem Umweg über Wien. So wurde Rodin in Prag deutlich früher rezipiert als in Wien, wie die Prager Rodin-Ausstellung von 1902
belegt. Und das 1911 vollendete Prager Repräsentationshaus (Obecní dùm)
wählte als einer der wenigen Bauten der Habsburgermonarchie Formen des
französischen und belgischen Jugendstils als Vorlagen.
Auffälligerweise wurden gerade in Mähren, und nicht in den Hauptstädten Wien und Prag, neue Kunststile und Ideen ausprobiert, wie mehrere
Schlösser, Palais, Wohnhäuser und Gartenanlagen zeigen. Wiener oder Prager Stadtpalais waren traditioneller; in der Provinz wurden die Moden der
Zeit architektonisch früher und radikaler angewendet als in den meist eher
beharrenden Zentren. Für die Umsetzung avantgardistischer Entwürfe bedurfte es aber eines kulturellen und materiellen Hintergrunds und zudem in
der Regel doch der Nähe zum Zentrum: – alles Faktoren, die in Mähren
gegeben waren und gerade dort Inseln der Modernisierung entstehen ließen.
Gilt diese regionalistische Sicht vor allem für Kunstformen wie Musik,
Architektur und die Bildende Künste, so waren die mit Sprache und Schrift
verbundenen Künste – also Literatur, Theater, Oper und auch Teile des
Kunstgewerbes – stärker von der Nationalisierung und nationalen Separierung betroffen. Daher ist in diesen Bereichen die größte kulturelle Differenz
181
und das größte Abgrenzungsbedürfnis zwischen der tschechischen Nationalkunst und der deutschösterreichischen Hegemonialkunst, einschließlich deren
deutschböhmischer und deutschmährischer Seitenlinien, festzustellen. Während die tschechische und die Prager deutsche Literatur des späten 19. Jahrhunderts aber eher urban geprägt und der Moderne offen gegenüberstand,
war es gerade die deutschsprachige Literatur der böhmischen Randgebiete,
die sich gegen die Großstadtkultur Wiens und Prags wendete.
Hinzu kam, dass schon die tschechischen Aufklärer und Gründer des
nationalen Kulturkanons im Vormärz die prinzipielle und seit dem Mittelalter gegebene Gleichrangigkeit der tschechischen Kultur mit den großen europäischen Kulturnationen proklamiert hatten. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang auch, dass es im Herrscherhaus wie beim Adel mit Besitz in den
tschechischsprachigen Gegenden üblich war, böhmisch, das meint im Verständnis des 19. Jahrhunderts: tschechisch zu lernen. Diese Konstellationen
waren – zusammen mit dem aus dem sozialen Aufstieg resultierenden Selbstbewusstsein und den materiellen Möglichkeiten – der Grund dafür, dass die
tschechische Kultur im Habsburgerreich der Gefahr einer Selbstkolonisierung entging. Dem widerspricht auch nicht das besondere Interesse, dass die
tschechische Nationalgesellschaft an volkskundlichen und volkstümlichen
Elementen hatte. Darin lag keine Stilisierung als abhängiges, unterdrücktes
oder rückständiges Volk, sondern es war dies ebenso wie in Deutschland und
anderen Nationalkulturen eine Suche nach den Ursprüngen und unverfälschten Formen des national Spezifischen.
Auch wenn für den Betrachter von außen die Tracht des Sokol, des nationalen Turnverbandes, oder die „Tschechoslawische volkskundliche Ausstellung“ (Národopisná výstava èeskoslovanská) von 1895 in Prag viel Fremdartiges hatte, fehlte ihnen stets das Exotische. All diese ethnographischen Selbstdarstellungen zielten vielmehr auf Nationsbildung und auf Nationalisierung
der gesamten Bevölkerung und sollten ebenfalls die Ebenbürtigkeit der Tschechen mit den anderen europäischen Nationen nachweisen.
8. Fremdheiten und ethnische Differenz
Fremdheit war im 19. Jahrhundert in den böhmischen Ländern bis weit über
das Jahr 1848 hinaus in erster Linie sozial und nicht national, ethnisch oder
sprachlich bestimmt. Die Konstruktion des Nationalen schuf erst im 19. Jahrhundert einen Kanon an national differenziertem historischem Wissen und
182
Brauchtum. Eine kleinregionale Vielfalt an Kulturformen wurde von den
beiden Sprachnationen überformt und entweder als das Eigene vereinnahmt
oder als das Fremde ausgegrenzt. Die nationalen Ideologien und Konstrukte
wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts geschichtsmächtig und machten aus
tschechisch- und deutschsprachigen Böhmen entweder böhmische und mährische Tschechen oder Deutschböhmen, Deutschmährer und Deutschschlesier. In der Sicht vieler Zeitgenossen reduzierte sich der kulturelle Antagonismus sozialdarwinistisch auf Slawen und Germanen.
Da das Konzept der Ethnie in Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien, mit Ausnahme der Roma, kaum anwendbar ist, und die Bevölkerung
nur aufgrund von Bildungswegen, sozialem Umfeld und individuellem Bekenntnis national zu identifizieren war, wirkten sich noch im Vormärz ethnische Herkunft und Abstammung als Trennlinien kaum aus. Ethnische Differenzen waren nur über Sprache und Schrift, kaum über Brauchtumstraditionen oder andere lebensweltliche Bezüge erfahrbar. In der Formierungsphase der „deutschen“ und „tschechischen“ Nation, das heißt bis in die fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts, war die individuelle und familiäre Mobilität
zwischen den nationalen Gruppierungen hoch, hörte aber auch danach nicht
völlig auf. Im Prozess der Differenzierung der Nationalkulturen, der sowohl
Geschichte, Mythen, Sprache und Brauchtum prägte, wuchs die Fremdheit
zwischen Deutschen und Tschechen auch im lokalen Raum.
Fremdheit sollte in Böhmen und Mähren zu einem zentralen Thema des
19. Jahrhunderts werden. Trotz oder möglicherweise gerade wegen der Verdichtung der Kommunikationsbeziehungen und des Zerfalls der ständischen
Systeme und Strukturen erhielt die Sprache separierende Qualität, auch für
diejenigen, die bilingual waren. Die entscheidende Frage angesichts der
Sprachkenntnisse war weniger, wer deutsch konnte. Vielmehr grenzte eine
Trennlinie diejenigen, die Tschechisch konnten und die sich dazu bekannten, dass Tschechisch ihre vorrangige Sprache ist, von denen ab, die kein
Tschechisch konnten oder die – trotz Zweisprachigkeit – die Kenntnis des
Tschechischen nicht zu einem nationalen Bekenntnis machten. Diese Asymmetrie der Sprachkenntnisse bestimmte die ethnische Differenz und die beiden nationalkulturellen Subsysteme in den böhmischen Ländern.
Im Bezug zum Zentrum sah es dagegen anders aus. Dessen Sicht auf die
böhmischen Länder war differenziert. Der „Stockböhme“12 war stets der tumbe, dörflich-kleinstädtische Migrant, der zwar auch sprachlich, vor allem
jedoch kulturell mit den urbanen Lebensformen der Metropole Wien nicht
zurecht kam. Der in der Karikatur oftmals bäuerlich, behäbig, fast affenähn-
183
liche Wenzel, als Klischee eines böhmischen Einwohners, bezog sich auf den
fremden, den nicht das Deutsche beherrschenden Tschechen. Bemerkenswert ist, dass auch im Münchner Simplicissimus ein koloniales Motiv, nämlich die auf Bäumen sitzenden Affenartigen, zur Kennzeichnung der tschechischsprachigen Bewohner Böhmens und Mährens benutzt wurde. Ein Adeliger aus Böhmen oder Mähren, ein von dort kommender Universitätslehrer,
höherer Beamter oder Kaufmann war damit aber nicht gemeint. Auch Deutschsprechende Böhmen, Mährer oder Schlesier wurden mit diesen Klischees
nicht identifiziert und auch dann nicht in Wien als Fremde angesehen, wenn
es sich um bilinguale Tschechen handelte. Ob jemand auch die andere Landessprache Böhmens oder Mährens sprach, war aus Sicht des Zentrums Wien
wenig wichtig, solange sprachliche und kulturelle, schulische Akkulturation
eine gemeinsame Kommunikationsebene ermöglichten.
Die wechselseitige Wahrnehmung zwischen Wien und den böhmischen
Ländern, insbesondere dem nahegelegenen Mähren, sollte erst durch die
Grenzziehungen und Grenzschließungen in Folge des Ersten Weltkriegs und
der Pariser Friedensverträge zu einer Entfremdung führen. Die imaginierten Räume und Distanzen veränderten sich nach 1918 entscheidend, bei dem
Anderen wurde nun das Fremde deutlicher wahrgenommen als Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten.
Ausblick: der Dekolonialisierungsmythos
Auch wenn nach dem bisher Dargelegten für Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien – trotz der gerne ins Felde geführten gesamtstaatlichen
Homogenisierungstendenzen von den Schulbauten bis hin zu Amtssprache
und Rechtsprechung – nicht von einem habsburgischen oder Wiener Binnenkolonialismus gesprochen werden kann, so entstand nach 1918 fast schlagartig so etwas wie ein tschechischer Dekolonialisierungsmythos.
Nach 1918 wurde in den böhmischen Ländern sehr rasch und massiv eine
tschechische Nostrifizierungspolitik betrieben. Das in der damaligen Publizistik auftauchende Schlagwort von der notwendigen „Entösterreicherung“
(odrakouštìní)13 griff auch der Staatspräsident Tomáš Garrigue Masaryk auf,
um den neuen Staat zu legitimieren und zu stabilisieren. Für eine Entösterreicherung war es aber zuerst einmal notwendig, die vorhandenen Antipathien, Ohnmachts- und Minderwertigkeitsgefühle und die erfahrenen Benachteiligungen und Unrechtssituationen miteinander zu verschmelzen und zu
184
einem Mythos von Unterdrückung und Unfreiheit während der Habsburgerzeit umzudeuten.
Das, was in den Vorkriegsjahren von einem Großteil der tschechischen
Bevölkerung und von seinen Führungsgruppen noch aktiv und durchaus
auch erfolgreich mitgestaltet worden war, musste dabei entweder zu etwas
Neuem und Eigenem (Demokratisierung, Zivilisierung, Rechtstaatlichkeit)
werden oder musste als Fremdes und Unvollkommenes (Wienbezug, Kaiserverehrung, kulturelle, soziale und politische Integration) negativ besetzt werden. Dabei musste Eigenes, mussten die eigenen Lebenserfahrungen und die
Erfolge der Zeit vor 1914, zu etwas Fremden gemacht werden. Da es keine
politische bedeutendere Dekolonialisierungsbewegung, keine Aufstände vor
1914 gegeben hatte, musste sich der Befreiungsmythos auf die Zeit des Weltkrieges beschränken. Der Bogen der Unterdrückungszeit durch die „Fremdherrschaft der Habsburger“ wurde dabei von der kämpferischen Niederlage
am Weißen Berg bis zu den tschechischen Legionären auf Seiten der Alliierten im Ersten Weltkrieg geschlagen. Dass die habsburgische Herrschaft schon
im frühen 16. Jahrhundert begonnen hatte, spielte dabei ebenso wenig eine
Rolle wie der für das 19. Jahrhundert wichtige staatstragende tschechische
Austroslawismus Palackýs und anderer. Erst auf diesem retrospektiven Mythos einer Entkolonisierung aufbauend konnte beispielsweise die Figur des
Schwejk im Rahmen der tschechischen Kultur zu einer nationalen Identifikationsfigur werden.
Doch dieser Nachkriegsdiskurs einer konstruierten Minderwertigkeit widersprach den Erfolgen und einem Grundzug der tschechischen Nationalkultur im 19. Jahrhundert, die in der Habsburgermonarchie nicht nur ein
eigenes Bildungswesen samt Universität, eine eigene Akademie und sogar ein
eigenes Olympisches Komitee aufgebaut, sondern sich auch als Teil des Fortschritts verstanden hatte. In der Habsburgermonarchie hatte die Metapher
von den handwerklich geschickten „Goldenen Händen“ des arbeitsamen „Kleinen Mannes“ das tschechische Selbstbild bestimmt.
Dem tschechischen Dekolonialisierungsmythos nach dem Ersten Weltkrieg
folgte bis heute keine Suche nach einer „Dritten Natur“, keine These von der
tschechischen Kultur als Hybridwesen aus eigenem, vorkolonialem, vorweißenbergischem und kolonialem, unterdrücktem und habsburgischem Erbe.
In diesem Sinne zeigt sich auch die Entösterreicherung als eine Veranstaltung einiger Intellektueller, die mit dem politischen und gesellschaftlichen
Geschehen nur wenig zu tun hatte, jedoch für das Selbstbild und den Geschichtsmythos eine beachtliche Wirksamkeit entfaltet hat.14
185
Anmerkungen
1 Vgl. Alice TEICHOVÁ, Wirtschaftsgeschichte der Tschechoslowakei 1918–1980,
Wien–Köln–Graz 1988, S. 36.
2 Dazu u. a. Eduard KUBÙ, Jaroslav PÁTEK (Hg.), Mýtus a realita hospodáøské
vyspìlosti Èeskoslovenska mezi svìtovými válkami [Mythos und Realität des
wirtschaftlichen Entwicklungsniveaus der Tschechoslowakei zwischen den Weltkriegen], Praha 2000, S. 289 und die Tabellen auf S. 221, 280, 340.
3 Vgl. Jörg K. HOENSCH, Geschichte der Tschechoslowakei, Stuttgart u. a. 31992.
4 Vgl. dazu u. a.: Dìjiny èeského výtvarného umìní. IV: 1890–1938 [Geschichte
der tschechischen bildenden Künste. IV: 1890–1938], 2 Bde., Praha 1998. Vgl.
Timothy O. BENSON, Dorothée BRILL (Hg.), Avantgarden in Mitteleuropa
1910–1930. Transformation und Austausch, Ausstellungskatalog Haus der Kunst
München, Leipzig 2002.
5 Vgl. zusammenfassend Heidemarie UHL, Zwischen „Habsburgischem Mythos“
und (Post-)Kolonialismus. Zentraleuropa als Paradigma für Identitätskonstruktionen in der (Post-)Moderne, in: newslettter Moderne 5, 1 (2002), S. 2–5.
6 Angesichts der thesenartigen Darstellung wird dabei auf Verweise zur Forschungsliteratur verzichtet. Weiterführend sind neben den üblichen Handbüchern u. a.: Vlastislav LACINA, Hospodáøství èeských zemí 1880–1914 [Die
Wirtschaft der böhmischen Länder 1880–1914], Praha 1990. Otto URBAN, Die
tschechische Gesellschaft 1848 bis 1918, 2 Bde., Wien–Köln–Weimar 1994
(tschech. Original: 1982). Jiøí KOØALKA, Tschechen im Habsburgerreich und
in Europa 1815–1914. Sozialgeschichtliche Zusammenhänge der neuzeitlichen
Nationsbildung und der Nationalitätenfrage in den böhmischen Ländern,
Wien–München 1991. Robert LUFT, Tschechische Parteien, Vereine und Verbände vor 1914. Besonderheiten und Defizite der politischen Kultur einer
modernen Nation in einem Vielvölkerstaat, in: Joseph MARKO, Alfred ABLEITINGER, Alexander BRÖSTL, Pavel HOLLÄNDER (Hg.), Revolution und
Recht. Systemtransformation und Verfassungsentwicklung in der Tschechischen und Slowakischen Republik, Frankfurt a. M. u. a. 2000, S. 311–350. DERS.,
Parlamentarische Führungsgruppen und politische Strukturen in der tschechischen Gesellschaft 1907–1914. Zu Interessen und Organisation von tschechischen Parteien, Abgeordneten und Fraktionen im österreichischen Reichsrat, 2
Bde., Dissertation Universität Mainz, München 2001. Vgl. Gerald STOURZH,
Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung
Österreichs 1848–1918, Wien 1985. Vgl. Ctibor NEÈAS, Èeská spoleènost a
anexe Bosny a Hercegoviny [Die tschechische Gesellschaft und die Annexion
Bosniens und der Herzegowina], in: Èasopis Matice Moravské 78 (1959), S. 114–
138. Vgl. DERS., Podníkání èeských bank v cizinì 1898–1918 [Unternehmen
tschechischer Banken in der Fremde 1898–1918], Brno 1993. Dìjiny èeského
výtvarného umìní. III/1–2: 1780–1890 [Geschichte der tschechischen bildenden Künste. III/1–2: 1780–1890], Praha 2001.
7 Vgl. dazu die Beiträge von Johannes FEICHTINGER und Ursula PRUTSCH
in diesem Sammelband und mit zahlreichen Verweisen auch Ursula REBER,
186
8
9
10
11
12
Kolonialismus im „Osten“? Imperialismus, Orientalismus und das ,Reale‘ bei
Edward W. Said, in: http://www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/UReber1.pdf
(Text vom 08.05.2002).
Vgl. dazu vor allem Hans-Heinrich NOLTE (Hg.), Internal Peripheries in European History, Göttingen–Zürich 1991. Vgl. DERS. (Hg.), Europäische Innere
Peripherien im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1997. Vgl. DERS. (Hg.), Innere Peripherien in Ost und West, Stuttgart 2001 (Historische Mitteilungen, Beiheft
42). Nolte weist in dem jüngst erschienenen Sammelband das Konzept der
„inneren Kolonie“ zurück, zählt aber ohne Begründung Böhmen zu den inneren Peripherien der Habsburgermonarchie. Hans-Heinrich NOLTE, Innere
Peripherien. Das Konzept in der Forschung, in: ebenda, S. 7–31, hier S. 12. Vgl.
dazu auch Andrea KOMLOSY, Regionale Ungleichheiten in der Habsburgermonarchie: Kohäsionskraft oder Explosionsgefahr für die staatliche Einheit,
in: ebenda, S. 97–111.
Zum Begriff der Zentrallandschaft zweiten Grades und seiner Anwendung auf
Mähren, vgl. Robert LUFT, Politische Kultur und Regionalismus in einer Zentrallandschaft zweiten Grades: das Beispiel Mähren im späten 19. Jahrhundert,
in: Werner BRAMKE (Hg.), Politische Kultur in Ostmittel- und Südosteuropa,
Leipzig 1999, S. 125–160. Vgl. dazu auch: Ernst HANISCH, Zentrum – Peripherie. Modellüberlegungen am Beispiel des Kronlandes Salzburg, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landesgeschichte 131 (1991), S. 187–199.
Zusammengestellt aus Originalzitaten der Reden von František Drtina, Reichsratsabgeordneter der tschechischen (realistischen) Fortschrittspartei (Èeská strana pokroková), in: Stenographische Protokolle des Hauses der Abgeordneten, Wien, 18.
Session, 54. Sitzung am 20. Dezember 1907, S. 3758–3770, hier S. 3763 und 3770.
Für die Diskussion über die Kategorie „Hybridität“ vgl. auch die Literaturhinweise bei Endre HÁRS, Hybridität als Denk- und Auslegungsfigur. Homi K.
Bhabhas theoretisches Engagement, in: http://www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/
Ehars1.pdf (Text vom 21.01.2002).
Andreas GOTTSMANN, „Stockböhmen“ oder „Russenknechte“? Das Bild der
Tschechen in der deutschsprachigen Presse Österreichs im Revolutionsjahr
1848/49, in: Österreichische Osthefte 34 (1992), S. 284–311. Vgl. Peter BECHER, Jozo DZAMBO (Hg.), Gleiche Bilder, gleiche Worte. Deutsche, Österreicher und Tschechen in der Karikatur 1848–1948, München 1997.
Emil BRIX, Die „Entösterreicherung“ Böhmens. Prozesse der Entfremdung
von Tschechen, Deutschböhmen und Österreichern, in: Österreichische Osthefte
34, 1 (1992), S. 5–12. Vgl. KOØALKA, Tschechen im Habsburgerreich, S. 36.
Zur tschechischen Dekonstruktion nationaler Mythen vgl. u. a. Vladimír
MACURA, Znamení zrodu [Das Geburtszeichen], Praha 21995. Vgl. Jiøí RAK,
Bývali Èechové ... Èeské historické mýty a stereotypy [Gewesene Tschechen ...
Tschechische historische Mythen und Stereotypen], Praha 1994. Vgl. Vít VLNAS,
Zdenìk HOJDA, Tschechien: „Gönnt einem jeden die Wahrheit“, in: Monika
FLACKE (Hg.), Mythen der Nationalen. Ein europäisches Panorama, Berlin
1998, S. 502–527.
^
13
14
187
Das kollektive Gedächtnis der Slowaken
und die Reflexion der vergangenen
Herrschaftsstrukturen
Elena Mannová
Das Konzept, Modell oder manchmal die Metapher der inneren Kolonisierung taucht in der Geschichtsschreibung und in der Politik öfter, sogar in
Wellen auf, wie der im folgenden geschilderte slowakische Fall zeigt. Es geht
dabei nicht um die Theorie oder Praxis des Einsatzes von Kontrolle über ein
fremdes Territorium,1 um das System politischer Beherrschung und ökonomischer Ausbeutung wenig entwickelter Länder wie beim „klassischen“ Kolonialismus.2 Historische Analysen der modernen Armenfürsorge etwa weisen
auf Beispiele der Kontrolle des äußeren und inneren Verhaltens von Klienten
auf das Phänomen der inneren Kolonisierung hin, das nicht nur mit Stigmatisierung, Pädagogisierung und Disziplinierung verbunden wird, sondern
auch mit einer Standortbestimmung von Sozialarbeit als Grenzgänger zwischen System und Lebenswelt, sowie zwischen herrschender Kultur und Subkultur.3
In anderen Kontexten wurde dieses Konzept von Gramsci in der Diskussion über italienisches Mezzogiorno oder von lateinamerikanischen Soziologen bei Untersuchung der Gesellschaften in indianischen Gebieten benutzt.4
Der amerikanische neomarxistische Soziologe Michael Hechter führte in den
1970er Jahren das Leninsche Konzept der inneren Kolonisierung in die Nationalismusforschung ein.5 Sein Modell wurde als reduktionistisch kritisiert,
weil er kulturelle Widersprüche und ethnische Wahrnehmungen mit rein
ökonomischen und räumlichen Charakteristiken erklärte.6
Dominanzbeziehungen und kulturelle Hierarchien mit ethnischer Kodierung bilden einen festen Bestandteil der Geschichte der Slowakei und der
Slowaken. Kann man die slowakische Geschichte und ihr Bild im kollektiven
Gedächtnis der Slowaken mit dem kulturwissenschaftlichen Begriff „Kolonisierung“ kennzeichnen? Historische Diskurse und mentale Selbst- und Fremdbilder,7 Auto- und Heterostereotypen8 in politischen Argumentationen, in
189
der Geschichtsschreibung, in der Folklore, in Lehrbüchern, Kalendern, in
der Literatur, im Theater und Film zeigen, dass die Slowaken ihre Vergangenheit im Zeitraum des Ungarischen Königreichs zwar mit Unterdrückung
verbanden, aber nie als direkt „kolonial“ bewerteten. Auf der anderen Seite
gab es nach 1918 politische Strömungen, die mit dem Bild der Slowakei als
einer tschechischen Kolonie argumentierten.
Redet man über die Rekonstruktion des historischen Gedächtnisses der
Slowaken, darf man nicht vergessen, dass die historiographischen und politischen Konzeptionen, die in der ganzen Geschichte der Slowakei Bestätigung ihres slowakischen Charakters und Beweise einer staatlichen Selbständigkeit suchten, nicht die einzigen oder eindeutig dominierenden Konzeptionen waren oder sind. Konflikte, Rivalitäten und Divergenzen waren auch
für die slowakische Geschichtsschreibung und Politik bezeichnend.
Die Frage einer gemeinsamen Sprache und eines gemeinsamen historischen Bewusstseins bildeten schon im 18. Jahrhundert einen differenzierenden Faktor bei den sich bildenden nationalen Eliten.9 Die Konstruktion der
Theorie über eine gastfreundliche Aufnahme ungarischer Stämme und über
den Abschluss eines Vertrags über einen gemeinsamen ungarländischen Staat
ermöglichte es, die gleichberechtigte Stellung der Slowaken im ungarischen
Königreich zu begründen. Die Legitimität dieses Staates wurde nicht angezweifelt, im Gegenteil, Ungarn wurde als Erbstaat von Magna Moravia konstruiert. Die Loyalität zum ungarischen Staat – auch bei slowakischen Nationaleliten – blieb in Gestalt des ungarländischen Patriotismus de facto bis zum
Zerfall der Habsburgermonarchie gültig.
Ende des 19. Jahrhunderts, Anfang des 20. Jahrhunderts kristallisierten
sich zwei wesentliche Auffassungen der slowakischen Geschichte heraus: die
territoriale Geschichte der Slowakei (von Franko Vít’azoslav Sasinek) sowie die
andere, nationale Geschichte der Slowaken (von Július Botto).10 Ungarische
auf der einen und slowakische Geschichtsschreibungen auf der anderen Seite
sowie nationale Mythen, Symbole und Rituale im 19. Jahrhundert begannen
die Menschen in zwei sich trennende Gesellschaften aufzuspalten und bauten
Grenzen zwischen ihnen auf. Nationalismen erlaubten keine weitere Entfaltung einer allgemein akzeptierten, gemeinsamen ungarländischen Tradition
und Kultur. Im Gegenteil, es wurden Feindbilder mit ethnischen Konnotationen verbreitet. Die slowakische nationale Presse bot Stereotype von Magyaren als asiatische Nomaden, eroberungssüchtige heidnische Ankömmlinge,
krankhafte Chauvinisten; im besten Fall wurden sie als „unsere Schwager“ im
Unterschied zu den slawischen „Brüdern“ gekennzeichnet. Die negativen
190
Heterostereotype, die sich im 19. Jahrhundert herauskristallisierten, sind bis
heute wirksam. In der Wahlkampagne im September 2002 benutzten zwei
Nationalparteien in der Fernsehwerbung das Bild der magyarischen Bedrohung im Stil des 19. Jahrhunderts, sogar mit dem ungarischen „historischen“
Spottnamen der Slowaken, mit „buta tót“ (dummer Slowake).
Die slowakische nationalistische Historiographie fixierte den Mythos der
tausendjährigen Unterdrückung, die Vorstellung von langen Jahrhunderten in einem fremden Staat unter der Regierung nichtslowakischer Herrscher, ebenso wie die Konzeption der plebeischen Geschichte – der Geschichte ohne Könige, der Geschichte des gemeinen Volkes. Aber auf der
anderen Seite bewiesen dieselben Historiker, die das Nationalgedächtnis
als Tradition des Leidens11 mitkonstruierten, gleichzeitig eine eigentümliche, besondere Stellung der Slowakei (Oberungarns) im ungarischen Königreich; sie bewiesen also, dass die Peripherie entwickelter sein konnte als
das Zentrum. Sie schilderten die wichtige Rolle der „Slowaken“ und der
„Slowakei“ bei der Bildung des ungarischen Staates, die „christliche Slowakei“ als Kern der kirchlichen Organisation Ungarns und die besondere
Stellung des Neutraer Teilfürstentums der Árpádischen Dynastie des 10.
und 11. Jahrhunderts als einen Überrest der großmährischen Verwaltung.
Das Dominium des wiederständischen Feudalherrn Mathias Chak von Trentschin (slow. Èák, ung. Csák) auf dem Gebiet der heutigen Slowakei wird von
einigen Autoren als ein „fast unabhängiger Staat“ bezeichnet; die Figur
dieses „Herrn von Waag und der Tatra“ existiert bis heute im slowakischen
historischen Gedächtnis. Mediävisten betonen die ökonomische Bedeutung
der slowakischen Region, vor allem die Gewinnung von Silber ebenso wie
die außerordentliche städtische Selbstverwaltung und die Tatsache, dass nach
dem Tatareneinfall dieses Gebiet das meist urbanisierte in Ungarn wurde.
(Die Rolle der deutschen Kolonisten wird dabei nicht verschwiegen.) Spezielle Aufmerksamkeit wird der historischen Aufgabe der Slowakei in der
Türkenzeit geschenkt. Einerseits werden die großen Opfer bei der Verteidigung des christlichen Europa gegen die Türken und die wirtschaftliche
Zerstörung des Landes hervorgehoben, andererseits wurde die Slowakei
für zwei Jahrhunderte der bedeutsamste Teil Ungarns, wandelte sich also
von der Peripherie zum Zentrum, mit Pressburg als Hauptstadt. Im 19.
Jahrhundert war das Land schon wieder nur eine Provinz – jedoch die
meist industrialisierte Region des Königreichs. Im allgemeinen wurde die
Slowakei zwar als eine Provinz Ungarns gesehen, aber als eine sehr wichtige. Durch das Hervorheben des slowakischen „tausendjährigen kulturellen
191
und zivilisatorischen Beitrags“ bekämpfte man das Stereotyp der kulturellen
Rückständigkeit der Slowaken.
Die erwähnten Merkmale der Geschichte der slowakischen (oberungarischen)
Region scheinen auch in den ungarischen sowie in den (karpaten)deutschen
Historiographien auf, nur die Optik ist eine andere: Als die sozialen Träger
einzelner Prozesse traten nicht die Slowaken, sondern Ungarn oder Deutsche auf. Jeder ethnozentristische Blick vor allem auf das nationalistische 19.
Jahrhundert war selektiv. In den Werken vieler slowakischer Autoren wurde
die repressive Seite hervorgekehrt (sogar bis zu seltenen extremen Stimmen
über den geistigen Genozid an den Slowaken von Seiten der ungarischen
Behörden), die zivilisatorische Entwicklung im ungarischen Königreich wurde
aber außer Acht gelassen. Eine überdimensionierte Aufmerksamkeit wurde
dem Trauma der Magyarisierung gewidmet, die die sozialen Strukturen des
slowakischen Volkes deformierte und tief in dessen Lebenswelt eingriff (etwa
durch die Dominanz der ungarischen Sprache in Kirchen, in Behörden, in
der Schule, durch ungarische Ortsnamen, durch die Magyarisierung von
Familiennamen und durch die Diskriminierung nichtmagyarischer Kulturen). Viele slowakische Historiker unterstrichen den Aspekt der „gewaltsamen“ Assimilierung, deren ungarische Kollegen betonten dessen „Natürlichkeit“ im Zusammenhang mit der Industrialisierung und Urbanisierung. Als
politisches Programm ungarischer Regierungen funktionierte die Magyarisierung seit dem österreichisch-ungarischen Ausgleich. Durch allmähliche
Assimilierung sollten die nichtungarischen Ethnien zur Ausbildung eines
Volkes von 20 Millionen Ungarn beitragen, worauf sich die herrschende
magyarische Elite im Kampf um Vorrechte innerhalb der Monarchie stützen
konnte. Wenn wir alle Nationalismen als innere Kolonisierung betrachten –
nicht nur im Verhältnis zu „Anderen“, sondern auch bei der Überzeugung
vom „Eigenen“ – dann können die Magyarisierung und die politische Hegemonie ungarischer Eliten und ihre Legitimierung mit dem Argument der
kulturellen Überlegenheit im akademischen Diskurs als halbkolonial12 bezeichnet werden. Im kollektiven Gedächtnis gibt es nur Erinnerungen an
„Unterdrückung“; die Vorstellung von einer kolonialen Abhängigkeit oder
kolonisierter nicht-weißer Bevölkerung würde schwer mit dem Selbstbild eines fleissigen christlichen Volkes übereinstimmen.
Oft wird die Aussage des prominenten Politikers Andrej Hlinka aus dem
Jahr 1918 zitiert: „Unsere tausendjährige Ehe mit Magyaren ist nicht gelungen. Wir müssen uns trennen.“ Noch beim Zerfall der Monarchie überwog
die Vorstellung von der Ehe, der Familie („unsere Schwager“); die Slowakei
192
wurde als integraler Bestandteil des Königreichs gewertet. Es gibt keine Indizien dafür, dass slowakische ebenso wie nichtslowakische Bewohner der Slowakei
das ungarische Königreich als ein Kolonialreich wahrgenommen haben.
In den 1950er Jahren wurde – unter dem Einfluss der ungarischen marxistischen Historiographie – auch in der Slowakei über die koloniale oder
halbkoloniale Stellung Ungarns in der Habsburgermonarchie diskutiert.
Häufiger waren aber Anschauungen von der Slowakei als einer Kolonie oder
Halbkolonie im Rahmen der Ersten Tschechoslowakischen Republik – und
zwar in der Zwischenkriegszeit in der Politik, nach dem Zweiten Weltkrieg
auch in der Historiographie.13
Schon in den 1920er Jahren benutzten die Slowakische Volkspartei und
die Kommunisten agitatorisch die Metapher von der Slowakei als einer „tschechischen Kolonie“ zur Beschreibung von Unrecht und Nichtgleichberechtigung. Beide stießen dabei auf Probleme.
Hlinkas Slowakische Volkspartei konnte schwer mit dem Kolonialismus
der Prager Regierung argumentieren, weil sie sich an der Macht beteiligte –
in der Kommunalverwaltung, auf Landesebene, in Parlamentsausschüssen und
kurz sogar direkt in der Regierung. Ein anderes Hindernis stellte die Tatsache dar, dass es die Volkspartei konsequent ablehnte, die Slowaken unter die
nationalen Minderheiten einzureihen. Sie hielt sich für eine Repräsentantin
einer der „staatstragenden“ Nationen der Republik; dabei betonte sie vehement den Anteil der Slowaken an der Entstehung des Staates und sah die
Trennung von Ungarn als historischen Gewinn.14
Bei den Kommunisten dominierte bis zur Mitte der 1920er Jahre die Idee
des Tschechoslowakismus. Danach setzte sich die Anschauung von der Slowakei als eines vom tschechischen Kapital und Imperialismus okkupierten Landes durch: Dies äusserte sich im Manifest „Räumt die Slowakei aus!“ (1926),
wie auch in Losungen wie „Heraus mit den tschechischen Okkupanten aus
der Slowakei!“ (1933). Autor dieser radikalen Texte war der in der Slowakei
tätige tschechische Kommunist Klement Gottwald, von 1929 bis zu seinem
Tod 1953 Führer der tschechoslowakischen KP. Als er 1948 Staatspräsident
wurde, wurde die Autorenschaft seiner Texte einem Repräsentanten des slowakischen nationalen Kommunismus zugeschrieben.15
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die These über die koloniale Stellung
der Slowakei in den Bereich des slowakischen Exils verschoben, der mit der
Tiso-Republik (1939–1945) verbunden war und diese glorifizierte. Die „koloniale“ Unterdrückung seitens der Tschechen in der Zwischenkriegszeit sollte den Anspruch auf einen selbständigen Staat legitimieren.
193
Ein Teil der marxistischen Historiographie kehrte nach 1948 zur kommunistischen Wahrnehmung der Slowakei als Kolonie zurück. Man argumentierte ökonomisch; in der politischen Geschichte erwähnte man vorsichtig
„halbkoloniale Methoden“. Seit den 1960er Jahren, als Historiker die Zwischenkriegszeit schon ausführlicher und tiefer erforscht hatten, schrieb man
nur über eine „nichtgleichberechtigte Stellung“. Nach 1989 kam – neben der
ÈSR-Nostalgie – wieder der Begriff „Kolonialismus“ in den tschechoslowakischen politischen Diskurs zurück; einerseits nur als die Wiederkehr eines
tabuisierten Themas, andererseits als historisches Argument eines Teils der
radikalen Nationalisten gegen die Tschechoslowakei. In der Gegenwart erscheint er bloß in einem schmalen Kreis der neol’udakschen16 politischen
historisierenden Publizistik (wie etwa Milan S. Ïuricas Begriff vom „tschechischen Mikroimperialismus“), nicht in der historischen Fachliteratur.
Die Restrukturalisierung („Demolierung“) der Industrie in der Slowakei
in 1920er Jahren und die Massenankunft tschechischer Staatsangestellter,
Beamter und Lehrer17 bilden Grundsteine für die „koloniale Argumentation“. Als Beweise dienen unterschiedliche Zahlen von Emigranten aus Böhmen und aus der Slowakei, Zahlen von Ärzten, Krankenhäusern, Studenten,
Angestellten in Industrie, von Durchschnittslöhnen und ähnlichem, also Fakten, die die Verbindung von ökonomisch und kulturell differenzierten Territorien dokumentieren, nicht aber ein koloniales Verhältnis. Man umgeht die
Tatsache, dass alle Teile der Republik durch gleiche Gesetze verwaltet wurden – oder mindestens zielte man in den Unifizierungsprozessen darauf hin,
dass sie aufgrund des gleichen Wahlrechtes an der Gesetzgebung teilgenommen haben und dass sich die Slowaken an der Exekutivmacht beteiligten.
L’ubomír Lipták behauptet, dass der Topos der Kolonisierung verwickelte
historische Prozesse der Modernisierung in der Slowakei nur wenig erklärt,
sie sogar eher verwischt.18
*
Das „neue koloniale Konzept der Habsburgermonarchie“ arbeitet mit dem
Bild des Staates, der seine Machtvorstellungen und etwa die Modernisierung
und die Nationsbildung vom Zentrum zur Peripherie von oben durchsetzte.
Der Staat nivellierte einerseits im Prozess einer internen Kolonisierung systematisch vorhergehende regionale kulturelle Eigenarten, andererseits erzeugte er Differenzen. Man arbeitet im postkolonialen Diskurs vor allem mit quasikolonialen Konstruktionen des Anderen; dabei wird aber außer Acht gelas-
194
sen, dass solche Konstruktionen, Symbole, Stereotype, Fremd- und Selbstbilder auch zeitlich schon vor dem Kolonialismus existierten und vor allem sozial
aufgeladen waren; man übersieht dabei, dass diese vielmehr als Produkt sozialer Praktiken und Interaktionen zwischen gesellschaftlichen Gruppen zu
untersuchen sind. Aus dieser Sicht ist das Kolonialismus-Paradigma reduktionistisch: Es geht ihm zwar um die differenzierte Erfassung der kulturellen
Heterogenität und dynamischen Hybridität, aber die Bipolarität von hegemonialer Elitenkultur versus kolonisierten Ethnien petrifiziert stereotype Hierarchisierungen, generiert die Vorstellung eines homogenen „Anderen“19 und
reduziert komplizierte Beziehungen zwischen Zentrum und Provinz oder
zwischen Regionen mit unterschiedlichen ökonomischen und kulturellen
Niveaus einseitig auf „koloniale Abhängigkeit“. Symbolische Formen der
Herrschaft bilden nur eine Ebene dieser Beziehungen.
Anmerkungen
1 Vgl. Andrew HEYWOOD, Politics, Houndmills u. a. 1997, S. 116.
2 Clemens Ruthner unterscheidet zwischen Kolonialismus sensu stricto (sozioökonomische Ausbeutung) und Kulturimperialismus (symbolische Ordnungen, d. h. die Modellierung von Imagines und deren politischer Status). Vgl.
Clemens RUTHNER, Kulturelle Imagines und innere Kolonisierung. Ethnisch kodierte Selbst- und Fremdbilder der k.u.k. Monarchie – eine Projektskizze, in: Moritz CSÁKY, Klaus ZEYRINGER (Hg.), Inszenierungen des kollektiven Gedächtnisses. Eigenbilder, Fremdbilder, Innsbruck u. a. 2002, S. 30–
53, hier S. 46.
3 Dirk GNEWEKOW, Thomas HERMSEN, Die Geschichte der Heilsarmee. Das
Abenteuer der Seelenrettung. Eine sozialgeschichtliche Darstellung, Opladen
1993, S. 133.
4 Vgl. Umut ÖZKIRIMLI, Theories of Nationalism. A Critical Introduction,
New York 2000, S. 96 f.
5 Vgl. Michael HECHTER, Internal Colonialism: The Celtic Fringe in British
National Development, 1536–1966, London 1975.
6 Vgl. ÖZKIRIMLI, Theories of Nationalism, S. 96–104.
7 Vgl. Eva KREKOVIÈOVÁ, Identitäten und Mythen einer neuen Staatlichkeit
nach 1993. Abriss der „slowakischen Mythologie“ an der Jahrtausendwende, in:
Hannes STEKL, Elena MANNOVÁ (Hg.), Heroen, Mythen, Identitäten. Die
Slowakei und Österreich im Vergleich, Wien (Wiener Vorlesungen Bd. 14), im
Druck.
8 Vgl. Dušan ŠKVARNA, Genese und Beharrung von Stereotypen in der slowakischen Kultur, in: Hans Henning HAHN, Elena MANNOVÁ (Hg.), Nationale
Wahrnehmung und ihre Stereotypisierung, Frankfurt a. M. (Mitteleuropa –
195
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Osteuropa. Oldenburger Beiträge zur Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas), im Druck; vgl. Eva KREKOVIÈOVÁ, Autostereotypen und politische Eliten. Am Beispiel der Slowakei, in: ebenda.
Vgl. Eva KOWALSKÁ, Slovakia in a Period of Structural Changes 1711–1848,
in: Elena MANNOVÁ (Hg.), A Concise History of Slovakia, Bratislava 2000,
S. 159–184, insbesondere S. 178–184.
Näher Alexander AVENARIUS, The Basic Problems of Slovak History and
Historiography, in: MANNOVÁ (Hg.), A Concise History, S. 307–314, insbesondere
S. 307–310.
Tibor PICHLER, Searching for Lost Memory. On the Politics of Memory in
Central Europe, in: Moritz CSÁKY, Elena MANNOVÁ (Hg.), Collective Identities in Central Europe in Modern Times, Bratislava 1999, S. 53–61, hier S. 55.
Vgl. mit der semi-kolonialen Geschichte Sardiniens: Birgit WAGNER, Postcolonial Studies für den europäischen Raum. Einige Prämissen und ein Fallbeispiel, in: Christina LUTTER, Lutz MUSNER (Hg.), Kulturstudien in Österreich, Wien 2002, in Vorbereitung; im Internet: www.kakanien.ac.at/beitr/
theorie.
Vgl. L’ubomír LIPTÁK, Slovensko ako kolónia. Poznámky [Die Slowakei als
eine Kolonie. Bemerkungen], Manuskript 2002. Für seine Hilfe bei der Analyse des Kolonisierungsdiskurses im 20. Jahrhundert bin ich Dr. Lipták sehr
dankbar.
Vgl. ebenda.
Vgl. ebenda.
Ludaken (slowakisch ludaci) sind Mitglieder von Ludova strana (= Hlinkas
Slowakischer Volkspartei), das heisst slowakische Autonomisten in der Ersten
Tschechoslowakischen Republik und die führende Partei der Slowakischen
Republik von 1939–1945. Nach 1938 überwogen in dieser katholisch-nationalen
Partei antidemokratische und autoritative Risse. Neoludaken verfolgen dieselbe Politik.
Näher Hana ZELINOVÁ (Hg.), Èesi na Slovensku [Tschechen in der Slowakei], Martin 2000.
Vgl. LIPTÁK, Slovensko ako kolónia.
Vgl. Heidemarie UHL, Zwischen „Habsburgischem Mythos“ und (Post-)Kolonialismus. Zentraleuropa als Paradigma für Identitätskonstruktionen, in: newsletter Moderne 5 (2002), Heft 1, S. 2–5, hier S. 4.
196
Die Ambivalenz der Assimilation.
Postmoderne oder hybride Identitäten
des ungarischen Judentums
Éva Kovács
Können wir die Geschichte des ungarischen Judentums zwischen der Mitte
des 19. Jahrhunderts und dem Zweiten Weltkrieg mit Hilfe des neuen postmodernen Instrumentariums der Postcolonial Studies dekonstruieren? Können wir den sogenannten Assimilationsprozess der „Ungarn mosaischen Glaubens“ als Vorgeschichte der neuen jüdischen Hybrididentitäten verstehen?
Ist es möglich, für die Habsburgermonarchie des 19. Jahrhunderts eine ethnische Hierarchie zu konstruieren, in der die Mehrheit über eine versteckte,
selbstverständliche Ethnizität verfügte, während die Minderheit nur eine
untergeordnete Position hatte?1 Und wenn ja, konnte sich diese Minderheit
artikulieren, konnte sie Platz und Position im Diskurs finden, um ihre Identität „hörbar“ und damit auch für uns lesbar zu machen?2 Gibt es überhaupt
solche Quellen, mit deren Hilfe wir das „Murmeln“ dieser neuen Ethnizitäten verstehen können?3 Können wir überhaupt von Identitäten ausgestorbener Generationen sprechen, oder müssen wir unser Interesse auf Diskurse
und Narrative, also kurz auf die Identitätspolitik beschränken?4
Die Sichtweise der Postcolonial Studies könnte uns wahrscheinlich reizvolle
Alternativen bieten, um jene Fragen zu beantworten, auf welche wir bis jetzt
keine zufriedenstellende Antwort mit Hilfe der üblichen geschichts- und
gesellschaftswissenschaftlichen Theorien gefunden haben. Zumindest dürfen wir die Gelegenheit nicht ungenützt verstreichen lassen, unsere unbeantworteten Fragen im Lichte der neuen Theorien neu zu formulieren.
Ethnozentrismus, Nationalismus oder Kolonialismus
Paradoxerweise muss ich die Geschichte nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie beginnen. Als angehende Soziologin versuchte ich die Prozesse
197
der jüdischen Assimilation nach dem Ersten Weltkrieg in den Nachfolgestaaten, in einer Großstadt der Ersten Tschechoslowakischen Republik und
des ehemaligen Oberungarn, in Kaschau/Košice/Kassa zu analysieren.5 Meine zentrale Fragestellung war jene, wie sich dieser Prozess unter den veränderten staatlichen, politischen und sozialen Bedingungen fortgesetzt hat, und
was mit den Gemeinschaften, Generationen und auch ihren Identitätsdiskursen nach 1920 geschehen ist. Ich habe die Assimilationstheorien der 1970er
und 1980er Jahre übernommen und meinen Forschungsplan nach ihren
Kriterien vorbereitet.
Noch bevor ich mich mit den nicht unproblematischen Assimilationstheorien auseinander setzte, stellte sich heraus, dass es fast keine Literatur über
die Juden in den Nachfolgestaaten gab. Die ungarische sozialgeschichtliche
Forschung über das ungarische Judentum beschränkte sich hinsichtlich der
Zeit bis 1920 auf das sogenannte „Historische Staatsgebiet“. Für die Periode
der Zwischenkriegszeit hingegen wurden nur Prozesse untersucht, die sich
auf das im Friedensvertrag von Trianon festgelegte Territorium Ungarns bezogen. Es existierte keine systematische Forschung, die sich mit der Sozialgeschichte der nach dem Ersten Weltkrieg in den Nachfolgestaaten verbliebenen jüdischen Gemeinschaften beschäftigt hatte, während die ungarischen
Minderheiten etwa in Rumänien, in der Slowakei und in Österreich schon
seit Anfang der 1980er Jahre in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Forschung gerückt wurden. Auch theoretisch hat sich die ungarische Geschichtsschreibung nicht mit den in der Slowakei, in Rumänien sowie im Königreich
der Serben, Kroaten und Slowenen lebenden Juden, die früher Staatsbürger
des Ungarischen Königreichs gewesen waren, beschäftigt.
Es sah so aus, als ob die Geschichtsschreibung selbst eine Gefangene einer
absolutistischen, kolonialen Tradition geblieben wäre. Es wurde eine Linearität der nichtlinearen Geschichte so rekonstruiert, dass die schwer erklärbaren Episoden ignoriert und die aktuellen Staatsgrenzen auch als Forschungsgrenzen definiert wurden. Innerhalb der Staatsgrenzen konzentrierte sich
die Geschichtsschreibung nur auf das Territorium des ehemaligen Imperiums und die ethnische, beziehungsweise politische Mehrheitsbevölkerung,
auf die Magyaren.
Nicht unabhängig davon steht auch die Sozialgeschichte wie gelähmt vor
diesen Aufgaben: Wie soll sie die Gründe des Zerfalls der Monarchie erklären, wie ihr Forschungsobjekt, die ungarische Gesellschaft, definieren, wie
die longue durées, die lokalen und regionalen Gegebenheiten nach 1920 analysieren?
198
Was illustriert diese Tendenzen besser als die ungarische institutionelle
Differenzierung der Geschichtswissenschaften oder der Umstand, dass ich
meine Forschungen an einem sogenannten Hungarologischen Forschungsinstitut begann, das jetzt unter dem Namen Institut für Mitteleuropäische Studien
bekannt ist. Obwohl die jüngsten Forschungen und wissenschaftlichen Kooperationen schon Merkmale einer langsamen Annäherung zeigen, folgt der
mainstream der ungarischen Sozialgeschichte der oben skizzierten Tradition.
Der Assimilationsdiskurs: Ungarn und Juden als odd couple
Man könnte behaupten, dass die zuvor konstatierte Forschungstradition dem
mainstream der Geschichtsschreibung in den Nationalstaaten Europas entspreche. Man könnte zudem behaupten, dass es sich hierbei einfach um Ethnozentrismus, ja sogar Nationalismus handle, oder um ein verstecktes und
auch zu versteckendes Trauma aufgrund des Zerfalls der Monarchie, im vorliegenden Falle speziell des Zerfalls des Ungarischen Königreichs. Oder doch
nicht? Diese Historiker sind keine Nationalisten; und ich bin auch sicher,
dass der Zerfall der Monarchie sie keineswegs traumatisierte. Viel wahrscheinlicher erscheint mir, dass die Geschichtsschreibung bis jetzt nicht von der
Sprache des ehemaligen Kolonisierungsdiskurses befreit wurde.
Die moderne Geschichtsschreibung der 1980er und 1990er Jahre übernahm den alten Sprachgebrauch der Zwischenkriegszeit und simplifizierte
ihn gelegentlich auch. Begriffe wie Verbürgerlichung und Assimilation wurden
zu Schlüsselbegriffen der Geschichte der ungarischen Modernisierung. Nicht
nur die jüdische Identitätsforschung, sondern auch viele Studien zur Sozialgeschichte des Dualismus operieren mit dem Begriff des „assimilatorischen
Gesellschaftsvertrags“, der zwischen der politischen Elite der Aristokraten
und der wirtschaftlichen Elite der reichen und mächtigen Juden getätigt
wurde.6 Dieses Konzept bricht glücklicherweise mit der früheren nationalistischen Denkungsart der ungarischen Modernisierungsdiskussion, ist aber
lediglich auf die TeilnehmerInnen des Gesellschaftsvertrags fokussiert. Es
ignoriert die lokalen Differenzen und interpretiert alle sozialen Prozesse als
Phasen der Assimilation. In diesem Konzept erscheint die Koexistenz zwischen Juden und Nicht-Juden – wie im Buch Orientalism von Edward Said –
oft im Zusammenhang mit Metaphern der Sexualität. In dieser Liebe spielt
der Ungar die Männerrolle, der Jude die Frauenrolle, und als odd couple
leben sie miteinander in einem Verhältnis der „Hassliebe“. So wird die sozio-
199
strukturelle Problematik des Zusammenlebens mit Hilfe des lyrischen Symbolismus der Sezession verdeckt. Meist berufen sich ForscherInnen auf den
berühmtesten Essay von Endre Ady mit dem Titel Korrobori:
Unsere Väter, die vielleicht noch einfach nur so irgendwie Ungarn sein konnten,
vergaßen das Ungarntum zu schaffen. Ungarntum gibt es schon längst keines mehr,
was es gibt, ist bloß pars negativa, das sich nur dadurch von den wohl umrissenen
Rassen durch das unterscheidet, was diese nicht haben [...]. Welch Feigheit, noch
immer nicht zuzugeben, dass wir den „Korrobori“-Tanz pflegen, ihn im Gebiet
zwischen Donau und Theiß schon seit Jahrzehnten tanzen? Hier paarten sich zwei
rassenlose und zugleich fremde Rassen gemäß den Regeln des „Korrobori“. Mit
den kopierten Musikinstrumenten bereits erschaffener Kulturen nimmt das Judentum hier seinen Platz ein, und wir, die wir uns Ungarn nennen, schwingen hassend
und begehrend das Tanzbein. Hier produzieren wir uns, mit Liebe erstickend, entweder ein neues Volk, oder aber hinter uns die Sintflut.7
Obwohl das Originalzitat – und dies gilt auch für andere Schriften von Endre Ady – die gemeinsame Kreativität betont, in der Juden und Ungarn gemeinsam ein neues Volk produzieren, wurde diese Metapher des Liebestanzes,
ja die zitierte Stelle selbst, später meist als Beweis für die einseitige beziehungsweise erzwungene Neigung der Juden zu den Ungarn ins Feld geführt.
Ich würde nicht sagen, dass der ehemalige Diskurs sich selbst nicht auch
um Assimilation und Emanzipation drehte. Das ungarische Projekt der Moderne begann jedoch nicht mit der Debatte über den gesellschaftlichen und
politischen Status der „Ungarn mosaischen Glaubens“, wie heutzutage Viktor Karády und Ferenc Fejtõ schreiben oder wie Zygmunt Bauman und Shulamit Volkov dies für den Fall der deutschen Juden thematisieren.8 Zumindest
bis zur Jahrhundertwende stand die Frage des neuen Mittelstandes im Brennpunkt des ungarischen Diskurses über die Moderne, und daher erstreckte
sich das Modernisierungs- und Emanzipationsprogramm auf die gesamte
ungarische Gesellschaft. Jene gesellschaftlichen Schichten, Ethnien und Gruppierungen, deren Mitglieder aufgrund der wirtschaftlichen und sozialen
Transformationen mobilisiert wurden, erlebten wahrscheinlich eine eben solche „chronische Ambivalenz“, wie sie Bauman ausschließlich den Juden zuschreibt und die er mit Beispielen aus Texten von Kafka, Simmel und Roth
zu verifizieren versucht. Alle gesellschaftlichen Schichten, Ethnien und Gruppierungen mussten ihren assimilatorischen Gesellschaftsvertrag schließen. Die
entscheidende Differenz, die die Juden wieder in die Position des Fremden
par excellence platzierte, wurde im Diskurs und durch den Diskurs konstru-
200
iert, paradoxerweise erst zu einem Zeitpunkt, als das Projekt der rechtlichen
Emanzipation mit dem Gesetz über die bürgerliche Ehe im Jahre 1896 schon
erfolgreich abgeschlossen war.9 Der selbstzerstörerische Charakter des ungarischen Diskurses der Moderne ist erst ab diesem Zeitpunkt datierbar.
Die postmoderne Kritik der Assimilation
Die erste postmoderne Kritik an diesem Assimilationsdiskurs kam von Zygmunt Bauman, der in seinem großen Essay das Assimilationsprojekt als sine
qua non der Moderne verstand. Laut Bauman stellte das Phänomen der Assimilation weder einen kulturellen Austauschprozess noch eine Diffusion, sondern eine Nationalisierung der individuellen Differenzen dar, ja sogar eine
Etatisierung der Nation selbst, die die Ambivalenz als eine neue Identitätsform ins Leben rief und sie als Sozialtechnologie reproduzierte. Shulamit
Volkov hat wahrscheinlich Recht gehabt, als sie Baumans Analyse wegen ihres
Elitismus kritisierte. Eigenartigerweise stellte Volkov dem postmodernen Papst
Bauman aber „eine postmoderne Perspektive“ gegenüber. Aus ihrer Perspektive ist es die Aufgabe der Wissenschaft, anstelle der Genies und Elitegruppen die „erfundenen Minderheiten“ (nach Andersons imagined communities10)
zu erforschen, mittels eines vom Nationalismus befreiten Ideals des Nationalstaats.
Wie Kemény, Karády und Fejtõ tappt auch Bauman in diese Falle des ehemaligen Diskurses, weil er die jüdische Assimilation als ungleichmäßige Kontroverse zwischen den jüdischen und nicht-jüdischen Eliten diskutiert und
den gesamtgesellschaftlichen Kontext – inklusive den jüdischen – außer Acht
lässt. Volkovs postmoderne Perspektive zeigt durch ihre Betonung der großen Bedeutung der jüdischen Gemeindeorganisationen und des Triptychons
von Konfessionalismus, häuslicher Religiosität und individuellen Integrationsmechanismen des Judentums einen Gegensatz auf. Nichtsdestotrotz führt
auch in ihren Überlegungen das „jüdische Projekt der Moderne“ aufgrund
der inhärenten Widersprüche der Moderne zum Bankrott, weil die Moderne
die Juden trotz ihrer Assimilationskreativität „nicht akzeptabel gemacht hat“11.
Volkov erkennt schnell, dass Bauman völlig auf die jüdischen Gemeinden
und die vielen nicht-bürgerlichen und nicht-nationalen Gemeinschaftsidentitäten vergisst, jedoch träumt sie von einer solchen Gesellschaft, in der die
Hybridität, die ethnische Koexistenz und die neuen communities of assent12 –
also die Juden mit hybrider Identität – nicht akzeptabel wären.
201
Bauman operiert mit dem alten Begriff der Wurzellosigkeit, Volkov mit der
Fremdheit par excellence, Karády, Kemény und Fejtõ argumentieren mit der
übertriebenen Assimilationskreativität (overdid assimilation), ohne diese alten
Begriffe zu dekonstruieren. Die drei ungarischen Autoren folgen hier
eingestandenermaßen der nationalen Geschichtsschreibung der Moderne,
während Bauman und Volkov ihre ähnlichen Thesen von einem postmodernen Standpunkt aus entwickeln. Es hat jedoch den Anschein, als würden sie
alle das zu analysierende Objekt durch die Brille des europäischen Nationalstaats betrachten, anstatt das traditionelle Assimilationskonzept der Moderne
zumindest für einen Augenblick zu verwerfen. Ich wage zu behaupten, dass
nicht nur die traditionellen Versuche der ungarischen Historiker, sondern
auch die ersten postmodernen Versuche von Bauman und Volkov zur Dekonstruierung der Assimilation erfolglos geblieben sind. Oder ist es die postmoderne Perspektive selbst, die wenige Möglichkeiten zur Beantwortung meiner Frage bietet?
Der Jude als der Fremde par excellence, als Wurzelloser oder als Vorläufer der
in-between Identitäten
Welche jüdischen Identitäten thematisiere ich, die mit dem Konzept der Assimilation nicht erklärbar sind?13 Wenn uns die Antworten der Assimilationstheorie nicht befriedigen, können wir uns dann vielleicht mit Hilfe der Konstrukte der Hybrididentitäten oder der in-between condition der jüdischen
Identitäten annähern? Kehren wir zur ungarischen Geschichte zurück, zu
meinen Forschungsobjekten aus dem ehemaligen Oberungarn, der späteren
Tschechoslowakei und jetzigen Slowakei. Wir schreiben das Jahr 1921. Aladár
Komlós, ein assimilierter Jude, der damals in Prešov/Eperjes lebte, schrieb
ein Pamphlet mit den Titel Juden am Scheideweg:
Die Wahrheit ist, dass ich nicht nur Ungar und Jude, sondern auch Kosmopolit bin!
[...] Aber schaut euch diese assimilierten Juden an: einer ist internationaler als der
andere, und alle sind sie Radikale und Sozialisten! [...] Der Wind der Zeit kann nun
den dünnen Sand der oberflächlichen ungarischen Gesinnung schnell von uns wegwehen. Tatsächlich kann diese oberflächliche Sandschicht früher oder später bei
den jüdischen Ungarn in den neuen Staaten leicht für eine slowakische oder kroatische Sandschicht eingetauscht werden. Obwohl es keinen Grund dafür gibt, warum
wir unserem neuen Staat gegenüber keine Loyalität bekunden sollten, wären wir
trotzdem Renegaten, wenn wir unseren ungarischen Charakter von heute auf morgen ablegten. Wenn unser ungarischer Charakter unsere Haut darstellt, dann gibt
202
man doch seine Haut so schnell nicht preis, und ein so schneller Vollzug der Häutung ist nicht nur eine moralische, sondern auch eine technische Unmöglichkeit.[...]
Und wenn jemand noch daran zweifelt, dass wir eine doppelte Haut besitzen, dann
können wir dies demonstrieren: Schlagt den Magyaren und es wird uns schmerzen.
[...] Schlagt den Juden, es schmerzt uns noch mehr. Wir können doppelten Schmerz
empfinden.14
Das Zitat könnte auch in Baumans Buch stehen, als ein Beispiel für die „chronische Ambivalenz“, oder in Volkovs Buch, als ein Beispiel für die fehlende
Akzeptanz der jüdischen Assimilationskreativität. Ebenso könnte es die „übertriebene Assimilation“ in den Studien von Karády oder Fejtõ illustrieren.
Oder doch nicht? Komlós war selbstverständlich ein Proponent des ungarischen Assimilationsdiskurses, der sich als assimilierter jüdischer Ungar definierte. In einer Kleinstadt sitzend, galt seine Reflexion aber seinem Kosmopolitismus und dem Radikalismus und Sozialismus der anderen assimilierten
jüdischen Ungarn – er problematisierte demzufolge nicht den assimilatorischen Gesellschaftsvertrag, sondern die Morris’schen communities of assent,
die gesellschaftlichen Identifikationsgruppen.
Die neue Situation nach dem Zerfall der Donaumonarchie erlebte er als
einen potentiellen Scheideweg, auf dem er aber nicht zwischen Assimilation
und Nicht-Assimilation, sondern zwischen nationalen Loyalitäten hatte wählen müssen. Das heißt, dass die hybride Identität, die Doppel-Perspektive für
ihn zu diesem Zeitpunkt schon seit Jahrzehnten ein Faktum war. Seine Frage
lautete vielmehr, wie er seine nationale Loyalität bewerten sollte, wie viel ihn
die neuen Tripel-Perspektiven „kosten“ könnten, wie viel Schmerz die alte
Hybrididentität in der neuen Situation hervorrufen könnte. Seine neue Ambivalenz spiegelt sich im Symbolwechsel wider: Er schreibt über seine nationale Identität zunächst als unempfindliche Sandschicht, später als Haut, die
schmerzen könne.
Multiple Perspektiven und (Wieder-)Erfindung des Lokalen
Was prophezeiten Aladár Komlós und die anderen Juden, die ihr Leben
nach dem Zerfall der Monarchie in der Slowakei fortsetzen mussten? 1921
steckten sie noch im nationalen Assimilationsdiskurs der Vorkriegszeiten.
Sie prognostizierten, dass sie zwischen den Ergebnissen des früheren ungarischen und den neuen Erwartungen des slowakischen Assimilationsdrucks
würden wählen müssen. Die jüdischen Identitäten in der Zwischenkriegszeit
203
waren allerdings in Ungarn in einen völlig anderen Kontext eingebettet als in
der Tschechoslowakei. In Ungarn war die Magyarisierungspolitik – trotz des
immer stärker werdenden Antisemitismus – die dominante Erwartungshaltung gegenüber dem Judentum geblieben, während in der Tschechoslowakei
Assimilation, Dissimilation, lokale und regionale Identität sowie ethnischnationalistische Renaissance gleichermaßen zur Geltung kommen konnten.
Die Logik der Assimilation hat sich als Erklärungs- und Beschreibungsmodell der neuen Tendenzen als ungenügend erwiesen, erstens, weil in der
Tschechoslowakei dieser Diskurs selbst fehlte. Auch die Juden konnten ihn
schnell vergessen. Zweitens eröffnete sich – wie das wichtigste neue Element
der jüdischen Identitätspolitik, der Zionismus, zeigte – eine ganz neue Dimension: die Ambivalenz, über die Aladár Komlós 1921 berichtete, die in der
Sehnsucht nach einem eigenen, modernen Nationalstaat (auch als imaginäre
Gemeinschaft) aufgelöst werden konnte. Drittens wurde in Ungarn die Diskussion über die jüdische Bevölkerungsgruppe weitestgehend als sogenannte „Judenfrage“ thematisiert, während in der Tschechoslowakei eine „Ungarn- und Deutschenfrage“ existierte. Die „Judenfrage“ wurde in Ungarn
mit diskriminierenden Gesetzen „beantwortet“, während es in der Tschechoslowakei keine Diskriminierung gegenüber Juden, Ungarn, Deutschen und
Ruthenen gab. Zudem muss viertens berücksichtigt werden, dass die Juden
in der Zwischenkriegszeit die Hauptrolle in der Reproduktion des Lokalen spielten. Die multiplen Perspektiven existierten immer an bestimmten, eigenen
Orten, an denen Individuen und Gruppen ihre Identitätspolitik gestalten
konnten. Um diese Loyalitätskonflikte zu lösen und eventuelle Identitätsschwächen zu verstärken, mobilisierten Juden oft ihren Lokalpatriotismus.
Fünftens waren die Kaschauer Juden dem tschechoslowakischen Staat gegenüber selbstverständlich loyal – wie früher dem ungarischen Staat gegenüber –,
ebenso wie die anderen Minderheiten in der Tschechoslowakei. Nichtsdestotrotz folgten den äußeren Merkmalen der Akzeptanz nur selten innere Elemente der Identifikation. Obwohl der Diskurs der Assimilation in der Tschechoslowakei zu existieren aufhörte, konnten die Positionen des früheren Diskurses der „Kolonisierenden“ beibehalten werden: Die Ungarn und die ungarischen Juden blieben eine der bestimmenden Gruppen des Kaschauer
politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens.
Sechstens sprachen die Kaschauer Juden ungarisch, die offizielle Sprache
der israelitischen Gemeinde war Ungarisch geblieben. Die jüdische Presse
(wie zum Beispiel die Jüdische Zeitung, das Jüdische Wort und die Jüdischen
Nachrichten) wurde auf ungarisch publiziert – sogar in den zionistischen Or-
204
ganisationen und auch in der Jüdischen Partei wurden die Reden in dieser
Sprache gehalten. Zu betonen ist, dass sich die lokale ungarische Kultur nur
mit Hilfe des Kaschauer Judentums erhalten konnte. Unter den Aktivisten
und Führern der Ungarischen Nationalpartei (Magyar Nemzeti Párt) fanden sich
viele Juden. Während die sprachliche und kulturelle Bindung des Judentums
zur ungarischen Kultur erhalten blieb, wurde die nationale Identität aber gebrochen: Ein Teil der Kaschauer Juden rückte von Ungarn und der Idee des
ungarischen Staates ab. Die Ursache dieser Differenzierung liegt einerseits darin,
dass das ungarische antidemokratische und antisemitische politische System
für die tschechoslowakischen Juden selbstverständlich unbeliebt wurde;
anderseits hätte in der Tschechoslowakei die ungarische Minderheit einen neuen
„assimilatorischen Gesellschaftsvertrag“ mit dem Judentum schließen müssen.
Die ungarische politische und kulturelle Elite hat aber in der Zwischenkriegszeit ihre Attraktivität für die Juden schnell verloren, weil die ungarische Minderheit in der Tschechoslowakei in ihren politischen, wirtschaftlichen und
sozialen Positionen geschwächt wurde. Die Aufsplitterung der ungarischen
Minderheit und die antisemitischen Manifestationen der ungarischen Christlich-sozialen Parteien konnten zu einem Desinteresse der Juden an den ungarischen politischen Bestrebungen führen. Die jüdische „Assimilationskreativität zum Ungartum“ (Karády), die sich während der Ersten Tschechoslowakischen Republik trotz allem noch zeigte, kann man als ein „Trägheitsmoment“
der erfolgreichen Assimilation vor dem Ersten Weltkrieg erklären.
Der Identitätswandel des Kaschauer Judentums in der Zwischenkriegszeit führt uns die besondere Situation der jüdischen Assimilation in Ungarn
vor Augen. Dazu trägt in erster Linie der Umstand bei, dass sich nämlich
dieselbe Bevölkerung ohne Assimilationsdruck und in einer demokratischeren und moderneren Umwelt ganz anders repräsentiert. Während sich das
Judentum in Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg assimilierte, waren in der
Tschechoslowakei sowohl Zionismus, Integration in die slowakische Gesellschaft, Linksorientierung als auch die Bewahrung der ungarischen Sprache
und Kultur gleichermaßen möglich. Diese multiple Perspektive führte
manchmal – ohne Ambivalenz – zur Entwicklung hybrider Identitätsformen (etwa
ungarischsprachige, jüdisch-nationale Sozialdemokraten), oder zur Entstehung
einer regionalen, beziehungsweise lokalen Identität (repräsentiert etwa durch
einen slowakischen ungarischen Juden, einen Kaschauer Juden). Wohin diese
Tendenzen geführt hätten, lässt sich nicht einschätzen. Die Gesetze und Taten
der Nationalsozialisten machten keinen Unterschied zwischen assimilierten und
nicht-assimilierten, mit oder ohne Ambivalenzen lebenden Personen.
205
Warum blieb die ungarische Geschichtsschreibung in der Falle des Kolonisierungsdiskurses stecken?
Diese Forschungsergebnisse sind in den ungarischen Diskurs und in die
Geschichtsschreibung des Assimilationskonzeptes schwer integrierbar. Während die besten Experten wie Gábor Gyáni15 die Assimilationstheorie auch
empirisch kritisierten, wuchs eine neue Vertretergeneration dieser Denkungsart heran. Damals (in den 1970er und 1980er Jahren) wurden die großen
Leistungen der Partner des assimilatorischen Gesellschaftsvertrages betont,
heutzutage kritisiert man die Übererfüllung durch die jüdischen Teilnehmer oder diskutiert sogar die Unmöglichkeit der jüdischen Assimilation.16
Deshalb meine ich, dass selbst der Assimilationsdiskurs Teil der Identitätspolitik war und ist – diese Eigenart garantiert seine Unsterblichkeit. Er bietet
eine Möglichkeit, ungarische Attraktivität und jüdische Kreativität sowie
ungarischen Nationalismus und jüdischen Ethnozentrismus zu leben.
Die ethnozentrische, koloniale Position des Assimilationsdiskurses ermöglicht es, die sogenannten Assimilationsprozesse des ungarischen Judentums
zu generalisieren, die neuen Prozesse in den Nachfolgestaaten – im Lichte
der Assimilationsergebnisse während des Dualismus – als Dissimilation zu
evaluieren, als eine Frage der nationalen Treue und des Patriotismus zu problematisieren und die Juden in den Nachfolgestaaten wegen ihrer Untreue
abzustempeln.
Paradoxerweise kann man mittels dieses Assimilationsdiskurses auch den
Vorwurf des Irredentismus und des Antisemitismus abwehren, und zwar durch
Einnehmen einer pragmatischen Position. Da man diese Gemeinschaften nach
1920 vergaß, musste man sich einerseits nicht mit den einstigen Traumata
dieser Generationen beschäftigen, die von den Grenzveränderungen herrührten. Anderseits verhindert das Bestehen auf dem Assimilationsmodell, dass
man die in der jüdischen Identität aufscheinenden Differenzen fälschlicherweise als etwas „Jüdisches“ abstempelt: die Juden werden immer als ungarische Staatsbürger wahrgenommen.
Möglicherweise besteht die Forschung auf der Assimilationstheorie, weil
sie die schwierigste Frage, die Tragödie des Holocaust, nicht erklären kann.
Moderne, aber auch postmoderne Erklärungsmodelle – wie die Respekt abverlangenden Analysen von Volkov17 und Bauman18 –, können „nur“ auf den
Assimilationsdiskurs und auf seine assimilierenden Teilnehmer rekurrieren,
nicht aber auf die anderen, die hybriden jüdischen Identitäten. Und obwohl
wir die Merkmale dieser hybriden Identitäten manchmal in der Forschung
206
erkennen und analysieren können, lässt das neue postmoderne und postkoloniale Modell der Koexistenz noch auf sich warten.
Anmerkungen
1 Vgl. Gayarti C . SPIVAK, Can the Subaltern Speak?, in: Wedge 7, 8 (Winter/
Spring 1985), S. 120-130.
2 Vgl. Iain CHAMBERS, Signs of silence, lines of listening, in: Iain CHAMBERS,
Lidia CURTI (Hg.), The Post-Colonial Question, London–New York 1996, S.
47–64.
3 Vgl. Homi K. BHABHA, DissemiNation. Time, Narrative, and the Margins of
the Modern Nation, in: Homi K. BHABA, The Location of Culture, London–
New York 1994, S. 139–170.
4 Vgl. Craig CALHOUN, Social Theory and the Politics of Identity, in: Craig
CALHOUN (Hg.), Social Theory and the Politics of Identity, Oxford 1994.
Vgl. Manuel CASTELLS, The Power of Identity, Oxford 1997, S. 5 f. Vgl. Clifford
GEERTZ, After the Fact, Cambridge, Massachusetts 1995, S. 42–63. Vgl. Clifford
GEERTZ, Az identitás politikájáról [Über die Identitätspolitik], in: Magyar
Lettre Internationale 31 (1999), S. 25–28. Vortrag im Collegium Budapest.
5 Vgl. Éva KOVÁCS, Electoral Behavior as an Indicator of National Identity at
Košice Between the Two World Wars, in: Regio - English Version (1995), S. 56–
84. Vgl. Éva KOVÁCS, Identität oder Loyalität. Die Juden von Košice (Kaschau,
Kassa) von der Ziehung der tschechoslowakisch-ungarischen Grenze bis zum
Ersten Wiener Schiedsspruch, in: Peter HASLINGER (Hg.), Grenze im Kopf,
Frankfurt a. M. u. a. 1999, S. 103–114.
6 Vgl. Viktor KARÁDY, István KEMÉNY, Le juifs dans la structure de classes en
Hongrie, in: Actes de la recherche en sciences sociales 22 (1978), S. 25-29. Vgl.
Viktor KARÁDY, Egyenlõtlen elmagyarosodás, avagy hogyan vált Magyarország
magyar nyelvû országgá? [Ungleiche Magyarisierung, oder wie ist Ungarn ein
ungarnsprachiges Land geworden?], in: Századvég 2 (1990), S. 5–37. Vgl. François
FEJTÕ, Gyula ZEKE, Hongrois et Juifs – Histoire millénaire d’un couple singulier
(1000–1997), Paris 1997. Vgl. François FEJTÖ, Assimilation and Identity, in:
The Hungarian Quartery, XLII, 161 (2001), siehe auch http://www.hungary.com/
hungq/no161/087.html.
7 Endre ADY, Korrobori, in: Erzsébet VEZÉR (Hg.), Ady Endre publicisztikai
írásai [Publizistik von Endre Ady], Budapest 1987, (Original: 1917), S. 7 f. [Übersetzt von Gerhard Baumgartner].
8 Vgl. Zygmunt BAUMAN, Moderne und Ambivalenz, Hamburg 1992. Vgl.
Shulamit VOLKOV, Das jüdische Projekt der Moderne, Frankfurt a. M. 2001.
9 Vgl. Miklós SZABÓ, Politikai kultúra Magyarországon 1896–1986 [Politische
Kultur in Ungarn 1896–1986], Budapest 1989.
10 Vgl. Benedict ANDERSON, Imagined Communities, London 1983.
11 Zit. n. VOLKOV, Das jüdische Projekt der Moderne, S. 190.
207
12 Vgl. Paul MORRIS, Community Beyond Tradition, in: Paul HEELAS, Scott
LASH, Paul MORRIS (Hg.), Detraditionalization, Cambridge–Oxford 1996,
S. 223–249.
13 Vgl. Éva KOVÁCS, A kassai zsidóság etnikai identitása a két világháború között
[Die ethnische Identität der Kaschauer Juden in der Zwischenkriegszeit],
Manuscript, Budapest 1991.
14 Zit. n. Álmos KORAL [= Aladár KOMLÓS], Zsidók a válaszúton [Juden am
Scheideweg], Eperjes 1921, in: Aladár KOMLÓS, Magyar-zsidó szellemtörténet
a reformkortól a Holocaustig I–II [Ungarische-Jüdische Geistesgeschichte vom
Reformzeitalter bis zum Holocaust I–II], Budapest 1997, S. 11, S. 22. [Übersetzt von Peter Haslinger].Vgl. Sándor MÁRAI, Bekenntnisse eines Bürgers,
München 2000 (Original: 1934).
15 Vgl. Gábor GYÁNI, Polgárosodás mint zsidó idenitás [Verbürgerlichung als
jüdische Identität], in: BUKSZ 3, 9 (1997). DERS., Viszontválasz Karády
Viktornak [Antwort für Viktor Karády], in: BUKSZ 1, 10 (1998), siehe auch
http://www.c3.hu/scripta/index_center.htm.
16 Vgl. János GYURGYÁK, A zsidókérdés Magyarországon [Die Judenfrage in
Ungarn], Budapest 2001.
17 Vgl. Shulamit VOLKOV, Antisemitismus als kultureller Code, München 2000
(Original: 1990).
18 Vgl. Zygmunt BAUMAN, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992.
208
Forgetting the diversity of the national past:
Contrasting memories of the
Hungarian Millennium
Gábor Gyáni
In his well-known essay What is a nation? (Qu’est-ce qu’une Nation?) Ernest
Renan has remarked that oblivion has a beneficial result for the nation, because its essence is that every individual should have many common traits,
and at the same time is expected to forget many things: „Forgetting, I even go
so far as to say historical error, is a crucial factor in the creation of a nation,
which is why progress in historical studies often constitutes a danger for [the
principle of] nationality.“1 To this Homi K. Bhabha adds in interpreting
Renan’s idea of nation that any remembrance of the nation closely depends
upon the obligation of forgetting.2
The dialectic of forgetting and remembering seems to be vital in terms of
national identity as compared with other possible forms of collective identities. This dialectic can mainly be discerned by looking at the nascent phase of
nationalism. The historical event chosen for the end of recent analysis is the
Millennium celebration in the late 19th century Hungary. The conflicting
attitudes shown towards that historical anniversary in a country which was
simultaneously a nation-state and a multiethnic state provide a deep insight into
the process of how nationalisms were constructed on either side.
We are ready to adopt the notion of the zigzag pattern of semantic change
proposed by Liah Greenfeld to describe the longue durée historical trajectory of the word nation. By the term she means that
The successive changes in meaning combine into a pattern which, for the sake of
formality, we shall call ,the zigzag pattern of semantic change‘. At each stage of this
development, the meaning of the word, which comes with a certain semantic baggage,
evolves out of usage in a particular situation. The available conventional concept is
applied within new circumstances, to certain aspects of which it corresponds.
However, aspects of the new situation, which were absent in the situation in which
the conventional concept evolved, become cognitively associated with it, resulting
in a duality of meaning. The meaning of the original concept is gradually obscured,
209
and the new one emerges as conventional. When the word is used again in a new
situation, it is likely to be used in this new meaning, and so on and so forth.3
Keeping in mind this nature of the concept of nation one might conclude that
the late 19th century Central-European nation was made up of the fusion of
two elements, the historically continuous state or statehood and the principle of
ethnicity, ethnic community. By holding this view, we tend to break away from
the well-established historiographical tradition which has usually made an
unambiguous distinction between the state-nation and the culture-nation as two
divergent European patterns. The state-nation was allegedly characterizing
the development of Western Europe (England and France in the first place),
while the culture-nation was constantly considered as a characteristic Central
and East European paradigm.4 Gellner proposed to transcend that sort of
duality by arguing that nationalism seems to have been the most adequate
form and manifestation of modernity. At the basis of Gellner’s definition of
nations and nationalism lies the idea that the existence of an industrial society
always closely depends upon a common culture. „Nationalism“, Gellner writes,
„is about entry to, participation in, identification with, a literate high culture
which is co-extensive with an entire political unit and its total population,
and which must be of this kind if it is to be compatible with the kind of
division of labour, the type or mode of production, on which this society is
based.“5
In the period covered by this study, the term nation throughout Europe
acquired the meaning of a „unique sovereign people“ and referred to particular populations and countries carrying some political, territorial and/or
ethnic qualities of their own; qualities which at the same time enabled them
to create a nation by fusing the geo-political and ethnic baggage.6 Thus the
stress was laid from that time onwards both on the increased internal similarities and on the obvious outward differences, homogeneity on the one hand,
distinctiveness on the other hand. The creation of the nation in this sense of
the word was always performed by the work of nationalism, a movement which
alone could generate a new sort of collective identity, the national one.7 National identity is not something that is simply given, like a feeling of commitment which we possess as a consequence of being born into an ethnic community. National identity is rather a perception stirred up and fuelled by varied
forms of nationalism. Accordingly, nationalist discourse is to fulfil the mission of tying together the members of a unique sovereign people who are fully
aware of their fundamental similarities and distinctiveness at the same time.
This task has primarily been achieved by using the inclusion/exclusion me-
210
chanism. By applying this mechanism in order to create a firm subjective
commitment to an „imagined community“ certain narratives and memories
have to be excluded to make the overall national narrative and national memory a homogeneous one. That is why nationalism – establishing the national
paradigm – is soon to become the canonical discourse being capable „to produce a subjectivity that will take this symbolic structure as the sole criterion
for assessing the ,realism‘ of any recommendation to act or think one may and
not another.“8
Hungarian versus nationality narratives
The actual image of a nation generated by some kind of nationalist discourse
is definitely presentist, meaning that it closely follows the norms which regularly derive from the present state of affairs. This can easily be discerned by
looking at the way the emblematic panorama The Hungarian Conquest (A magyarok bejövetele) – the exhibition of which was an important event of the
Millennium celebration at the end of the 19th century – was envisaged and
implemented. Árpád Feszty, the leader of the painters’ group being responsible for the whole undertaking, was incessantly looking for primordial Hungarian faces among his compatriots. However, Feszty and especially Mór Jókai, the great novelist who gave the main spiritual impetus to the picture,
completely neglected the research findings of contemporary anthropology
and archaeology. These scholars were firmly convinced that the ancestors of
the Hungarians bore the physical traits of Asian Mongolian men and women,
not to be found at all among the people populating Hungary at that time.
Accordingly even the subdued Slav people, whom Feszty portrayed, were
modelled after the Slovak labourers employed in Budapest at that time mainly
in the building industry. Or, mentioning another striking example, the painters of the panorama preferred to use the Kalotaszeg embroidery – a Transylvanian artefact of folk art so popular in late 19th century Hungary – with the
aim to decorate the carriage of the princess.9
The nationalist discourse of the age attributed prime importance to the
foundation of the historically continuous state dating back to the Hungarian
Conquest in the late 9th century. The preference given to the principle of
statehood instead of the notion of pure ethnicity followed both from the
tenets of contemporary liberal nationalism as well as from the internal needs
of a multiethnic-state ready to transform itself into a nation-state. As regar-
211
ding the former, Hobsbawm pointed to the main paradox of 19th century
European nationalism namely, that the creation of a nation directly led to the
birth of anti-Nationalism. The spokesmen of the latter had to choose between
assimilation or subordination. Contemporary liberalism, however, did not
understand the essence of this paradox, and proved not to be able to grasp
and tolerate the principle of nationality.10 The obvious insensitivity towards
this issue had a lot to do with the rule of the dogma of the „threshold principle“ of full nationhood, which was indispensable to reach successfully the
ends of a „nation-building“ project.11
The nationalist discourse aims at excluding every sort of alternative narratives and truths which would contradict its own dogmas and beliefs. In our
case, such anti-Narratives could have been those possibly told by the Slavs and
other ethnic minorities – the nationalities as they were called in contemporary Hungary, which by resisting the various inducements of 19th century assimilation, started to get again into a similarly subdued position, at least in
terms of their ethnic relations.12
The planned Millennium celebrations – reads the declaration of the executive
committee of the second nationality congress, published in 1896 in the daily, Narodnie
Noviny – is bound to prove to Europe that one thousand years ago a tribe has conquered
this native land, and subdued the other nations of our native country, and that the
tribe concerned feels himself to have a right even after one thousand years to
exclusively embody Hungary’s state idea and that she alone is to invest the Hungarian
state with the character of an ethnic unity.13
By raising their voice against the official demands, the authors of the declaration claimed their own right to espouse a historical anti-Narrative. Hence
they were bound to say that the account of Hungary’s history advanced by the
official Hungary was completely false. „But suppose that the fables of the anonym notary of king Béla include the germ of truth in that Hungarians came
here as fighting, knightly conquerors, as heroes, knights and lords, contrary
to us, non-Hungarian nations who played the role of the conquered and subjugated, and who due to the Hungarians lost our independence and national
existence, and thereby experienced the biggest disaster that might happen to
a nation.“14
The text quoted above clearly manifests the demand of the nationalities –
represented by the Nationality Congress – to have the right to their own version of a national narrative, one which is not simply a replica of the officially
adopted historical image of the country. In their declaration they tended to
define themselves as a nation which had already existed in the distant past as
212
opposed to the Hungarians, then a tribe only, who at the same time threatened
the very national existence of the peoples living here at that time, who as
traditionally constituting nations, were unambiguously linked to the same
territory and the same state, which has now been expropriated by the Hungarians.
This anti-Narrative briefly reconstructed here was endorsed even by the
labourers of Slav and other national origins who were to be found in great
numbers in Budapest at that time. The Polish labourers of Kõbánya (a characteristic working-class quarter of Budapest) held several mass-meetings in 1896
where they considered it their duty to discuss and even decide on their own
attitude towards the Millennial Celebrations of Hungary. Their final decision
announced their earnest loyalty towards the cause of the Hungarian nation.
However, the Polish standpoint was only shared by the Germans, but not by
the Slovak, Czech, or other Slavic minorities.15 The historical account they
preferred was their total exclusion from the „imagined community“ of the
Hungarian nation. Therefore, not just a claim to their own national distinctiveness, but the deeply felt need for a close and real integration, a much
fuller inclusion, was on the agenda. „We are imbued with the purest patriotism – the text goes on – in objecting against the thousand year celebration. If
Hungary would be in general not only the country of a tribe, but the old,
honourable Hungary, then we were ready to celebrate the thousand year existence of Hungarian state.“16 A clear-cut difference was made here between the
two notions of the Hungarian nation; between the medieval and the modern
one. In the Slovak language, but neither in the Hungarian, nor the English,
the double meaning of the concept has usually been expressed by two separate
words, Uhorsko referring to the historical country and Mad’arsko to its present-day equivalent. The distinction made between the two notions also occurred in the Serb, the Croatian and even the Roumanian languages. One could
say that the nationalities of the late 19th century protested against the notion
of Mad’arsko, a kind of nation propagated by the current Hungarian nationalist discourse, but were apt to come to compromise with the concept of
Uhorsko, applied to a country which would incorporate their own narrative
as well. „We protest against [...] the planned celebration which portrays us as
subdued and subjugated nations“17 – reads the text unambiguously.
These conflicting views on the origins of a postulated nation and the
highly diverse narrative constructions basing „the right of the people“ on
their own nationhood, culminated in the disputes around the Hungarian
Millennium. „The legendary white horse – reads L’ubomír Lipták’s self-criti-
213
cal and ironical remark – rode hard through two centuries of the Hungarian
and Slovak historical memory.“18 However, the source of this plurality in narrating the past may even be followed beside the ethnic tensions from the mere
advance of professionalization of historical scholarship.
Scholarly versus folklore narratives
Historians’ expertise as it started to fully manifest itself in the late 19th century gained a primary role both in generating a new canon of and cancelling
every other type of historical memory. In order to fulfil this aim the newly
legitimized historical scholarship started to wage an open war against the
whole range of folklore-like historical traditions. As early as the 1860s, the
Századok, a scholarly journal of the Hungarian Historical Association, harshly criticized the extant historical consciousness of the people blaming it
with particularism, parochialism and fragmentation. „Peoples’ horizons [a
scholar contended] ends right there where the interest of their family ceases,
not mentioning the country, the notion of which never comes to their mind.“19
Another eminent historian of the day spoke in the same spirit: „The biggest hardship is the consequence of the ignorance of the general public, the
absence of sensitivity and the indifference shown towards the great cultural
ideas, or not knowing the past and the elevated duties of the future.“20 In
sharp contrast to this, our historian argued some years later, that history is
the most important factor, since „the Hungarian nation was to carry out the
historical events [...]. She was the leader, thereby pressing her name on and
branding it with her own spirit.“21 History and especially the correct account
of the past are vital issues as they are completely permeated by and imbued
with national spirit. That is the reason why „the great advance of historical
scholarship in the first half of the nineteenth century powerfully contributed
to the new nationalism of the educated classes. Everywhere the documents of
the past were collected and edited; the people began to take a new interest in
their own history and drew from it a new pride.“22 So „telling the truth“
about history and the identification with one’s own past became more and
more the sole legitimation of the nation. The trained historians prepared to
this task are rigorously expected to be guided by a commonly shared scholarly
ethos, prescribing them to annihilate the false accounts of the past, which do
not fit into the master narrative of the nation. Accordingly, they alone are
entitled to elaborate the true national spirit which is deeply embedded in
214
history. These were exactly those expectations the ten volumed Millennium
history of the Hungarian nation (A magyar nemzet története) – the concerted
product of fin-de-siécle Hungarian historical scholarship – endeavoured to
satisfy.
The aim of replacing the people’s – orally inherited – historical awareness, which was mainly composed of legends and fables, by the scholarly national history was guiding the historians of the day in their activity. Not just
the pure research but also the wide-scale propagation and dissemination of a
new sort of knowledge of the past seemed to be required to gain the monopoly
in this domain. Flóris Rómer, an eminent historian of the age, addressed that
issue in a lengthy study. He found that a whole range of contemporary mass
media (theatre, museum, press) had to be applied for that purpose and he
went even so far as to propose the artificial revitalization of a long faded
ceremonial ritual, the historischer Festzug. One would now say that the conscious and extensive utilization of communicative memory having already been
filled with proper contents by professional historians was considered to be
the best way for establishing the correct form of national historical consciousness.23
Divergent political discourses of the glorious past of the nation
Not all the accessible but only certain events of the past play an important role
in the creation of a historically rooted national image. The revolution and
war of independence of 1848/49 were clearly such a reference point in the
case of Hungary. The reasons are greatly varied, but one of the most fundamental of them could be that this event was the most obvious attempt at establishing a modern Hungarian nation.
Apart from the highly contradictory collective memories of 1848/49 kept
alive by the particular nationalities living in the Carpathian Basin, there were
rival concepts even within the Hungarian community in terms of the possible
meaning of this decisive historical moment. The clashing views were finally
manifested just before the fiftieth anniversary of the revolution, around the
Millennial Celebrations, in 1897. The debate first broke out in Parliament at
a time when a bill was proposed by the opposition to sanction the official
memory of 1848.24 The discussion centred on the exact date for the official
recollection. The government, ready to take into account the sensibility of
Francis Joseph, proposed April 11th, the day of the announcement of the so-
215
called April laws in 1848 instead of March 15th, the day when the revolution
had actually happened in Pest town. The proposal, however, was an obvious
break with the long tradition, since the main argument favouring March 15th
always stressed the force of tradition. As Károly Eötvös, a prominent oppositional politician and also a novelist, argued in his speech in the House, it was
„the nation itself which for more than thirty, around forty years signed that
day, on which we should remember the products of 1848.“25
In the politically overheated debate on the correct interpretation of Hungarian national history, not the voice of the historians but rather the living
memory of the politicians had the upper hand in finally settling the issue.
And, one might add, this was not wholly accidental since contemporary historians, if depicting at all the story of 1848/49, were also encapsulated in the
„communicative memory“26 process at that point. They, like everybody else in
the remembering community, drew primarily on the living memory of past
events, either as their own experience or plainly as a knowledge based on the
family oral histories. It is characteristic that even Mihály Horváth, the first
historian of 1848/49 who was also an active participant in the historical events,
in his comprehensive historical account of the revolution and the war of
independence made mostly use of data gained from the recollections he began to collect from as early as 1850 on.27 A third source for them were the
testimonies of the witnesses, primarily those of the outstanding actors of the
historical events concerned. This was shown by the fact that these witnesses
were often cited to legitimate this or that version of the historical account.
Paradoxically, it was not infrequent that the same historical figure, like
Ferenc Deák, was simultaneously used as a final proof on either side. Or,
rather, the government’s proposal even cited Kossuth, despite the fact that
Kossuth, the lethal enemy of the Compromise, had so far been considered on
that side to be a persona non grata. The reason why Kossuth could be cited at
all was that he did not take an active part in the events of March 15th as he was
just on the way from Pressburg to Vienna in order to submit the demands of
the estate parliament, the Diéta, to the monarch.
The episode sketched above leads us to the third distinct level of an ongoing struggle over the creation of the national canon of history. The mere
survival of the popular cult of 1848, which was even further strengthened by
the oppositional parliamentary forces, represented by the Independence Party, clashed at that point with a definite political canonization from above.
Summing up the whole story, one might argue that the independent concept
of the national historical image differed not just from but was even wholly
216
inconsistent with a kind of pro-Habsburg interpretation of Hungary’s past.
And this was not the last chapter in the permanent struggle pursued over the
definition of the precise meaning of 1848/49 by the proponents of the various national historical discourses.
Epilogue
The dialectic of forgetting and remembering seems to lie at the core of the
process of establishing the national image of history. The image-making has
regularly been done in a parallel way on several levels, and only a few of the
final products are reckoned to be the master-narrative in the long run. As
regards the creation of a specifically Hungarian national image of history, we
have identified so far three distinct forms or levels of the process. They, however, did not have the same chance of becoming the master-narrative of
Hungary’s national history. The non-Hungarian contribution had unambiguously the least chance of fitting into the national canon, and much the
same was the case with the popular, the folklore version of the past, which
increasingly was replaced by the scholarly account of professional historians.
Finally, each of the politically motivated interpretations, which all remained
within the same orbit of a plainly Hungarian and scholarly vision of national
historical idiom, could only provisionally dominate the master narrative. The
current stage of this unending and multifarious struggle for fixing the canonized form of history may easily be revealed by looking at the actual contents
and the underlying principles shaping the narrative of these national histories.
Endnotes
1 Ernest RENAN, What is a nation?, in: Homi K. BHABHA (Ed.), Nation and
Narration, London–New York 1990, p. 11.
2 See Homi K. BHABHA, DissemiNATION. Time, Narrative and the Margins
of the Modern Nation, in: Homi K. BHABHA (Ed.), Nation and Narration,
London–New York 1990, p. 310 f.
3 Liah GREENFELD, Nationalism. Five Roads to Modernity, Cambridge–
London 1992, p. 5.
4 „Im 19.–20. Jahrhundert wurde das sprachliche Kriterium als das Wesen der
,Nation‘ bezeichnet, die organisch dazugehörende, in der Sprache vererbte
historische und kulturelle Tradition mit inbegriffen, während im Westen die
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Sprache höchstens als sekundäres oder überhaupt nicht als Kriterium der Zugehörigkeit zur Staatsnation galt. Dies wird in der Regel hervorgehoben, wenn
vom Dualismus der ,Staatsnation‘ und der ,Kulturnation‘ die Rede ist, deren
Urtheoriker Rousseau und Herder waren.“ Jenõ SZÛCS, Nation und Geschichte.
Studien, Budapest 1981, p. 27 f.
Ernest GELLNER, Nations and Nationalism, Oxford 1983, p. 95.
See Liah GREENFELD, Nationalism, p. 8.
On the special attributes of the national versus other sorts of collective identities
see Anthony D. SMITH, National Identity, London 1991, p. 1–18, in particular
p. 13 f.
See Hayden WHITE, Droysen’s Historik. Historical writing as a bourgeois
science, in: Hayden WHITE, The Content of the Form. Narrative Discourse
and Historical Representation, Baltimore 1987, p. 88 f.
See Ákos KOVÁCS, Két körkép, Budapest 1997, p. 35.
See Eric J. HOBSBAWM, The Age of Capital 1848–1875, London 1975, Chapter
VII.
See Eric J. HOBSBAWM, Nations and Nationalism since 1780. Programme,
Myth, Reality, Cambridge 1991, p. 31, p. 36, p. 42.
On the clear distinction that the Hungarian social historians usually make
between the spontaneous and the forced assimilation of the nationalities in the
dualistic period see Gábor GYÁNI, The Concept of assimilation in recent
Hungarian social history, in: Dusan KOVAC (Ed.), History and Politics. III.
Bratislava Symposium, Bratislava 1993, p. 86–93.
See Emil NIEDERHAUSER, Honfoglalás és Millennium, in: Gábor GYÁNI,
Gábor PAJKOSSY (Ed.), A pesti polgár. Tanulmányok Vörös Károly emlékére,
Debrecen 1999, p. 153.
Emil NIEDERHAUSER, Honfoglalás és Millennium, p. 153 f.
See Budapest Fõváros Levéltára (Budapest Capital Archives) VI. 1. a. 315/
1896, 351/1896. Concerning the background of the event see Gábor GYÁNI,
Ethnicity and acculturation in Budapest at the turn of the century, in: Susan
ZIMMERMANN (Ed.), Urban Space and Identity in the European City 1890–
1930s, Budapest 1995, p. 107–113.
Emil NIEDERHAUSER, Honfoglalás és Millennium, p. 157.
Ibid.
L’ubomír LIPTÁK, Milyen történelemre van szükségünk?, in: L’ubomír LIPTÁK,
Száz évnél hosszabb évszázad. A történelemrõl és a történetírásról, Pozsony
2000, p. 69.
Frigyes PESTY, A magyar nemzet mostohasága saját maga iránt, in: Századok
2 (1868), p. 18.
Arnold IPOLYI, A magyar mûtörténeti emlékek tanulmánya, in: Századok 12
(1878), p. 58.
Arnold IPOLYI, A történelem s a magyar történelmi szellem, in: Századok 19
(1885), p. 9.
Hans KOHN, Nationalism. Its Meaning and History, Malabar 1965, p. 39.
See Flóris RÓMER, A történeti érzék keltése a közönségnél, ünnepi menetek,
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27
színpadi elõadások, nemzeti képek, történeti kiállítások és múzeumok által,
in: Századok 19 (1885), p. 114.
On the broader context of the Parallelaktion of 1898 celebrating the double
anniversary (that of the revolution and Francis Joseph’s coming to the throne)
see Peter HANÁK, Die Parallelaktion von 1898. Fünfzig Jahre ungarische Revolution und fünfzig Jahre Regierungsjubiläum Franz Joseph, in: Peter HANÁK,
Der Garten und die Werkstatt. Ein kulturgeschichtlicher Vergleich. Wien und
Budapest um 1900, Wien–Köln–Weimar 1992, p. 101–117.
Képviselõházi Napló, XIV. kötet, p. 65. On the whole episode see Gábor GYÁNI,
Történetírás: a nemzeti emlékezet tudománya?, in: Gábor GYÁNI, Emlékezés,
emlékezet és a történelem elbeszélése, Budapest 2000, p. 95–128.
See Jan ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992, Part I. Chapter II.
Subchapter on Forms of collective memory.
See Róbert HERMANN, Mûfajok és tendenciák az 1848–49-es polgári memoárirodalomban, in: Századok 128 (1994), p. 126 f.
219
Politische Erinnerungskulturen der
Habsburger-Monarchie in Ungarn:
Ein „Goldenes Zeitalter“?
Andreas Pribersky
Vergangene Herrschaftsformen oder Regierungszeiten werden in der Politik
häufig als Metaphern zur Deutung der gegenwärtigen herangezogen: Derartige Rückgriffe auf historische Muster haben aufgrund der zentralen Rolle
elektronischer Massenmedien für die zeitgenössische politische Kommunikation sogar an Bedeutung gewonnen, da diese Medien – wie etwa Peter Burke
anmerkt – dazu neigen, Ereignisse oder Personen in Form anderer Ereignisse oder Personen darzustellen.1 Dabei werden in der Regel, entsprechend
den verschiedenen politischen Weltanschauungen, Parteien, et cetera auch
unterschiedliche Erinnerungskulturen durch die Auswahl der historischen
Personen und Ereignisse der politischen Repräsentation deutlich, die einer
Akzentuierung der jeweiligen politischen Orientierung dienen.
Einige dieser historischen Deutungsmuster erhalten darüber hinaus auch
die Funktion, zur Etablierung eines gemeinsamen, nationalen oder staatlichen Referenzraumes beizutragen: Epochen oder die sie repräsentierenden
Personen werden mythisiert und damit in der darin dargestellten Gemeinschaft außer Streit gestellt – die politische Auseinandersetzung wird in diesem Zusammenhang um deren Aneignung beziehungsweise authentische Repräsentation geführt. Auch diese Funktion politischer Mythen ist mit der
dominanten Rolle elektronischer Massenmedien zu einem wesentlichen Moment der politischen Kommunikation geworden: Mythisierungsstrategien dienen – etwa über die Personifizierung politischer Gruppen oder Gemeinschaften in ihren Führungspersönlichkeiten – der Herstellung von Identifikation und damit der Legitimation von deren politischem Handeln oder der
Zustimmung zu Entscheidungen und Entwicklungsperspektiven.2
Ein traditionelles Muster zur mythischen Überhöhung politischer Zielvorstellungen ist der Mythos vom Goldenen Zeitalter: Die antike Erzählung
von einem glücklichen Ursprung menschlichen Zusammenlebens wurde in
der Philosophie der Aufklärung als Gegenbild bestehender Herrschafts- und
221
Knechtschaftsverhältnisse re-interpretiert und dient seither auch im republikanischen Staat als Bild einer „idyllischen“, „Sicherheit“ und „Glück“ verheißenden Epoche. Das Goldene Zeitalter wird seither nicht allein in einem
utopischen Gegenbild zu den herrschenden politischen Verhältnissen – in
kritischer Absicht – repräsentiert, viel geläufiger erscheint es als quasi konservative, „nostalgische“ Hinwendung zu einer vergangenen Epoche, deren
Wiederherstellung oder Bewahrung von der Politik versprochen wird.3
In der politischen Kultur Ungarns der vergangenen Jahrzehnte scheint
die Habsburgermonarchie, vor allem die Periode des Fin de Siècle, als nostalgische Metapher eines solchen Goldenen Zeitalters zu dienen. Als Hinweis
auf den metaphorischen Vergleich dieser Epoche mit dem Mythos kann hier
auf eine offizielle – von ungarischer Seite vom damaligen Bildungsministerium organisierte – Ausstellung zurückgegriffen werden, die diese Verbindung
nicht allein in den Titel aufnimmt: Etwa zeitgleich mit dem politischen Systemwechsel, von 1989 bis 1991, präsentierte die Ausstellung A Golden Age. Art
and Society in Hungary 1896–1914 die „Geburt des modernen Ungarn“ einem
britischen und US-amerikanischen Publikum.4 Die Ausstellung – Teil einer
Wiederentdeckung der mitteleuropäischen Kunst und Kultur der Jahrhundertwende durch eine breite, internationale Öffentlichkeit – nutzte im Kontext des Systemwechsels die Darstellung des Beginns der (kunst)historischen
Moderne zugleich zur Formulierung einer politischen Botschaft: „[…] Being
modern meant more than the adaptation of a new style. It was the affirmation
of a better model of existence and of a worldview in which the emphasis
shifted to the promise of a better world.“5 Der zitierte, einleitende Essay des
Ausstellungskatalogs identifiziert die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie nach dem Ausgleich des Jahres 1867, der Ungarn den Weg zu einem
wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung eröffnete, als Voraussetzung
dieser „besseren Welt“6. Als Höhepunkt dieser Entwicklung wird die Jahrhundertwende angesehen: Als „besseres Modell der Existenz“ und Grundlage des Aufschwungs werden „Kapitalismus“ und „bürgerlicher Liberalismus“
genannt. Die Ausstellung verband so mit der Präsentation der frühen Moderne in Ungarn die Perspektive einer erneuten erfolgreichen Modernisierung im aktuellen politischen Systemwechsel: „Yet, in the face of frequent
setbacks and defeat, the intellectual core of modern Hungary was taking shape.“7 Mit diesem Image einer ein(st)mal(s) erfolgreichen Modernisierung –
die um die Jahrhundertwende die „alte feudale Kultur“, die „bürokratischen“
Strukturen der Monarchie und die „ideologischen Ketten der Kirchen“8 zu
überwinden hatte – schien das Versprechen verbunden, dieser Erfolg ließe
222
sich auch angesichts der aktuellen bürokratischen und ideologischen Ketten des
Einparteienstaates im Rückgriff auf die Jahrhundertwende wiederholen.
Dieser Verweis auf die historische Blütezeit Ungarns in der ausgehenden
Donaumonarchie in Verbindung mit dem Systemwechsel des Jahres 1989 lässt
sich in eine Reihe von Rückgriffen auf die Erfahrungen aus der Habsburgermonarchie als Modell einer gelungenen Verwestlichung Ungarns stellen.
Bereits während der Kádár-Ära, in der Ungarn aufgrund der Wirtschaftsreformen, des damit begründeten relativen Wohlstands und einer größeren
politischen Toleranz9 als verhältnismäßig „liberale“ Form des Einparteienstaates galt, in der Periode des sogenannten „Gulaschkommunismus“ also,
kam es zu einer Neubewertung der Jahrhunderte ungarischer Geschichte in
der Habsburgermonarchie.
Deren Verdrängung aus der ungarischen Geschichte im politischen Kontext der Durchsetzung eines sozialistischen Systems lässt sich etwa an den
Umgestaltungen des Budapester Heldenplatzes illustrieren: Das Millenniumsdenkmal, dessen Errichtung an diesem Ort 1881 begonnen wurde und
das als Teil der Ausstellung zum tausendjährigen Jubiläum der sogenannten
Landnahme der Ungarn geplant war, war zwar zu Ende des Ersten Weltkrieges noch nicht fertiggestellt, die bereits errichteten Statuen der Habsburgerkönige wurden während der Räterepublik (1919) aber sogleich wieder entfernt
– die Statue Franz Josephs von einer zum Abbruch versammelten Menge sogar
mit Hämmern zerschlagen. In der darauf folgenden Horthy-Ära – in der sich
Ungarn mit diesem als Reichsverweser an der Spitze des Staates als Fortsetzung
des Königreichs präsentierte – wurden diese zwar wiederher- und aufgestellt,
mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eröffneten die Kriegsschäden am Denkmal aber die Möglichkeit einer erneuten Umgestaltung: Die neue politische
Macht – und das verstärkte sich nach der Machtübernahme der Kommunisten
1947/48 – betonte die Diskontinuität der ungarischen Geschichte und wandte
sich anderen Akteuren zu, die der Tradition der Unabhängigkeitsbewegungen angehörten. Anstelle der Habsburger wurde eine Galerie bedeutender
ungarischer Freiheitshelden aufgestellt, womit die ursprünglich einheitliche
Geschichtserzählung des Denkmals in zwei Flügel des Statuenhalbrunds zerbrochen wurde: einen legitimistisch-monarchistischen auf der rechten Seite,
und einen linken, der nunmehr die republikanische Geschichtsauffassung repräsentieren sollte.10 Obwohl das Millenniumsdenkmal diese Gestaltung bis
heute beibehalten hat, prägte dieses Bild der – durch ihre Abwesenheit repräsentierten – Habsburger als Gegner und Unterdrücker der ungarischen Nation nicht die gesamte Geschichtsauffassung des Einparteienstaates.
223
Bereits in den 1960er Jahren – lange vor der politischen Epochenschwelle
des Systemwechsels – beginnt eine Renaissance der positiven Repräsentation
der Habsburger in der ungarischen Öffentlichkeit, die bis heute weiterentwickelt wird. Hier sollen deshalb an einigen Beispielen dieser „Renaissance“
Charakteristika eines „Habsburger Mythos“ als positives Modell in der ungarischen Politik skizziert werden.
Das hundertjährige Jubiläum des Ausgleichs, das 1967 mit offiziellen Feiern begangen wurde, bietet dem Parteichef Kádár am Höhepunkt seiner unumstrittenen politischen Macht über Partei und Staat die Gelegenheit zu
einer Interpretation seiner eigenen politischen Rolle in der ungarischen Geschichte: Der gescheiterten Revolution – 1848/49 als Metapher für 1956 –
wird das historische Bild des erfolgreichen Ausgleichs mit der äußeren Regionalmacht als „Werk der weisen, auf Kompromiss und das Wohl der Nation
bedachten Politik ungarischer Persönlichkeiten“11 gegenübergestellt. Ein historischer Vergleich, der sich als durchaus populär erweist: Der unmittelbar
nach der Niederschlagung der 1956er Revolution begonnene, durchgehend
fortgesetzte Ausbau der gutnachbarlichen (Sonder)Beziehungen zum neutralen Österreich etwa findet in der Neuinterpretation der Abkürzung „k.u.k.“
als „Kádár und Kreisky“ einen Niederschlag im halböffentlichen Diskurs der
1970er Jahre in Ungarn.12
Der von Kádár mit dem Ziel der positiven Reinterpretation der eigenen Rolle
in der nationalen Geschichte eingeleitete, offizielle Bruch mit dem diskontinuierlichen Geschichtsbild Ungarns – der Freiheitshelden und Revolutionäre
einerseits und der fremden, das Land wiederholt beherrschenden (Über)Mächten
andrerseits – steht am Beginn einer „Habsburg-Renaissance“ in den verschiedensten Bereichen. Als ein prägnantes Beispiel für die Wiederentdeckung
eines positiven Geschichtsbildes Ungarns unter den Habsburgern kann auch
die Wiederentdeckung der Geschichte des Herrscherhauses selbst gelten, wie
sie etwa in der populärwissenschaftlichen – und populären – Darstellung der
Historiker Imre Gonda und Emil Niederhauser in der zweiten Hälfte der
1970er Jahre „frei von (ideologischen, d. Verf.) Vorurteilen“, so der Klappentext, entworfen wird. Auch diese Darstellung sieht den Dualismus der
k.u.k. Donaumonarchie als einen Höhe- (und End)punkt der Geschichte des
Herrscherhauses an und interpretiert dessen positive Rolle als integrative
Kraft einer mitteleuropäischen Region gegenüber den diese bedrohenden
Mächten des Ostens (Osmanisches Reich, Russland)13: Bereits im „sozialistischen“ Einparteienstaat entsteht also jenes Bild einer „Westanbindung“ Ungarns im Rückgriff auf die Habsburgermonarchie, das seit dem Systemwech-
224
sel des Jahres 1989 nicht bloß von der bereits erwähnten Ausstellung wiederaufgenommen wird.
Die politische und historiographische Wiederentdeckung der Habsburger – für die der Band von Gonda/Niederhauser nur ein Beispiel unter vielen Publikationen ist – bleibt auch in der Alltagskultur nicht ohne Folgen:
Spätestens seit den 1980er Jahren ist eine Wiederentdeckung und positive
Neubewertung der ungarischen Kultur der Jahrhundertwende in der Öffentlichkeit nicht mehr zu übersehen, die etwa in der Tourismuswerbung ebenso
zum Ausdruck kommt wie zum Beispiel im Wiedererrichten der Statue der –
in Ungarn zu Lebzeiten sehr populären – Königin (und österreichischen
Kaiserin) Elisabeth am Fuß der nach ihr (rück)benannten Budapester Donaubrücke.
Schon im Einparteienstaat herrscht seitdem, über ideologische und politische Grenzen hinweg, zwischen offizieller Darstellung und dissidenter Systemkritik weitgehende Einigkeit über die positiven Auswirkungen der ausgehenden Donaumonarchie auf die politische Kultur Ungarns.
Die Wiederentdeckung Mitteleuropas in den ostmitteleuropäischen Einparteienstaaten der 1980er Jahre – außer Ungarn vor allem in Polen – knüpft
in mehrfacher Weise an das Bild der Habsburgermonarchie des Fin de Siècle
an. Einerseits wird dies in der Gegenüberstellung einer intellektuellen zu der
politischen Machtelite deutlich, wie sie einer der wichtigsten Repräsentanten
der ungarischen Mitteleuropadebatte dieser Zeit, György Konrád, bereits in
der ersten Hälfte der 1980er Jahre formuliert hat: Er zieht Parallelen zwischen der ungarischen bürgerlichen Elite der Jahrhundertwende und der
Wiederaufnahme der damals entstandenen, „zivilgesellschaftlichen“ Traditionen durch die intellektuelle Opposition gegen den Staatssozialismus. 14
Andrerseits wird der Rekurs auf die Habsburgermonarchie vor allem in den
Forderungen dieser Opposition deutlich, die – ausgehend von der Beständigkeit der politischen Teilung Europas – wiederum auf einen „Ausgleich“ zwischen Staat und Gesellschaft innerhalb der herrschenden politischen Machtverhältnisse, aber – über das Kádársche Modell des Ausgleichs hinausgehend –
unter Gewährung der in der k.u.k. Monarchie bereits einmal zugestandenen
„bürgerlichen Freiheiten“ gerichtet waren. Für die ungarische demokratische
Opposition der 1980er Jahre – wie auch für die technokratische Reformelite
der Staatspartei – bildet daher die Perspektive eines erneuten Ausgleichs zwischen dem Einparteienstaat und den Ansätzen einer zivilen Gesellschaft eine
zentrale Entwicklungsperspektive, die etwa noch 1987 im damals vieldiskutierten Entwurf eines „Gesellschaftsvertrags“ zum Ausdruck kommt.15
225
Insgesamt hatte sich also, im Lauf der etwa vier Jahrzehnte des Einparteienstaats, das öffentliche Bild der Habsburgermonarchie vom Unterdrücker
der nationalen Freiheitsideale zum Vorbild einer konsensualen Modernisierung Ungarns gewandelt, dessen (teilweise) Verklärung zu einem Goldenen
Zeitalter der ungarischen Geschichte im Systemwechsel auch in der Erfahrung der Aktualität des politischen Konsenspotenzials des Vorbilds begründet sein mag.
Eine positive Deutung der Doppelmonarchie als Vorbild der auf den Systemwechsel folgenden, ebenso als Modernisierung verstandenen Reformen
von ökonomischem und politischen System ist vor dem skizzierten Hintergrund wenig überraschend. Festzuhalten ist dennoch, dass in der demokratischen politischen Konkurrenz des derzeitigen Fin de Siècle die öffentliche
Identifikation von politischen Parteien oder Programmen mit dem historischen Vorbild ebenfalls über ideologische Differenzen hinweg der Imagekonstruktion dient.
Vor allem bei den seit 1990 am politischen Leben Ungarns führend mitwirkenden Parteien im rechten, konservativ-nationalen Lager des Parteienspektrums, in dessen Repräsentation historische Bezugnahmen und „Imageanleihen“ einen bedeutenden Platz einnehmen, sind – trotz der Vielzahl von
Rückgriffen auf die verschiedensten Epochen und Persönlichkeiten der ungarischen Geschichte – die Habsburgermonarchie und besonders die Jahrhundertwende prominent vertreten.
Im Zentrum des Rückgriffs auf die Jahrhundertwende steht zunächst die
Fortführung des – bereits zu Ende des Einparteienstaats entwickelten – Plans
einer gemeinsamen, „dualen“ Weltausstellung mit Österreich, die nach dem
Ausscheiden Österreichs von der ersten, demokratisch gewählten, konservativen Regierungskoalition unter Premier Antall alleine weiterverfolgt wird
und in Teilen des Ausstellungsprogramms (historische und volkskundliche
Ausstellungen) wie in der inhaltlichen Ausrichtung als Präsentation und Motor
der wirtschaftlichen Modernisierung an die Budapester Millenniumsausstellung des Jahres 1896 anknüpfen sollte;16 von diesen Plänen wird von der, die
konservative ablösende, sozial-liberale Koalition (1994–1998) – die aus ökonomischen Gründen von der Weltausstellung zurücktrat – im wesentlichen nur
eine historische Ausstellung zur ungarischen Geschichte seit der Landnahme im Budapester Nationalmuseum realisiert. Mit einem umfassenden offiziellen Programm zu den Millenniumsfeiern der Staatsgründung im Jahr 2000
greift die „nationalliberale“ Koalition unter dem Fidesz-Premier Viktor Orbán (1998–2002) jedoch wiederum auch auf die Metapher der erfolgreichen
226
Modernisierung Ungarns in der Habsburgermonarchie zurück. Dieses Bild
kommt besonders in einem Aufgreifen der historischen Rolle und Persönlichkeit István Széchenyis zum Ausdruck, der als Leitfigur der technischen
und ökonomischen Modernisierung Ungarns nach der gescheiterten 1848er
Revolution und damit als Wegbereiter des Ausgleichs angesehen wird.
Mit der Einrichtung des nach ihm benannten Széchenyi-Plans – eines
staatlichen Fonds zur Unterstützung privater ökonomischer Modernisierungsinitiativen – versucht die Regierung Orbán ihre – im übrigen politisch und
unter Wirtschaftsexperten in ihrer Bedeutung umstrittene – Entwicklungspolitik von Ökonomie und Infrastruktur des Landes unmittelbar mit dem
historischen Vorbild zu verknüpfen. Mit dieser Repolitisierung des Vorbildes wird auch eine Re-Präsentation von dessen Image als Teil einer Reihe von
staatlich in Auftrag gegebenen und finanzierten Spielfilmen zur ungarischen
Geschichte verbunden. Als Station in einer Reihe offizieller Selbstdarstellungen der Regierung Orbán mit historischen Bezügen im Wahlkampf des Jahres 2002 hat auch das Filmepos A Hídember (Der Brückenbauer) über das Leben
Széchenyis Premiere: die Erstaufführung des – als historisch getreu präsentierten, in seiner Authentizität aber fragwürdigen Historienfilms17 – erfolgt
unter Teilnahme der gesamten Führungselite der Koalitionsregierung: in
einem, als Nationales Filmtheater neugegründeten, frisch renovierten Budapester Kinosaal der Jahrhundertwende.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts bleibt also der Rückgriff auf das Ende
des 19. Jahrhunderts Teil des Versuchs, die „traditionelle Modernität“ des
Landes in populären Imagekonstruktionen zu repräsentieren. Der „Brückenbauer“ Széchenyi findet auch im Ungarn-Pavillon der Hannoveraner Weltausstellung 2000 mit einer Darstellung der, auf seine Initiative errichteten Budapester Kettenbrücke – der ersten festen Verbindung über die Donau von
Pest und Buda (Ofen) – einen würdigen Platz, der im Katalog unter anderem
so beschrieben wird: „Ende des 18. Jahrhunderts befand sich Ungarn bereits
auf dem Weg zur bürgerlichen Umgestaltung des Landes.“18 Vielleicht ist es
ein Widerschein des Wissens um die Ambivalenz dieser Modernisierung, dass
sich unter den in Hannover präsentierten Exponaten – die im wesentlichen
historische Beispiele für Fortschrittlichkeit und den Erfindergeist der ungarischen Nation darstellen – auch Gyula Benczúrs bekanntes Portrait der
Königin Elisabeth (im schwarzen Kleid vor goldfarbenem Hintergrund) findet.
Wer nun meint, mit der Wahlniederlage der Koalition unter Orbán (2002)
und der derzeitigen Neuauflage der sozialliberalen Koalition wäre auch ein
227
Zurückdrängen der Bedeutung der „Geschichts-“ beziehungsweise „Erinnerungspolitik“ verbunden, wurde von dieser rasch enttäuscht. Dies kommt
unter anderem in der finanziell bedeutendsten, staatlichen institutionellen
Neugründung des Jahres 2002 im Wissenschaftsbereich zum Ausdruck: Der
Gründung einer – vom Historiker András Gerõ, einem Berater des kleinen
Koalitionspartners, des liberalen SZDSZ, geleiteten – Habsburg-Stiftung zur
Erforschung der Geschichte der Habsburgermonarchie in Ungarn, von der
in einer führenden politisch-ökonomischen Wochenzeitschrift des Landes
unter dem Titel „Ausgleich?“ berichtet wurde.19 Es scheint somit, als hätte
auch die Nachfolgepartei des zivilgesellschaftlich orientierten Teils der demokratischen Opposition im Einparteienstaat die politische Auseinandersetzung um die „richtige“ Interpretation dieses Teils der ungarischen Geschichte noch nicht „zu den Akten gelegt“.
Die Beständigkeit dieser politischen Habsburg-Renaissance – die als kaum
umstrittenes Bild eines Goldenen Zeitalters durchaus zu den politischen Mythen gezählt werden kann – über ideologische und Parteigrenzen ebenso wie
über historische Brüche wie den Systemwechsel hinweg, scheint tatsächlich
zu einer Re-Lektüre der ungarischen Geschichte der Donaumonarchie als
einer Voraussetzung der Interpretation der politischen Kultur des Landes zu
zwingen. Vielleicht eignet sich der, in den zeitgenössischen Erzählvarianten
der ungarischen Darstellung des Habsburgermythos wiederholte Dualismus
von Scheitern und Ausgleich als Muster einer großen Erzählung: von der
Überwindung der Folgen von Fremdherrschaft und Kolonisation durch den
Rollenwechsel vom Kolonisierten zum Mit-Kolonisator?
Anmerkungen
1 Vgl. Peter BURKE, Geschichte als soziales Gedächtnis, in: Aleida ASSMANN,
Dietrich HARTH (Hg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen
Erinnerung, Frankfurt a. M. 1991, S. 289–304, hier S. 298 f.
2 Vgl. Murray EDELMAN, Politik als Ritual, Frankfurt a. M. 1990, S. 110–120.
3 Vgl. Raoul GIRARDET, Mythes et mythologies politiques, Paris 1986, S. 97–129.
4 Vgl. Gyöngyi ÉRI, Zsuzsa JOBBÁGYI, A Golden Age. Art and Society in Hungary
1896–1914, Budapest–London–Miami o. J.
5 Lajos NÉMETH, Art, Nationalism and the Fin de Siècle, in: ÉRI, JOBBÁGYI, A
Golden Age, S. 19–29, hier S. 29.
6 Ebenda, S. 19.
7 Ebenda, S. 29.
8 Ebenda.
228
9 Siehe das Kádár zugeschriebene Zitat „Wer nicht gegen uns ist, ist mit uns“.
10 Vgl. András GERÕ, Der Heldenplatz. Budapest als Spiegel der ungarischen
Geschichte, Budapest 1990.
11 Andreas OPLATKA, Nachrufe auf den Ostblock: Zehn Essays, Wien u. a. 1998,
S. 68.
12 Vgl. Cornelia GROSSER, Sándor KURTÁN, Karin LIEBHART, Andreas
PRIBERSKY, Genug von Europa. Ein Reisejournal aus Ungarn und Österreich.
Wien 2000, S. 179.
13 Vgl. Imre GONDA, Emil NIEDERHAUSER, A Habsburgok, Budapest 1978
(dt. Die Habsburger, Wien 1985).
14 Vgl. György KONRÁD, Antipolitik. Mitteleuropäische Meditationen. Frankfurt a. M. 1985, S. 115 ff.
15 Publiziert in Beszélõ 2 (1987).
16 Vgl. GROSSER et al., Genug von Europa, S. 200–224.
17 Die Filmerzählung deutet anstelle des Selbstmordes Széchenyis einen durch
Metternich in Auftrag gegebenen Mord an, was von prominenten ungarischen
Historikern bereits in der Diskussion der Produktion kritisiert wird; vgl.
auch die Wochenzeitschrift Heti Világgazdaság (hvg) vom 6. Oktober 2000,
S. 91–92.
18 Katalog Ungarn Expo 2000: Treffpunkt Ungarn, o. J.
19 Hvg vom 20. November 2002, S. 100–101.
229
Periphere Angelegenheiten /
Angelegenheiten der Peripherie.
Einschreibungen in eine Karte von „Adiáphora“
Ursula Reber
Um es gleich vorweg zu nehmen: „Adiáphora“ ist kein existierendes Land,
noch nicht einmal ein Irgendwo auf einer Karte, die Wirklichkeit wiederzugeben beansprucht, verzeichnetes Gebiet oder Territorium, sondern ein durch
und durch imaginäres Gebiet. Peripherie und „Adiáphora“ bezeichnen dasselbe, einmal im Sinne eines Randbezirkes, der als solcher aufgrund mangelnder, nämlich nicht-zentraler Wichtigkeit nur teilweise sichtbar ist und
sich nur konzentrisch erschließt: Die Peripherie ist auf einer Karte dasjenige, in immer helleren Farben rund um ein Zentrum gelagerte Gebiet, das
sich farblich vom deutlich dunkleren, dichteren, interessanteren Zentrum
abhebt, gar mit weißen Flecken durchsetzt ist, vor allem wenn es per Legende
um Zivilisatorisches, Kulturelles und Touristisches geht. Das andere, Adiaphorische, findet sich nur auf einer mentalen Karte und bezeichnet in etwa
ein Gebiet „interesselosen Wohlgefallens“ oder vollkommener Gleichordnung
von a-zentralen, belanglosen, da weder guten noch bösen [so die eigentliche
Bedeutung des griechischen Adjektivs] Einzelheiten. „Adiáphora“ ist eine
Ansammlung von Gleich-Gültigkeiten, die infolge dessen eine recht eigenartige Karte ergäben, im Extremfall eine rein weiße Fläche.
Angelegenheiten der Peripherie können periphere Angelegenheiten sein;
meist sind aber gerade sie von den unterschiedlichsten zentrumsgesteuerten
Interessenslinien durchzogen. Die weißen Flecken auf Karten der Peripherie
sind mit Bedacht allein dazu gesetzt, ausgefüllt zu werden. Die periphere
Geographie ist ein Konstrukt auf Zeit, das sich in dauernder Grenzverschiebung befindet. Wo die Produktion von Grenzen und Differenzen aufhört
und durch einen Raum Adiáphora abgelöst wird, ist noch nicht zu ersehen.
Für meine eigenen Gebietsabsteckungen des Raum-Zeit-Gefüges habsburgischen und deutschen Territorialinteresses steht mir in Anlehnung an
einen bereits publizierten Aufsatz1 Edward Said2 zur Seite. Mit ihm und
weiteren VermessungskünstlerInnen suche ich mit drei Reisenden die Pe-
231
ripherie der habsburgischen Peripherie auf: Dalmatien, Bosnien und
Montenegro.
Landbegeh(r)ung
„At some very basic level, imperialism means thinking about, settling on,
controlling land that you do not possess, that is distant, that is lived on and
owned by others.“3 Das bloße Wissen um entfernte Gebiete übt den von Edward Said beschriebenen, automatischen Reiz begehrenden Nachdenkens aus
und veranlasst die Fantasie zu Spaziergängen im Fremden, um mittels Analogiebildungen, Wünschen und Ängsten die erste, private imaginäre Geographie des Fremden zu zeichnen, die durch Verallgemeinerung, Institutionalisierung und Anerziehung zu einer imperialistischen Geographie, der interessensgeleiteten und fantas(ma)tischen Extrahierung eines Gebietes, geführt
werden kann. Anscheinend zwangsläufig impliziert das Nachdenken über
Territorien, die anderen gehören, die Produktionsmaschinerie von Bildern
des Eigenen und des Fremden und damit in Folge von Identität und Differenz in Gang zu setzen. „Territorium“, „Raum“ und „Ort“ sind dabei unter
anderem auch „real-irdisch“ gebunden, vor allem aber (symbolisch) kodierte
und medial vermittelte Erfahrungs- und Kommunikationsräume, die ohne
Weiteres die Ablösung vom „Irdischen“ erlauben.4
Die drei Balkanländer durchlaufen in der Chronologie der Reiseberichte
Änderungen von wirtschaftlich und politisch begehrten Peripherien über
mythisch-exotische Räume hin zu einem konkreten Kulturraum mit eigener
Dynamik. Dalmatien ist zum Zeitpunkt der Abfassung aller drei Berichte ein
habsburgisches Kronland und fungiert einerseits lediglich als Link zu den
begehrten Ländern und andererseits als „Kulissenland“ eines gewissen „inneren Exotismus“ mit sehr privaten Zügen, wie besonders im touristisch orientierten Reisebuch Kurt Floerickes sichtbar wird. Montenegro, das zwar
stets unter politischem, diplomatischem und „kapital(istisch)em“ Einfluss
Habsburgs stand, aber durch das Protektorat Russlands bis auf kleine, mühsam zu Gunsten Albaniens und Dalmatiens abgerungene Teile unerreichbar
blieb, erhob selbst Anspruch auf Bosnien und die Herzegowina. Sterneck
nimmt diesen Anspruch insofern ernst, als er Nord-Montenegro reversiv in
seinem geographischen Kommunikationsbericht (1877) dem bosnisch-herzegowinischen Gebiet einverleibt. Dieser Text zeigt unverhüllt den Kontext des
Kampfes um das Territorium Bosnien, das 1878 annektiert werden sollte. Das
232
zweite, 1911 erschienene Reisebuch arbeitet mit der Temporalisierung von
Raum,5 angefangen mit einer romanesken historischen Einführung in dalmatinische Geschichte und endend in einer gespaltenen Zeitkarte Montenegros, auf der sich die Vorgeschichtlichkeit der Landschaft, Archaisches im
Sozialsystem und Relikte der Modernität Europas begegnen. Diese Heterogenität wird einerseits in ein Entwicklungstelos „nach Europa“ umgesetzt,
andererseits als Reservat des entzogenen Ursprungs für den europäischen
Urlauber als schützenswert erklärt. Der dritte Text (1913) schließlich, obwohl
auch er exotisierende Elemente zeigt, zeichnet einen gegenwartsbezogenen
und eigenständigen (Kultur-)Raum Montenegros. Ein mögliches Gebiet „Adiáphora“ scheint aufzutauchen.
„Ich habe in jenen Gegenden den Hunger und was noch mehr ist, den Durst und das
Fieber kennen gelernt“. Balkanlandschaften zwischen Untergang und Verführung
Im Auftrag des k.u.k. Reichs-Kriegs-Ministeriums bereiste Heinrich Daublebsky von Sterneck, k.u.k. Hauptmann im Generalstabe, von 1871–756 Bosnien,
die Herzegowina und Nord-Montenegro; die Interessen seiner Reisen und der
daraus hervorgegangenen Schrift waren „in erster Linie geodätische[r]“ Natur
und dienten nur nebenbei noch anderen Zwecken,7 die in drei Karten im
Anhang festgehaltenen sind, als vermeintlich unmittelbar zugängliche Repräsentationen seiner Beobachtungen bezüglich Flüssen, Gebirgen, Verkehrswegen, des Reisens, des Eisenbahnbaus und alter Monumente (S. 8), „welchen
diese Zeilen nur als erklärender Text beigegeben sind“ (S. 4). Sowohl in der
Einleitung (S. 4) als auch im Konzeptabriss (S. 8) betont Sterneck, keine militärische Skizze vornehmen zu wollen, „ebensowenig eine Flugschrift mit politischen Tendenzen“ (S. 4). Die zweimalige Versicherung, dass ein k.u.k. Hauptmann sich ohne militärische Interessen in einem Gebiet bewegt, das wenige
Jahre später (1878) unter der Verwaltungsherrschaft des Staates, der ihn entsandt hat, stehen wird – unter der Zusicherung von am gesamten Balkan und
dessen repräsentativ-politischer wie wirtschaftlicher Geographie höchst interessierter und involvierter Staaten, dass Österreich-Ungarn „could [...] help
herself to Bosnia and Herzegovina“8 –, mutet seltsam an. Als zweite Folie
sollte über die Versicherung der dezidiert nicht-militärischen Mission eine
spätere Auskunft, im Rahmen von Pro- und Contra-Thesen betreffs des Verlaufs der Eisenbahnnetze, gelegt werden: „Der letzte Theil der Trace endlich
ist wegen [...] der Nähe der serbischen Grenze, welche im Falle politischer
233
Verwicklungen eine unausgesetzte Vertheidigung der ganzen Linie bedingt,9
wegen der leichten Verletzbarkeit und der daraus resultirenden Unzuverlässigkeit der Bahn auch in militärischer Beziehung [...] nicht von bedeutendem Werthe[.]“ (S. 43)
Es spielt keine Rolle, ob der Verfasser dieser Zeilen persönlich von der
Aufrichtigkeit der nicht-militärischen und unpolitischen Absichten seiner
Kundschafterdienste überzeugt ist; gemeinsam mit einer weiteren Neutralitätsversicherung, dass „da nicht der Hintergedanke einer Eroberung [liegt],
denn die Argumentation bleibt richtig, mögen die Grenzpfähle des Landes
was immer für Farben tragen“ (S. 42), zeugt von dem Reichsgedanken, den
Said jedem Repräsentanten imperialer Kulturformen zuspricht. Dabei behaupte ich, dass im Falle des Hauptmanns Sterneck im Gegensatz zu der
britischen Schriftstellerin Jane Austen, die im „Mutterland“ eines Kolonialreiches geblieben ist, weniger Analysearbeit im Bereich eines „geopolitischen
Unbewussten“ zu leisten ist, sondern aufgrund der beruflichen und standesgemäßen Involviertheit in wesentliche Herrschafts- und Verteidigungs-/
Eroberungsapparate im Gegenteil von einem „geopolitischen Bewusstsein“ ausgegangen werden darf.10
Die Fotografien von Ljubinje und Trebinje und andere Bilder aus jenen Gegenden
machen den Eindruck der todesstarren Augen eines Verscheidenden; meilenweite
Strecken sind ohne Wasser, beinahe ohne Vegetation und unbewohnt. Die vielen
verlassenen Wohnsitze zeigen deutlich, dass die Zahl der Bevölkerung in Abnahme
begriffen ist, woran wohl nur zum Theile die politischen Verhältnisse Schuld sind,
da in dem benachbarten Bosnien unter gleichen politischen Verhältnissen das
Gegentheil stattfindet (S. 13).
Dalmatien, das hier zur Debatte steht und auf den Seiten zuvor ausführlich
in oro- und hydrographischer Hinsicht beschrieben wurde, verschwindet nun
vollkommen in dem medialen Eindruck der Fotografie, die dem Verfasser
geeignet scheint, seine vorwiegend durch Leiden geprägten Erfahrungen
wiederzugeben. Dieses Leiden an der Landschaft wird in einem Akt der Subjektkonstitution und ihrer reproduzierten Vermittelbarkeit in die menschenleere Landschaft zurückverlagert. Das Frei-Sein von Menschen vermittelt außer der Glaubwürdigkeit der eigenen Strapazen die Wahrheit der anthropologischen Geographie: Auch der einheimischen Bevölkerung ist es nicht
möglich, in dieser Gegend zu (über)leben. Das einzelne Bild lässt nicht nur
auf die trostlose Natur schließen, sondern ist auch geeignet, den erbärmlichen Zustand der Bevölkerung, die wie die Beschaffenheit des Landes „offenbar einer traurigen Perspective und unaufhaltsam dem Verfalle entgegen
234
[geht]“, ja mit ihm „vielleicht einmal ganz zu verschwinden“ (S. 12) droht, zu
zeigen. Diese apokalyptischen Perspektiven leiten dazu über, „dass es, vom
national-ökonomischen Standpunkte aus beurtheilt, vergebens ist, in diesem
Gebiete Häfen oder Bahnen zu bauen“,11 ebenso wie wohl auch eine Änderung der „politischen Verhältnisse“ – die eng mit der verkehrstechnischen
Erschließung zusammenhängen – dem etwas entgegenzusetzen hätte.
Die Beschreibungsstrategie Sternecks durch Text, Karten und Fotos gibt
die mit Andrew Sluyters Äußerungen konkordierende Gespaltenheit von Raum
und Landschaft wieder, denn „space is a medium through which the struggle for control takes place, the spatial strategies of domination and resistance
[...]. [...] landscape thus is doubly essential, to indicate both conflict over
space and conflict through space.“12 Die Wahrnehmung der Landschaft wird
mittels sprachlicher („todesstarre Augen eines Verscheidenden“, S. 13) und
fotografischer Bilder (im Anhang), mit den imperialistischen Territorialinteressen (im Falle Dalmatiens den Eisenbahnbau nur „auf die Verbindung mit
Bosnien hinzielen[d]“ und nicht entlang der Küste, wovon „nicht einmal in
politischer oder militärischer [!] Beziehung ein Nutzen erwartet werden darf“
[S. 13]) und dem naturalisierten13, ökonomischen Interessen nicht zweckdienlichen Einheimischen homogenisiert. In der Schilderung bosnischer Landstriche zeichnet sich deutlich das Interesse an der Ausweitung der unmittelbaren Machtsphäre ab: Hier ist im Gegensatz zur Ödnis Dalmatiens von
„mitunter prachtvolle[m] Urwald“ die Rede, die Landschaft zeigt „sanftere
[] Abfälle“ und bietet sich insgesamt als Kulturlandschaft dar, die mit einer
entsprechend „betriebsamere[n] Bevölkerung“ gesegnet, gleichwohl – angezeigt durch Elativ und Komparative – weiterer Kultivierung würdig ist, denn
„wenn sie jetzt auf einer niedrigen Culturstufe steht, stellenweise in Stumpfsinn verfällt, so sind hieran [...] Ursachen [schuld], die unter anderen Verhältnissen bei der Bevölkerung der armen und ressourcenlosen Herzegovina
und Montenegro’s den Geist der Selbstständigkeit und der Kampflust erzeugen“ (S. 15). Wie schon früher vermeidet Sterneck, die politischen Umstände wie etwa die türkisch-osmanische Herrschaft über den Balkan direkt
zu benennen, die vor allem von montenegrinischer Seite mit leidlichem Erfolg bekämpft wurde.
Im Verlauf der Argumentation für die bosnische Eisenbahn zeigt sich,
dass das imperiale Interesse an nutzbarer Einheit von Territorium (Bosnien
ist Hinter- und Durchzugsland für den Handel der östlichen Länder Österreich-Ungarns an die Küste) und heimischen Arbeitskräften der rechtfertigenden Selbstinterpretation bedarf und von Sterneck in „Culturrücksichten“
235
des Eisenbahnbaus geleistet wird: Sie bestehen in der „Aufklärung“ des Landes und der Ermöglichung der Teilhabe am Wohlstand, wodurch sich „der
jetzt lodernde Kampf“ um Unterdrückung, Selbstbestimmung und Milderung der hohen Steuerlasten14 beenden lässt: „Unter den jetzigen Verhältnissen wird ihn die Diplomatie wohl niemals, das Schwert nur nach Hekatomben
von Menschenopfern, – eigentlich nur durch die Ausrottung der unterliegenden [bosnischen, Ergänzung der Verfasserin] Race beenden.“ (S. 39). Unter
österreichisch-ungarischem Einflussbereich, symbolisiert durch die aufklärende, mit frischen Ansiedlungen und verbesserter Hygiene einhergehende
Eisenbahn, sieht Sterneck jedoch geordnete kapitalistische Verhältnisse heraufziehen, unter denen „der Fleissige zu Besitz und damit zur Geltung
[kommt] und nur dadurch, dass [...] Fleiss und Intelligenz zur Macht gelangen, auch die Religionsfrage gelöst werden [kann].“ (S. 39).
„Hygiene“ erhält eine doppelte Bedeutung: Der Bosnier als geradezu prototypisches Beispiel einer subject-race wird einer Form des Orients, der osmanischen Herrschaft, entrissen, dessen Ansteckungssymptome in „Besitzgier
und knechtische[m] Sinn“ (S. 16) sowie in Stumpfsinnigkeit bereits erkennbar sind. Die unhygienischen Zustände, auf die Sterneck auf Seite 40 nur
anspielt, in den Anfangsparagraphen aber ausführlichst dargetan hat, sind
nur der materialisierte Beweis einer mentalen „orientalischen Krankheit“.
Die Würmer, Egel, Insekten, Trübstoffe im Zisternenwasser eine Äußerungsform eines über-üppigen, allzu natürlichen Zeugungsdrangs einer orientalistischen Natur, die Laschheit in Hygienefragen, die auf den von Mattigkeit
und Teilnahmslosigkeit gekennzeichneten Reisenden übergreift, eine zweite.15 Kontrastieren die Balkan-Völker schon „in ihrer Lebensweise und Anschauung so sehr mit dem übrigen Europa, dass man sich in einen anderen
Welttheil versetzt glaubt“ (S. 7), so wird dies durch die Herrschaft der Muslime noch weiter getrieben. Geographisch und soziologisch parzellierende sowie kulturelle Aufklärung durch das technisierte, christliche Europa leistet
in dem scheinbar fremden Weltteil Befreiungs- und Entwicklungsarbeit:
(Re-)Christianisierung als Lösung von ethnisch-religiösen Fragen und Kapitalisierung, die in erster Linie – aber im letzten Argument, „dass jetzt Arbeitskraft und der Grund für den Bahnbau sehr billig zu haben wären“
(S. 40) – nicht den Balkanvölkern selbst, sondern dem imperialistischen Reich
zu Gute kämen.16 Eine Tatsache, um die Sterneck weiß, da er sich genötigt
fühlt, Eroberungsabsichten auszuschließen, humanitäre Beweggründe anzuführen und sogar die Vaterlandsliebe des Dalmatiners ins Spiel zu bringen.
Dieser ist zwar nicht sein Adressat, doch als ausgewiesener Kenner von Land
236
und Leuten repräsentiert Sterneck gegenüber dem österreichisch-ungarischen
Militär und der Verwaltung dessen Stimme.
Sterneck bietet in seinem Bericht zwei Geographien, eine offizielle und
eine private. Bemerkenswerterweise fällt die offizielle moderater als die zu
weitesten Strecken aus Tagebuchauszügen bestehende private aus. Die Raumwahrnehmung, sobald sie über das rein Geodätische und Fragen des „Terraforming“ hinausgeht, bleibt durchwegs von Fremdheit und Abneigung geprägt, in deren Dienst die Medien der „Authentizitätsvermittlung“, Fotografie und Tagebuch, gestellt sind. Beachtenswert sind die Punkte, an denen die
strategisch-offizielle und die privat-expulsive zusammenkommen: in der physischen Geographie des apokalyptischen Dalmatien, dessen Einwohner charakterlich analog zu ihrer Landschaft gestaltet und für den Berichtenden
weniger erwähnenswert sind als ihre weit bewunderungswürdigeren Pferde,
denn Sterneck sieht es als „Akt schuldiger Dankbarkeit“ an, „wenn ich hier
des Verstandes dieser Thiere gedenke.“ (S. 24) Bosnien hingegen ist tatsächlich Eroberungsgebiet und veranlasst diffizilere Strategien, um zwischen dem
Schock der Erfahrung und dem Regulierungsauftrag zu lavieren. Der imaginäre Raum Bosnien zerfällt in die Tagebucheintragungen, die von der eigenen Peripheralität gegenüber der osmanischen Macht und von der Gefahr
der eigenen Re-Naturalisierung künden, sowie in die auf geologische, verkehrstechnische und soziologisch-kulturelle Karten-Flächen reduzierte Beschreibung eines verheißungsvollen Ausbaugebietes. Beide Bestandteile bedingen, dass der Einheimische nur im Rahmen der imperialistisch-kolonialistischen Identitätsstiftung sichtbar wird, in jener eigentümlichen „negative[n]
Dialektik der Anerkennung. Der Kolonisator produziert den Kolonisierten
als Negation, doch mittels einer dialektischen Wendung wird diese negative
kolonisierte Identität ihrerseits negiert, um das positive Ich des Kolonisators
zu begründen.“17 In besonderer Weise werden am Balkan des 19. und 20. Jahrhunderts all diese sattsam bekannten kolonialen Mechanismen der Produktion
von Alterität und Identität verdoppelt und gebrochen, dadurch dass die subject-races geographisch Europäer sind, kulturell-kollektiv betrachtet aber Slawen, und dadurch dass sie als bereits vom Orient Unterworfene und über
Umwege der kulturellen „Ansteckung“ Orientalisierte erscheinen. Insofern
stehen erratisch die gegenläufigen Imaginierungen der „von einstiger Größe
arg herabgekommenen“18 „Völker aus einem anderen Welttheile“ und der vom
Orient zu befreienden und wieder zu integrierenden Brüder nebeneinander.19
Die Frage, was mit den eigentlichen Landbesitzern zu tun ist, spaltet sich
gleichfalls auf, da es deren mindestens zwei gibt: osmanische Besatzer und
237
einheimische Bosnier. Das Arrangement mit den Besatzern, deren Stelle eingenommen werden will, muss durch Alteritätserzeugung, die strategische
Orientalisierung der Osmanen20, zum Zweck der positiven Identitätsgewinnung abgelöst werden. Dadurch eröffnet sich für den Einheimischen eine
Nische der wohlwollenden (wie etwa zu seinen intelligenten und duldungsfähigen Pferden) bis humanitären (wie zum ungebrochen, stolzen Montenegriner oder zum arbeitsamen Bosnier) Zuneigung. Deren Nutzung kann sich
prinzipiell zwischen Peripherie und Adiáphora bewegen.
„Blicke ins ,Kulissenland‘“: Touristische Landschaftsinszenierungen
Das territoriale Bewusstsein von spaces of leisure oder adventure dürfte eher im
engen Sinne geoästhetisch21, denn geopolitisch ausgerichtet sein und somit
einer adiaphorischen Geographie näher kommen als die imperialistische
Geographie Sternecks. Das „Kulissenland“22 präsentiert allerdings eine Reisestrategie, die auf die Inszenierung einer touristischen Landschaft hinweist.
Kurt Floerickes Dalmatien und Montenegro sind Kulissen in mehrfacher
Hinsicht: vorderhand Kulissen ihrer Geschichte, die „für die beste Reisevorbereitung“ gehalten wird, und die operettenhaft „unendlich reich“, „dramatisch und wechselvoll“ (S. 7) in diese Kulisse eingeschrieben ist. Das Gedächtnistheater23 setzt mit der stimmungsvollen Erzählung des „prunkliebende[n]
orientalische[n] Despoten“ (S. 6) Diocletian ein und spielt anschließend die
Tragödie der Kolonisierungsgeschichte (S. 7) Dalmatiens vom „grauen Altertum“ bis in die Gegenwart nach. Das Terrain der Gegend als historisch-kulturelle Kulissengeographie ist damit abgesteckt als Exemplum, „wie es auch
die kühnste Phantasie nicht bunter und bewegter ersinnen könnte!“ (S. 7) In
dieser Nachzeichnung historischer Eroberungen und Raumnahmen mitsamt
der Re-iteration ihrer Raum-Zeit-Ausdrücke essentialisieren diese die Zusammenhänge von Begehren und Landnahme.24 Floerickes dramatische Metaphoriken vermitteln Dalmatien und Montenegro, vorbereitet durch spezialisiertes Wissen aus der Balkanhistorie, als „Orientalisten-Provinz“, als Erkenntnis-Raum eines Spezialisten.25
Der dramatischen Kulisse sind auch die montenegrinischen Statisten angepasst, sowohl optisch als „hochgewachsene [], kriegerische [] Gestalten in
ihrer malerischen Nationaltracht“ (S. 153), denen verglichen der Dalmatiner
„uns wie ein Schwächling vor[kommt], und der Hezogovce und Bosniake
vollends uns diesen Hünengestalten gegenüber geradezu wie der Vertreter
238
einer degenerierten Rasse an[mutet].“ Der Stoff, aus dem die montenegrinische Geschichte gestrickt ist, glänzt durch jahrhundertlange blutige Freiheitskämpfe, die im Verein mit dem Setting schroffer Landschaft und harten Klimas „Gebirgsspartaner mit einem Hauche köstlicher Räuberromantik“ (S. 153) hervorgebracht haben. Die Konstitution des Subjekts äußert
sich durchwegs in ästhetischen Kategorien: in bewunderndem Anstarren,
im Erzählen abenteuerlicher Geschichten und einer steten Konstruktion
von temporal-moralischen Differenzen: Die wichtigsten archaischen Beigaben sind Blutrache und Sittenstrenge. Das Meistern der Moderne wird
dadurch symbolisiert, dass Liberalität sich am besten im strengstens patriarchalischen Regiment des Königs verwirklicht. Dagegen gehalten wird die
Hauptstadt Cetinje, als „schon etwas von der Zivilisation angekränkelt“ (S.
155).
Floerickes Montenegriner schweigt nicht wie der Sterneck’sche Bosnier,
er bekommt dramatische Dialoge zugeteilt, die sich vor allem in anmutiger,
dem Kulissensetting eingepasster Bewegung äußert. Das Andere des „Orients“,
das unentwegt durch das Wissen um seine Geschichte, Nationalität und politische Lage in eine theatralische imaginäre Geographie eingefügt wird, die
über ästhetisch-moralische Reinheitsvorstellungen die eigenen Identitätszuschreibungen bestätigt und in moralischer Hinsicht in Richtung Ursprung
verrückter Übertragung die belebte Landschaft enthistorisiert, wobei zum
Beispiel die Aufstände in Albanien mitsamt montenegrinischer Beteiligung26
zur farblichen Belebung durch die „Harlekinskostüme“ der Albaner ästhetisiert werden, dient allein der Subjektkonstitution des bayerischen Reisenden,
zu dessen Ergötzung und Katharsis ein Schauspiel mit schrecklichen Momenten aufgeführt wird. Mehr noch als bei Sterneck liegt hier eine Landschaft des Begehrens und Aneignens vor, da jede einzelne Erzählung der
Einheimischen selbst durch eine gezähmte und theatralisierte Version einer
typischen christlich-europäischen Nationswerdung ersetzt und ausgelöscht
wird. Der Montenegriner ist in diesem Schauspiel allein dafür gut, dass der
Betrachter sich mit ihm identifizieren kann.
„Dienstmütze und Uniformmantel mußten in Cetinje auffallen, als Exotica den Leuten in die Augen springen“. Annäherungen an eine Karte Adiáphoras
Der Schriftsteller Artur Achleitner27 reist als ausgewiesener Experte im
Human(itär)en. Die Absicht, Gemeinsamkeit mit den Beschriebenen zu er-
239
zeugen, teilt er mit Floericke. Bereits mit den ersten Zeilen gibt Achleitner
sich als Anwalt Montenegros zu erkennen:
Hinauf in das meistverleumdete Land Europas! Man kommt leicht hinauf, sehr
schwer aber ist es, auf dieser interessanten Fahrt all die Mißgunst und Vorurteile,
die gehässigen Beeinflussungsversuche niederzuzwingen, deren sich ein Montenegro-Fahrer kaum erwehren kann, wenn die Absicht des Besuches bekannt geworden
ist. In erstaunlicher Vielfältigkeit tritt das Übelwollen gegen Montenegro auf, es
wird das interessante und arme Land von Personen verleumdet, denen eine unschöne Handlungsweise gar nicht zuzutrauen wäre. [...] Die ärgsten Verleumder wohnen
merkwürdigerweise ziemlich weit vom verlästerten Lande entfernt; in der nächsten
Nachbarschaft Mißgunst und Haß anzutreffen, würde begreiflich erscheinen, doch
ist dies nicht der Fall! (S. 126)
Im Rahmen seines Verteidigungsprogrammes gegen österreichische Missgunst
und Hass, die entstanden sind aus österreichisch-montenegrinischen Territorial- und Machtkonflikten, die derzeit vor allem ein weiteres, von beiden
begehrtes Territorium: nämlich Scutari in Albanien, betreffen, gestaltet Achleitner seine Reisebeschreibung zum Kreuzverhör österreichischer JournalistInnen. Die Begegnung mit König Nikolas, im Herzstück des Berichts, hat
Exempel-Funktion der Verteidigung. Der König als Repräsentant Montenegros, – nicht aber „der/die Subalterne“ als repräsentiertes Volk – erhält innerhalb dieses Fremdtextes eine durch kein Drehbuch festgelegte Stimme.
Ohne sie in weiteren Dialogen wiederzugeben, weiß der Autor seine ästhetisch-rhetorischen Fähigkeiten so einzusetzen, dass neben den emotionalen,
appellativen Äußerungen des Erzählers Raum für die Stimme des Anderen
bleibt. Der Erzähler vergisst nicht, auf die Problematik weder der Landschaft
noch seiner Besitzer zu sehen, ob er nun auf die Fragwürdigkeit montenegrinischer Außen- und Bündnispolitik vor allem gegenüber Serbien und Albanien hinweist, ob er auf die Schwierigkeiten der Innenpolitik und die „Heimatlosigkeit“ zahlreicher junger Akademiker eingeht und dabei Verständnis
um die Dynamik von Bildung, Arbeitslosigkeit und Armut, Unzufriedenheit
und Auflehnung trotz der gegenteiligen eigenen Haltung aufbringt, oder ob
er nicht nur den journalistischen Verunglimpfungsattacken, sondern ebenso
auch romantisierenden Alteritätsproduktionen zu Leibe rückt und fast kontrapunktisch mit der Tatsächlichkeit und Unfassbarkeit der von Entbehrung
gezeichneten Körper kontrastiert (S. 186). Die Karte, die Achleitner von
Montenegro zeichnet, dient weder dem Beschreibenden noch dem Beschriebenen als „Space of Identity“ in Abhängigkeit einer „kolonialen“ Alteritätsproduktion. Der Schriftsteller und Ästhet verzichtet auf imperialistisches
240
Reichsbewusstsein, um an der Zeit zu bleiben. Das heißt, dass er den orientalistischen und den anti-orientalistischen Diskurs so wiedergibt, dass der seine Mechanismen offenbart. Die Verkennungen eines „land, owned by others“
innerhalb dieser Diskurse holt der Text wieder herein, durch die Penetranz
des ständigen Verweisens auf vor allem ökonomische Macht- und Interessenskonflikte, die Montenegros Geographie durchziehen, durch die Subjektivierung der gegenüber ihrer Landschaft selbständigen Bewohner als zivilisatorische Gemeinschaft und dadurch, dass er selbst sich in die einzige ihm
mögliche Rolle fügt, die Humanität ohne Identifizierung erlaubt: Gast zu sein.
Eine Rolle, die ihn dazu bewegt, für einen kurzen Moment den Blick der
Anderen auf sich selbst zu werfen und so die Stellungen von Europäisch und
Exotisch zu tauschen. Es ist wahr: Montenegro hat den Erzähler nicht zu seinem Anwalt bestimmt, er ist bestenfalls Pflichtverteidiger. Auch stimmt, dass
er nicht frei von Begehren an die Landschaft ist, von der er sich Erholung von
der eigenen Kulturlandschaft, Abenteuer im Grenzverkehr (wenn sie auch zu
seiner Enttäuschung versagt bleiben), persönliche Erfahrungsbereicherung und
die Anhebung seines eigenen Prestiges im eigenen Kulturraum über die Abwertung der Eigenen (etwa Nikolas’ Übersetzern) und reziproke Aufwertung
der montenegrinischen Anderen erhofft. Diese Formen der Identifikation
unterscheiden sich allerdings maßgeblich von der gewaltsameren seiner beiden
Vorgänger, weil sie nicht von der Gegenübersetzung des Anderen abhängen.
Die Karte Montenegros via Achleitner gibt keine adiaphorische Gegend
wieder, aber sie kommt einer Geographie der Gleich-Gültigkeiten einen Schritt
näher, indem sie die Peripherie als Peripherie würdigt.
Anmerkungen
1 Vgl. Ursula REBER, Kolonialismus im „Osten“? Imperialismus, Orientalismus und ,das Reale‘ bei Edward W. Said, in: www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/UReber1.
2 Vgl. Edward W. SAID, Orientalism. Western Conceptions of the Orient, Harmondsworth 21995; vgl. DERS., Culture and Imperialism, London 1994.
3 Edward W. SAID, Culture and Imperialism, S. 5.
4 Vgl. Doreen MASSEY, Philosophy and Politics of Spatiality: Some Considerations, in: DIES., Power-Geometries and the Politics of Space-Time. Hettner
Lecture 1998, Heidelberg 1999, S. 27–42, insbesondere S. 36.
5 Vgl. zu Konzeptionen des Zeit-Raumes und von Raum-Zeiten: MASSEY, Philosophy and Politics of Spatiality, S. 27–42.
6 Diese Daten stammen aus: www.dinnes.net/grosse/Mostar/Mostar02.htm.
241
7 Vgl. Geografische Verhältnisse, Communicationen und das Reisen in Bosnien,
der Herzegovina und Nord Montenegro. Aus eigener Anschauung geschildert
von Heinrich STERNECK, Wien 1877, S. 51.
8 Stevan K. PAVLOWITCH, A History of the Balkans 1904–1945, London–New
York 1999, S. 111: inoffizielle Abmachung zwischen Russland und ÖsterreichUngarn. Bedingung ist „an attitude of benevolent neutrality towards Russia“
(ebenda) im Falle eines russisch-türkischen Krieges.
9 Zur administrativen Bekanntheit des „Slawenproblems“ vgl. die Schrift von 1861:
Südslavische Pläne. Denkschrift über die gegenwärtige Bewegung in der Herzegowina, Bosnien, Montenegro, nebst Schilderung der historischen, politischen,
socialen, religiösen und militärischen Zustände dieser Länder, Wien 1861.
10 Vgl. dazu PAVLOWITCH, History of the Balkans, S. 101.
11 Geografische Verhältnisse, S. 13.
12 Andrew SLUYTER, Colonialism and Landscape. Postcolonial Theory and Applications, Lanham u. a. 2002, S. 9.
13 Vgl. zu diesem Komplex: SLUYTER, Colonialism and Landscape, S. 9; vgl.
SAID, Orientalism, S. 38 f., S. 48, S. 57.
14 Vgl. PAVLOWITCH, History of the Balkans, S. 101 ff.; vgl. Count Andrássy to
Count Beust, December 30, 1875. (Communicated to the Earl of Derby by
Count Beust, January 3), in: www.mtholyoke.edu/acad/intrel/andrassy.htm.
15 Vgl. Michael HARDT, Antonio NEGRI, Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a. M.–New York 2002, S. 147–149.
16 Zum Zusammenhang von Aufklärung, Kapitalismus, Kolonialismus und Sklaverei vgl. HARDT, NEGRI, Empire, S. 134–137; vgl. Frederic JAMESON, Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism, Durham 1990; vgl.
SLUYTER, Colonialism and Landscape, S. 14 ff.
17 HARDT, NEGRI, Empire, S. 141.
18 Zit. n. Immanuel KANT, Physische Geographie, Xerokopie verschiedener studentischer Vorlesungsmitschriften, hier auf Griechen und Italiener bezogen.
19 Vgl. SAID, Orientalism, S. 86.
20 Das Osmanische Reich gilt ansonsten als Transgressionsraum zwischen Okzident und Orient. Vgl. Maria TODOROVA, Imagining the Balkans, Oxford 1997.
21 Der Begriff, der vor allem ästhetische Komponenten der Raumwahrnehmung
zusammenfasst, stammt aus dem Habilitationsprojekt von Marc Ries.
22 Dalmatien und Montenegro. Blicke ins „Kulissenland“ von Dr. Kurt Floericke,
Berlin 1911.
23 Vgl. SAID, Orientalism, S. 71 f.
24 Denis COSGROVE, Mona DOMOSH, Author and Authority. Writing the New
Cultural Geography, in: James DUNCAN, David LEY (Hg.), Place/Culture/
Representation, London–New York, S. 25–38, hier S. 30.
25 Vgl. SAID, Orientalism, S. 66–68, S. 86–92.
26 Vgl. zur Geschichte Montenegros John D. TREADWAY, The Falcon & the Eagle.
Montenegro and Austria-Hungary, 1908–1914, West Lafayette 1983.
27 Arthur ACHLEITNER, Reisen im slavischen Süden (Dalmatien und Montenegro), Berlin 1913.
242
Kavaliere, Kostüme, Kunstgewerbe:
Die Vorstellung Bosniens in Wien 1878–1900
Diana Reynolds
Am 21. Jänner 1893 wurde ein neues Ballett mit dem Titel Eine Hochzeit in
Bosnien als Theater Paré in der Hofoper in Wien aufgeführt.1 Die Handlung
des Balletts in einem Akt war einfach. Eine Gruppe von Touristen aus Wien
reist durch ein bosnisches Dorf und erlebt eine Hochzeitsfeier mit dessen
Einwohnern. Das Dorf präsentiert sich als ein Musterbild der bosnischen
Bevölkerung. Obwohl es sich vermutlich um ein katholisches Brautpaar handelt, wird jede Konfession dargestellt und nimmt an dem Fest teil. Vom
„orientalisch-orthodoxen Bosnier“ bis zum „Mohammedaner“, vom Roma
bis zum Franziskaner – das Dorf zeigt ein friedliches Zusammenleben der
Nationalitäten und der Konfessionen in Bosnien.2 Das Bühnenbild vermittelt nicht nur die bunte Koexistenz der Menschen, sondern auch den Wohlstand der Kleinstadt. [Abb. 1] Neben der weiß getünchten Moschee steht
eine katholische Kirche im üblichen historistischen Stil aus braunem Stein.
Weitere Minarette sind im Hintergrund zu sehen. Auf dem kleinen Platz
befinden sich zwei gut ausgestattete Läden mit bosnischem Kunstgewerbe.
Das fantasievolle Design des Bühnenbildes und das Ballett wurden allerdings
durch die Berücksichtigung strenger wissenschaftlicher Elemente in den
Dienst der Ethnologie gestellt. Anhand der neuesten wissenschaftlichen
Erkenntnisse der Volkskunde wurde das volkstümliche Element überzeugend einbezogen. „Costüme [sic] und Ausstattung [... wurden] mit exquisitem Verständniss [von Franz Gaul] hergestellt“, der Ballettmeister Josef Bayer
komponierte die Musik „mit Benützung nationaler Motive.“3 „Szenen und
Bilder aus dem Volksleben“ wurden mit reizvoller Fantasie auf der Bühne
der Hofoper gestaltet.4
Als Kunstwerk oder Unterhaltungsstück stellt das Ballett einen Moment
der langen, komplizierten und verhängnisvollen Beziehung zwischen der k.u.k.
Monarchie und den Besatzungsgebieten dar: Es bietet eine Mischung von
Spektakel mit wissenschaftlichem Streben und illustriert das Resultat muster-
243
hafter österreichisch-ungarischer Verwaltung in einem Gebiet mit einer, von
ihr als kindlich, pluralistisch und meist friedlich gesehenen Bevölkerung.
Im Ballett werden die Touristen, die anfangs den Einwohnern misstrauisch
gegenüberstehen, langsam in das Fest mit einbezogen. Sie lernen sogar bosnische Volkstänze zu tanzen. Gegenseitig schließen sich die Einwohner und
die Wiener in ihre Herzen und zum Schluss lehren die Wiener den Bosniern
den Walzer. Die bosnischen Volkslieder und Volkstänze werden von den
Wienern zwar begeistert aufgenommen, aber am Höhepunkt „besiegt“ der
Wiener Walzer die Bevölkerung: „Anfangs sehen die bosnischen Mädchen
und Burschen erstaunt und verwundert dem neuen Tanze zu; [... aber ...] es
dauert nicht lange, so dreht sich die ganze bosnische Hochzeitsgesellschaft
mit den fremden Gästen im lustigen Walzer.“5
Nach dem Bericht in der Neuen Freien Presse nach zu schließen, bedeutet
das Ballett „[...] die theatralische Occupation Bosniens, dessen moralische
Eroberung durch den Wiener Tanz und den Sieg des Walzers an der Bosna.“6 Die Bedeutung des Balletts war den Zuschauern an diesem Abend ganz
klar, sogar Kaiser Franz Joseph war begeistert. „Aber als die Bosniaken Walzer zu tanzen begannen, da hörte man plötzlich in der großen Mittelloge
lachen. Alles wendete sich überrascht dahin. Der Kaiser lachte herzlich, und
alle Erzherzoginnen und Erzherzöge folgten seinem Beispiele.“7 An diesem
Abend wurde der Walzer zum Symbol der k.u.k. Ambitionen im Balkangebiet – schon 15 Jahre vor der Annexion Bosniens und der Herzegowina.
Dieses Ballett, das noch drei Jahre in der Hofoper gespielt wurde, bietet
drei theoretische Ansatzpunkte, die ich bei meiner Arbeit über das Thema
der „Inneren Kolonisierung“ sehr hilfreich gefunden habe:
1. die Reform des Kunstgewerbes als Beispiel der Inneren Kolonisierung
innerhalb der Habsburgermonarchie;
2. der Exhibitionary Complex, ein theoretischer, von Foucault abgeleiteter
Ansatz, der die kolonialen Ansprüche der europäischen Kolonialmächte analysiert. Weil der Begriff sich nur schwer übersetzen ließ, behalte ich die englische Version bei. Durch Netzwerke von Museen, neue Wissenschaftsdisziplinen wie die Ethnologie und die Kunstgeschichte sowie durch Ausstellungen
manifestierte sich der Exhibitionary Complex als Beispiel eines sanfteren Machtanspruchs des modernen Staates, der damit auch einen neuen Einfluss auf
die Bevölkerung ausübte.8 Das Ballet zeigt nicht nur, wie viel Wissen über die
bosnische Architektur, Musik sowie über das Kunstgewerbe um 1893 in Wien
schon gesammelt worden war, sondern auch die Dimension seiner Verbreitung durch verschiedene Medien in den 1890er Jahren.
244
3. die Genderperspektive, vor allem die Konstruktion einer Identität Österreich-Ungarns nicht nur als einer weiblichen Großmacht, sondern auch –
wie im Falle des Balletts – eines ritterlichen Liebhabers, der um eine schüchterne Frau wirbt.
Mit Hilfe dieser drei Kategorien möchte ich die civilizing mission Österreichs behandeln, wobei es sich mehr um Ideen, als um endgültige Resultate
handelt.
Die kunstgewerbliche Reform
So wie der Walzer als Symbol für die österreichisch-ungarische Verwaltung
in Bosnien steht, so stellt die Reform des Kunstgewerbes in Bosnien ein konkretes Beispiel für die „wohlwollenden“ Intentionen der Habsburgermonarchie im Besatzungsgebiet dar. Die Reform des Kunstgewerbes in Österreich
galt seit der Mitte der 1860er Jahre schon als Zeichen der Großzügigkeit des
Staates und einer aufgeklärten bürokratischen Autorität. Die Leitung der
kunstgewerblichen Reform in Cisleithanien übernahm das 1864 gegründete
k.k. Österreichische Museum für Kunst und Industrie. Mit einem ausgedehnten
Netzwerk von Fachschulen (etwa 20 um 1871, cirka 200 um 1900) leistete das
Museum zwei kulturpolitische Aufgaben: die Hebung des Geschmacks und
die Verbesserung der industriellen Produktion in Österreich.9 Dieses Ziel
wurde durch drei Aufgabenbereiche angestrebt.
1. Durch die Sammlung der besten Beispiele angewandter Kunst sollte
das Museum dem industriellen Hersteller einen Formenschatz bieten, der
die künstlerischen Werte der industriellen Objekte verfeinern sollte.
2. Durch die Gestaltung von Ausstellungen der herausragendsten Stile
der Vergangenheit war das Museum eine Bildungsanstalt, nicht nur für das
Bürgertum, sondern auch für die Arbeiterklasse.10
3. Durch Schulen, vor allem die Kunstgewerbeschule in Wien, wurden
Studenten ausgebildet, die als Hersteller selbst dem Weltmarkt verbesserte
Produkte anbieten sollten.11
Langsam entwickelte sich innerhalb Cisleithaniens ein Netzwerk von kunstgewerblichen Fachschulen, die unter der künstlerischen Leitung des Museums standen, das einen Austausch von Schülern und Mustern zwischen den
Provinzen und Wien dirigierte. Als die Volkskünste und die Hausindustrie
auf dem Land allmählich auch das Interesse der Volkswirtschaft und der
Wissenschaft zu erwecken begannen, wurden deren Erzeugnisse als Sammel-
245
objekte nach Wien geschickt. Im Museum für Kunst und Industrie wurden
(trotz der wienerischen Neigung zum Historismus) die Volkskünste nicht
nur wissenschaftlich klassifiziert und sortiert, sondern auch nach den Prinzipien der Ästhetik und des bürgerlichen Geschmacks verbessert. Diese verfeinerten Muster kamen oft als Vorlagen für künftige Handwerker in die Provinzen zurück.12
Da die kunstgewerbliche Reform eine erzieherische und auch eine assimilatorische Funktion den verschiedenen Nationalitäten gegenüber ausübte, ist
diese Rolle sehr deutlich als ein Aspekt der Inneren Kolonisierung zu sehen.
Durch die Fachschulen in den Provinzen strebte das Museum nicht nur eine
Methode der künstlerischen, sondern auch der politischen Erziehung der
Bevölkerung an.13 Als die Volkskünste auch in die Nationalitätenkonflikte einbezogen wurden, wollte das Museum die politische Zersplitterung der Provinzen durch eine aufgeklärte Bürokratie bekämpfen. Am Beginn der 1880er Jahre erkannte der Direktor des Museums, Rudolf von Eitelberger (1818–1885),
die politische und ökonomische Bedeutung dieser lokalen Volkskünste:
Wer es heutigen Tages unternimmt, die Hausindustrie zu pflegen, muss vor Allem
duldsam sein gegen jede nationale Eigenthümlichkeit [...]. Nachdem man jetzt zu
der Erkenntniss gekommen ist, dass [...] der Handwerkerstand bedroht ist zu einem
bürgerlichen Proletariat herabzusinken, ist es wohl erklärlich, dass die Besten unseres Volkes darüber nachdenken, wie man [...] die Handfertigkeit pflegen könne. Zu
jenen Mitteln, welche in Vorschlag gebracht wurden, ist in erster Linie immer die
Schule und der Zeichenunterricht genannt worden [...].14
Durch Ausstellungen, kunstgewerbliche Reformen und Lehranstalten versuchten Beamte wie Rudolf von Eitelberger die Herzen der Bewohner des
Vielvölkerstaates zu gewinnen. Die kunstgewerbliche Fachschule wurde als
Mittel zur politischen Erziehung in den Provinzen angewandt. Das möchte
ich mit Hilfe des Exhibitionary Complex verdeutlichen.
Der Exhibitionary Complex
Die Reform des Kunstgewerbes in Österreich zeigt die neue Art, wie der
moderne Staat sich mit Wirtschaftspolitik, Kunsterziehung und Bildung in
der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts auseinander setzte. Das Kunstgewerbe
wurde als wirtschaftlicher Faktor gesehen. Die Gründung des k.k. Museums
und die Fachschulen sowie die fast unübersehbare Anzahl der Ausstellungen
im Museum und in den Provinzen nach 1871 waren Zeichen des staatlichen
246
Engagements in diesen neuen politischen und wirtschaftlichen Bereichen.
Der englische Historiker Tony Bennett hat diesen Prozess als die Entstehung
des Exhibitionary Complex bezeichnet. Bennett hat diesen Exhibitionary Complex, welcher nach der großen Londoner Weltausstellung von 1851 entstand,
als neue Form einer „sanften“ Staatsgewalt beschrieben. (Bennett bezieht sich
hier auf die Theorien von Michel Foucault, vor allem auf den Begriff carceral
archipelago – Gefängnisarchipel – im modernen Staat.) Indem er Wissen verbreitete und zur Schau stellte, versuchte der moderne Staat Sympathien bei
der Zivilgesellschaft zu erwecken.15 Die zahlreichen Museumsgründungen des
späten 19. Jahrhunderts stillten einerseits den Hunger des Publikums nach
Ausstellungen und boten andererseits dem Staat die Möglichkeit, eine neue
regulative und fördernde Rolle als Vermittler und Anbieter von Wissen einzunehmen.
Bennetts Arbeit konzentriert sich auf Entwicklungen im viktorianischen
England, wo auch der Kolonialismus eine sehr große Rolle in der Reform des
Kunstgewerbes spielte. Schon 1851 wurde Kunstgewerbe aus Indien ein großer Publikumserfolg der Londoner Weltausstellung, wo Kunsthandwerker
aus Bengalen in den Pavillons der East India Company mit Elfenbein arbeiteten.16 Einerseits betrachtete der Exhibitionary Complex die Kolonisierten mit
einem wissenschaftlichen Blick; andererseits war er eine Methode, mit deren
Hilfe der koloniale Staat andere Völker öffentlich zur Schau stellte und
dadurch Eindruck auf seine eigene Bevölkerung in der Metropole machen
konnte.
Dieses Modell kann auch auf die Habsburgermonarchie angewendet werden. In Österreich waren es die ehemaligen Osmanischen Gebiete, Bosnien
und die Herzegowina, die nach 1878 einen reichen, orientalischen Formenschatz für die kunstgewerbliche Reform anboten. Die Arbeit eines österreichischen Exhibitionary Complex kann am Beispiel Bosniens analysiert werden.
Die Reform des Kunstgewerbes stellte eine wichtige Komponente der mission
civilatrice in Bosnien dar. Gleich nach der Besetzung Bosniens hatte Rudolf
von Eitelberger die etablierten Modelle der lokalen Fachschulen für Bosnien
empfohlen: „Aber trotzdem müsste in Bosnien und der Herzegowina die
Hebung der Industrie der neuerworbenen österreichischen Kronländer von
der Pflege der Hausindustrie und des Handfertigkeitsunterrichtes ausgehen.“17
Dieser Rat wurde angenommen. Nach 1882 begann der Reichs-Finanzminister Benjamin von Kállay (1839–1903) mit der Reform des Kunstgewerbes in
Bosnien, indem drei Institutionen in Sarajevo gegründet wurden: erstens
das Bosnisch-Hercegowinische Landesmuseums im Jahr 1884, zweitens Fach-
247
schulen für Kunstgewerbe in Sarajevo, drittens wurde ein Büro zur „Wiedererweckung und Entwicklung des bosnisch-hercegowinischen Kunstgewerbes“
errichtet.18 Alle drei Institutionen bildeten einen Exhibitionary Complex in
Wien und Sarajevo. Ähnlich wie Wissenschafter mit ihrer Sammeltätigkeit in
Afrika ethnologische Sammlungen in Berlin, Paris und London bereicherten, so diente das Museum in Sarajevo als wissenschaftliche Schöpfung einer
Kolonialmacht. Zwischen den Fachschulen (Wien und Sarajevo) pendelten
nicht nur Lehrer, sondern auch Muster und Objekte. Das „Büro“ diente als
Ausstellungsort und Verkaufsladen für bosnisches Kunstgewerbe in der Wiener Metropole.19 Die Asymmetrie dieses Austausches war deutlich: Büro und
Fachschulen standen unter der künstlerischen Leitung des Museums in
Wien.20 Die „Wiedererweckung des bosnischen Kunstgewerbes“ war ein Regierungsunternehmen, das sich am bereits bestehenden Modell der kunstgewerblichen Reform in Cisleithanien orientierte.21 Knapp sieben Jahre später
(im Jahr 1889) wurde die Aufgabe des Museums in Bezug auf das bosnische
Kunstgewerbe so beschrieben:
[Es] hat Reichsfinanzminister von Kallay die eines Kulturstaates würdige Aufgabe
darin erkannt, […] Werkstätten zu gründen, wo […] ein neues Geschlecht von Schülern heranbilden könnten, und schließlich durch Hofrat [Josef von] Storck [Leiter
der Kunstgewerbeschule in Wien] Vorlagen fertigen lassen, die den Geschmack der
Einheimischen […] reinigen [...], den überlieferten Stil dem Bedürfnis unserer Zeit
anpassen [...] und den bosnischen Erzeugnissen den Absatz, die Verwendung in
unseren Häusern sichern. [...] Es ist eben auch hier geschehen, was unser [k.k.
österr., Anm. D.R.] Kunstgewerbemuseum, eine Musteranstalt für alle Länder,
überhaupt zur Neubelebung und Fortentwicklung des österreichischen Hausgewerbes geleistet hat.22
Dieser Exhibitionary Complex, eine Zusammenarbeit des Museums und der
Fachschulen, diente als Erziehungsmittel in Wien und in Sarajevo. In Wien
übten die Österreicher ihre Position als Großmacht mit einer Art von künstlerischem Kolonialismus aus. In Sarajevo wurde der neue Bosnier als Zögling
der Monarchie (in künstlerischem wie in politischem Sinne) erzogen. Die
Harmonie wurde durch kunstgewerbliche Reformen angestrebt. Ich schlage
vor, diesen Ansatzpunkt des Exhibitionary Complex als eine gute Methode anzuwenden, um der Frage der Inneren Kolonisierung der Habsburgermonarchie – nicht nur in Bosnien, sondern auch in den anderen Kronländern und
Provinzen – näher zu kommen. Die Entstehung zahlloser Vereine und Museen in der Monarchie sowie die Fülle lokaler Ausstellungen sind noch nicht
von diesem Standpunkt aus bearbeitet worden.
248
Die Genderperspektive
Warum wurde so viel Wert auf Kunstgewerbe gelegt, warum so viel Mühe
darauf verwendet, das bosnische Kunstgewerbe zu retten und nach Wien zu
bringen? Die Antwort ist zum Teil im dritten Punkt zu finden, den ich thematisieren möchte – im Zusammenhang von Gender, Macht und Imperialismus in Mitteleuropa.
Gender ist als soziales Konstrukt auch in der Postcolonial Theory hilfreich.
Der Kolonisierte gilt als schwach oder weiblich. Formulierungen über neu
entdeckte Landschaften als jungfräuliches Land sind uns als rhetorische Formulierungen aus der Entdeckerliteratur wohl bekannt.23 Ich finde die Kategorie Gender aber auch sehr hilfreich in Bezug auf die österreichische Identität als Großmacht in Europa nach 1871. Die Charakterisierung von Österreich-Ungarn als weibliche Seite der deutschen Macht in Mitteleuropa ist
uns vielleicht klar. Bald nach der Entstehung des Deutschen Reiches hat die
Habsburgermonarchie begonnen, den Begriff Kulturstaat gegenüber Deutschland als Machtstaat in Mitteleuropa zu verwenden. Wir sehen diesen Begriff
auch in dem angegebenen Zitat oben über die Rolle des Kunstgewerbes. Dabei
spielte das Gefühl seitens der Österreicher eine Rolle, eine zweitrangige Großmacht zu sein, deren Rang nur durch eine Ostpolitik gesichert werden könne.24 Die Okkupation von Bosnien und der Herzegowina war ein Beweis dafür,
dass Österreich eine kulturpolitische Aufgabe in Süd- und Osteuropa zu
erfüllen hatte. Im Balkangebiet trat die Habsburgermonarchie als Schöpferin
eines „Neuösterreich“ in Bosnien und als legitime Nachfolgerin des Römischen Reiches auf.25 Gegenüber den anderen Großmächten Europas konnte
sich Österreich nach 1871 nur als eine „etwas andere“, kulturtragende Großmacht entfalten. Die Reform des Kunstgewerbes in Bosnien war ein Teil des
Regierungsplanes für die zweite, die moralische Eroberung des Gebietes. In
Cisleithanien war die Reform des Kunstgewerbes schon längst als Mittel zum
Zweck einer sittlichen und politischen (habsburgertreuen) Erziehung benutzt
worden. Sie war Teil einer österreichischen Identität in Mitteleuropa und
sogar Teil des österreichischen Selbstbewusstseins gegenüber Deutschland.
Kunst und Kultur waren die Merkmale dieser weiblichen Großmacht.
Imperialismus kann auch von einem Gender-Gesichtspunkt aus betrachtet
werden: eine Großmacht, die als militärische Macht eine „Kolonie“ erobert
hat, kann diese rohe militärische Eroberung auch als eine ritterliche und
kavalierhafte Tat maskieren. Benjamin von Kállay beschrieb beispielsweise seine Tätigkeit 1884 folgendermaßen: „Oesterreich hat Bosnien und die Herce-
249
gowina zum zweitenmale erobert, nicht mehr durch die Gewalt der Waffen,
sondern durch die Erfolge einer gerechten und weisen Verwaltung.“26
Diese zweite Eroberung künstlerisch darzustellen, war der Sinn des eingangs beschriebenen Balletts. Der Machtanspruch einer männlichen Verwaltung (mit ihrer aufgeklärten Bürokratie) wurde mittels der Darstellung weiblicher Schönheit und Heiterkeit kaschiert. Der entscheidende Moment im
Ballet ist jener, als eine Touristin, „um den Bosniaken den richtigen Begriff
vom Tanzen beizubringen, ihnen mit einem flotten Partner Walzer vortanzt.“27
Die Besatzungsregierung wollte, dargestellt als Ritter, Kavalier und Liebhaber, um Bosnien werben, die vortanzende Touristin versinnbildlicht den Weg.
Diese Form der Machtausübung sollte als bewusster Gegenpol zur deutschen
Militärmacht in Mitteleuropa wahrgenommen werden. Gender-relevante Begriffe sind sehr flüssig, aber überall präsent in der Rhetorik des Imperialismus; und es gibt mehrere Möglichkeiten, Österreich-Ungarn anhand dieser
Rhetorik als weibliche Großmacht zu betrachten. Dass Gender in mehreren
Instanzen mit Konzepten einer Inneren Kolonisierung zusammengefügt werden kann, bezweifle ich nicht.
Das Ballett gibt zum größten Teil nur die österreichische Vorstellung von
Bosnien wieder. Die Idee „Bosnia“ hat sich in der populären Kultur Wiens
mit den üblichen Klischees eingeprägt – mit Bildern des fremden, mysteriösen Orients und eines selbstlosen, wohlwollenden Regierungsapparates.28
Insbesondere waren es die vielen Ausstellungen bosnischen Kunstgewerbes
in Wien zwischen 1889 und 1898, die dieses Bild mitbestimmten. Ab 1884
wurde Bosnien als Lieblingskind der Monarchie dargestellt. Zwei Ausstellungen zeigen den künstlerischen Kolonialismus und einige Aspekte des Exhibitionary Complex in Wien.
Anhand der 25. Jubiläums-Ausstellung des k.k. österreichischen Museums im Jahr 1889 wurde das bosnische Kunstgewerbe als Prachtstück der
Ausstellung präsentiert. Dort wurde die Geschichte der Rettung des bosnischen Kunstgewerbes seitens der Regierung anhand mehrerer bosnischer
Teppiche beispielhaft dargestellt.
So hat man den alten [bosnischen] Meistern Aufträge ertheilt, andere zu ihren
früher geübten Techniken zurückgeführt, weitere andere Angehörige des Landes
nach Wien genommen und sie in der Kunstgewerbeschule unterwiesen, auch Frauen
kamen hierher um das Weben zu erlernen, und so ist denn in Sarajevo eine Webschule begründet worden. [Diese] Webschule [ist im] [...] Vertrieb der Firma Ph.
Haas & Söhne [etabliert worden. ...]. Die Wolle ist bosnischer Herkunft, [… aber] in
Wien gefärbt und dann erst wieder zur Verarbeitung hinunter gesandt werden […].
250
Auch die Zeichnungen und Muster sind alt, von Storcks Künstlerhand [in Wien]
glücklich erneut. Die schöne Halle des Museums ist ausschließlich mit jenen
bosnischen Arbeiten geschmückt, sie sind das Festkleid des Hauses […].29
Hier wird die Vorspiegelung falscher Tatsachen deutlich. Die genannte Teppichschule in Sarajevo war in Wirklichkeit die Teppichfabrik eines Wiener
Herstellers; sie sollte aber als Beispiel für die Hebung des Kunstgewerbes
fungieren. Der bosnische Stil wurde in Wien durch die „Künstlerhand“ des
Direktors der Kunstgewerbeschule Josef von Storck verfeinert. Aber da sich
die Produkte aus Sarajevo dem städtischen Geschmack anpassen sollten, wurde die Wolle auch in Wien gefärbt. Arbeiter in Sarajevo waren, trotz der
Rhetorik von Assimilation und Erziehung in einer, mit einem globalisierten
Arbeiter heutzutage vergleichbaren Situation. Die Teppiche in der Ausstellung sind als Ornamente, sogar als weibliches Ornament beschrieben. Dieser
Text zeigt das Paradox der kunstgewerblichen Reform in Wien, er verdeutlicht die Hegemonie der künstlerischen Form der Metropole (mittels Gestaltung und Farbe, durch den Fabrikbesitzer und die Initiative) gegenüber dem
Besatzungsgebiet (mit seinen „rohen“ Entwürfen, schlechten Farben, mit seiner „verdorbenen“ Technik).
Zwei Jahre später – im Jahr 1891 – wurde das bosnische Kunstgewerbe
wieder mit großem Erfolg in Wien ausgestellt, diesmal im Rahmen der Kostümausstellung im Österreichischen Museum für Kunst und Industrie.30 Diese
Ausstellung in Wien zeigte wiederum die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Unterhaltung und Event im Exhibitionary Complex. Hier wurden nicht
nur Kostüme, sondern auch Mannequins aus Bosnien vorgeführt, die von
Publikum und Kritikern besonders gewürdigt wurden [Abb. 2]. 37 Mannequins stellten die verschiedenen Volksgruppen Bosniens dar.31 Die Kostüme
gehörten dem Landesmuseum Sarajevo, wurden aber für die Ausstellung nach
Wien geschickt. In der Hauptstadt allerdings wurden die besten Kostüme
fotografiert und in einem Sammelband veröffentlicht.32 Die Mannequins und
Kostüme dienten drei Jahre später als Vorlagen für die Kostüme des bereits
beschriebenen Balletts. Eine Ausstellung im Museum für Kunst und Industrie bildete die wissenschaftliche Grundlage für ein Ballett in der Hofoper.
Wie im eingangs zitierten Ballett verstärkten die Originaltreue sowie die Exaktheit des Bildes und der Kostüme das Erlebnis der Zuschauer. Das Ballett
in der Hofoper im Jahr 1893 war das Resultat jahrelanger Beschäftigung mit
dem bosnischen Kunstgewerbe in der Hauptstadt Wien.
251
Resümee
Die Vorstellung von Bosnien und Herzegowina in Wien repräsentierte das
politische und künstlerische Wunschbild der Habsburgermonarchie in Mitteleuropa: ein buntes Völkergemisch, einfach, fast kindlich, das friedlich
koexistieren kann, weil es von einem toleranten und fairen Kulturstaat verwaltet wird, dessen Kunsttraditionen eine neue Blütezeit erlebten, weil sie
von einem wissenschaftlichen Apparat von Museen und Fachschulen unterstützt wurden. Dieses Wunschbild diente als Argument für eine österreichische Rolle in Europa: es präsentierte sich – trotz der Ereignisse von 1866 und
1871 – zwar immer noch als eine Großmacht, aber als eine sanftere Großmacht, deren Machtansprüche durch eine Kulturpolitik maskiert werden
konnten.
Vergleichbar mit der Entwicklung in den europäischen Kolonialstaaten
entstand auch in der Habsburgermonarchie eine Zusammenarbeit von Ausstellungs- und Eventkultur, Museen, Wissenschaft, Schulen, ein sogenannter
Exhibitionary Complex, der auch zu einem Mittel der Popularisierung des
Kolonialismus und Imperialismus wurde.
Die österreichische Art und Weise der Ausübung eines „femininen“ Imperialismus in Mitteleuropa manifestierte sich im Anspruch auf Kunst und
Kultur. Der Walzer als Metapher lässt sich anhand der Gender-Perspektive
betrachten. Gegenüber Deutschland wurde „das Österreichische“ in Mitteleuropa als das Weibliche gesehen; gegenüber den Nationalitäten in der
Doppelmonarchie handelte die Regierung nach dem Modell eines aufgeklärten, „kavalierhaften“ (oder vielleicht manchmal auch mütterlichen) Imperialismus.33 Die Habsburgermonarchie stellte sich im Ballett in der Gestalt von
Wiener Touristen, die tolerant, höflich und charmant auftraten, dar. Die
moralische Eroberung des Gebietes war das Ziel, der Walzer als Symbol eines
Kulturstaates war die Methode des Sieges.
Das durch die Postcolonial Theory wieder aufgenommene Konzept der
Hybridität, die Wirkung der kolonialisierten Peripherie auf die Bevölkerung
der Metropole, ist durchaus am Beispiel der kunstgewerblichen Reform zu
dokumentieren. Durch diesen Exhibitionary Complex wurden zahlreiche Beispiele von Volkskunst der Monarchie nach Wien gebracht, wissenschaftlich
verarbeitet und zur Schau gestellt. Dieser Prozess, den ich an anderer Stelle
als eine österreichische Synthese beschrieben habe, hatte sich längst vor der Besetzung Bosniens und der Herzegowina etabliert.34 Nach 1889 illustrierten
die Ausstellungen des bosnischen Kunstgewerbes den künstlerischen Reiz
252
und den orientalischen Formenschatz des Gebietes. Die Sammeltätigkeit des
Museums in Wien, die Verbreitung des bosnischen Stils in Ausstellungen
und in Unterhaltungsstücken wie dem Ballet und der Formenaustausch in
den 1890er Jahren führten nicht nur zur Überwindung des Historismus im
Wiener Kunstgewerbe, sondern auch zum reichen, vor allem aber volkstümlichen Formenschatz der Wiener Sezession nach 1898.35
Anmerkungen
1 Vgl. Bosnische Post, 25. Jänner 1893, Nr. 7, S. 4. Die Autorin dankt Walter
Sauer, Michael McKinney und Ursula Prutsch für deren sorgfältige Durchsicht
dieses Beitrags.
2 Vgl. Eine Hochzeit in Bosnien, in: Österreichisches Theatermuseum. C . Th.
733.042, o. S.
3 Bosnische Post, 25. Jänner 1893, Nr. 7, S. 4. Vgl. Neue Freie Presse, 22. Jänner
1893, S. 7. Die Einfügungen in eckigen Klammern stammen von der Autorin.
Franz Xaver Gaul (1837–1906) war von 1879 bis 1900 Vorstand des Ausstattungswesens der Hofoper. Joseph Bayer (1852–1913) war seit 1883 Hofopernkapellmeister, ab 1885 Ballettkapellmeister. Die Autorin dankt Dr. Elisabeth
Grossegger (Wien) für diese Information.
4 Das Bühnenbild stammte von Antonio Brioschi (1885–1920). Vgl. Franz
HADAMOWSKY, Die Wiener Hoftheater. Teil II, Wien 1975, S. 205. Brioschi
war Absolvent der Kunstgewerbeschule des österreichischen Museums für Kunst
und Industrie in Wien. Er studierte unter Josef von Storck. Die Autorin dankt
Dr. Elisabeth Grossegger für diese Information.
5 Neue Freie Presse, 22. Jänner 1893, S. 7.
6 Ebenda.
7 Ebenda, Hervorhebungen durch die Autorin.
8 Vgl. Tony BENNETT, The Birth of the Museum: History, Theory, Politics,
London 1995.
9 Das Standardwerk über die kunstgewerblichen Fachschulen ist die Publikation
von Rudolf Freiherr von KLIMBURG, Die Entwicklung des gewerblichen
Unterrichtswesens in Österreich, Tübingen 1900. Vgl. Diana REYNOLDS, Die
österreichische Synthese: Metropole, Peripherie und die kunstgewerblichen
Fachschulen des Museums, in: Peter NOEVER (Hg.), Kunst und Industrie, Wien
2000, S. 203–217.
10 Vgl. Rudolf von EITELBERGER, Die Kunstbestrebungen Österreichs (1871),
in: Gesammelte Schriften, Bd. 2, Wien 1879.
11 Für die Geschichte der Kunstgewerbeschule in Wien, vgl. Gottfried FLIEDL,
Kunst und Lehre am Beginn der Moderne. Die Wiener Kunstgewerbeschule
1867–1918, Wien–Salzburg 1986.
12 Vgl. Rudolf von EITELBERGER, Die Volkskunst und die Hausindustrie, in:
253
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
Gesammelte Schriften, Bd. 2, Wien 1879, S. 267–275. Zur Diskussion über
Entstehung des Begriffs Volkskunst zu dieser Zeit siehe Bernward DENEKE,
Europäische Volkskunst, in: Propyläen Kunstgeschichte. Supplementband V,
Frankfurt a. M. 1980, S. 11–12. Vgl. Alois RIEGL, Volkskunst, Hausfleiß und
Kunstindustrie, Berlin 1893. Riegl war als Kustos der Textilsammlung des
Museums (von 1885 bis 1897) ein ausgesprochener Kritiker dieser Praxis im
Museum. Vgl. REYNOLDS, Die österreichische Synthese, 2000.
Vgl. Armand von DUMREICHER, Über die Aufgaben der Unterrichtspolitik
im Industriestaate Österreich, Wien 1881.
Rudolf von EITELBERGER, Zur Frage der Hausindustrie, in: Mittheilungen
des österreichischen Museums für Kunst und Industrie 19 (1884), S. 28, S. 35.
Vgl. Tony BENNETT, Birth of the Museum, 1995.
Vgl. Timothy MITCHELL, Orientalism and the Exhibitionary Order, in: Nicholas DIRKS (Hg.), Colonialism and Culture, Ann Arbor 1992, S. 289–317;
vgl. Diana REYNOLDS, The Great Exhibition of 1851, in: John FINDLING
(Hg.), Events that Changed Great Britain, New York 2001.
EITELBERGER, Zur Frage der Hausindustrie, S. 28.
Zu Benjamin von Kállay siehe Ferdinand SCHMID, Bosnien und Hercegovina
unter der Verwaltung Oesterreich-Ungarns, Leipzig 1914. Zur Geschichte des
Landesmuseums, vgl. Wissenschaftliche Mittheilungen aus Bosnien 1 (1893).
Zur Geschichte des Büros vgl. Ulrike SCHOLDA, Theorie und Praxis im Wiener Kunstgewerbe des Historismus am Beispiel von Josef Ritter von Storck
1830–1902, Dissertation Universität Salzburg 1991, S. 54–55. Vgl. Das Kunstgewerbe in Bosnien und der Hercegovina auf der deutschen Fächer-Ausstellung, Karlsruhe 1891, S. 4; vgl. Heinrich Graf von ATTEMS, Die Hausindustrie auf der land- und forstwirthschaftlichen Ausstellung Wien 1890, Wien
1890, S. 6.
Vgl. Mittheilungen des österreichischen Museums für Kunst und Industrie,
N.F. 4 (1893), S. 547.
Vgl. Das Kunstgewerbe in Bosnien und der Hercegovina auf der deutschen
Fächer-Ausstellung in Karlsruhe, Wien 1891, S. 7.
Vgl. Österreichische Monatsschrift für den Orient 19 (1893), S. 91.
Neuösterreichs Hausgewerbe, in: Allgemeine Kunst-Chronik XIV (1890), S. 353.
Vgl. Walter SAUER, K.u.k. kolonial. Habsburger Monarchie und europäische
Herrschaft in Afrika, Wien 2001.
Vgl. Oesterreich und die Orientfrage, Wien 1876, S. 46.
Vgl. Bosnien als Neuösterreich, Leipzig 1886; vgl. Bosnien unter österreichischungarischer Verwaltung, Leipzig 1886; vgl. Bosniens Gegenwart und nächste
Zukunft, Leipzig 1885; vgl. Josef Alexander Freiherr von HELFERT, Bosnisches, Wien 1879.
Bosnische Post 1, 22. Juni 1884, S. 1.
Neue Freie Presse, 22. Jänner 1893, S. 7.
Vgl. Maria TODOROVA, Imagining the Balkans, Oxford 1997.
Allgemeine Kunst-Chronik 13 (1889), S. 235; vgl. SCHOLDA, Theorie und
Praxis im Wiener Kunstgewerbe, S. 55.
254
30 Vgl. Jacob von FALKE, Führer durch die Costüm-Ausstellung im k.k. österreichischen Museum, Wien 1891; vgl. Wissenschaftliche Mittheilungen aus
Bosnien 2 (1894), S. 504–508; vgl. Katalog der bosnisch-herzegovinischen
Abtheilung, Costüme-Ausstellung im k.k. österreichischen Museum, Wien 1891.
31 Vgl. Paul GREENHALGH, Human Showcases, in: Ephemeral Vistas, Manchester 1988, S. 82–111.
32 Vgl. Karl MASNER, Führer durch die Costüm-Ausstellung (im) k.k. österr.
Museum für Kunst und Industrie. 17. Januar bis 30. März 1891, Wien 1891.
33 Vgl. Neue Freie Presse, 22. Jänner 1893, S. 7.
34 Vgl. REYNOLDS , Die österreichische Synthese, 2000.
35 Vgl. Berta ZUCKERKANDL, Zeitkunst Wien, Wien 1908; vgl. Paul WESTHEIM, Ungarische Volkskunst, in: Textile Kunst und Industrie 1 (1909), S. 493;
vgl. Sherwin SIMMONS, Ornament, Gender and Interiority in Viennese Expressionism, in: Modernism/Modernity 8 (2001), S. 249.
255
Abb. 1: Eine Hochzeit in Bosnien. Bühnenbild von Antonio Brioschi, 1893. Die
Fotografie wurde dankenswerterweise vom Österreichsichen Theatermuseum zur Verfügung gestellt.
256
Abb. 2: Mohammedaner (Aga) aus Sarajevo im Waffenschmuck, in: Karl MASNER,
Die Costümausstellung im k.k. österreichischen Museum, 1891.
257
Der koloniale Blick auf Bosnien-Herzegowina
in der ethnographischen Popularliteratur
der Habsburgermonarchie
Peter Stachel
Die ererbten Zustände, welche von den unsrigen so ganz verschieden sind, überraschen
uns [...] auf Schritt und Tritt. Das unvermittelte Nebeneinander von urwüchsiger,
schier unglaublicher Einfachheit und Hilflosigkeit bei den Eingebornen und hochgesteigerter civilisatorischer Thätigkeit bei
den Organen der Verwaltung, [...] nöthigt
selbst den genußfrohen Touristen zum
Nachdenken und zur Erwägung, wie denn
[...] in unsrem Hause (denn Europa ist das
Haus der Völkergruppe, der wir angehören) ein großer Raum, an dessen Schwelle
wir stehen, so völlig hat verwahrlosen können, daß eine solche Heraklesarbeit nöthig
wurde, ihn zu säubern und wohnlich einzurichten.1
Moritz Hoernes, 1889
Die im Bereich der Literaturwissenschaften entwickelte sogenannte „postkoloniale Theorie“ ist in den letzten Jahren zu einem Werkzeugkasten der
Analyse politischer, ökonomischer und kultureller Wechselbeziehungen geworden. Ursprünglich aus der Beschäftigung mit Literaturen ehemaliger
Kolonialgebiete entstanden, wobei vor allem auch die Analyse der Kultur der
Kolonisatoren aus der Sicht der Kolonisierten im Blickpunkt stand, bezeichnet der Begriff „Postcolonial Studies“ heute ein weites und durchaus heterogenes Feld unterschiedlicher theoretischer und methodischer Zugänge, wobei selbst die strikte begriffliche Scheidung von Kolonisatoren und Kolonisierten als klar bestimmbaren sozialen „Einheiten“ mittlerweile als fragwürdig erkannt wurde.2
259
Auf den ersten Blick mag es durchaus widersinnig erscheinen, die Habsburgermonarchie unter postkolonialer Perspektive zu untersuchen, nahm
doch dieser Staat, abgesehen von einigen eher halbherzigen Versuchen in der
Frühphase der Geschichte des Kolonialismus, nicht am Wettlauf der europäischen Großmächte um außereuropäische Kolonien teil. Verstünde man unter postkolonialer Theorie ein einheitliches Theoriegebäude, so wäre es daher kaum sinnvoll auf die Analyse der Geschichte der Donaumonarchie anwendbar. Durchaus fruchtbringend erscheint es dagegen, dem „Werkzeugkasten“ der postkolonialen Theorien Anregung für neue Sichtweisen und
Fragestellungen zu entnehmen, wobei es sich als sinnvoll erweisen kann, diese
„Übernahmen“ auch mit theoretischen Ansätzen anderer Provenienz zusammenzuführen. Der versuchte „Beweis“ eines theoretischen Konzepts anhand
des empirischen Materials wäre demgegenüber widersinnig, umso mehr, als
ein einheitliches theoretisches Konzept gar nicht vorliegt.
Definiert man „Kolonisierung“ vorläufig sehr allgemein als ein hegemoniales Konzept der zwangsweisen Vereinheitlichung kultureller Differenzen,
so erscheint es durchaus zweckentsprechend, sich mit dieser Konzeption auch
der Geschichte der Habsburgermonarchie zu nähern.3 Dieser Staat war ja
gerade durch eine Vielfalt der Ethnien und kulturellen Praktiken geprägt,
die ihn im Zeitalter der als ethnisch homogen imaginierten Nationalstaaten
als ein Relikt älterer, nicht mehr zeitgemäßer politischer Strukturen erscheinen ließ. Die offizielle interne Sicht auf den Vielvölkerstaat operierte dementsprechend mit einem Konzept von „Einheit in der Vielfalt“, also einer programmatischen Anerkennung der ethnisch-kulturellen Heterogenität bei
gleichzeitiger Betonung der politischen Einheit: Metaphorisch fand dieses
Konzept Ausdruck in der Begrifflichkeit einer „Völkerfamilie“, mit dem
Kaiser in Wien als patriarchalischem, doch wohlwollend-mildem Übervater.
Eine vollständige kulturelle, vor allem sprachliche Vereinheitlichung war nicht
herstellbar, war doch dieser Staat nicht durch die Hinzufügung kleinerer
politischer Einheiten zu einem kulturell dominanten Zentrum entstanden,
vielmehr waren große, historisch durchaus eigenständige politische Einheiten durch ursprünglich bloße Personalunion an ein eher kleines Kerngebiet
habsburgischer Herrschaft, die „Erblande“, angefügt worden.4
Damit ist jedoch keineswegs behauptet, dass die Habsburgermonarchie
von jenen Strategien der kulturellen Zwangsassimilation, wie sie für Kolonisierungsprozesse typisch sind, völlig frei gewesen wäre: An die Stelle eines
dominanten, zentralistischen und reichsübergreifenden „Kolonisierungsdiskurses“ traten vielmehr vielfach miteinander verschränkte regionale „Mikro-
260
kolonialismen“5. Ersichtlich wird diese Aufsplitterung der Träger der normierenden Definitionsmacht kultureller Hegemonie, wenn man versucht, die
für Kolonisierungsprozesse typische Dichotomie von Zentrum und Peripherie auf die Donaumonarchie anzuwenden: Für die Magyaren beispielsweise
war Wien bis 1867 in der Tat ein politisches Zentrum, das als gleichsam „äußere Autorität“ bekämpft wurde, für die Kroaten als Untertanen der ungarischen Krone hingegen war Budapest dieses als zwangsweise normierend empfundene Zentrum, demgegenüber Wien ein Gegengewicht darstellte; ähnliches gilt für die Ruthenen (Ukrainer) im polnisch dominierten Galizien.
Einen Sonderfall stellte jedoch die letzte „Erwerbung“ des Hauses Österreich, die Länder Bosnien und Herzegowina, dar. Hier kann in der Tat von
einem einheitlichen Kolonisierungsdiskurs gesprochen werden, der mit handfesten politischen und strategischen Zielsetzungen verbunden war.
Das größere Bosnien und die südwestlich daran angrenzende Herzegowina liegen im Grenzbereich verschiedener Kulturräume und politischer Einflusszonen; dementsprechend inhomogen war die Bevölkerung in ethnischer
und konfessioneller Hinsicht. Bis Mitte des 15. Jahrhunderts noch „ein erkennbar eigenständiger, freilich peripherer Bestandteil der Staatenwelt des
lateinischen Europa“6 gelangte das Gebiet ab dem Ende des 14. Jahrhunderts
schrittweise unter türkische Kontrolle, im Jahr 1463 wurde es schließlich formell dem Osmanischen Reich angegliedert. Mit der sukzessiven Zurückdrängung der osmanischen Herrschaft aus Südosteuropa wurde der gesamte Balkan in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Region, in der ein
Wettlauf der europäischen Großmächte um Einflusszonen einsetzte. Im Berliner Kongress von 1878 wurden Bosnien, die Herzegowina und der Sandzak
von Novi Pazar7 zum österreichisch-ungarischen Mandatsgebiet erklärt: Formell blieben die Länder zwar (vorläufig) Bestandteil des Osmanischen Reiches, sie wurden aber unter gemeinsame österreichische und ungarische Verwaltung gestellt (Okkupation). Die Durchsetzung der Verwaltungshoheit erfolgte mit militärischen Mitteln, gegen Widerstände vor allem des moslemischen Bevölkerungsteils, der unter dem Kommando von Hadschi Loja einen
noch bis 1880 andauernden Partisanenkrieg gegen die k.u.k. Armee führte.
In der Folge wanderte ein Teil der moslemischen Bevölkerung in Kerngebiete des osmanischen Reiches ab.
Die österreichisch-ungarische Politik zielte wohl von Anfang an auf eine
vollständige staatsrechtliche Angliederung (Annexion) Bosniens und der
Herzegowina, was nicht zuletzt durch die beträchtlichen Investitionen in die
Infrastruktur (Schulen, Krankenhäuser, Straßen, Eisenbahnen) belegt wird.8
^
261
Diese zeitigten auch zumindest teilweise die angestrebte Wirkung, die Bevölkerung für die neue „Ordnungsmacht“ zu gewinnen. Das später fallengelassene Projekt der „Sandzak-Bahn“ mit Zielrichtung Thessaloniki lässt aber
überdies auf weiterreichende Expansionsabsichten, etwa in Richtung der
mehrheitlich katholisch besiedelten Gebiete Albaniens schließen. Die instabile politische Lage auf dem Balkan motivierte Österreich-Ungarn schließlich
im Jahr 1908 zur Annexion Bosniens und der Herzegowina, die eine europäische Krise auslöste. Entsprechend der dualistischen Staatsform wurde das
Gebiet keiner der beiden Reichshälften angegliedert, sondern erhielt des Status eines eigenen „Reichslandes“, das vom gemeinsamen österreichisch-ungarischen Finanzministerium verwaltet wurde. Die gleichzeitige Preisgabe der
Gebietsansprüche auf den Sandzak von Novi Pazar verweist auf die geänderte
Strategie, die nun offenkundig nicht mehr auf Expansion, sondern auf Besitzstandswahrung in dieser Krisenregion gerichtet war. Die formelle Annexion heizte jedoch den Widerstand panslawistisch eingestellter serbisch-nationaler Gruppierungen an, die schließlich am 28. Juni 1914 den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und dessen Gattin während
ihres Besuchs in Sarajewo ermordeten.
„Der militärischen Okkupation von Bosnien und der Herzegowina folgte
die touristische und literarische Erschließung dieses interessanten Neulandes“9, heißt es knapp in der bekannten Deutsch-österreichischen Literaturgeschichte
von Nagl, Zeidler und Castle, und in der Tat belegt eine beträchtliche Zahl
von einschlägigen zeitgenössischen Publikationen ein vom Reiz der Binnenexotik motiviertes, vielfach auch touristisches Interesse am sogenannten „Okkupationsgebiet“. Die neu entstandenen, wie stets betont wurde, „westlichen
Standards“ entsprechenden touristischen Einrichtungen10 wurden dabei, so
ein zeitgenössischer Kommentar, als ein „schützendes Vordach“ präsentiert,
„welches abendländische Cultur [...] für fremde Besucher aufgerichtet“11 habe;
von diesem Refugium aus könne ein exotisches, orientalisch geprägtes Land
gefahrlos besichtigt werden. Die Beschreibung des Landes als „orientalisch“
geprägt entspricht dabei dem Grundtenor westeuropäischer Imaginationen
von der Balkan-Region, wie sie Maria Todorova in ihrer Studie Imagining the
Balkans dargestellt und analysiert hat.12
Nach Ansicht der Autorin wurde der Terminus „Balkan“ genau zu jener
Zeit, als die westlichen Großmächte sich anschickten, in dieser Region das
geschwächte osmanische Reich zu beerben, als ein negativ konnotierter, abgrenzender Begriff konstruiert, dem ein positives Bild des „Westens“, beziehungsweise des „zivilisierten Europa“, gegenübergestellt wurde. Von einer
^
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262
ursprünglich geographischen Bezeichnung für einen Gebirgszug, dann für
eine ganze Großregion Europas, sei der Name „Balkan“ schließlich zum Synonym für unübersichtliche und barbarische Zustände geworden, was sich in
der Bildung pejorativer Neologismen wie „Balkanisierung“ oder „balkanisch“
niederschlug.13 Geflissentlich übersehen wurde dabei der Umstand, dass das
vermeintlich spezifisch „Balkanische“ des Balkan gerade eben aus der Übertragung westlicher politischer Ideale auf die Region resultierte, insbesondere
aus der vermeintlich progressiven Überzeugung, dass ein Staat auf einer tragenden „Nation“ und diese auf einer einheitlichen „Nationalsprache“ beruhen müsse. Der als typisch „balkanisch“ imaginierte, die real vorhandene
ethnisch-kulturelle Vielfalt verleugnende gewalttätige Kult der Differenz und
der „ethnischen Reinheit“ erweist sich aus dieser Perspektive keineswegs als
ein der Region autochthon innewohnendes Phänomen, vielmehr als Produkt
eines von außen herangetragenen Ordnungsdenkens.14 Im Detail analysiert
Todorova in ihrer Studie die diskursiven Strategien dieser „Erfindung“ des
Balkans: Die Definition als „orientalisch“, damit als kulturell fremd, die Bewertung als von der zivilisatorischen Norm abweichend und deviant, rückständig und vergangenen Epochen einer kulturevolutionistisch15 verstandenen „Entwicklung“ der Menschheit angehörig, weiters die Punzierung als
effeminiert, infantil und unmündig. Auch wenn diese Zuschreibungen im
konkreten Detail nicht durchwegs negativ ausfallen müssen – insbesondere
die kulturelle „Ursprünglichkeit“ kann in einem gleichsam antimodernen
Reflex partiell auch positiv, zumindest aber als pittoresk und exotisch reizvoll aufgefasst werden – signalisieren sie jedenfalls ordnenden Handlungsbedarf von Außen. Gerade diese Programmatik einer homogenisierenden Überwindung historisch entstandener Differenz zum vermeintlich „höheren“ zivilisatorischen Niveau des westlichen Europa durch kulturelle Vereinheitlichung ist jedoch als essentiell „kolonialistisch“ zu definieren. Auch wenn
der Terminus „Balkan“ in der ethnographischen Literatur der Habsburgermonarchie im allgemeinen nur als geographische Bezeichnung verwendet wird,
lassen sich doch in den Beschreibungen Bosniens und der Herzegowina fast
alle der von Todorova angeführten diskursiven Strategien nachweisen.16
Bevor im folgenden einige konkrete Belege dafür vorgebracht werden,
muss jedoch kurz in allgemeiner Form auf die politische Funktion der ethnographischen Literatur in der Donaumonarchie eingegangen werden.17 Die
Ursprünge der offiziell geförderten und schließlich auch institutionalisierten „volkskundlichen“ Forschung unterschieden sich im österreichischen Teil
der Habsburgermonarchie (Cisleithanien) in charakteristischer Weise von den
263
gleichzeitigen Entwicklungen im Deutschen Reich und in anderen, national
homogeneren Staaten. Während dort vor allem die Sprache als primäres Zugangsmedium zur Erforschung der sogenannten „Volkskultur“ aufgefasst
wurde („Wörter und Sachen“) und mittels gewagter sprachhistorischer Analogieschlüsse und Extrapolationen vor allem ethnische „Kontinuitäten“ über
Jahrhunderte hinweg konstruiert wurden, orientierte sich die offiziell geförderte Forschung in Österreich stärker an einem ethnographisch-humangeographischen Zugang, bei dem die „Volksstämme“ – so der gebräuchliche Terminus – als eine Art humanes „Rohmaterial“ imaginiert wurden, das über
unterschiedlich beschaffene Landstriche gleichsam ausgestreut und von diesen, das heißt von den klimatischen Bedingungen und den dadurch geprägten Wirtschaftsformen, kulturell geformt wurde.18 Gemäß dieser Konzeption
wurden die kulturellen Grenzen zwischen den einzelnen Volksstämmen als
im Prinzip durchlässig aufgefasst, was sich in Schlüsselbegriffen wie
„volksnachbarliche[r] Wechselseitigkeit“19 oder „Kulturverwandtschaften der
österreichischen Völkerstämme“20 ausdrückte. Die Funktion des Staates wurde nicht als homogenisierend im sprachlich-nationalen Sinn aufgefasst, vielmehr wurde ihm die als „Bringschuld“ gegenüber den Volksstämmen dargestellte Aufgabe einer inhaltlich vage bleibenden „kulturellen Verbesserung“
(vorzugsweise auf die Infrastruktur und den Bereich der Bildungseinrichtungen bezogen) zugeordnet. Dieser (national)politisch bewusst neutral gestellte Kulturbegriff hat wenig mit dem in der damaligen deutschen Forschung gebräuchlichen Begriff zu tun, soweit er sich inhaltlich näher bestimmen lässt, wäre er eher allgemein mit „Zivilisierung“ zu übersetzen.21
Die Konzeption der in Wien etablierten zentralen ethnographischen Institutionen – Verein (1894), Zeitschrift (1895) und Museum für österreichische
Volkskunde (1895) – entsprach den politischen Vorgaben; in programmatischer Weise sollten alle Nationalitäten der österreichischen Reichshälfte in
diesen Institutionen gleichberechtigt behandelt und dargestellt werden. In
den Reden und Aufsätzen anlässlich der Gründung dieser Institutionen beziehungsweise zu entsprechenden Jubiläen, wurde denn auch immer wieder
auf deren politische Funktion verwiesen, die Völker „besser miteinander bekannt zu machen“ und so zur Überwindung nationaler Differenzen beizutragen.22 Diese Programmatik macht es auch verständlich, dass in den letzten
Jahrzehnten der Habsburgermonarchie mehrere teilweise aufwendig gestaltete ethnographische Sammelwerke mit dezidiert populärem Anspruch publiziert wurden. Das bekannteste dieser Werke ist das von Kronprinz Rudolf
initiierte, opulente opus magnum Die Oesterreich-ungarische Monarchie in Wort
264
und Bild, besser bekannt als Kronprinzenwerk.23 Dabei handelt es sich jedoch
nur um das auffälligste und aufwendigste Beispiel populär gehaltener ethnographischer Literatur in der Habsburgermonarchie; als eine Art Vorläufer
kann hier die vom Vorsitzenden der k.k. Geographischen Gesellschaft Friedrich
Umlauft herausgegebene Monographienreihe Die Länder Oesterreich-Ungarns
in Wort und Bild 24 erwähnt werden. Ähnlich geartet ist auch die, allerdings
auf die pittoresken Illustrationen verzichtende, von Karl Prochaska herausgegebene Reihe Die Völker Österreich-Ungarns. Ethnographische und culturhistorische Schilderungen25.
Kennzeichnend für diese an breitere Publikumsschichten gerichteten
Darstellungen ist der essayistisch-lockere, dabei für den heutigen Leser ermüdend selbstgefällige Erzählstil, sowie die besondere Konzentration auf
pittoreske und exotische Elemente; dies bleibt keineswegs auf die Darstellung
von Gebieten wie Bosnien-Herzegowina beschränkt, sondern prägt auch die
Sicht auf das „gemeine Volk“ in den übrigen, auch in den deutschsprachigen
Gebieten der Monarchie. Die programmatisch verfochtene „Einheit in der
Vielfalt“ erweist sich bei kritischer Lektüre freilich dennoch als fragile und
brüchige Konstruktion, wurde doch gleichsam selbstverständlich eine kulturelle Hierarchie der einzelnen Völker der Monarchie vorausgesetzt, wodurch
sich das Bestreben einer möglichst umfassenden Darstellung der ethnischkulturellen Vielfalt als Teil einer politischen Einheit permanent in widersprüchlicher Weise mit Tendenzen eines national-kulturellen Dominanzdenkens vermengte.
Was jedoch gerade die ethnographischen Arbeiten über Bosnien und die
Herzegowina in spezifischer Weise kennzeichnet, ist eine alle Texte prägende, aus der politischen Situation der Okkupation resultierende Argumentationsweise, die sich in der Tat als kolonialer Diskurs beschreiben lässt: Bosnien-Herzegowina wird als eine durch die Jahrhunderte asiatisch-minderwertiger Fremdherrschaft der Türken hinter dem vermeintlich allgemeinverbindlichen zivilisatorischen Standard „Europas“ (des „Westens“) zurückgebliebene Region präsentiert. Österreich-Ungarn kam demgemäss die Aufgabe zu,
für „Cultur und Gesittung“26 zu sorgen, also einerseits die Bevölkerung zu
„zivilisieren“ und ihre Lebenssituation ganz allgemein zu „verbessern“,
andererseits das Land für Europa „zurückzugewinnen“. Territoriale Interessen des Staates wurden auf diese Weise als kulturelle Aufbauleistung für
die Region, aber auch für Europa und die „Zivilisation“ bemäntelt. Dabei ist
festzuhalten, dass die österreichische Verwaltung tatsächlich eine moderne
Infrastruktur zu errichten begann, was im Laufe der Zeit auch von der ein-
265
heimischen Bevölkerung großteils positiv vermerkt wurde. Ebenso ist zuzugestehen, dass die Schilderungen der zahlreichen Mängel im Bereich der aus
osmanischer Zeit vorgefundenen Infrastruktur auf rein deskriptiver Ebene
durchaus der Wahrheit entsprochen haben dürften, entscheidend ist jedoch
deren durchgängige, gleichsam leitmotivische Wiederholung und ihre Verknüpfung zu einem normativen Argumentationszusammenhang, der ordnenden Handlungsbedarf signalisiert.27
Der Geograph Friedrich Umlauft fügte seinem erstmalig 1876, also vor
der Okkupation erschienenen, an die „Leser aller Stände“ gerichteten Geographisch statistischen Handbuch der österreichisch-ungarischen Monarchie für
die zweite Auflage einen eigenen Teil über das „Occupationsgebiet“ an, der
sich in der Hauptsache auf die Auflistung jener statistischen Daten beschränkte, die in der von der neuen Verwaltungsmacht durchgeführten Volkszählung vom 16. Juni 1879 ermittelt worden waren (Volkszählungen und deren
klassifizierende und taxierende Auswertung gehören zu den typischen Maßnahmen kolonialistischer Ordnungspolitik). Allerdings vermerkt der Autor
ausdrücklich die rückständige Infra- und Wirtschaftsstruktur und betont,
dass sich das Land „infolge der türkischen Verwaltung in trauriger Verkommenheit [befindet]. Die meisten der schönen und fruchtbaren Thäler liegen
wüst, der größte Theil des Bodens ist unangebaut.“28
In der von Umlauft in den 1880er Jahren herausgegebenen Monographienreihe Die Länder Oesterreich-Ungarns in Wort und Bild ist Bosnien-Herzegowina bereits ein eigener Band gewidmet. Als Verfasser gewann Umlauft den
aus einer angesehenen Wiener Gelehrtenfamilie stammenden, später an der
Wiener Universität zum Professor für Prähistorische Archäologie ernannten
Moritz Hoernes (1852–1917). Dessen Interesse an Bosnien-Herzegowina war
durch die Teilnahme am Okkupationsfeldzug geweckt worden, in der Folge
unternahm Hoernes mehrere Studienreisen in die Region, die er in Form
von Reiseberichten und schließlich in zahlreichen Einzelstudien in den von
ihm gegründeten Mitteilungen aus Bosnien und der Herzegowina veröffentlichte. Gleich in der Einleitung seiner 1889 veröffentlichten Studie hebt Hoernes
den „orientalische[n] Culturcharakter“29 des Landes hervor, der aus der langen Beherrschung durch die Türken resultiere.
So wird man kaum der Anschauung beipflichten, welche in den Jahrhunderten der
Türkenherrschaft auf europäischem Boden ausschließlich einen großen Gedankenstrich in der Entwicklung der Völker erblickt. Unsere Betrachtung dieses auch
für Bosnien nun abgeschlossenen Zeitraumes stand aber unter dem Einfluß der
fortwährenden Kriege mit dem asiatischen Culturelement, welches in seinem Vor-
266
dringen wie in seinem Zurücksinken allerdings namenloses Wehe über den Südosten unseres Erdtheils gebracht hat. Auch während jene Vermischung slavischer und
türkischer Eigenart, als deren interessantes Product sich heute die serbischen Mohammedaner Bosniens darstellen, vor sich gieng, war das Land [...] ein Herd fortwährender feindseliger Ausbrüche gegen die christlichen Nachbarländer.30
Während Hoernes es bei diesen allgemeinen Feststellungen belässt, konzentriert sich das Bosnien-Kapitel im die Serben thematisierenden Band der
Reihe Die Völker Österreich-Ungarns beinahe ausschließlich auf die Zeit der
türkischen Herrschaft, die in schwärzesten Farben ausgemalt wird: Es habe
sich um eine „Schreckensherrschaft“31 gehandelt, in der „es weder Recht noch
Gesetz gab, [...] [da] Willkür und Grausamkeit, Raub und Plünderung überall
dort auf der Tagesordnung standen, wo der krumme Janitscharensäbel als
oberstes und heiligstes Gesetz galt.“32 „Es waren das furchtbare Zustände,
welche einer jeden Beschreibung spotten, Zustände, die zu einer förmlichen
Verödung und Entvölkerung des Landes führten.“33 Der Autor, der einem
ursprünglich in der Batschka beheimateten Adelsgeschlecht entstammende
Publizist und zeitweilige Zeitungsherausgeber Theodor Ritter von StefanoviæVilovsky, entwickelt das Szenario eines besetzten und durch die „Fremdherrschaft“ orientalisierten christlichen Landes, in dem nun durch die Habsburgermonarchie gleichsam die legitimen Verhältnisse wiederhergestellt
würden. Dies entspräche vollkommen dem Willen der ansässigen (christlichen) Bevölkerung, die sich immer wieder gegen die „Besatzer“ erhoben und
wiederholt Österreich als christliche Schutzmacht um Hilfe gebeten hätte.34
Der vor allem aus Generationen zurückliegenden Konversionen zum Islam
hervorgegangene moslemische Bevölkerungsanteil wird von Stefanoviæ-Vilovsky weniger als soziokulturelle Realität, denn als Produkt „furchtbare[r]
Apostasie, welche ein ewiger Schandfleck für das Land bleiben wird“35 gebrandmarkt. Während Stefanoviæ-Vilovsky mit vermeintlichen historischen
Rechten auf konfessioneller Basis argumentiert, wählt Hoernes für seine
Apologie der österreichisch-ungarischen Machtübernahme in Bosnien-Herzegowina einen gegenwartsbezogenen, dabei genuin kolonialistischen Zugang.
Wer ehedem in Bosnien geherrscht, ist für die Folge rechtlich gleichgiltig. Herrschen wird in Zukunft, wer die im Lande und im Volke schlummernden Kräfte am
besten entwickelt und ihren Trägern Frieden, Wohlstand und Gedeihen für die
Dauer verbürgen kann. Das hat weder der autonome mittelalterliche noch der neuzeitlich türkische Staat vermocht. Wohl aber verspricht die Administration Österreich-Ungarns nach den in zehnjähriger Herrschaft abgelegten Proben dieser Aufgabe in jeder Hinsicht gerecht zu werden.36
267
In dieser Dekade unter österreichisch-ungarischer Herrschaft, die Hoernes
bereits als die dritte Epoche der bosnischen Geschichte verstanden wissen
will, „haben die Bosniaken an hundert schwerwiegenden Neuerungen und
tausend kleinen Zügen die Superiorität der abendländischen Civilisation aus
nächster Nähe kennengelernt.“37 Diese „Superiorität“ gegenüber den in der
Region vorherrschenden „primitive[n] Culturzuständen“38 wird durch typisch kolonialistische Argumentationsstrategien untermauert, die die einheimische Bevölkerung zuerst als fremdartig und rückständig, im weiteren als
passiv und unproduktiv und schlussendlich als infantil und unmündig darstellen.
So ordnet Hoernes die kulturellen Verhältnisse Bosnien-Herzegowinas auf
der evolutionär verstandenen Skala kulturellen „Fortschritts“, „dem Mittelalter und noch älteren Zeiträumen“39 zu, die Bosniaken seien ein Glied jener
„europäischen Völkergruppe, [welche] durch eigenthümliche Umstände in
der Entwicklung zurückgehalten, uns theilweise noch einen lebendigen Einblick in das Leben und Treiben längst entschwundener Epochen gestattet“40.
Genau entsprechend wird auch im Bosnien-Band des Kronprinzenwerks argumentiert. In dem vom kroatischen Ethnographen und späteren Direktor des
Bosnischen Landesmuseums in Sarajewo, Æiro Truhelka (1865–1942) verfassten
Artikel über das Volksleben heißt es etwa:
Jahrhunderte hindurch lebte das Volk Bosniens und der Hercegovina im Sinne
altererbter Traditionen, welche weder staatliche Einrichtungen, noch eingetretene
Culturströmungen besonders tangirten. [...] So kam es, daß das Volk in einzelnen
abgelegenen Gegenden bis vor Kurzem genau so lebte und dachte, wie es vor fünf
oder sechs Jahrhunderten gelebt und gedacht hatte. Gewisse ursprüngliche Äußerungen der Volksseele konnten sich auf diese Weise in fast ungetrübter Form bis zur
Gegenwart erhalten, und der Ethnograph, der die Südslaven studiren will, kann sich
kein besseres Forschungsgebiet wünschen, als es sich ihm in Bosnien und der Hercegovina darbietet. Das Volksleben tritt hier allenthalben in reinster Urwüchsigkeit zur Schau.41
Auch in Richard Thurnwalds42 (1869–1954) Text über Gewerbe und Handel
wird hervorgehoben, dass sich in Bosnien-Herzegowina „die ältesten gewerblichen Productionsformen infolge jahrhundertelanger Abgeschlossenheit von
den culturellen und wirthschaftlichen Bestrebungen des Westens bis auf den
heutigen Tag [...] unverändert erhalten haben.“43 Eine derartige Argumentation enthält ansatzweise durchaus auch Elemente einer idealisierenden Entrückung des „Anderen“ in einen „gesunden“, „urwüchsigen“ Zustand44, der
aber zugleich als in zivilisatorischer Hinsicht defizitär bewertet wird. Die den
268
Bosniaken zugeschriebene mangelnde soziokulturelle Kontrolle der Emotionen äußert sich nämlich nicht nur in der, wie hervorgehoben wird, überschäumenden Phantasie in Volkskunst und -poesie, sondern auch in „Sitten
und Gebräuche[n], welche häufig gewaltthätig und mit den Anforderungen
eines modernen Rechtsstaates unvereinbar sind.“45 Die Charakterisierung als
„rückständig“, die zugleich eine Inklusion und eine Exklusion darstellt, kennzeichnet eine Strategie der Delegitimierung des Fremden und mündet direkt
in das Postulat ordnenden Handlungsbedarf im Sinne der Überwindung
historisch entstandener Differenz. Aufgabe der österreichisch-ungarischen
Verwaltung sei, so Hoernes, die „materielle[n] und geistige[n] Hebung der
beiden Provincen aus dumpfer Barbarei,“46 es gelte das Okkupationsgebiet
„aus Nacht und Verwilderung empor[zuziehen].“47
In kennzeichnender Weise wird das Programm homogenisierender Aufhebung von Differenz auch auf die inneren Verhältnisse des Landes bezogen.
Die Bevölkerung sei zwar „durch Kräfte der Natur und Cultur [...] merkwürdig zerspalten[e]“, aber eigentlich „doch im Grunde einheitlich[e]“48, es
sei eine Folge der Jahrhunderte türkischer Herrschaft, „daß die Bevölkerung Bosniens und der Hercegovina ein so wenig einheitliches Bild gewährt,
[...] daß sie ihrer Zusammengehörigkeit so völlig vergessen konnte.“49
Das Band der Nationalität, welches die überwiegende Masse der eingeborenen Bewohner Bosniens und der Hercegovina einigt und sie in unseren Augen als ein Glied
der serbo-kroatischen Gruppe [!] der südlichen Slaven darstellt, wird von den Trägern selbst nicht empfunden. Sie sind culturell noch nicht genügend vorgeschritten, um sich der Sprache wegen [...] als ein besonderes Ganzes, als ein Volk zu
fühlen. Die Stelle der Sprache als einigendes Band, aber auch als trennende Schranke, vertritt die Confession.50
Die Wortwahl – „vergessen“, „culturell noch nicht genügend vorgeschritten“
– kennzeichnet dabei die beiden Pole von gleichzeitiger Inklusion und Exklusion; zugleich bestätigt diese Argumentation Maria Todorovas Behauptung, dass die Einschätzung des Balkans als einer Region der chaotischen
Unübersichtlichkeit einer befangenen, spezifisch „westlichen“ Optik entspringt, die die national homogenisierte politische Formation als progressives Ideal postuliert und alle Abweichungen davon als rückständig bewertet.
Darüber hinaus bietet diese argumentative Strategie ein weiteres Beispiel dafür,
wie deskriptive Beschreibungen unvermittelt in normative Urteile übergehen; der Befund, dass die „Ansätze zu konfessionsübergreifender bosniakischer Nationalisierung in den Jahrzehnten vor und nach 1878 [...] vergleichsweise
269
schwach“51 waren, wird nämlich durchaus auch von der neueren Forschung
untermauert.
Zu den typischen Charaktereigenschaften der bosnischen Bevölkerung
gehört nach Ansicht der ethnographischen Autoren überdies auch deren
mangelnde Fähigkeit zu produktivem Wirtschaften, was auf eine aus der langjährigen türkischen „Unterdrückung“ resultierende spezifische „Apathie“
zurückgeführt wird, durch die, so Hoernes, die positiven, den „Naturkräften des Bodens“ gleichenden „Geisteskräfte“ der Bevölkerung52 gelähmt worden seien. Genau entsprechend heißt es auch bei Truhelka:
Wäre das Volk in der Lage gewesen, neben [den] passiven psychischen Eigenschaften auch die activen, namentlich die Energie, zur gleichen Vollendung zu bringen,
es hätte gewiß eine unvergleichlich höhere Culturstufe erreicht als jene war, auf
welcher es die Occupation von 1878 vorfand. Diese Energie wurde aber durch vier
Jahrhunderte gebeugt, das Volk [...], von Natur aus sanftmüthig, vom Schicksale
bedrückt, wurde [...] langmüthig.53
In analoger Weise behauptet auch Stefanoviæ-Vilovsky, es sei „kein Wunder,
wenn dieses unglückliche Volk [...] förmlich abgestumpft, in gänzliche Apathie verfiel.“54 Gerade in dieser Hinsicht würden sich jedoch bereits die segensreichen Auswirkungen der österreichischen Verwaltung zeigen, wie
Hoernes mit Befriedigung konstatiert: „Aus diesem lethargischen oder an
Lethargie grenzenden Zustand ist Bosnien gegenwärtig emporgerüttelt“55,
und auch Truhelka merkt an: Den „Arbeitstrieb erweckt zu haben, ist ein
nicht genug hoch zu schätzendes Verdienst der Occupation.“56 In der produktiven Nutzbarmachung der unter türkischer Herrschaft angeblich vernachlässigten Ressourcen des Landes liegt nach Ansicht der Autoren
letztendlich die primäre Rechtfertigung der Okkupation, wobei diese Argumentation auch auf die geistigen Ressourcen ausgedehnt wird. Der tatsächlich intensiv vorangetriebene Ausbau der schulischen Infrastruktur wird denn
auch von allen Autoren mit besonderer Emphase hervorgehoben.57 „Alles,
was seit 1878 durch Österreich-Ungarn im Lande und für das Land geschehen,“ so Hoernes Resümee, „ist eigentlich eine Schule für das Volk [...] und
kann [...] gar nicht hoch genug veranschlagt werden.“58 Mit dieser Betonung
der erzieherischen Kulturmission Österreich-Ungarns gegenüber der auf das
Niveau von Schulkindern herabgestuften einheimischen Bevölkerung, ist
letztlich auch die Infantilisierung59 und diskursive Entmündigung der als
„Eingeborene“60 bezeichneten Bewohner des Landes postuliert. Hoernes untermauert diese Sicht mit der Schilderung des offenkundig grenzenlosen Stau-
270
nens, mit dem die Einheimischen vor derartigen technischen Wunderwerken wie den Kriegerdenkmälern der k.u.k. Armee und den „soliden Baracken der ersten stabilen Garnisonen“61 gestanden seien. In Beschreibungen
wie diesen ist der kolonialistische Gestus auch ohne theoretische Reflexion
nachgerade mit Händen zu greifen.
Anmerkungen
1 Moritz HOERNES, Bosnien und die Hercegovina, Wien 1889 (Die Länder
Oesterreich-Ungarns in Wort und Bild), S. 8.
2 Vgl. Bill ASHCROFT, Gareth GRIFFITHS, Helen TIFFIN (Hg.), Post-Colonial
Studies. The Key Concepts, London–New York 2000.
3 Vgl. Wolfgang MÜLLER-FUNK, Peter PLENER, Clemens RUTHNER (Hg.),
Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie, Tübingen–Basel 2002; vgl. auch: Walter SAUER, k.u.k. Kolonial. Habsburgermonarchie und europäische Herrschaft in Afrika, Wien–
Köln–Weimar 2002.
4 Vgl. Joseph von EÖTVÖS, Die Garantien der Macht und Einheit Oesterreichs,
Leipzig 21859, insbesondere S. 10 f.
5 Dieser Terminus wurde bei der diesem Sammelband zugrunde liegenden Konferenz von Stefan Simonek (Wien) vorgeschlagen.
6 Konrad CLEWING, Bosnien und die Herzegowina, in: Harald ROTH (Hg.),
Studienhandbuch Östliches Europa 1: Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas, Köln–Weimar–Wien 1999, S. 126.
7 In einem bilateralen Abkommen zwischen Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich im Jahr 1879 wurde der Sandzak von Novi Pazar in zwei
Einflusszonen geteilt.
8 Vgl. Friedrich BISCHOFF, Die Bauthätigkeit in Bosnien und der Herzegowina
vom Beginne der Occupation durch die österr. ungar. Monarchie bis in das Jahr
1887, Wien 1888.
9 Johann Willibald NAGL, Jakob ZEIDLER, Eduard CASTLE, Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen
Dichtung in Österreich-Ungarn, 4. Band: Von 1890 bis 1918, Wien 1937, S. 1478.
10 Auch in der ethnographischen Literatur wird immer wieder und mit auffallendem Nachdruck darauf hingewiesen, dass als Folge der österreichischen Okkupation zahlreiche moderne Hotels nach westlichem Standard entstanden
seien. Dies lässt darauf schließen, dass die ökonomische Situation BosnienHerzegovinas durch seine Erschließung für den Tourismus angekurbelt werden sollte. „Während die zwei Decennien Abendland in Sarajevo sofort moderne Hotels und Hunderte von Gasthäusern hervorzauberten, brauchte die türkische Zeit nichts davon.“ Milena PREINDLSBERGER-MRAZOVIÆ, Landschaftliche Schilderung, in: Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und
Bild. Bosnien und Hercegovina, Wien 1901, S. 39–152, hier S. 50. Bemerkens^
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wert ist in diesem Zusammenhang der Umstand, dass die in Sarajewo lebende
Journalistin, Schriftstellerin und langjährige Herausgeberin der deutschsprachigen Sarajewoer Tageszeitung Bosnische Post (1886–1896), Milena Preindlsberger von Preindlsberg, geb. Mrazoviæ (1863–1927), in diesem Zusammenhang zu einer Apologie der osmanischen Kultur greift: „Die orientalische Gastfreundschaft bedarf keiner Wirthshäuser.“ S. 51. Auch bei der Schilderung der
Therme von Ilidze betont Preindlsberger: „Der Europäer braucht hier, wo noch
vor zwei Decennien das Röhricht in den Schwefelwassertümpeln wucherte, auf
keine seiner verfeinerten Lebensgewohnheiten zu verzichten.“ S. 58. Analog
heißt es in: Richard THURNWALD, Gewerbe und Handel, in: Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Bosnien und Hercegovina,
Wien 1901, S. 506 f.: „Die ins Land kommenden Touristen sind überrascht von
der vorzüglichen Unterkunft in den ärarischen Hotels“ (vgl. ebenda auch die
Ausführungen über die positiven Auswirkungen der touristischen Erschließung für das Land). Ähnliche Aussagen auch bei Moritz Hoernes. Vgl. weiters:
Leopold SEILER (Hg.), Hotel-Adressenbuch von Österreich-Ungarn, Bosnien
und der Herzegowina, Wien 1897.
HOERNES, Bosnien, S. 5.
Maria TODOROVA, Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil,
Darmstadt 1999, hier z.B. S. 30.
Vgl. dazu mit Bezug zur Gegenwart: Dušan I. BJELIÆ, Obrad SAVIÆ (Eds.),
Balkan as Metaphor. Between Globalization and Fragmentation, Cambridge/
Mass. 2002.
Vgl. dazu weiters: Mark MAZOWER, Der Balkan, Berlin 2002.
Unter Kulturevolutionismus wird eine Auffassung verstanden, die von einem
einheitlichen und allgemeinmenschlichen Muster soziokultureller Entwicklung ausgeht, und die es daher erlaubt, Kulturen entweder als entwickelter
oder als weniger entwickelt in Bezug auf einen allgemein verbindlichen Maßstab zu definieren.
Zum Zusammenhang von Ethnographie und Kolonialismus vgl. u. a.: Talal
ASAD, Afterword: From the History of Colonial Anthropology to the Anthropology of Western Hegemony, in: George W. STOCKING (Ed.), Colonial Situations. Essays on the Contextualization of Ethnographic Knowledge, Madison/Wisconsin 1991 (History of Anthropology 7), S. 314–324.
Vgl. dazu: Peter STACHEL, Die Harmonisierung national-politischer Gegensätze und die Anfänge der Ethnographie in Österreich, in: Karl ACHAM (Hg.),
Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften 4: Geschichte und fremde
Kulturen, Wien 2002, S. 323–367. Zur Geschichte der ethnographischen Forschung in der Habsburgermonarchie vgl. auch die bisher erschienenen drei
Bände der Publikationsreihe Ethnologica Austriaca (hg. v. Justin STAGL), Wien–
Köln–Weimar 1995–2002.
Damit ist nicht behauptet, dass es in der Habsburgermonarchie keine national
orientierten, genuin volkskundlichen Bestrebungen gegeben hätte; diese konnten jedoch aus nachvollziehbaren politischen Gründen kaum mit offizieller
staatlicher Unterstützung rechnen.
272
19 Josef Alexander von HELFERT, Volksnachbarliche Wechselseitigkeit. Eine
Anregung, in: Zeitschrift für österreichische Volkskunde. Organ des Vereins
für österreichische Volkskunde in Wien 2 (1896), S. 5.
20 Michael HABERLANDT, Die nationale Kultur der österreichischen Völkerstämme, Wien 1917 (Österreichische Bücherei. Eine Sammlung aufklärerischer
Schriften über Österreich 2), S. 14 (Kapitelüberschrift).
21 Florian Oberhuber hat vorgeschlagen, diesen politisch neutralisierten Kulturbegriff als funktionales Äquivalent zum älteren „Reichsbegriff“ aufzufassen.
Vgl. Florian OBERHUBER, Reich und Kultur. Zum neu-josephinischen Kulturbegriff 1848–1918, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft
13, 2 (2002), S. 9–33.
22 Ein wichtiges, hier nicht näher zu erläuterndes Medium der Präsentation der
ethnischen Vielfalt waren auch – nicht nur in Österreich – die sogenannten
„ethnographischen Dörfer“ im Rahmen von Welt- und Landesausstellungen.
Vgl. Martin WÖRNER, Vergnügung und Belehrung. Volkskultur auf den Weltausstellungen 1851–1900, München–Berlin 1999.
23 Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, 24 Bde., Wien 1885–
1902. Parallel zur deutschsprachigen Version erschien – entsprechend der dualistischen Staatsform – auch eine eigene ungarische Ausgabe. Das Werk wurde übrigens
nicht in geschlossenen Bänden, sondern in Einzellieferungen veröffentlicht.
24 Friedrich UMLAUFT (Hg.), Die Länder Österreich-Ungarns in Wort und Bild,
15 Bde., Wien 1881–1889.
25 Karl PROCHASKA (Hg.), Die Völker Österreich-Ungarns. Ethnographische
und culturhistorische Schilderungen, 12 Bde., Wien–Teschen 1881–1885. Als
weitere, allerdings vor 1878 veröffentlichte einschlägige Publikationen vgl.
Ludwig Ritter von HEUFLER, Österreich. Ein geographischer Versuch, Wien
1854; vgl. Carl von CZOERNIG, Ethnographie der österreichischen Monarchie, 3 Bde., Wien 1855–1857; vgl. Adolf FICKER, Die Volksstämme der österreichisch-ungarischen Monarchie, Wien 1869.
26 HOERNES, Bosnien, S. 72.
27 Wenig überraschend ist der Umstand, dass die militärische Seite der Okkupation und der langanhaltende bewaffnete Widerstand von Teilen der bosnischen Bevölkerung in den ethnographischen Studien allenfalls ganz am Rande
angedeutet wird. Hoernes erwähnt beiläufig die Existenz „schlichte[r] Denkmäler, welche das dankbare Vaterland seinen im Kampfe für Cultur und Gesittung gefallenen Kriegern errichtete“; HOERNES, Bosnien, S. 72. Im Kronprinzenwerk wird ebenso beiläufig im Rahmen der Schilderung des Marktes von
Sarajewo erläutert, dass „noch im Jahre 1878 [...] das Schließen der Läden das
Zeichen zum Aufruhr“ war; PREINDLSBERGER-MRAZOVIÆ, Landschaftliche Schilderung, S. 54.
28 Fried[rich] UMLAUFT, Anhang. Das Occupations-Gebiet: Bosnien und die Hercegovina, in: DERS., Die Österreichisch-Ungarische Monarchie. Geographischstatistisches Handbuch mit besonderer Berücksichtigung auf politische „Culturgeschichte“, für Leser aller Stände, Wien–Pest–Leipzig 1883, S. 927–932,
hier S. 929.
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29 HOERNES, Bosnien, S. 6.
30 Ebenda, S. 38.
31 Theodor Ritter von STEFANOVIÆ VILOVSKY, Die Serben im südlichen Ungarn, in Dalmatien, Bosnien und der Herzegovina, Wien–Teschen 1884 (Die
Völker Österreich-Ungarns. Ethnographische und culturhistorische Schilderungen 11), S. 105.
32 Ebenda, S. 102.
33 Ebenda, S. 105.
34 Als Dokument der Ermächtigung zur österreichisch-ungarischen Machtübernahme in Bosnien-Herzegowina präsentiert der Autor ein von Vertretern der
bosnischen Christen verfasstes dubioses Memorandum, gerichtet an die europäischen, christlichen, die Pariser Verträge garantierenden Großmächte, über die Leiden
der Christen in Bosnien, überreicht am 12. und 13. August 1873, Sr. Majestät dem
Kaiser von Österreich und den Vertretern der übrigen europäischen Großmächte, das er
über mehrere Druckseiten im Wortlaut wiedergibt. Vgl. STEFANOVIÆ VILOVSKY, Die Serben, S. 115–121.
35 Ebenda, S. 100.
36 HOERNES, Bosnien, S. 9 f.
37 Ebenda, S. 72.
38 Ebenda, S. 58.
39 Ebenda, S. 113.
40 Ebenda. Zur Strategie der ethnologischen Taxierung fremder Kulturen als einer älteren historischen Epoche angehörig, vgl.: Johannes FABIAN, Time and
the Other. How Anthropology Makes its Object, New York 1983.
41 Æiro TRUHELKA, Volksleben, in: Die österreichisch-ungarische Monarchie in
Wort und Bild. Bosnien und Hercegovina, Wien 1901, S. 290–371, hier S. 290.
42 Vgl. Marion MELK-KOCH, Auf der Suche nach der menschlichen Gesellschaft.
Richard Thurnwald, Berlin 1989.
43 THURNWALD, Gewerbe, S. 487.
44 So wird von Hoernes z. B. die hohe Geburtenrate in Bosnien in logisch fragwürdiger Weise mit der „Leichtigkeit Kinder bis zu einem gewissen Alter
aufzuziehen und vor den Schädlichkeiten, welche in Ländern mit großen Städten unter den Kindern Verheerungen anrichten, zu bewahren“, in Verbindung
gebracht. HOERNES, Bosnien, S. 58.
45 Ebenda, S. 110.
46 Ebenda, S. 74.
47 Ebenda.
48 Ebenda, S. 105.
49 Ebenda, S. 107 f.
50 Ebenda, S. 106. Dieser Befund wird übrigens auch durch die Vermessungen
und Taxierung der Physis der Bevölkerung argumentativ gestützt, als deren
„Befund“ behauptet wird: „Die Bevölkerung Bosniens und der Hercegovina
bildet wohl seit langem, sowohl in ethnischer als geschichtlicher Beziehung ein
einheitliches Volk, doch ist dieselbe seit Jahrhunderten bereits confessionell
in Gruppen geschieden.“ Leopold GLÜCK, Physische Beschaffenheit der ein-
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heimischen Bevölkerung, in: Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort
und Bild. Bosnien und Hercegovina, Wien 1901, S. 277–289, hier S. 284.
CLEWING, Bosnien, S. 128.
Vgl. HOERNES, Bosnien, S. 74.
TRUHELKA, Volksleben, S. 291.
STEFANOVIÆ VILOVSKY, Die Serben, S. 106.
HOERNES, Bosnien, S. 70.
TRUHELKA, Volksleben, S. 291.
Vgl. HOERNES, Bosnien, insbesondere S. 72–75; TRUHELKA, Volksleben,
S. 290.
HOERNES, Bosnien, S. 72.
Die, nach Todorova, gleichfalls typische Strategie der Effeminierung – wobei
der Balkan als Ausläufer des weiblich konnotierten Orients betrachtet wird –
ist in den zitierten ethnographischen Schriften weniger stark ausgeprägt. Als
ein Beispiel für die Verbindlichkeit dieser Argumentationsfigur sei aber auf
eine anlässlich der Annexion Bosnien-Herzegowinas (1908) veröffentlichte französische Karikatur verwiesen, auf der Kaiser Franz Joseph als greiser Galan
mit den beiden Mädchen Bosnien und Herzegowina auf seinen Knien sitzend
dargestellt wird. Der Text dazu lautet vieldeutig: „Encore des conquêtes à mon
âge“ – „In meinem Alter noch Eroberungen“.
Vgl. HOERNES, Bosnien, S. 8.
Ebenda, Bosnien, S. 72.
275
Zur Konstruktion bürgerlicher imperialer Identität.
Gustav Ratzenhofers Vorträge zur Okkupation
Bosniens und der Herzegowina
Florian Oberhuber
Vor seiner Abreise aus Sarajewo, wo er im Zuge des Okkupationsfeldzuges
von 1878 zu Verwaltungstätigkeiten eingesetzt war, schrieb Hauptmann Gustav Ratzenhofer an seine Frau nach Wien: „In meinem Gemüt stieg die erhabene Mission unseres Staates empor diesem herrlichen Land den Frieden
und die Blüte zu geben, die es verdient. Ich sah es gleichsam voraus, wie es
werden müsse und das Fremdartige verschwand. Es heimelte mich an. Ich
war gerührt und fühlte leis von hier scheiden zu müssen.“1
Für das Studium einer gesamtstaatstreuen, also nicht-nationalen, „österreichischen“ Identität ist der Diskurs um Bosnien und die Herzegowina
besonders aufschlussreich. Jene Eliten, welche die Okkupation trugen und
legitimierten, taten dies mit einem bestimmten Konzept des „Wesens“ und
der Aufgabe des Habsburgerreichs, wobei sicherlich geopolitische Überlegungen im Zentrum standen, darüber hinaus aber auch ein gewisses Bild der
okkupierten Territorien und ihres kulturellen Verhältnisses zu ÖsterreichUngarn entwickelt wurde. Die juristische Konstruktion des Mandats zur
Okkupation sowie dessen militärische Durchführung waren eine Sache, die
Integration der neuen Länder in den imaginierten Reichskörper eine andere.
Identität wird hier im Sinne Jan Assmanns als Reflexionskategorie verstanden. Es geht also nicht um eine Menge gleicher Eigenschaften einer Bevölkerung oder andere Qualitäten, die von außen ermittelt werden könnten,
sondern um die Selbstinterpretation eines Kollektivs von innen: reflexiv gewordene Zugehörigkeit. Identität in diesem Sinn ist gerade nicht das objektiv
mit anderen geteilte, das Selbstverständliche, sondern die aufgrund der Erfahrung von Differenz ins Bewusstsein gehobene Besonderheit.2 Eine kollektive Identität annehmen heißt dann, zu lernen, in bestimmter und kohärenter Weise Wir zu sagen und zu fühlen: sich mit Aussagen, Symbolen, Narrativen zu identifizieren. Für den Wissenschafter zugänglich wird Identität in
277
diesem Sinn unter anderem als diskursive Formation. Im folgenden möchte
ich eine Reihe von Texten Gustav Ratzenhofers unter diesem Gesichtspunkt
der Identitätskonstruktion im Detail untersuchen.
Gesamtstaatstreue Positionen
Gustav Ratzenhofer, geboren am 4. Juli 1842, war das erste Kind des Uhrmachermeisters Johann Ratzenhofer, der seit 1838 das Wiener Bürgerrecht besaß und ein florierendes Geschäft in der Habsburgergasse führte. Nach der
Volksschule besuchte er zwei Jahre lang die St. Anna-Realschule, um dann
eine Lehre als Uhrmacher zu beginnen. Der Tod des Vaters am 5. Oktober
1859 zerstörte die Karrierepläne des jungen Mannes. Nachdem das Uhrmachergeschäft aufgrund hoher Schulden verkauft werden musste, rückte Gustav am 22. Oktober des Jahres freiwillig als Kadett-Gemeiner zur Armee ein.
Er diente sich in den folgenden Jahren zum Oberleutnant hoch und erreichte im Jahr 1868 die Aufnahme in die Wiener Kriegsschule. Nach deren Abschluss dem Generalstab zugeteilt, begann sich Ratzenhofer als Militärschriftsteller einen Namen zu machen. Im kriegsgeschichtlichen Büro war er seit
Oktober 1874 Mitarbeiter am Generalstabswerk zu den Feldzügen des Prinzen
Eugen von Savoyen. Nachdem er 1878 für drei Monate in Bosnien eingesetzt
gewesen war, übernahm er hier auch die Darstellung eines Teils des Okkupationsfeldzuges.3
Im Kontext dieser Arbeiten verfasste Ratzenhofer drei Vorträge, die im
Zentrum der folgenden Untersuchung stehen sollen. Er hatte die Vorträge
am 16. Dezember 1878 und am 13. Jänner 1879 im Wiener Wissenschaftlichen
Club sowie am 14. Februar 1879 im dortigen Militär-wissenschaftlichen Verein
gehalten.4 Das Interesse an diesen Texten gilt nicht ihrer etwaigen Tiefe oder
Originalität. Vielmehr ist es gerade ihre Konventionalität, die sie hier zu
einem interessanten Gegenstand machen: Als Versammlung einer großen Zahl
von idées reçues können sie eine gewisse Repräsentativität beanspruchen.
Repräsentativ wofür? Ratzenhofer kann für einen bestimmten, gesamtstaatspatriotischen Diskurs stehen, der mit den Adjektiven fortschrittlich,
bürgerlich, deutsch beschrieben werden könnte. Es handelte sich hier um
eine Stimme unter vielen, denn ein politischer Grundkonsens und mithin
eine unumstrittene Identität fehlte bekanntlich in der franzisko-josephinischen Ära.5 Die Monarchie zerfiel alsbald nicht nur in einen ungarischen
und einen „österreichischen“ (cisleithanischen) Teil, sondern sie war ein po-
278
lyzentrisches Gebilde, in dem neben dem Kampf der Nationalitäten um den
Staat auch eine Reihe miteinander kaum vereinbarer Gesamtstaatskonzepte –
großösterreichische, deutsch-imperiale, pluriethnisch-föderalistische und so
weiter – existierten.
Ratzenhofers Position in dieser Auseinandersetzung erhellt sich am besten aus der Gegenüberstellung mit der offiziellen Integrationsideologie und
der in Franz Joseph personifizierten, dynastischen Reichsidee. Diese könnte
kurz als Bewahrung der im großen Titel repräsentierten Pluralität der Herrschaften beschrieben werden, „ein geräumiges Wohnhaus für die Stämme
verschiedener Zunge“, wie im Patent anlässlich der Thronbesteigung von
Kaiser Franz Joseph formuliert worden war.6 Alle „Lande und Stämme de
Monarchie“ sollten – durch ein „einigendes Band“, so der gerne gewählt
Ausdruck – zu „einem großen Staatskörper“ vereinigt werden.7 Das Reich se
eine „Völkerfamilie“ mit ihrem kaiserlichen „Familienvater“, ein „Mosaikbild“, in dem jedes Teilchen an seiner Stelle zur Schönheit des Ganzen beitrage.8 Anlässlich des sechzigsten Regierungsjubiläums des Kaisers wurde
diese Reichsidee noch einmal in einem großen Festzug repräsentiert: In chronologischer Folge zog in historischen Kostümen die Geschichte des Hauses
Habsburg über den Ring. Es folgten in einem zweiten Teil 8.000 Vertreter
der „Völker“, die als Trachtengruppen in der Reihenfolge der Länder im
Kaisertitel auftraten und in ihrer jeweiligen Muttersprache dem Monarchen
huldigten (wobei Ungarn, Tschechen und Italiener allerdings aus Protest ferngeblieben waren).
Für Ratzenhofer war diese dynastische Reichsidee nicht mehr zeitgemäß.
Er gehörte zu jenen Patrioten, die seit 1848 argumentiert hatten, dass die
Legitimität des Reichs und dessen staatsrechtliche Form auf einem anderen,
modernen Fundament neu begründet werden müsse.9 Im Kontext der Herausforderung des Gesamtstaats durch politische Nationalbewegungen identifizierten sich diese Eliten mit einer übernationalen Idee. Am Bürgerlichen
orientiert, hatten sie eine Vorstellung vom Reich, die mit jenen der traditionellen Mächte – Dynastie, Kirche, Adel – auseinander fiel. Die ideologischen
Vorzeichen dieser Position mochten unterschiedliche sein. Das Spektrum
reichte, um es zuzuspitzen, von den Sozialdemokraten des Brünner Parteitages bis zu Kronprinz Rudolf und seinem Kreis: beide Erben der liberalen
Bewegung, beide gegen radikale Nationale, beide aber auch in Opposition zu
den „Offiziellen“ am Hof.
Gustav Ratzenhofer war als bürgerlicher Aufsteiger tief vom österreichischen Liberalismus geprägt. Die Ideale der Märztage waren sein Bezugspunkt,
279
die bürgerlichen Leistungsbereiche Wirtschaft, Kunst, Wissenschaft sein Stolz.
Vor allem für letztere hatte er sich seit seinen Zwanzigern begeistert und im
Selbststudium populäre Werke der Kulturgeschichtsschreibung und der aufstrebenden Naturwissenschaften rezipiert. An der Kriegsschule, die im Zuge
der Reform der Heeresorganisation nach 1866 auch moderne Wissenschaften
integriert hatte, setzte er diese Neigung fort. Er hörte Vorträge in Physik,
Chemie und Mechanik, ebenso in Staats- und Völkerrecht (bei Leopold Neumann, 1811–1888), in Deutscher Literatur (bei Joseph Weil, dem Präsidenten
des Presseklubs „Concordia“ und Mitarbeiter Kronprinz Rudolfs) sowie Volkswirtschaftslehre (bei Franz Neumann-Spallart, 1837–1888).
Zur Charakterisierung von Ratzenhofers Denken könnte als erste Annäherung der von Endre Kiss vorgeschlagene Terminus zweite Aufklärung stehen.10 Diese teilte mit der ersten Aufklärung das wissenschaftliche Pathos und
die Forderung nach einer „Rehabilitation der Sinnlichkeit“ (Panajotis Kondylis). Man setzte die konkrete, erfahrbare Realität den Lügen des „Culturmenschen“ und der Kirche entgegen. Man war rationalistisch, utilitaristisch,
teils technokratisch, jedenfalls Gegner revolutionärer gesellschaftlicher Umwälzung. Geprägt von der österreichischen Version des Liberalismus vertrat
man einen eudämonistischen Humanismus, primär vertrauend auf den Fortschritt und die Arbeit der Kultivierung. Gegen jeden Obskurantismus oder
Utopismus hielt man sich an ein Ethos der Wissenschaftlichkeit und Objektivität, das in positiven Fakten seinen „unleugbaren“ Halt behauptete.
Vor diesem Hintergrund hatte Ratzenhofer in einer ersten größeren Buchpublikation, die er unter dem Pseudonym Renehr 1877 und 1878 bei Karl
Bellmann in Prag veröffentlicht hatte, seine Ideen zur Reichsreform vorgetragen. Er schlug dort ein umfassendes Wohlfahrtsprogramm vor, das als Ausdruck des „reinen Kulturtriebs“ einen neutralen Boden für die politisch
Integration der Nationalitäten bieten könne.11 Das implizierte, die Identitä
der Habsburgermonarchie „wissenschaftlich“, mit den Mitteln einer aufklärerischen Kulturtheorie zu begründen. „Kultur“ übernahm – nunmehr i
Zeichen des Bürgerlichen – die Einheitsfunktion der Krone: über den Kulturen der Nationalitäten die eine, universale, „höhere“ Kultur.12
Wo die Dynastie, ihre Geschichte und Mission als Amtsträger einer höheren, göttlichen Ordnung13 zur Identitätskonstitution verabschiedet werden
sollte, war die wissenschaftlich begründete „Kulturmission“14 ein möglicher,
gleichsam „säkularisierter“ Ersatz. Ratzenhofers Vorträge zu Bosnien zeigen
exemplarisch, wie gemäß dieser Österreichidee ein politischer Reichskörper
imaginiert sowie seine Identität und sein Anderes konstruiert werden konn-
280
ten. Das Reden über Bosnien eignet sich hierbei besonders, die Struktur
dieser Identität zu rekonstruieren: Da hier eine territoriale Neuerwerbung
in das Reich integriert werden sollte, figurierte dieses als Einheit, als Körper, dessen Eigenschaften im Verhältnis zu Bosnien als einer geradezu idealtypischen Peripherie ins Licht gerückt werden konnten.
Hegemonialer Diskurs
Die Konventionalität von Ratzenhofers Vorträgen zu Bosnien als Kollektion
einer Reihe von Gemeinplätzen wurde bereits erwähnt. Ein weiteres Merkmal, das diese Texte hier interessant macht, ist ihre Überdetermination als
hegemonialer Diskurs: Ratzenhofer blickte nicht nur vom Zentrum auf die
Peripherie, sondern auch als Deutschösterreicher auf den Balkan, als Militär
auf undisziplinierte Insurgenten und als Wissenschafter auf sein Objekt. Immer
handelte es sich um ein hierarchisches Verhältnis zum Anderen, wobei sich
die hier unterschiedenen Dimensionen seines Diskurses durchaus überlappten und amalgamierten, zum Beispiel Begriffe aus dem wissenschaftlichen
Vokabular in den politischen Modus transferiert und rekontextualisiert wurden und vice versa.
Den größten Bezug zur eigenen Erfahrung Ratzenhofers mit dem „Objekt“ Bosnien hat wohl seine Beschreibung der Kriegsereignisse selbst, die er
in seinen Vorträgen anhand der Gegenüberstellung von regulärer Armee auf
der einen und Insurgenten auf der anderen Seite rekonstruierte. Die Beschreibung des Feldzuges, der logistischen Schwierigkeiten, der Strategie
und Taktik der Kontrahenten und so weiter ist dabei durchgehend gemäß
der asymmetrischen Unterscheidung „kultiviert“/„natürlich“ codiert: Die
Insurgenten seien „tapfer“, „mannhaft“, „findig“ (S. 339)15 und „hartnäckig“
(S. 334), doch es mangle ihnen an „Disziplin“, „strategischem Verstand“,
„Ordnung“. Ihre Führer hätten „nicht jene Macht [...], um den ganzen Haufen zu einem willigen Werkzeuge in ihrer Hand zu machen“ (S. 339). Die
disziplinierte, gut vorbereitete sowie in wohlgeplanten „tactischen Formen“
(S. 340-343) eingesetzte Armee der Kaiserlichen setzte sich durch. Während
der Gegner oft „grausam“ (S. 332, S. 346) gehandelt habe, gehe sie „human“
und nur wenn nötig mit „äußerster Strenge“ (S. 334) vor. Die „Pacificirung“
des Aufstandes habe gar eine „gewisse Rücksichtnahme auf die Insurgenten,
als zukünftige Staatsbürger“ erlaubt (S. 334).
281
Kultivierung eines Naturvolkes
Die „Bosnier und Hercegovzen“ waren nicht allein als wilde Partisanenhorden, sondern als Volk zu betrachten, das zukünftig in den Reichskörper als
Österreicher aufgenommen werden sollte. Sie waren folglich nicht als ferne,
grundsätzlich Andere, das heißt Exoten zu beschreiben, sondern als potenziell
Gleiche, als „williger, kulturfähiger Stoff“, der lediglich seine Wildheit verlieren, also bearbeitet und kulturell „gehoben“ werden musste. So gelte zwar,
dass man es hier mit einem „Naturvolke“ (S. 499) zu tun habe, das noch nichts
lerne, das gesund sei oder sterbe (S. 497), doch seien es Leute mit „gesunder
Vernunft“, denen die Kultur „den Kopf noch nicht verwirrt“ habe (S. 498). –
Ihr Widerstand gegen die Okkupation, die mit „Milde“ und für einen „humanitären Zweck“ (S. 328) durchgeführt worden sei, könne demnach nur Folge
einer äußeren Beeinflussung gewesen sein. Von außen habe man die Bevölkerung „fanatisirt“ (S. 499) und es sei eine ähnliche Furcht vor „unseren Truppen“ erweckt worden, wie sie „früher vor den Russen geherrscht“ habe (S. 326).
Für Ratzenhofer sollen Bosnien und die Herzegowina keine zur rücksichtslosen Ausbeutung freigegebene Kolonien sein, sondern Teil des Reichs
werden, so wie „unsere Morlaken, Croaten oder Slavonier“ (S. 502). Österreich als „Kulturstaat“ solle den Kulturstand der Provinzen allmählich heben, die Wirtschaft beleben, die Sitten fördern. Bosnien, so Ratzenhofer, sei
ein Säugling, dem bislang die Brust versagt geblieben sei.16 Jetzt endlich soll
er – sanft und mütterlich17 – genährt, aber auch erzogen werden. Das Mittel
dazu sei vor allem eine „gute Verwaltung“ – mit der nötigen Macht im Hintergrund –, die allmählich „Ruhe und Ordnung zur Gewohnheit und endlich
zum spontanen Wunsche“ machen werde (S. 497). Dabei sei insbesondere zu
beachten, dass diese Verwaltung sich der lokalen „Eigenthümlichkeit der
Bevölkerung und Race“ (S. 498) anpasse.
Der imaginäre Reichskörper
Bosnien und die Herzegowina waren in das große Wir, den imaginären Reichskörper, zu integrieren. Auf welche Weise und nach welchen Kriterien aber
konnte dieses Wir bestimmt werden? Gemeinsame Wurzeln, Geschichte und
Sprache wie im Fall der Nation fielen aus; das dynastische Narrativ allein
schien ungenügend. Bei Ratzenhofer trat an seine Stelle die Wissenschaft,
nämlich Ethnographie und Geographie, so dass er die Frage, ob „Bosnien
282
und die Hercegovina geeignet sind, berechtigt ein Theil eines Culturstaates
zu werden“ als „engere Fachfrage“ bezeichnen konnte (S. 499).
In seinem Im Donaureich hatte Ratzenhofer auf Basis einer allgemeinen
Kulturtheorie eine detaillierte Beschreibung der „Raum- und Volksanlagen“
Zentral- und Südosteuropas vorgelegt, um auf dieser Basis die Staatsidee des
„Donaureichs“ wie folgt zu formulieren: „Quantitativ kleine, durch die Einseitigkeit der Naturanlagen und durch die Gleichartigkeit der Raumanlagen
beschränkte Volksindividualitäten müssen sich geistig einen um zu erstreben, was grosse, räumlich begünstigte Völker innerhalb einer Individualität
erreichen, die sogenannte nationale Kultur.“18
Die Details der Argumentation müssen hier nicht interessieren. Festzuhalten ist, dass die Bestimmung der „natürlichen Grenzen“ des Reichskörpers wissenschaftlich vorgenommen wurde, wobei allerdings eine Amalgamierung mit geopolitischen Überlegungen festzustellen ist: Die Position
Österreich-Ungarns im Konzert der europäischen Großmächte ergab die
Richtung und Strategie einer territorialen und ökonomischen Expansion im
Südosten (S. 503–511). Zugleich wurde geographisch und ethnographisch
bewiesen, dass die hier interessierenden Gebiete (Serbien und das Donautal)
von Natur wegen jedenfalls zum „Donaureich“ gehörten (während das etwa
für Albanien keineswegs gelte) (S. 506).
Als Geograph und Ethnograph, als geopolitischer Stratege, wie als Vertreter des Zentrums war Ratzenhofers Blick nach Südosten in jeweils ähnlicher Weise objektivierend. Aus der Vogelschau19 betrachtete und analysierte
er einen zu durchdringenden Raum. Er sah, wie die Kultur „gleichsam vom
Westen Europa’s gegen Osten zur Uncultur Asiens“ absinke (S. 502). Er sah,
wie die Völkerlagerung im Donauraum eine militärische Zusammenarbeit
erzwinge und die geographische Lage – verdichtet in der Donau als der „Lebensader unserer Staatsentwicklung“ – auf eine volkswirtschaftliche Einigung
und Binnenmarktorientierung der Wirtschaft verweise.20 Er besprach Landesnatur, Volkskultur, Bodenbeschaffenheit, Rohstoffvorkommen der Balkanländer. Wie in einem militärischen Planspiel diskutierte er Szenarien für
die Anlage von Eisenbahnlinien in den okkupierten Territorien (S. 506–507).
Er empfahl die Ansiedlung gewisser Berufsgruppen aus anderen, kulturell
höherstehenden Teilen der Monarchie zur Hebung der ökonomischen Tugenden und: „damit in diesem Lande eine Anzahl fester Puncte gewonnen
werde, von denen aus die Cultur weiter schreitet, damit ein deutsches Gemeindewesen entstehe, wie es in Oesterreich-Ungarn allerorts entstanden
ist, damit die Macht jener Bürger wachse, die dem Staate ergeben und steu-
283
erwillig sind“ (S. 513–514). – An erster Stelle stehe das „Studium des Landes“,
dann folge dessen „Ausbeutung“ (S. 509).
Onus Imperii
„Gleiches Mass für Alle und rücksichtslose Strenge gegen jede Ausschreitung“ (S. 513), schrieb Ratzenhofer der Habsburgermonarchie ins Stammbuch, gleichsam ein fernes Echo jener berühmten Formel Vergils für die
Mission Roms, die er im sechsten Buch der Äneis den Anchises verkünden
ließ: parcere subjectis et debellare superbos.
Der imperiale Auftrag einer Kulturmission und Befriedung der „Halbbarbaren“ am Balkan wurde von Ratzenhofer nicht als Expansionslust oder
Eigeninteresse verstanden, sondern als schwere, wenn auch schöne Last, als
humanitärer Auftrag und moralische Pflicht, die eine hohe „intellectuelle
und sittliche Kraft“ erforderten. „The White Man’s Burden“ hatte das bei
Kipling geheißen; Ratzenhofer schrieb: „Die vorliegende Aufgabe ist aber
nur für jene nicht schön und nicht bedeutend, die den Fortschritt und die
Civilisation in dem engsten Kreise ihrer wirtschaftlichen oder nationalen
Selbstsucht abgewickelt wünschen“ (S. 500).
Deutlich ist die Spitze gegen jene nationalen Parteien, die sich vom Gesamtstaatsgedanken abgewendet hatten. So stellte Ratzenhofer „engherzige“
Nationalegoisten den „Culturträgern“ gegenüber, die für das „allgemeine
Menschliche“ wirken. Während sich die einen ängstlich auf sich selbst zurückziehen und das Fremde von sich fernhalten, öffnen sich die anderen der
„Sammlung cultureller Güter“ im Bestreben, „sich Anderen nützlich zu zeigen“ (S. 514). Der Vortrag schloss folgendermaßen:
Indem unser Staat das Streben nach Aussen wieder angetreten hat, eröffnet sich den
Culturträgern desselben die Bahn, welche sie so lange verleugnet haben, um das
Cultur-Ferment nach Aussen zu tragen, das Ferment der Anregung in die Heimat zu
bringen. Der wirthschaftliche Erfolg kann nicht ausbleiben, ebenso wie uns das
Gegentheil im Oriente wirthschaftlich ohnmächtig gemacht hat. Weil unser
Occupations-Gebiet ein Feld der culturellen Thätigkeit ist, lenken unsere Beziehungen zu demselben in jene Richtung, die das Grundgesetz des Staaten- und
Völkergedeihens ist: „die Erhöhung und Erweiterung der Cultur“. Mit dieser Aufgabe darf sich kein Volk, kein Gesellschaftskreis ungestraft in Gegensatz bringen,
sollen sie nicht in sich uneinig zerfallen; diese Aufgabe, wird sie ohne Hintergedanken angetreten, kann nur menschliche Grösse hervorbringen und sittliche Befriedigung erwecken (S. 514).
284
Schluß
Zusammenfassend könnte Ratzenhofers Diskurs über Bosnien als ausgesprochen kohärente Reformulierung der abendländischen Reichsidee gemäß der
großen bürgerlichen Erzählung der Zivilisation beschrieben werden. Die
reichstheologische Legitimation ist durch eine kulturtheoretische ersetzt, aus
einer letztlich in die göttliche Heilsökonomie eingelassenen politischen Gemeinschaft ist ein innerweltliches Modernisierungsprojekt geworden.
Auf die Gemeinsamkeiten und Differenzen mit anderen imperialen Ideologien, etwa im Kontext des britischen Empire,21 kann ich hier nicht eingehen. Fragt man nach den Besonderheiten von Ratzenhofers Reichsdenken,
könnte etwa auf die Problematik des Deutschösterreichers hingewiesen werden. Eine wissenschaftliche Reformulierung der Reichsidee bot hier den
Vorteil einer möglichen Versöhnung der Zerrissenheit zwischen der habsburgisch-österreichischen Prägung und einer aufgrund des Nationalitätenkonflikts forcierten Loyalität zum „Deutschen“.22 „Kultur“ konnte als universal und deutsch zugleich verstanden werden, ein Reich in ihrem Zeichen
viele Völker enthalten und dennoch das Eigene repräsentieren. Das ausgedehnte und uneinheitliche Siedlungsgebiet der Deutschösterreicher ließ sich
ins Positive wenden, wenn man diese als eigentliche Träger des Reichs und
seiner weit in den Südosten reichenden Kultivierungsaufgabe deutete. So
mag sich auch die verbreitete Identifikation gesamtstaatstreuer Liberaler mit
Joseph II. erklären, konnte er doch für den Versuch stehen, im Zeichen der
Aufklärung eine Einheit des „Reichs der Deutschen“ und „Österreichs“ herzustellen.
Auf einer allgemeinen Ebene wiederum ließen sich eine Reihe struktureller Parallelen zwischen Ratzenhofers imperialer Identitätskonstruktion und
anderen diskursiven Formationen herstellen. Im wissenschaftlichen Feld wäre
etwa ein gewisser vulgärer Evolutionismus zu nennen, wie er in der Habsburgermonarchie gerade unter bürgerlichen Militärs seit den 1870er Jahren
an Boden gewann. In der Konfrontation des Westens mit seinem Anderen
entspricht diesem progressistischen Narrativ der unselige Topos der „Zivilisierung der Wilden“. Was die Konfrontation mit dem Anderen im Eigenen
betrifft, könnte schließlich auf die von Michel Foucault analysierten Dispositive der Disziplinargesellschaft und ihrer humanwissenschaftlichen Wissensformation verwiesen werden.
Die Arbeiten von Foucault sind hier insofern relevant, als sie geeignet
sind, diese interdiskursiven Parallelen auf ihre Tiefenstruktur hin zu befra-
285
gen. In seiner Ordnung der Dinge beschrieb Foucault die „epistemische“ Konstellation des 19. Jahrhunderts als ein „Denken des Gleichen“: „Kurz gesagt,
es handelt sich immer [...] darum zu zeigen, wie das Andere, das Ferne,
ebenso wohl das Nächste und das Gleiche ist. So ist man von einer Reflexion
über die Ordnung der Unterschiede [...] zu einem Denken des Gleichen übergegangen, das stets seinem Gegenteil abzugewinnen ist.“23
Das 19. Jahrhundert habe den Menschen im Singular erfunden als fundamentale Kategorie hinter Menschen im Plural, wobei aufgrund dieses Postulats einer wesenhaften Gleichheit nun empirische Differenzen nach der Unterscheidung von normal und pathologisch codiert worden seien. Mit Foucault ist dies die Struktur des hegemonialen Blicks: den Anderen als fundamental gleichen, doch empirisch inferioren Menschen zu betrachten, der
zur Normalität entwickelt werden muss. Das Besondere (Andere) wird hier
dem Allgemeinen (Eigenen) subsumiert, gemäß seinen Kategorien beschrieben und beurteilt. Spiegelbildlich erlaubt eine solche Objektivierung des
Anderen die Bestimmung dessen, was das Eigene ist. Dies gilt ebenso für den
normalisierenden Blick der disziplinargesellschaftlichen Institutionen wie
für den Blick bürgerlicher Wohltätigkeitsvereine auf die Milieus des städtischen Proletariats24 oder für Ratzenhofers Blick auf Bosnien. Mit Foucault
(und im Hintergrund Hegel) gelesen zeigen diese Beispiele das nämliche
Muster hegemonialer Inklusion: Symbolische Eingemeindung auf dem Weg
einer Aussonderung des Absonderlichen am Besonderen, das heißt mit anderen Worten ein Verhältnis zum Anderen, das ebenso wohlwollenden Paternalismus wie aggressive Verachtung enthält.
Anmerkungen
1 Vgl. die unpaginierte, handschriftliche Biographie von Gustav RATZENHOFER jr. (372 Blatt, Fundort: Österreichisches Staatsarchiv, Wien, Kriegsarchiv,
B 691, XXVII, Nr. 63), Abschnitt 10: Im kriegsgeschichtlichen Bureau. Das
„Donaureich“.
2 „Unter einer kollektiven oder Wir-Identität verstehen wir das Bild, das eine
Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren.“
Jan ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische
Identität in frühen Hochkulturen, 3. Aufl., München 2000, S. 132.
3 Vgl. Florian OBERHUBER, Gustav Ratzenhofer (1842–1904). Eine monografische Skizze, in: Newsletter des Archiv für die Geschichte der Soziologie in
Österreich 22 (2001), S. 11–25.
4 Vgl. Gustav RATZENHOFER, Zur Beleuchtung der Occupation Bosniens und
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der Hercegovina, in: Organ der militär-wissenschaftlichen Vereine 18 (1879),
S. 325–346, S. 497–514.
Victor Adler kommentierte im Jahr 1899: „In Österreich sind wir heute so
weit, daß es als größter Schimpf gilt, daß man ein guter Patriot ist!“ Victor
ADLER, Revolutionäre oder reaktionäre Staatskrise? Referat über politische
Lage und Taktik. Parteitag in Brünn 1899, in: Parteivorstand der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutsch-Österreichs (Hg.), Victor Adlers Aufsätze,
Reden und Briefe, Bd. 8, Victor Adler der Parteimann. Österreichische Politik,
Wien 1929, S. 194.
Kaiserliches Patent vom 2. December 1848, in: Allgemeines Reichs-, Gesetz- und
Regierungsblatt für das Kaiserthum Österreich 1, 1849 (Wien 1850).
Ebenda, Hervorhebung des Verfassers.
Vgl. Gemeinsamer Hirtenbrief der hochwürdigsten Erzbischöfe und Bischöfe
Österreichs, in: Wiener Diöcesanblatt 22 (1898), S. 253–259.
Vgl. z. B. die Rekonstruktion der „Stimmung“ des Bürgertums 1848 und folgende im großen Werk von Josef REDLICH, Das österreichische Staats- und
Reichsproblem. Geschichtliche Darstellung der inneren Politik der habsburgischen Monarchie von 1848 bis zum Untergang des Reiches, Teil I/1, Leipzig
1920, S. 132–148, S. 156–164, S. 170–190.
Endre KISS, Der Tod der k. u. k. Weltordnung in Wien. Ideengeschichte Österreichs zur Jahrhundertwende, Wien u. a. 1986.
Gustav RENEHR (= RATZENHOFER), Im Donaureich, Bd. 2, Die Kultur, Prag
1878, S. 118.
Vgl. Florian OBERHUBER, Reich und Kultur. Zum neu-josephinischen Kulturbegriff 1848–1918, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft
13, 2 (2002), S. 9–33.
Vgl. Fritz FELLNER, Reichsgeschichte und Reichsidee als Problem der österreichischen Historiographie, in: Wilhelm BRAUNEDER, Lothar HÖBELT
(Hg.), Sacrum Imperium. Das Reich und Österreich 996–1806, Wien–München–Berlin 1996, S. 366.
Vgl. Hugo BALL, Österreichs Kulturmission, in: DERS., Der Künstler und die
Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften, hg. v. Hans Burkhard SCHLICHTUNG,
Frankfurt a. M. 1988, S. 172–176.
RATZENHOFER, Occupation, S. 339. Aus dieser Publikation wird hier und im
folgenden direkt im Text zitiert.
Dieses Bild übernimmt Ratzenhofer Jr. (vgl. Fußnote 1) aus einem Tagebuch
seines Vaters.
Für den Hinweis auf die Codierung der Habsburgermonarchie als „weibliche
Großmacht“ danke ich Diana REYNOLDS.
RATZENHOFER, Donaureich 2, S. 127.
Die „Vogelschau“ ist eine treffende Metapher für Ratzenhofers objektivierenden, das heißt Nationalität und Geschichte gleichsam als Naturphänomene
betrachtenden Blick. (Vgl. auch die Texte des Alexander von PEEZ, Europa aus
der Vogelschau. Politische Geographie, Vergangenheit und Zukunft, Wien–
Leipzig 1916).
287
20 RATZENHOFER, Donaureich 2, S. 42, S. 46.
21 Vgl. David ARMITAGE, The ideological origins of the British Empire, Cambridge 2000 (Ideas in Context 59).
22 Zur Problematik „deutsch“ gegen „österreichisch“, interpretiert im Rahmen
eines Kampfs um die kulturell-symbolische Hegemonie, vgl. Georg SCHMID,
Intrige als Kultur. Selbstmord, Deutschsein und „Sozialinertia“ im Österreich
der 1850er Jahre, in: DERS. (Hg.), Die Zeichen der Historie. Beiträge zu einer
semiologischen Geschichtswissenschaft, Wien–Köln–Graz 1986, S. 67–92.
23 Michel FOUCAULT, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 1971, S. 409, (Hervorhebung im Original).
24 An vielen Stellen trat der Missionsgedanke gegenüber den Pauperisierten auf
und damit eine Verbindung der „stinkenden Gassen“ und dunklen Hinterhöfe
mit den fernen Regionen Afrikas oder Südamerikas. Manchen erschienen die
Elendsmilieus der eigenen Großstädte Gegenden, die es als Forscher erst zu
entdecken galt, und prompt zogen sie den Vergleich mit der ethnologischen
Erforschung fremder Völker, vgl. Hartmut DRIESSENBACHER, Der Armenbesucher: Missionar im eigenen Land. Armenfürsorge und Familie in Deutschland um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Christoph SACHSSE, Florian
TENNSTEDT (Hg.), Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Beiträge zu
einer historischen Theorie der Sozialpolitik, Frankfurt a. M. 1986, S. 218– 219.
288
Die Kette des Seins und
die Konstruktion Jugoslawiens
Christian Promitzer
Der Zerfall Jugoslawiens hat – zumindest auf dem Territorium des ehemaligen gemeinsamen Staates – die historiographische Selbstreflexion über dessen Entstehungsgründe versiegen lassen. Die letzte umfangreiche Arbeit über
die Entstehung Jugoslawiens, die von einem aus dem Land selbst stammenden Historiker geschrieben wurde, stammt aus den späten achtziger Jahren
des 20. Jahrhunderts.1 Im sogenannten Westen ist es hingegen umgekehrt zu
einem vorübergehenden Aufflackern des Interesses für die Entstehung und
Geschichte dieses Landes gekommen. Diese ging alsbald in ein allgemeines
Interesse für den Balkan über, wobei die Entwicklung westlicher Stereotypen
über diese Region Europas – etwas, was auch als die bildhafte Konstruktion
des europäischen „Anderen“ umschrieben werden kann – eine prominente
Stellung einnahm. Dieser Ansatz wurde am überzeugendsten von Maria Todorova vorgetragen, die sich in theoretischer Hinsicht von einem der ersten
Vertreter des Postcolonialism, Edward Said, leiten ließ.2
Todorovas Ansatz verortet westliche Vorstellungen über den Balkan, die
auf Exotisierung eines imaginierten Anderen, das als „rückständig“ wahrgenommen wird, basieren. Sie beschreibt damit eine aus einer Position der
Überlegenheit formulierte Sichtweise, die durch koloniale beziehungsweise
sogar explizit kolonialistische Züge gekennzeichnet werden. Todorova geht
in ihrem Werk jedoch nur am Rande darauf ein, wie diese Vorstellungen
über den Balkan in der Region selbst reflektiert wurden. Gerade das Beispiel
Jugoslawiens, als eines Staates, durch den eine symbolische Grenze verläuft,
die angeblich Mitteleuropa vom Balkan scheidet, soll hier als Beispiel herangezogen werden, um zu zeigen, dass die Reflexionen südslawischer Intellektueller über westliche Imaginationen des Balkans – nicht zuletzt in der Habsburgermonarchie – eine wichtige Rolle bei der ideologischen Konzeption eines gemeinsamen südslawischen Staates gespielt haben. So lassen sich diese
Reflexionen durchaus auch als eine Modifizierung westlicher Vorstellungen
289
begreifen, die von einer europäischen Hierarchie von Staaten und Nationen
ausgehen, wobei es in Abgrenzung zu den übrigen Bevölkerungen und Staaten des Balkans darum ging, innerhalb dieser als vorgegeben erachteten Hierarchie einen möglichst weit oben positionierten Platz für den erhofften südslawischen Staat zu finden.
Aus Platzgründen kann hier nicht auf die breiten und in der Forschung
bereits ausführlich behandelten ideengeschichtlichen Grundlagen der Entstehung Jugoslawiens eingegangen werden, die bis in die Zeit des Illyrismus
zurückreichen und die sprachliche Gemeinschaft der Südslawen betonen,
Ideen, die sich unter anderem an der deutschen und italienischen staatlichen Einigung orientierten, wobei dem Königreich Serbien von manchen
Protagonisten eine Rolle als das südslawische Piemont beziehungsweise Preußen zugesprochen wurde.3 Ebenso wenig kann eingehend auf die angesprochene Problematik symbolischer Grenzen eingegangen werden, die im Rahmen der mentalen Landkarte Jugoslawiens mit der vorangegangenen Zugehörigkeit seiner südlichen Teile zum Osmanischen und seiner nördlichen
zum Habsburger Reich verknüpft waren.4 Auch auf den Umstand, dass Bulgarien, das ebenfalls ein südslawischer Staat war, aber in derartigen Konzeptionen nur eine periphere Stellung einnahm, kann hier nur verwiesen werden.
In diesem Beitrag sollen vielmehr jene Konzeptionen angesprochen werden, die die Rezeption beziehungsweise Modifizierung hierarchischer Vorstellungen, wie sie von akademischen und außerakademischen Intellektuellen
in der Habsburgermonarchie vertreten wurden, begründen, um so zu einer
neuen Sichtweise auf die Konstruktion Jugoslawiens beizutragen. Dabei ist
von jenen Vorstellungen auszugehen, die die Stellung der Deutschen im Rahmen einer europäischen Hierarchie der Völker wie auch speziell ihre Stellung in der Habsburger Monarchie gegenüber den Slawen in den Vordergrund rücken. Als herausragendes Beispiel sei die Kulturgeographie der deutschslawischen Sprachgrenze des späteren Leiters des Wiener Instituts für Kulturforschung, Erwin Hanslik, aus dem Jahr 1910 angeführt. Mit Hilfe von statistischem Material glaubte er nachweisen zu können, dass diese von Triest bis
zum Baltikum verlaufende Grenze unterschiedliche „Kulturstufen“ und „Wirtschaftsstufen“ voneinander trenne.5
Die hier zum Ausdruck kommende geopolitische Ausrichtung verweist
auf damals vor sich gehende Entwicklungen im Fach Geographie und auf die
damals dominante Rolle der Wiener länderkundlichen Schule, die von dem aus
Sachsen stammenden Albrecht Penck (1858–1945) begründet worden war, der
290
1885–1906 die ordentliche Professur für Geographie an der Wiener Universität bekleidete.6 Penck konzentrierte sich damals auf die Eiszeitforschung. In
den politiknahen Bereich gelangte er erst nach seiner Wiener Zeit im Ersten
Weltkrieg und vor allem in den 1920er Jahren. Damals verfasste er geopolitische Arbeiten und begründete die „deutsche Volks- und Kulturbodenforschung“.7 Doch schon in einer frühen Arbeit über die Länderkunde des
Deutschen Reichs aus dem Jahr 1887 hatte er die Deutschen „nichtsweniger
als eine reine Rasse“ und „die dem deutschen Volk eigentümliche Expansivkraft“ gewürdigt.8 Im selben Jahr hielt er vor der Wiener geographischen
Gesellschaft einen umstrittenen Vortrag über die „Ziele der Erdkunde in
Österreich“, der im Vereinsorgan nicht abgedruckt werden konnte. Darin
warf er der Geographie in Österreich eine verfehlte Ausrichtung auf außereuropäische Regionen vor, wo bereits die Großmächte ihre Kolonien errichtet hatten. Unter Hinweis auf die Großmachtstellung Österreichs auf dem
Balkan seit der fehlgeschlagenen osmanischen Belagerung Wiens von 1683
führte er aus, dass der Orient – jenes Gebiet von den Grenzen der Monarchie
bis nach Vorderasien – das eigentliche Zukunftsgebiet der österreichischen
Geographie sei: „Der Orient auch ist jener einzige Fleck der Erde, wo österreichische Forschungsreisende nach wie vor mit Erfolg thätig sein können,
weil sie hier von keiner Machtsphäre abhängig sind, während allüberall sonst
sie im Wettbewerbe mit den Reisenden anderer Staaten benachtheiligt sind.“9
– „[…] so möchte sich von nun an die Theilnahme aller Freunde der Erdkunde in Österreich nach dem Südosten lenken.“10 An anderer Stelle betonte
Penck die Stellung der Deutschen im südöstlichen Europa: „Deutsche besetzten die menschenleer gewordenen Gebiete Slavoniens und des Banats; es vollzog, viel zu wenig gewürdigt, eine glanzvolle Colonisation im Innern, welche
den Vergleich mit späteren und gleichzeitigen Colonisationen im Innern
Preußens nicht zu scheuen braucht.“11
Penck hatte wesentlichen Anteil an der wissenschaftlichen Ausbildung
zweier südslawischer Gelehrter, die damals in Wien studierten und eine prominente Rolle bei der Schaffung des jugoslawischen Staates gespielt haben:
des bekannten serbischen Geographen Jovan Cvijiæ und des weithin unbekannten slowenischen Anthropologen Niko Zupaniè.
Jovan Cvijiæ (1865–1927) stammte aus einem serbischen Dorf an der Grenze zu Bosnien-Herzegowina. Sein Doktoratsstudium absolvierte er in den Jahren 1889-1992 an der Wiener Universität, das er mit einer von Penck betreuten Aufsehen erregenden Dissertation über die Karstphänomene auf der
Balkanhalbinsel abschloss. Danach wurde Cvijiæ Professor für Geographie an
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291
der Universität in Belgrad. Cvijiæ war unter anderem der Begründer der
serbischen Anthropogeographie und war der erste serbische Geograph, der
sich mit der geopolitischen Stellung Serbiens auf der Balkanhalbinsel auseinandersetzte.12 Es gibt keinen direkten Hinweis, dass sich Cvijiæ dabei direkt
von den geopolitischen Vorstellungen seines einstigen Wiener Mentors leiten ließ, zumal seine Arbeiten selten von Fußnoten begleitet sind. Aber es
springt doch ins Auge, dass, nachdem Penck einen zivilisatorischen und wissenschaftlichen Auftrag Österreichs im „Südosten“ postuliert hatte, Cvijiæ
im Anschluss daran in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts – sozusagen
eine hierarchische Ebene tiefer – eine ähnliche Rolle Serbiens für den westlichen Teil der Balkanhalbinsel beanspruchte, eines geographischen Raums,
der ein Territorium absteckte, dass sich nicht rein zufällig mit den späteren
Grenzen des Königreichs Jugoslawiens deckte. Damit einhergehend wurde
die geopolitische Rolle des zweiten südslawischen Staates, Bulgarien, argumentativ auf den östlichen Teil der Balkanhalbinsel verwiesen, um den verkehrsgeographisch begründeten Anspruch Serbiens auf Makedonien zu begründen.13 In ähnlicher Weise hatte Penck zuvor die herausragende Rolle
Wiens und seiner Stellung im Einzugsbereich der ins Schwarze Meer mündenden Donau begründet. Bis zum Ersten Weltkrieg war es neben der serbischen Öffentlichkeit immer wieder auch das deutschsprachige Fachpublikum,
an das sich Cvijiæ wandte, um – etwa in der Frage des Zugangs Serbiens zum
Meer – die geopolitischen Ziele Serbiens oder um seine Ansichten über die
ethnographische Verteilung der Balkanhalbinsel zu erläutern.14 Während des
Ersten Weltkriegs unterstützte er – so wie Penck auf der anderen Seite der
Front – die eigene Regierung, indem er seine Expertise zur Verfügung stellte, in der er die Kriegsziele Serbiens mit dem Instrumentarium der Geopolitik ausarbeitete. Anders als Penck genoss Cvijiæ nach Kriegsende den Vorteil,
als Experte der zu den Pariser Friedensverhandlungen eingeladenen jugoslawischen Seite auf den Grenzverlauf des Königreichs der Serben, Kroaten
und Slowenen, wie sich der südslawische Staat in seiner ersten Periode nannte, Einfluss zu nehmen.15
Offensichtliche Parallelitäten zwischen Lehrer und Schüler sind ein Indiz, aber kein Beweis für einen direkten intellektuellen Einfluss Albrecht
Pencks auf Cvijiæ.16 Bei all der Ähnlichkeit ihrer Vorstellungen ist jedoch die
unterschiedliche Größen- und Rangordnung ihrer jeweiligen geopolitischen
Ziele festzuhalten. Im Falle Cvijiæs wurde die Einsicht in die gegebenen machtpolitischen Konstellationen des europäischen Staatenkonzerts mit dem Konzept der Befreiung der Südslawen auf dem westlichen Balkan verbunden:
292
Einerseits bettete er die Befreiungsmetapher in den gegebenen hierarchischen Kontext ein und andererseits reproduzierte er diese Hierarchie in kleinerem Maßstab für den erst zu schaffenden symbolischen Raum Jugoslawiens. Diese Reproduktion von Hierarchien auf kleinerem, aber „eigenem“ Raum
wurde – wie noch auszuführen zu sein wird – mit Hilfe des anthropogeographischen Zugangs realisiert. Doch um diesen Zusammenhang hinreichend
zu verstehen, ist es erforderlich, vorerst auf das zweite Fallbeispiel einzugehen:
Der Slowene Niko Zupaniè (1876-1961) wurde in Unterkrain geboren. Er
studierte von 1898–1904 Geschichte und Geographie an der Wiener Universität und gehörte einer Generation südslawischer Studenten an, die im frühen 20. Jahrhundert publizistisch für die südslawische Einigung eintraten.
1907 ging Zupaniè – wahrscheinlich unter dem direkten Einfluss von Cvijiæ –
nach Serbien, wo er sich als Vertreter der „Rassenkunde“ alsbald einen Namen machte. Während des Ersten Weltkriegs war Zupaniè Mitglied des Jugoslawischen Ausschusses, einer pressure group von slowenischen, kroatischen
und serbischen Exilpolitikern, die bei den Ententemächten für die Gründung eines jugoslawischen Staates eintrat. Bei den Friedensverhandlungen
in Paris war Zupaniè als Mitglied der jugoslawischen Expertenkommission
unter dem Vorsitz von Cvijiæ tätig.17
Zupaniè, der zehn Jahre nach Cvijiæ studierte, fand damals ein durch die
zunehmenden nationalistischen Auseinandersetzungen bereits aufgeheiztes
politisches Klima an der Wiener Universität vor. Wenige Jahre nach Abschluss seines Studiums – damals bereits in Belgrad befindlich – fand er klare
Worte über die Lehre an der Wiener Universität. Den deutschsprachigen
Professoren warf er mangelnden Universalismus und borniertes Spezialistentum vor: „[…] nirgendwo haben sie mehr Beweise für diese ihre Unfähigkeit gegeben als in der delikaten Frage über die Inferiorität oder Superiorität
einzelner Rassen und Völker. Das zeigen am besten ihre Schriften über die
Slawen. […] A[lbrecht] Penck hat an der Wiener Universität mit sarkastischen Bemerkungen über die Slawen seine slawischen Hörer verletzt, unter
denen sich auch der Autor dieser Abhandlung befand.“18 Demgegenüber hob
Zupaniè die „Wiener Lebendigkeit, Mobilität, den Humor und den ,Chic‘“19
im Alltag hervor, der auf die „Rassenmischung“ mit zugewanderten Slawen
zurückzuführen sei.
Die Kritik an den Wiener Professoren als Vertretern einer „deutschen
Wissenschaft“ und das Lob der Plurikulturalität entsprangen jedoch nicht
einer multikulturellen Position, wie Zupaniè auch ethnozentristische Positio^
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nen in der Wissenschaft grundsätzlich nicht in Frage stellte. Seine Kritik
konzentrierte sich allein auf subjektiv erfahrenes Leid von Hörern slawischer
Herkunft. Als Vertreter der damals modernen Strömung des Neoslawismus
und der südslawischen Einigung hatte Zupaniè kein Problem damit, sich in
der slowenischen und deutschsprachigen Öffentlichkeit als Antisemit20 und
als Gegner des die südslawische Einigung gefährdenden Projekts einer albanischen Nation21 zu positionieren: Die Emanzipation von der erfahrenen
Diskriminierung einer als „eigen“ wahrgenommenen Gemeinschaft schloss
die Anwendung und Übernahme dieses hegemonialen Musters gegenüber
jenen, die in ihrem Emanzipationsprozess noch nicht so weit waren, aber
gleichwohl von dieser Diskriminierung betroffen waren, nicht aus, sondern
bedingte sie geradezu. Die Stimmen aus dem eigenen Lager, die diesen selektiven Zugang kritisierten, waren rar. Wenn die Albaner laut Zupaniè keine
Nation, sondern nur „ein Komplex von sprachlich einander verwandten Stämmen“ ohne kulturelle Tradition seien – so der Tenor eines vereinzelten slowenischen Kritikers –, stelle sich Zupaniè auf den Standpunkt der „Herrschervölker“, die kleinen Völkern keine eigene Entwicklung gestatteten: „Was waren
denn wir Slowenen vor [Primoz] Trubar?“22
Die innere Logik der von Zupaniè propagierten Ansichten wird nachvollziehbar, wenn man sie wechselweise mit der von Jovan Cvijiæ 1902 vorgestellten Einteilung der Balkanhalbinsel von vier nicht auf derselben hierarchischen Ebene liegenden Kulturzonen vergleicht: Cvijiæ spricht von einem italienischen und mitteleuropäischen Kulturgürtel im Nordwesten der Balkanhalbinsel, einem sich südlich daran anschließenden, vom Gebirge geprägten
patriarchalen Regime, in dem die Serben und Nordalbaner die zentrale Rolle spielten, einem Gürtel der byzantinischen Stadtkultur und einer Zone des
türkisch-asiatischen Einflusses. Die letzteren beiden wurden dabei eher als
untergeordnet charakterisiert.23 Hinsichtlich des – man achte auf die Namensgebung – „patriarchalen Regimes“ folgte Cvijiæ der damals vom russischstämmigen französischen Anthropologen Joseph Deniker in die Diskussion
eingebrachten Kategorie der „dinarischen Rasse“ im Rahmen eines vorgeblich empirischen Konzepts europäischer „Rassen“.24 Erst spätere Publikationen, die die „dinarische Rasse“ im zusammenfassenden Rahmen einer europäischen „Rassen“-Hierarchie explizit gleich unterhalb der „nordischen Herrenrasse“ platzieren,25 eröffnen einen klärenden Blick auf diese folgenreiche
Konstruktion.
Cvijiæ verstand zwar das „dinarische“ Element in seinem Modell eher als
kulturelle und weniger als biologische Komponente. Doch konnte er sich
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einer Charakterisierung der Bevölkerung mittels physiognomischer Merkmale auf dem Gebiet des „patriarchalen Regimes“ nicht entziehen: „Die sind
die physisch stärksten und expansivsten Stämme. [...] Dies sind Menschen
von Stärke und Macht, gewöhnlich von hohem Wuchs, schlank, elastisch,
niemals korpulent, mit ausdrucksvollen Gesichtern, mit ausgeprägten Kehlköpfen und Falkenaugen: die schönste Rasse auf der Balkanhalbinsel.“ 26 In
einer späteren Ausgabe wurde noch folgender Satz hinzugefügt: „Es gibt
kaum physisch degenerierte Typen.“27 Die Bevölkerung des patriarchalen
Regimes umfasste die Serben und die Nordalbaner. Daraus leitete Cvijiæ jedoch nicht eine politische Unabhängigkeit der Albaner ab, sondern vielmehr den – angesichts der überwiegend albanischen Bevölkerung – als „antiethnographische Notwendigkeit“ bezeichneten territorialen Anspruch Serbiens auf Teile Nordalbaniens: „Dies ist umso mehr berechtigt, weil jene Albaner aus Amalgamierung von Serben und Albanern entstanden sind und
weil sich unter ihnen Reste von slawischer Bevölkerung finden.“28
Zupaniè wiederum entwarf während des Ersten Weltkriegs eine Ethnogenese der Jugoslawen. Diese verstand er als rassenkundlich argumentierte „naturwissenschaftliche“ Grundlage für die staatliche Vereinigung der Südslawen. Konfrontiert mit der von deutsch-österreichischer Seite ausgedrückten
Hochschätzung der „Rassereinheit“ und des „rassischen“ Niedergangs der
einst „arischen“ Slawen – in einer früheren Arbeit hatte Zupaniè diesbezüglich Houston Stewart Chamberlain zu den großen Denkern der Moderne
gezählt29 – argumentierte er mit den Vorteilen der „Rassenmischung“: Die
Bevölkerung des Balkan habe historisch niemals ausschließlich aus nur einer
„Rasse“ bestanden, ihre „Blutsmischung“ stelle vielmehr eine Legierung dar,
deren Hauptbestandteil jedoch „arisch“ sei: „Auch das kostbare Gold ist nämlich nicht schöner und brauchbarer, wenn es rein ist, denn dann ist es zu
matt und zu weich; deshalb fügt man ihm in den Münzstätten Kupfer und
andere weniger teure Metalle hinzu, damit es an Härte, lebendiger Farbe und
an schönerem Glanz gewinnt.“30 Doch nicht die Reinheit, auch nicht die
Mischung an sich seien entscheidend, sondern der Mischungsgrad. Dem
„nordischen Rassenelement“ kam dabei weiterhin die ausschlaggebende Bedeutung zu. Dieses sei – wie Zupaniè schon früher festgehalten hatte – bei
den Albanern zu gering vertreten,31 und bei den Griechen habe sich die
Mischung im Laufe der Geschichte in negativer Hinsicht entwickelt, so dass
die Südslawen in körperlicher und geistiger Hinsicht nun deren historische
Erbschaft an der Spitze der Balkanvölker antreten würden.32
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Abschließend ist festzuhalten, dass die hier herangezogenen Fallbeispiele
von Cvijiæ und Zupaniè durch weitere empirische Forschungen zu ergänzen
wären, um zu zeigen, wie hegemoniales Raum- und Rassedenken, wie es seitens politisch interessierter akademischer und außerakademischer Intellektueller in der Habsburgermonarchie, aber auch im westlichen und zentralen
Europa insgesamt vertreten wurde, in modifizierter Weise auch Eingang in
die ideologische Konstruktion des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen fand, ein Aspekt, dem in der Forschung bislang noch zu wenig Gewicht gegeben wurde. Hier konnte überdies nur ein schmaler Ausschnitt aus
dem Denken des in der serbischen und jugoslawischen und teilweise auch
internationalen Öffentlichkeit weithin bekannten Jovan Cvijiæ präsentiert
werden, gerade jener Ausschnitt, der zeigt, wie emanzipatorische Attitüden
sich mit unter anderem in Wien rezipierten hegemonialen Denkmustern verbanden. Zupaniè, dessen Werk weit besser in dieses Schema passt, hatte zwar
einen geringeren Bekanntheits- und Wirkungsgrad. Sein antihumanistischer
Zugang äußerte sich übrigens nicht nur in seinem „wissenschaftlich“ begründeten rassistischen Zugang, sondern auch in der frühzeitigen Forderung
nach Einschränkung des geheimen Wahlrechts, nach dem Verbot autonomistischer Parteien im jugoslawischen Königreich und in der Begrüßung der
Königsdiktatur vom 6. Jänner 1929.33
In ihrem Kern bilden die Ansätze von Cvijiæ und Zupaniè daher keine
Absage an die hierarchischen Schemata, mit denen sie im Laufe ihrer Studienzeit in Wien konfrontiert wurden. Ihnen ging es vielmehr darum, das in
Europa vorherrschende Stufenmodell von Nationen, Rassen und Völkern
zugunsten der jugoslawischen Einigung zu modulieren. Wie das Beispiel
von Zupaniè zeigt, wird die dominante Stellung der „nordischen“ beziehungsweise „arischen“ Rasse nicht in Frage gestellt. Auch Cvijiæ stellte dem zentraleuropäischen beziehungsweise westlichen Typ bloß den dinarischen zu Seite,
ohne die grundsätzliche Hierarchie jedoch in Frage zu stellen. Infolgedessen
bildete der jugoslawische Staat und der von ihm besetzte symbolische Raum
ein von ihnen relativ hoch angesetztes Glied innerhalb einer hierarchischen
Kette des Seins.34 Diese Form des Denkens stellte dichotomische Schemen des
Herrschens und Beherrscht-Werdens, wie sie in von deutschnational geprägten Wissenschaftern in der Habsburgermonarchie geprägt wurden, nicht in
Frage. Sie wurden bloß für die Anwendung auf einen kleineren geographischen Raum verfeinert und reproduziert.
In diesem Beitrag wurde nur eine Auswahl von mehreren möglichen in
statu nascendi befindlichen „jugoslawischen“ Sichtweisen gegenüber dem
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„Westen“ geschildert, wobei zumindest zwei Fragen offen blieben: ob nämlich
die ausgewählten Sichtweisen für die Konstruktion Jugoslawiens einerseits
relevant waren und ob die Habsburgermonarchie, die Stadt Wien, die Wiener Universität andererseits tatsächlich diesen oftmals idealtypisch – gleich
von welcher Seite – wahrgenommenen Westen widerspiegeln? Die in diesem
Aufsatz dargestellten Diskurse können darauf höchstens eine Teilantwort liefern, zumal Einflüsse aus Frankreich, Deutschland und England explizit
ausgeklammert blieben.
Festzuhalten ist jedoch, dass die hier dargestellten Fallbeispiele einen zeitlich wichtigen Ausschnitt widerspiegeln, in dessen Rahmen es zu einer spezifischen Umformung der hierarchischen Kette beziehungsweise Stufenfolge
kam, die das Denken über den Balkan seit dem 19. Jahrhundert ideologisch
geprägt hat und die ihre Spuren in der Konstruktion, der Praxis und dem
zweimaligen Niedergangs Jugoslawiens hinterlassen hat. Die dabei verfeinerte Reproduktion dieser Stufenfolge diente vorerst der Bestätigung des jugoslawischen Staates gegenüber seinen südlichen Nachbarn. Sie öffnete jedoch
unwillkürlich auch das Tor zu ihrer unkontrollierten Anwendung im Inneren des neugegründeten multinationalen Staates. 1924 konnte der Soziologe
Mirko Kosiæ in einem Beitrag über die Idee des Fortschritts noch in einem
von Optimismus getragenen Ton warnen: Die jugoslawische Einigung sei ein
Versuch der Bildung einer neuen nationalen Ganzheit, denn wer immer die dauerhafte staatliche Einheit einander nahe stehender und verwandter Stämme und Völker vertritt, muß auch mit der Wahrscheinlichkeit ihrer Verschmelzung in eine
Nation rechnen. Dieser Prozess ist jedoch besonders kompliziert, weil sich zugleich
die rassische Formierung (durch Assimilation noch vieler vorhandener ethno-psychisch und kulturell fremder Elemente von beträchtlicher Stärke) wie auch die
Formierung einer nationalstaatlichen Tradition vollziehen müssen.35
Letztlich versagte dieser Prozess der angestrebten Inneren Kolonisierung.
Auch die kommunistische Erneuerung Jugoslawiens scheiterte daran langfristig. Fragestellungen und Zugänge in der Art von Jovan Cvijiæ oder Niko
Zupaniæ sollten hingegen das zweimalige Scheitern Jugoslawiens überleben:
Die ehemals für Jugoslawien im Rahmen einer europäischen Stufenleiter
gefundene Position, dass man sich einerseits West- und Zentraleuropa zum
Vorbild machte und andererseits Geringschätzung gegenüber den südlichen
Nachbarn ausdrückte, wird nun auf der Ebene separater Nationalstaaten reproduziert. So gibt es auch heute noch – mehr als ein Jahrzehnt nach dem
Ende Jugoslawiens – eine heftig diskutierte fortlaufende Hierarchie der Ab^
297
grenzungen von etwas – dem Balkan – an dem man nicht teilhaben will, sei es
dass Slowenien zu Mitteleuropa gehöre, Kroatien das Bollwerk vor der orientalisch geprägten Orthodoxie sei oder Serbien die letzte Brustwehr vor dem
Balkanislam sei.36 So wie damals in der Habsburgermonarchie präsente hegemoniale Denkmuster von Cvijiæ und Zupaniè vorerst abgelehnt, dann aber
auf modifizierte Weise zugunsten des jugoslawischen Modells reproduziert
worden sind, werden die heutigen gegenseitigen Abgrenzungen im südöstlichen Europa durch die Rolle der reichen Europäischen Union mit ihren
abgestuften Erweiterungsbestrebungen in Bezug auf ökonomisch ärmere Staaten stimuliert. Indem die Institutionen der EU vorgeben, wie weit die jeweiligen Staaten in ihrer Anpassung im Hinblick auf eine künftige Integration
vorangeschritten sind, offenbart sich ein hegemoniales Verhältnis zwischen
dem, was das heutige Kerngebiet der Europäischen Union ausmacht, und
dem davon ausgeschlossenen „anderen Europa“. Da die Teilnahme an der
EU als erstrebenswert gilt, wird dieses hegemoniale Verhältnis von den ärmeren Staaten internalisiert und durch kulturalistisch-ideologische Abgrenzung
von um die EU-Mitgliedschaft buhlenden Konkurrenten, die womöglich noch
ärmer sind, reproduziert. Internalisierung und Reproduzierung werden dabei
durch die Aktualisierung historischer Wahrnehmungen einer bereits vor der
Zeit des Kommunismus bestehenden europäischen Stufenleiter erleichtert:
Die Geschichte wiederholt sich.
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Anmerkungen
1 Vgl. Milorad EKMEÈIÆ, Stvaranje Jugoslavije 1790–1918, 2 Bde, Beograd 1989.
2 Vgl. Maria TODOROVA, Imagining the Balkans, New York–Oxford 1997; zu
einer kritischen Ansicht über die Anwendbarkeit des von Said gewählten
theoretischen Zugangs auf das östliche Europa vgl. Kerstin S. JOBST, Orientalism, E. W. Said und die Osteuropäische Geschichte, in: Saeculum 51 (2000),
S. 250–266.
3 Als westliche Beispiele synthetischer Darstellungen der Gründung Jugoslawiens vgl. in Auswahl: Ivo BANAC, The National Question in Yugoslavia. Origins, History, Politics, Ithaca–London 41994; vgl. John R. LAMPE, Yugoslavia
as History. Twice there was a country, Cambridge 21999; vgl. Andrew B. WACHTEL, Making a Nation, Breaking a Nation. Literature and Cultural Politics in
Yugoslavia, Stanford, California 1998.
4 Vgl. Edgar HÖSCH, Kulturgrenzen in Südosteuropa, in: Südosteuropa 47 (1998),
S. 601–623.
5 Vgl. Erwin HANSLIK, Kulturgeographie der deutsch slawischen Sprachgrenze,
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in: Vierteljahrsschrift für Social- und Wirtschaftsgeschichte 8 (1910), S. 103–127,
S. 445–475.
Vgl. Albrecht PENCK, Die Wiener länderkundliche Schule. Erinnerungen.
Sonderabdruck aus dem Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich 26
(1936). Zu Penck vgl. Julius FINK, Penck Albrecht, Geograph, in: Österreichisches biographisches Lexikon 1815–1950, Band 7, Wien 1978, S. 404.
Albrecht PENCK, Deutscher Volks- und Kulturboden, in: Carl Christian von
LOESCH (Hg.), Volk unter Völkern. Für den deutschen Schutzbund, Breslau
1925, S. 62–73.
Vgl. DERS., Das deutsche Reich, in: Albrecht KIRCHHOFF (Hg.), Länderkunde von Europa, 1. Teil, 1. Hälfte, Wien–Prag 1887, S. 115–596, hier S. 129 f.
DERS., Ziele der Erdkunde in Österreich. Vortrag, gehalten in der k. k. geographischen Gesellschaft in Wien am 22. November 1887, Wien–Olmütz 1889,
S. 7.
Ebenda, S. 9.
DERS., Die geographische Lage von Wien. Vortrag, Wien 1895 (Vorträge des
Vereins zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien 35), S. 26.
Zur Biographie und zum wissenschaftlichen Werdegang von Jovan Cvijiæ vgl.
Vojislav RADOVANOVIÆ, Jovan Cvijiæ, Beograd 1958 (Biblioteka Portreti 16);
vgl. Vasa ÈUBRILOVIÆ, Zivot i rad Jovana Cvijiæa, in: Jovan CVIJIÆ, Karst.
Geografska monografija. Novi rezultati o glacijalnoj eposi Balkanskoga poluostrva, Beograd 21991, S. 13–156.
Vgl. Jovan ÆVIJIÆ, Glavne osobine centralnih oblasti Balkanskoga Poluostrva,
in: DERS., Govori i èlanci, Beograd 21991, S. 83–119; zu den geopolitischen
Forschungen Cvijiæs vgl. Snezhana DIMITROVA, Jovan Cvijiæ on the Periphery and the Centre, in: Etudes balkaniques 32, (1996) 3-4, S. 82–91.
Vgl. DERS., Der Zugangs Serbiens zur Adria, in: Militärgeographie. Beilage zu
Dr. A. Petermanns Mitteilungen aus Justus Perthes’ Geographischer Anstalt
58, 2. Halbband (1912), S. 361–364; vgl. DERS., Die ethnographische Abgrenzung der Völker auf der Balkanhalbinsel, in: Dr. A. Petermanns Mitteilungen
aus Justus Perthes’ Geographischer Anstalt 59, 1. Halbband (1913), S. 113–118,
S. 185–189, S. 244–246.
Vgl. ÈUBRILOVIÆ, Zivot i rad Jovana Cvijiæa, S. 135–145; zum allgemeinen
Hintergrund des Einsatzes serbischer Wissenschafter für die Gründung Jugoslawiens vgl. Ljubinka TRGOVÈEVIÆ, Nauènici Srbije i stvaranje Jugoslavije
1914–1920, Beograd 1986.
In dieser Hinsicht ist es von Interesse zu betonen, dass sich Ævijiæ, der sich
damals in der Emigration befand, nicht an der zu Kriegsende publizierten
Festschrift seines ehemaligen Lehrers beteiligen konnte und wollte. Vgl. Festband Albrecht Penck zur Vollendung des 60. Lebensjahrs, gewidmet von seinen Schülern, Stuttgart 1918. Andererseits war Penck jedoch mit einem Beitrag in der einige Jahre darauf erschienenen Festschrift für Ævijiæ vertreten.
Vgl. Albrecht PENCK, Das unterirdische Karstphänomen, in: Zbornik posveæen
Jovanu Cvijiæu povodom tridesetpetogodišnjice nauènog rada od prijatelja i
saradnika, Beograd 1924, S. 175–197.
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17 Einen Überblick über die Biographie und den wissenschaftlichen Werdegang
von Niko Zupaniè bis ins Jahr 1941 gibt Christian PROMITZER, Niko Zupaniè
in vprašanje jugoslovanstva. Med politiko in antropologijo (1901–1941), in:
Prispevki za novejšo zgodovino 41 (2001), S. 7–39.
18 Niko ZUPANIÆ, Sistem istorijske antropologije balkanskih naroda II, in: Starinar. Organ Srpskog arheološkog društva, Neue Serie 3 (1908), S. 1–70, hier S.
44: „[…] nigde nisu dali više dokaza ove svoje nepodobnosti kao u delikatnom
pitanju o inferioritetu ili superioritetu pojedinih rasa i naroda. To najbjolje
pokazuje njihovo pisanje o Slovenima [...] A[lbrecht] Penck je na beèkom univerzitetu vreðao svoje slušaoce Slovene, meðu kojima je bio i pisac ove razprave“ [übersetzt vom Verfasser]. Vgl. auch DERS., „Slovenska inferijornost“ i
nemaèka nauka, in: Brankovo kolo za zabavu, pouku i knjizevnost 15 (1909),
S. 289–291, S. 308–310, hier S. 308.
19 DERS., Sistem istorijske antropologije, S. 45: „beèku zivahnost, okretnost,
humor i ,šik‘“ [übersetzt vom Verfasser]. Vgl. auch DERS., „Slovenska inferijornost“, S. 309.
20 Dies geht aus seinen Bemerkungen über den Einfluss der „jüdischen Presse“ –
„zidovsko èasnikarstvo“ – hervor; vgl. DERS., Macedonija, in: Ljubljanski zvon
23 (1903), S. 243–245, hier S. 243.
21 Dies zeigte sich erstmals in einem auf der Titelseite der Tageszeitung der slowenischen Liberalen publizierten Kommentar zur südslawischen Einigung und zur
Außenpolitik Österreich-Ungarns im südöstlichen Europa. Vgl. DERS., Stara
Srbija – Macedonija – Jugoslovanstvo I, in: Slovenski narod vom 12.4.1907, S. 1.
22 Milan PAJK, K. Gersin, Altserbien und die albanesische Frage, in: Ljubljanski
zvon 33 (1913), S. 55: „Kaj pa smo bili Slovenci pred Trubarjem“ [übersetzt vom
Verfasser].
23 Vgl. Jovan CVIJIÆ, Kulturni pojasi balkanskoga poluostrva, in: Srpski knjizevni
glasnik 6 (1902), S. 907–921. Der Begriff „Regime“ wurde in der ersten Publikation des Artikels noch nicht verwendet, sondern erst in einer 1918 in der
Zeitschrift The Geographical Review in englischer Sprache publizierten Neuauflage, die 1921 ins Serbische rückübersetzt wurde. Vgl. DERS., Kulturni pojasi
balkanskoga poluostrva, in: DERS., Govori i èlanci, Beograd 21991, S. 69–81.
24 Zum damaligen Einfluss dieses Konzepts auf Teile der serbischen Intelligenz
vgl. EKMEÈIÆ, Stvaranje Jugoslavije, 2. Bd., S. 501–510.
25 Dieses unausgesprochene hierarchische Schema wurde wohl erstmals am klarsten von einem Wiener Anthropologen dargestellt. Vgl. Gustav KRAITSCHEK,
Rassenkunde mit besonderer Berücksichtigung des deutschen Volkes, vor allem der Ostalpenländer, Wien 1923, S. 38–41. Zu einer eher positiven Würdigung des dinarischen Typs aus der Sicht von Jovan Cvijiæ vgl. Karl KASER,
Anthropology and the Balkanization of the Balkans: Jovan Cvijiæ and Dinko
Tomašiæ, in: Ethnologia Balkanica 2 (1998), S. 89–99.
26 CVIJIÆ, Kulturni pojasi 1902, S. 915: „To su naplodnija i najekspanzivnija
plemena [...] To su ljudi od snage i moæi, mahom vrlo visoki, vitki elastièni,
nikad gojazni, lica punog izraza, jakih jabuèina, sokolovih oèiju: najlepši soj
na Balkanskom poluostrvu.“ [Übersetzt vom Verfasser].
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27 DERS., Kulturni pojasi 1991, S. 80: „Gotovo nema fizièki degeneriranih tipova.“ [Übersetzt vom Verfasser].
28 DERS., Der Zugang Serbiens zur Adria, S. 364.
29 Niko ZUPANIÈ, „Ilirija“, in: Ljubljanski zvon 27 (1907), S. 486–492, S. 554–
557, S. 615–620, hier S. 486 f. Zu Chamberlains Sicht über die Slawen vgl.
Houston S. CHAMBERLAIN, Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, München
11
1915, 1. Bd., S. 559–566, S. 580–583, 2. Bd., S. 834 f.
30 ZUPANIÈ, Etnogeneza Jugoslavena, in: Rad Jugoslavenske akademije znanosti i umjetnosti 222 (1922), S. 137–193, hier S. 143: „Jer ni dragoceno zlato nije
najlepše i najupotrebljivije, ako je èisto, buduæi da je suviše bledo i meko, pa
mu se zato pridodaje u kovnicama bakra ili drugih manje skupocenih kovina,
da dobije èvrstoæu, zivlju boju i lepši sjaj.“ [Übersetzt vom Verfasser].
31 Vgl. DERS., Sistem istorijske antropologije, S. 9.
32 Vgl. DERS., Etnogeneza Jugoslavena, S. 143 f.
33 Vgl. DERS., Naša zelezna valuta, in: Slovenski narod vom 30.10.1921, S. 1; vgl.
DERS., Slovenci v radikalni tabor!, in: Radikalski glasnik. Organ narodnoradikalne stranke za Slovenijo vom 11.4.1924, S. 1 f. Velik govor dr. Nika Zupanièa v Zuzemberku, in: Jugoslovan vom 7.11.1931, S. 3; zum Zusammenhang
zwischen der Krise der humanistischen Tradition und dem Aufstieg der physischen Anthropologie vgl. Andrew ZIMMERMANN, Anthropology and Antihumanism in Imperial Germany, Chicago 2001.
34 Arthur O. LOVEJOY, The Great Chain of Being. A Study of the History of an
Idea, Cambridge 1948.
35 Mirko M. KOSIÆ, Ideja progresa u savremenoj sociologiji, in: Zbornik posveæen Jovanu Cvijiæu, S. 447–473, hier S. 469 f: „[…] pokušaj obrazovanja jedne
nove nacionalne celine, jer kogod zastupa trajno drzavno jedinstvo bliskih i
srodnih plemena i naroda mora raèunati i sa verovatnošæu njihovog stapanja
u jednu naciju. Taj je pak proces naroèito komplikovano, što se istovremeno
mora vršiti i rasno formiranje (asimilacijom još mnogih etno-psihièki i kulturno tuðih elemenata znatne jaèine) i formiranje nacionalno-drzavnih tradicija.“ [Übersetzt vom Verfasser].
36 Vgl. Slavoj ZIZEK, Liebe deinen Nächsten? Nein, Danke! Die Sackgasse des
Sozialen in der Postmoderne, Berlin 1999, S. 7–13.
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Die Bürde des „österreichischen Menschen“.
Der (post-)koloniale Blick des autoritären
„Ständestaates“ auf die zentraleuropäische
Geschichte
Werner Suppanz
[...] vielmehr wurde unser Heimatboden ein Teil des großen deutschen Siedlungsraumes, er wurde der südöstlichste Pfeiler des sich in Mitteleuropa bildenden Deutschen Reiches; seine Bewohner mussten die Völkerströme des Ostens auffangen
und ihnen die Segnungen höherer Kultur vermitteln, sie mussten zugleich Verteidiger und Vermittler deutschen Geistes sein.1
Vorbemerkungen
Der autoritäre „Ständestaat“ der Jahre 1933 bis 1938 in Österreich legitimierte sich in hohem Maße durch das Selbstverständnis, „österreichisches Wesen“ in Kontinuität zur 1918 untergegangenen Habsburgermonarchie zu verkörpern. Er steht daher als Fallbeispiel für eine post-imperiale Situation, für
eine Gesellschaft, die das Ende einer hegemonialen Situation in einem in
vielerlei Hinsicht – territorial, kulturell, demographisch – weitaus umfangreicheren Staatswesen zu bewältigen hat. Der vorliegende Aufsatz thematisiert
die Deutung der zentraleuropäischen Geschichte, insbesondere der Geschichte
der Habsburgermonarchie, als Geschichte kolonialer Verhältnisse durch die
Identitätspolitik des „Ständestaates“. Die Superiorität des „österreichischen
Menschen“2 als Vertreter eines „christlich-abendländischen Deutschtums“
stand dabei außer Zweifel und hatte ein Bild der anderen kulturellen und
ethnischen Gruppen in der Region als unterlegen, rückständig und abhängig zur Folge. Diese koloniale Perspektive wirft allerdings weitere Fragen auf.
So ist zu untersuchen, inwieweit die Erzählung von der Habsburgermonarchie als „Erfolgsgeschichte“, die ein harmonisches Miteinander der Völker
und Kulturen ermöglichte, mit diesem hierarchischen Konzept in Einklang
gebracht wurde beziehungsweise überhaupt darin Platz hatte. Dass koloniale
Situationen kulturelle Hybridität fördern, ist aus der Sicht der Postcolonial
303
Studies eine Grundannahme. Die Wahrnehmung dieser Prozesse sowie die
Selektionsmechanismen, die ihre Ausblendung ermöglichen, stehen daher
mit der erstgenannten Frage im Zusammenhang.
Dieser Themenkomplex wird hier anhand von Texten dargestellt, die der
Vermittlung des offiziellen Geschichtsbildes im „Ständestaat“ dienten. Es
handelt sich dabei einerseits um Schulbücher beziehungsweise für den Unterricht approbierte Lesebücher, andererseits um Schulungsmaterial der
Vaterländischen Front für ihre FunktionärInnen.
Die imaginäre Geographie des „Ständestaates“ – Kultur versus Barbarei
Geschichte wurde im „Ständestaat“ als Abfolge von Kolonisierungsprozessen
verstanden, wobei die Besiedlung durch „Deutsche“ und kulturelle Assimilation durch die überlegene christlich-deutsche Kultur als legitim galten. Der
Anspruch auf kulturelle Überlegenheit in der Gegenwart wurde durch den
Rückgriff auf die Geschichte seit dem Frühmittelalter begründet: Durch die
bairische und fränkische Landnahme sei auch die Gegend östlich der Alpen
bis zum Plattensee einschließlich des Burgenlandes zu den „Segnungen höherer Kultur“ gekommen.3 Die Formulierung vom „westöstlichen Kulturgefälle“4 machte die Annahme einer Rangordnung deutlich. Die „fremden“
Völker wurden pejorativ bezeichnet, mit Bezeichnungen, die ihre Inferiorität und ihre Massenhaftigkeit zum Ausdruck bringen. So war von den „von
Osten heranflutenden Völkerwellen“5, von der „Überflutung durch die Türken“6 wie vom „Andringen des Slawentums“7 die Rede. „An einer Völkerscheide, wo asiatische Barbarei auf abendländische Kultur stieß, wehrte sie
[= die Ostmark, Anm. W.S.] die Reichsfeinde ab und zog die Fremdvölker
ihres Machtbereichs in den Dienst des Reichsgedankens“, hieß es in einer
österreichischen „Geschichte für Jugend und Volk“.8
Kolonisierung wurde als Transfer von Menschen und von kulturellen
Gütern verstanden, die Wahrnehmung kulturellen Transfers war Ausdruck
von Superioritätsvorstellungen:
Der magyarische Staat war von Anfang an auf eine enge Verbindung mit dem Deutschen Reiche angewiesen; den Ostalpenländern fiel nun als besondere Aufgabe
nicht nur der Grenzschutz, sondern auch die Übermittlung kultureller Güter zu. Das
haben die deutschen Könige erkannt, und sie haben durch besondere Einrichtung der
Grenzmarken, durch Wiederaufnahme der Kolonisation und durch Förderung des
Geisteslebens in den Ostalpenländern dieser Aufgabe gerecht zu werden versucht.9
304
Aufgrund der Vorstellung von einem West-Ost-Gefälle, die das östliche Zentraleuropa und Südosteuropa als unterlegen deutete, wurde die besondere
Bedeutung der „Ostmark“ darin gesehen, dass sie den „Weg nach Osten“10
erschließe und in diesem Teil Europas kulturmissionarische Aufgaben erfülle: „Daher die zwei grossen Sendungen Oesterreichs: zunächst kulturelle
Erziehung der kleinen Nationen und deren Durchdringung mit deutschem
Wesen und dann Brücke zwischen den verschiedenen Kulturen zu sein. Dabei
hat Oesterreich nicht nur kulturverknüpfend und kulturassimilatorisch, sondern in hohem Grad kulturschöpferisch gewirkt (insbes. Musik, Erfindungen usw.).“11 „Deutsche Besiedlung“ und „deutsche Einwanderung“ dienten
gleichsam als running gags der Geschichtsdarstellung. Das Selbstverständnis
als historische Kolonialmacht gegenüber „dem Osten“ besaß dabei eine eminente zeitgenössische Funktion im Rahmen der Legitimationsstrategien des „Ständestaates“. Es erfuhr seine Deutung als wesentliches Element der „österreichischen Mission“12, die die Existenz eines souveränen, christlich-(= katholisch)deutsch definierten Österreichs rechtfertigen sollte. Der Anspruch, die „besseren Deutschen“ gegenüber dem Deutschen Reich, insbesondere in seiner
nationalsozialistischen Prägung, zu verkörpern, beruhte in hohem Maße auf
dem Nachweis der besonderen historischen Leistungen für das „Deutschtum“: „Die Habsburger sind [...] in ihrer Hausmachtpolitik Träger einer
großen geschichtlichen Idee geworden: durch den Zusammenschluß der drei
Ländergruppen [= österreichische Erbländer, Böhmen, Ungarn, Anm. W.S.]
ist der Einfluß des deutschen Volkes und seiner Kultur über Donau und
Karpaten hinaus weit nach dem Osten getragen worden.“13 „Kulturarbeit [...]
fernhinwirkend bis an die Tore des Orients“14 sei die besondere historische
Leistung des österreichischen Deutschtums. Charakteristisch für die Sicht
auf den habsburgischen Kolonialismus war seine Rolle in einem komplexen
Wechselspiel von Offensive und Defensive. Komplementärer Bestandteil des
Topos der „österreichischen Mission“ war die Auffassung, dass Österreich
„Bollwerk der Christenheit und der Kultur Europas“ sei und die Grenzen
des Deutschen Reiches und des christlichen Abendlandes zu schützen habe.15
Dennoch wurde die Kolonisierung nicht als bloße Präventivmaßnahme gerechtfertigt. Die Verbreitung christlich-deutscher Kultur galt entsprechend
ihrer religiösen Überhöhung als Auftrag, der Österreich von Gott und/oder
der Weltgeschichte – gewissermaßen als Bürde des „österreichischen Menschen“ – auferlegt worden sei.16 Die Anerkennung der Überlegenheit der österreichischen Kultur sei dabei den anderen Völkern am meisten zugute gekommen. Österreich sei im Laufe der Geschichte zum Träger einer Kultur
305
geworden, „die segenspendend ringsum ausstrahlte und Österreich in friedlichem Fortschreiten zum Mittelpunkt der zahllosen Völker machte, die sich
in dem vielgestaltigen Beckengebiet an der mittleren Donau angesiedelt“ haben.17
Für den Nutzen von Kolonisierung, die sowohl im physischen Sinne – als
Rodung, Besiedlung, ökonomische Nutzbarmachung – als auch als Verbreitung von Kultur aufgefasst wurde, galt Österreich selbst als das beste Beispiel. Denn auch die „Ostmark“, so wurde hervorgehoben, sei durch das
Werk „deutscher“ Kolonisten entstanden, die der slawischen und awarischen
Bevölkerung Friede, Ordnung und Stabilität gebracht habe: „So erstand die
Ostmark. Eroberermut und Siedlerfleiß deutscher Männer bayrischen und
fränkischen Stammes schafften (sic!) aus einer Stätte des Schreckens ein Land
der Zukunft.“18 Das Ergebnis, so wurde propagiert, konnte sich sehen lassen
und diente offensichtlich als Rechtfertigung für die „österreichische Mission“ im Südosten Europas: „Aus dem früheren Kolonistenland war ein blühendes, reich besiedeltes Gebiet entstanden, in dem auch die geistigen Güter
zu ihrem Rechte kamen.“19
Der binäre Gegensatz von Kultur und Barbarei, Zivilisation und Wildnis,
kennzeichnete die imaginäre Geographie20 von Zentraleuropa, wobei dank
der Leistungen der „Deutschösterreicher“ die „weißen Flecken“ der Rückständigkeit kontinuierlich weniger wurden. Das Bild von der Siedlerarbeit in
der „Ostmark“ wurde auf die „deutsche Kolonisation“ im östlichen Zentraleuropa, insbesondere in den ehemals osmanischen Gebieten, übertragen und
emotional eindringlich vermittelt. So hieß es über die Zeit nach dem Frieden
von Passarowitz/Pozarevac im Jahr 1718: „Viele Tausende deutscher Kolonisten zogen in den folgenden Jahren in das Banat. Aus versumpften Landstrichen wurde reicher Ackerboden, Flüsse wurden reguliert, Kanäle gebaut
und Wälder gerodet, überall hielt deutsche Kultur ihren Einzug.“21 Oder:
„[...] ein starker Strom deutscher Arbeitskraft und deutscher Kultur ergoß
sich über Südungarn bis nach Belgrad.“22 Dabei handelte es sich quasi um
einen Deal gleichermaßen zum Vorteil der Deutschen wie der ansässigen
Bevölkerung, denn zum Beispiel habe Maria Theresia mit ihrer Ansiedlungspolitik im Banat, in Galizien und der Bukowina dem deutschen Volke neuen
Lebensraum im Südosten gewonnen, „wo inmitten halbzivilisierter Gebiete
blühende deutsche Gemeinwesen entstanden.“23
306
Die Hierarchie der „Volksstämme“ und das Paradigma Bosnien-Herzegowina
An der hierarchischen Ordnung der „Volksstämme“ der Monarchie änderte
sich auch in den Darstellungen des 19. Jahrhunderts nichts. Aus dem Blickwinkel des autoritären „Ständestaates“ war es wesentlich, die Rangordnung
unter den Nationalitäten festzuschreiben. So hätten die Magyaren den Vorteil gehabt, geschlossen die Mitte ihres Landes zu bewohnen, während die
anderen Nationen am Rand verteilt gewesen seien. In Österreich hingegen
habe die zentrale Siedlung der Deutschen gefehlt, neben dem Kerngebiet in
den Ostalpenländern habe es weitere Siedlungsräume gegeben, die anderssprachige Gebiete teils durchsetzten, teils deren Kerngebiet umschlossen. Auf
dieser Grundlage erfolgten die Zensuren für die weiteren „Volksstämme“:
„Die Tschechen waren der an Zahl stärkste slawische Stamm, sie waren in
ihrer geistigen Reife und Bildung am weitesten fortgeschritten [...]“. Der
Maßstab für diese Einschätzung wurde nicht näher definiert. Als Verfechter
der nationalen Selbständigkeit und damit als Unruhestifter wurden neben
den Tschechen die Slowenen und die Italiener angeführt, wobei das Auftreten letzterer als „häufige stürmische Kundgebungen“ umschrieben wurde.24
So ist es logisch, dass nur kulturelle Leistungen durch „Deutschösterreicher“ wahrgenommen und angeführt wurden. Ausdrücklich führt die Vaterlandskunde an, dass die Träger des künstlerischen Aufstiegs „in erster Linie
Deutschösterreicher waren“25.
War der Anspruch auf Überlegenheit gegenüber den Tschechen eindeutig,
so blieb er gegenüber den Ungarn als zweitem „Hegemonialvolk“ in der Regel
unausgesprochen. Dass diese den Deutschen Österreichs den Aufbau ihres
Landes nach der osmanischen Herrschaft verdankten, wird aber stets deutlich:
„Ungarn war eine Kulturaufgabe. Die neue Besiedlung des verwüsteten und
entvölkerten Landes war ein deutsches Werk, von Oesterreich getan. In der
Hauptsache aus den österreichischen Ländern, aus den habsburgischen Besitzungen entsprangen die Ströme deutschen Blutes, das sich nach Ostes ergoss.
Das war österreichische Tat, das war Ostmarktat, die niemals vergessen werden
soll.“26 Nur wenige Autoren formulierten die Vorrangstellung der „Deutschen“
so explizit wie der Jugendbuchautor Fritz Herndl, der Kaiser Joseph II. zu
einem Lehrer aus dem Banat sagen lässt: „Das wäre noch schöner, ich bringe
Jahr für Jahr Tausende deutscher Ansiedler ins tiefste Ungarn, die verwandeln mir die verlassene Einöde in blühendes Ackerland und zuletzt durften
sie nicht einmal in ihrer Muttersprache eine Eingabe vor den Stuhlrichter bringen! Die Amtssprache in all meinen Ländern kann nur die deutsche sein!“27
307
Aus der Sicht des „Ständestaates“ konnte die Stellung des habsburgischen
Gesamtstaates und insbesondere der „Deutschen“ nur eine der Vormundschaft gegenüber der Bevölkerung des östlichen Zentraleuropas und Südosteuropas sein. Als Kultur definiert wurde das, was die „Deutschen“ besaßen
beziehungsweise den Slawen und – mit Einschränkungen – den Ungarn brachten: „Am Aufschwung der Monarchie gewannen besonders die slawischen
Völker, die unter der Obhut des österreichischen Staates erst zu Kulturnationen wurden.“28 Ebenso wurde als Ordnung definiert, was der österreichischungarische Staat als seine Strukturen und Interessen durchsetzte. Österreich
wurde als Ordnungsfaktor in Gebieten präsentiert, die ohne die Eingliederung in das habsburgische Reich nicht selbst dazu fähig gewesen seien. So
habe Österreich 1878 unter großen Opfern und nach verlustreichen militärischen Kampfhandlungen Bosnien-Herzegowina besetzt. „Wie weit wurde nun
Österreich seiner Aufgabe, das unruhige Land zu befrieden und zu kultivieren, gerecht?“29 Die Antwort darauf war eindeutig: In den dreißig Jahren
zwischen der Okkupation und der Annexion von 1908 sei das Land „aus dem
Räubernest zu einem blühenden Gemeinwesen gediehen“30. Die habsburgische Herrschaft habe den Fortschritt in die zivilisatorische Einöde gebracht:
Als die österreichischen Truppen das Land betraten, gab es dort nicht eine [Hervorhebung im Original, Anm. W.S.] ordentlich befahrbare Straße. Wagenverkehr kannte
man keinen, elende Karren und Saumtiere waren die Verkehrsmittel, Gasthäuser
fanden sich nirgends, eine regelmäßige Postverbindung galt als überflüssig. [...]
Zur Zeit der Okkupation vollzog sich die Landwirtschaft Bosniens in Formen, die an
urzeitliche Verhältnisse gemahnen. [...] Bergbau war früher nicht vorhanden. [...]
Unter der Türkenherrschaft sah der arme bosnische Bauer oft monatelang keinen
Groschen Bargeld.31
Reich an Einzelheiten werden die Zeichen der Primitivität in der bosnischherzegowinischen Gesellschaft aufgezählt, ebenso detailliert finden die Maßnahmen der österreichisch-ungarischen Administration Erwähnung, die die
Errettung aus dieser Primitivität zum Zweck hatten: „Unter österreichischer
Verwaltung wurden 7000 Kilometer Kunststraßen gebaut und 2000 Kilometer Eisenbahnen fertiggestellt, 400 Postämter dienen dem Verkehr, Autobuslinien erschließen auch entlegene Täler, zahlreiche behagliche Gaststätten,
vom sauberen Wirtshaus bis zum eleganten Hotel, ermöglichen einen ausgedehnten Fremdenverkehr.“32 Die Produktivität sei um ein Vielfaches gesteigert worden, denn „unsere Verwaltung“ habe Musterwirtschaften errichtet,
Saatgut und Zuchttiere kostenlos vergeben, Kurse veranstaltet und Schulen
gegründet, Bergbau, Industrie und Geldwirtschaft eingeführt, einen Agrar-
308
markt hervorgebracht. „Durch die zielbewußte Förderung der Wirtschaft unter
österreichischer Verwaltung zog allmählich ein gewisser Wohlstand im Lande ein. [...] Mit Stolz konnte Österreich sagen, es hatte an den arg vernachlässigten Provinzen eine wahre Kulturtat vollbracht. [...] Auch die Provinzen
Bosnien und Herzegowina erfuhren den Segen ostmärkischen Kolonisationsgeistes.“33 Diese Politik, so wird die paternalistische Haltung unterstrichen,
sei Ausdruck der Sendung der Ostmark. Selbstlosigkeit sei es gewesen, die
die österreichischen Truppen ausziehen ließ, um den unterdrückten christlichen Bosniern zu helfen und die den österreichischen Staat veranlasste,
viele Millionen zur Förderung der Wohlfahrt Bosnien-Herzegowinas einzusetzen.34
Harmonie und Hegemonie
Neben dem Diskurs der „deutschen“ Überlegenheit ist allerdings ein weiterer erkennbar, der die Gleichheit und das friedliche Miteinander der „Volksstämme“ in den Mittelpunkt stellt. Modellhaft dafür ist folgende Beschreibung der Reaktion auf den Ausbruch des Ersten Weltkriegs: „Als der Kaiser
seine Soldaten rief, folgten sie ihm alle freudig. Der Bauer ließ den Pflug,
der Handwerker sperrte seine Werkstatt, der Senne stieg von der Alm, der
Csikos kam aus der Pusta (sic!), der huzulische Schafhirte zog aus dem Waldgebirge, der dalmatinische Fischer ließ sein Netz. Alle, alle kamen, ob sie nun
deutscher, ungarischer oder slawischer Zunge waren. Es galt, das gemeinsame Vaterland zu schützen, der Kaiser hatte gerufen.“35 Der österreichische
Staatsgedanke der Habsburgermonarchie wurde retrospektiv als Grundlage
einer harmonischen Gemeinsamkeit präsentiert: Die „Überbrückung von
Gegensätzen und Sonderinteressen“ habe es ermöglicht, aus einem höchst
differenzierten Körper einen geschlossenen europäischen Machtfaktor zu
machen. Das österreichische Staatsgefühl wird als „ein von den Völkern der
Monarchie selbst getragenes und erlebtes Bewußtsein von Einheit und Gemeinschaft“ beschrieben.36 Am besten sei Österreich daher damit gefahren,
sich nach außen als deutscher Staat zu betrachten, aber die „natürliche Vielheit der Völker“ bestehen zu lassen und „sie in der monarchischen Einheit
zu einer harmonischen staatlichen Lebensform“ zusammenzufassen.37
Insbesondere auf ökonomischer Ebene wurde immer wieder die Harmonie des österreichisch-ungarischen Staates beschrieben. Ein Gefüge aus Agrargebieten wie Ungarn und „alle östlichen Gebiete“ und aus Industriezent-
309
ren in den Erbländern und in Böhmen sei im Zeichen des wirtschaftlichen
Austauschs zum allseitigen Vorteil gestanden. Zudem habe sich die Einheit
des Verkehrs „nicht im mindesten um Völkergrenzen“ gekümmert und nur
dem Zweck gedient, die Länder aneinander zu binden und den Güteraustausch zu erleichtern. Wien sei der Mittelpunkt dieser Entwicklung gewesen.38 Über das Gebiet der Monarchie hinausgehend war das Bild von Wien
als neutralem Umschlagplatz der materiellen und kulturellen Güter wesentlich: „Orient und Okzident trafen sich in Oesterreich, tauschten ihre Güter
miteinander aus und befruchteten einander.“39
Das Narrativ eines bunten Multikulturalismus, wie es Homi Bhabha kritisiert,40 und einer perfekten arbeitsteiligen Ökonomie wird allerdings durch
den Kontext der Identitätspolitik des „Ständestaats“ zwangsläufig relativiert.
Denn letztlich geht diese Erzählung in der Legitimation eines paternalistischen Kolonialismus auf, der eine wesentliche Stütze in der Konstruktion des
„österreichischen Menschen“ fand: Die Geschichte habe „den Österreicher
leben und werden lassen in einem Staatswesen, in dem die Deutschen der
Zahl nach immer Minorität, ihrer politischen und kulturellen Rolle nach
aber das Führer- und Staatsvolk waren.“41 In einem Staatswesen wie der Habsburgermonarchie nun habe Führerschaft immer auch Richterschaft und ein
„Über-den-Partein-Stehn (sic!)“, ein „Stehn (sic!) über den Volksstämmen“
bedeutet. Der Vorrang im Gesamtstaat habe die Fähigkeit zur Voraussetzung,
alles in eine große Zahl anderer Sprachen übersetzen zu können und sich
dabei in andere Völker hineinfühlen und hineindenken zu können. Die
Führungsposition der Deutschösterreicher in der Habsburgermonarchie
beruhe daher auf einer besonderen, wohl erworbenen Disposition zur Psychologie.42 Es sollte klar bleiben, dass das Gefüge der Habsburgermonarchie
eines führenden Volkes bedurfte: „Wien blieb deutsch und wurde durch den
Zuzug kräftiger deutscher Menschen aus den Provinzen immer wieder innerlich befähigt, seine deutsche Art aufrecht zu erhalten.“43 Die genannten Austauschprozesse fanden – so wurde das Bild der Harmonie ständig konterkariert – eben doch nicht unter gleichwertigen Völkern und Kulturen statt,
sondern unter der Ägide von Führern und Richtern. Österreich-Ungarn
habe letztlich dem Zweck gedient, die überlegene deutsche Kultur zum Vorteil aller zu verbreiten: „Der deutsche Beamte, der deutsche Offizier, der
deutsche Kaufmann – sie trugen alle das abendländische Bildungsgut hinaus
zu den slawischen Völkern, sie waren es, die der abendländischen Technik
ein neues Betätigungsfeld, der abendländischen Wirtschaft neue Absatzgebiete erschlossen.“44
310
„Ständestaat“ postkolonial
Die vergangene Größe Österreichs beziehungsweise der Habsburgermonarchie, wie sie der „Ständestaat“ vermitteln wollte, beruhte somit in hohem
Maße auf dem Selbstbild als ehemalige (Binnen-)Kolonialmacht. Das Streben
nach Vereinheitlichung kultureller Muster wurde als historische Leistung
des katholischen „Ostmarkdeutschtums“ präsentiert und fungierte als raison
d`être des unabhängigen Österreich in der Konfrontation mit dem Dritten
Reich. Der Maßstab, dem sich die hierarchisch als untergeordnet aufgefassten Volksstämme und Regionen anpassen sollten, war die „abendländische“
beziehungsweise „deutsche Kultur“, die als christlich – konkret: katholisch –
geprägt imaginiert wurde. Die Darstellung der zivilisatorischen Leistungen
der k.u.k. Armee beziehungsweise der Administration in Bosnien-Herzegowina macht paradigmatisch deutlich, wie das Andere – das noch nicht vom
kulturellen Einfluss Österreichs geformt war – als rückständig und unmündig gedacht wurde.45 „Ordnung“ und „Chaos“ sowie „Kultur“ und „Barbarei“ waren die Koordinaten in diesem Blick auf die zentraleuropäische Vergangenheit im „Ständestaat“, wobei dank der deutsch-österreichischen „Kulturarbeit“ letztere jeweils durch erstere ersetzt wurden.
Ethnisch-kulturelle Differenz in der Monarchie wurde als Rangordnung,
kulturelle Hybridität im Sinne einer „Vermischung von Traditionslinien oder
von Signifikantenketten“46 hinsichtlich der „Kolonisierten“ in der Monarchie
wahrgenommen und als wünschenswert betrachtet: Für die anderen Volksstämme galt die Übernahme „deutscher“ kultureller Elemente als Chance
und als Voraussetzung für Entwicklung. Die „Deutschen“ blieben laut hegemonialem Diskurs unberührt von Prozessen der Hybridisierung im Kontakt
mit den anderen „Volksstämmen“ Österreich-Ungarns und konnten so ihre
Führungsrolle bewahren. Diskurse, die das Bild multikultureller Harmonie
in Österreich-Ungarn thematisierten, standen mit dieser Perspektive nicht
im Widerspruch, sondern ergänzten sie. Gerade indem sie das Konfliktpotenzial kultureller Differenz und die unterschiedlichen Machtverhältnisse
ausblenden, festigen sie die Legitimation des Binnenkolonialismus der Habsburgermonarchie. Das zeigt sich beispielsweise an der Thematisierung Wiens,
das teils als gleichsam neutraler Ort des Austauschs, teils als Machtzentrum
der Deutschen in der Habsburgermonarchie galt. Diese Narrative von der
„Reichshaupt- und Residenzstadt“ waren nicht gegeneinander gerichtet, vielmehr wird Wien hier als Ort präsentiert, in dem die besonderen Tugenden
des „österreichischen Menschen“ als Mittler und Schiedsrichter zum Tragen
311
kommen, der als Deutscher stets Überlegenheit beanspruchen sollte und
konnte.
Aus der Sicht eines autoritären Regimes der 1930er Jahre besaß Kolonialismus selbstverständlich nichts Anrüchiges. Im Gegenteil, die „austrofaschistische“ Regierung versuchte gerade durch das Narrativ von den „österreichischen Deutschen“ als besonders begabten Kolonisatoren den „Ständestaat“ zu
legitimieren – durch den Nachweis historischer und aktueller Größe gegenüber der eigenen Bevölkerung und der Überlegenheit gegenüber dem „Reichsdeutschtum“. Das Sprechen von der kolonialen Bürde des „österreichischen
Menschen“ – für Ignaz Seipel, den Bundeskanzler der 1920er Jahre, seiner
Geschichte und Art nach ein Großstaatmensch47 – erweist sich somit paradigmatisch als „Schutzdichtung“ im Sinne Homi Bhabhas ebenso im Kampf gegen politische Feinde wie um die ÖsterreicherInnen der Ersten Republik
„mit dem traumatischen Wissen zu verschonen, [...] keinen festen Boden
unter den Füßen [zu] haben“48.
Anmerkungen
1 Vaterlandskunde. Geschichte, Geographie und Bürgerkunde Österreichs für
die achte Klasse der Mittelschulen, verfaßt von Dr. Alois HINNER, Dr. Oskar
KENDE, Dr. Heinrich MONTZKA und Dr. Mathilde UHLIRZ, Wien 1938, S. 48.
2 Vgl. Werner SUPPANZ, Der „Österreichische Mensch“. Ein Topos des „Ständestaates“ und der frühen Zweiten Republik, in: multiple choice. Studien, Skizzen und Reflexionen zur Zeitgeschichte, hg. von Abteilung Zeitgeschichte,
Graz 1998, S. 183–209.
3 Vaterlandskunde, S. 51.
4 Richard DOLBERG, Bau- und Zerstörungskräfte des Gemeinschaftslebens, in:
Das Schulungsgut der Vaterländischen Front, o.O. o.J., S. 30 (Archiv der Republik, Bestand Vaterländische Front, Kart. 54).
5 Vaterlandskunde, S. 100.
6 Vaterlandskunde, S. 107.
7 Vaterlandskunde, S. 119.
8 Fritz HERNDL, Österreich. Seine Geschichte für Jugend und Volk, Innsbruck–
Wien–München 1934, S. 24.
9 Vaterlandskunde, S. 53.
10 Ebenda.
11 DOLBERG, Bau- und Zerstörungskräfte, S. 30.
12 Vgl. Werner SUPPANZ, Österreichische Geschichtsbilder. Historische Legitimationen in Ständestaat und Zweiter Republik, Köln–Weimar–Wien 1998
(Böhlaus Zeitgeschichtliche Studien 34), S. 114–124.
13 Vaterlandskunde, S. 92.
312
14 Hugo HANTSCH, Österreichische Staatsidee und die Reichsidee, in: Österreich, Volk und Staat, Wien 1936, S. 4.
15 Vaterlandskunde, S. 106.
16 „Wenn darum der österreichische Staat ausdrücklich im christlichen [Hervorhebung im Original, Anm. W.S.] Sinne erneuert werden soll, so ist dies nur
eine selbstverständliche Besinnung auf die ihm von der Geschichte zugewiesene Sendung.“ (Vaterlandskunde, S. 253).
17 Alfred v(on) BALDASS, Das Nibelungenlied, in: Helden der Ostmark. Gedruckt im Auftrag des Vaterländische-Front-Werkes „Österreichisches Jungvolk“, Wien 1937, S. 13.
18 HERNDL, Österreich, S. 23.
19 Ebenda, S. 40.
20 Zum Konzept der „imaginären Geographie“ vgl. das Kapitel „Imaginative
Geography and Its Representations: Orientalizing the Oriental“ in: Edward
SAID, Orientalism, New York 1978, S. 49–73. Siehe auch: Götz GROSSKLAUS,
Neue Medienrealität – jenseits der alten Dichotomie von „fremd“ und „eigen“?, in: Shichiji YOSHINORI (Hg.), Begegnung mit dem „Fremden“. Grenzen – Traditionen – Vergleiche. Akten des VIII. Internationalen GermanistenKongresses Tokyo 1990, Bd. 2, Sektion 1, Theorie der Alterität, München 1991,
S. 29–31.
21 Vaterlandskunde, S. 108.
22 Ignaz Philipp DENGEL, Prinz Eugen, der edle Ritter, in: Helden der Ostmark,
S. 74.
23 HERNDL, Österreich, S. 133, vgl. Vaterlandskunde, S. 122.
24 Vaterlandskunde, S. 154 f.
25 Ebenda, S. 162.
26 Oesterreich, sein Werden und seine Sendung (= Kursbehelf Nr. 5, Vaterländische Front, Landesleitung Wien), S. 10 (Archiv der Republik, Bestand Vaterländische Front, Kart. 14).
27 HERNDL, Österreich, S. 140.
28 Ebenda, S. 186.
29 Ebenda, S. 196.
30 Ebenda, S. 197.
31 Ebenda, S. 197 f.
32 Ebenda, S. 197.
33 Ebenda, S. 198.
34 Ebenda, S. 198 f.
35 Ebenda, S. 213.
36 HANTSCH, Österreichische Staatsidee, S. 43.
37 Ebenda, S. 44.
38 Oesterreich, sein Werden und seine Sendung (= Kursbehelf Nr. 5, Vaterländische Front, Landesleitung Wien), S. 13 f.
39 DR. BITTNER, Österreich, ein deutscher Staat, in: Schulungsblätter, hg. von der
Schulungsabteilung im Amt des Frontführers, Nr. 5 (Juli–August 1937), S. 17
(Archiv der Republik, Bestand Vaterländische Front, Kart. 55).
313
40 Vgl. Homi K. BHABHA, Das theoretische Engagement, in: Homi K. BHABHA,
Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000 (Stauffenburg Discussion 5), S. 58.
Bhabha kritisiert die harmonisierenden und essentialistischen Tendenzen der
Konzeption des Multikulturalismus primär als naive liberale Vorstellung.
41 Anton WILDGANS, Rede über Österreich (1929), in: Österreich, Volk und
Staat, S. 7.
42 Ebenda, S. 8.
43 Oesterreich, sein Werden und seine Sendung, S. 14.
44 DR. BITTNER, Österreich, ein deutscher Staat, S. 17.
45 Vgl. Johannes FEICHTINGER, Die Habsburgermonarchie: ein Ort der Inneren Kolonisierung? http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/index.asp?id=
157&pn=tagungsberichte (download 7.3.2003).
46 Elisabeth BRONFEN, Benjamin MARIUS , Hybride Kulturen. Einleitung zur
anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, in: Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, hg. v. Elisabeth
BRONFEN, Benjamin MARIUS, Therese STEFFEN, Tübingen 1997 (Stauffenburg Discussion 4), S. 14.
47 Brief Ignaz Seipels an W. Bauer (31. Juli 1928), zitiert nach Viktor REIMANN,
Zu groß für Österreich. Seipel und Bauer im Kampf um die Erste Republik,
Wien–Frankfurt a. M.–Zürich 1968, S. 192.
48 Homi K. BHABHA, Vorwort, in: BHABHA, Verortung der Kultur, S. XII f.
314
Die Poetik der Ruine*
^
Dzevad Karahasan
Wenn ich trübselig in den Ruinen hocke,
so tue ich es wegen der verborgenen Schätze. Die Liebe zu den Schätzen zieht mich
dorthin, denn Schätze findet man in Ruinen.
Fariduddin Attar
1
Mit einer Ruine kam ich zum ersten Mal in meiner frühen Kindheit in Berührung, als ich die Boæina dola entdeckte, einen der zentralen Orte jener
Jahre. Diese Ruine war für mich, vielleicht wegen der Boæina dola, so wichtig, daß ich praktisch in einer Ruine (oder an einer Ruine, auf jeden Fall aber
mit ihr, in ständiger, vertrauter und intensiver Berührung mit ihr) aufgewachsen bin vielmehr in der Boæina dola, einer langen, engen Schlucht, deren steile Abhänge von dichter, fast undurchdringlicher Macchia bewachsen
waren und durch die an den seltenen Regentagen ein träger Bach floß (rann).
Dort unten in der Schlucht gab es eine und am östlichen Abhang mehrere
von einer undurchsichtigen Wand aus Gestrüpp umgebene Lichtungen, und
nur ein Junge, der bereit war, Kratzer, Schrammen und ähnliche Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen, konnte zu dieser „Höhle“ vordringen,
einer für Unwillkommene nicht sichtbare und unzugängliche Stelle, wo ein
einsames Kind stundenlang ganz in seiner Welt verweilen konnte, Träumen
und allen möglichen Vorstellungen nachhängend, schweigend oder im Gespräch mit dem, was seine Vorstellungen bevölkerte.
Auf dem Grund der Schlucht, von der Macchia durch ein paar Meter verwilderten Garten getrennt, befand sich meine Ruine: das Haus der Familie
315
Ligaè, die vor meiner Geburt nach Australien ausgewandert war, ein Haus,
das zu kümmerlich war, als daß man es, trotz der Armut, die bei uns herrschte, jemandem hätte verkaufen oder auch nur schenken können. Erbaut aus
schlechtem Stein (bei uns „Schuppenkopf“ genannt), der das Wasser buchstäblich aufsaugt, dann aber an der Sonne Sprünge bekommt und mit der
Zeit zu Staub zerfällt, war ihm, einmal verlassen und sich selbst überlassen,
keine lange Lebensdauer beschieden. Als ich es entdeckte (in dem Augenblick, als wir uns begegneten), war das Haus der Familie Ligaè bereits eine
richtige Ruine geworden – innerhalb von nur fünf oder sechs Jahren.
Die Westwand war nur noch ein Berg aus zermahlenem Stein, Mörtel und
Staub. Beim ersten Gang zu meiner Ruine fand ich hier eine junge Heckenrose und ein paar Grashalme, die als Ankündigung, als Versprechen einer
künftigen Wiese hervorsprossen, der sich eines Tages mit viel Liebe und Neugier ein anderer Junge zuwenden würde, bereit, auf dieser Wiese stundenlang vor sich hin zu träumen. Die Ostwand stand noch, nicht ganz, aber fast
in voller Höhe, so daß man erraten konnte, wo früher die Fenster, wo die
Deckenbalken gewesen waren, die die Grenze zwischen Wohntrakt und Dachboden markierten, an dieser Wand ließ sich ablesen, wie hoch das Haus gewesen war und wie viele Wohnräume es gehabt hatte. Nord- und Südwand waren nach Osten hin solide erhalten und standen an der westlichen Seite
knapp bis zur halben Höhe, aber auch das reichte, um die Eingangstür und
das Fenster nach Süden zu erahnen, durch das tagsüber das Licht Gottes die
Küche erhellt hatte – den wichtigsten Raum in den Häusern armer Leute, wo
sich der wache Teil des Tages aller Familienmitglieder abspielte und wo die
Familie sich als Gemeinschaft jeden Tag aufs neue bestätigte.
Zweifellos war dieser Raum links von der Eingangstür in der südwestlichen Ecke des Hauses die Küche gewesen, denn hier lagen die Überreste
eines Blechherds herum (zum Zeitpunkt, als das Haus verlassen wurde, sicher so heruntergekommen, daß ihn keiner der Nachbarn mit zu sich herüber
nehmen wollte), und dieser Raum war der größte, er hatte die beste und
geschützteste Lage. Die verrotteten Blechteile, dünn und durchsichtig wie
Spinnweben, die von der früheren Existenz eines Herds zeugten, waren als
einziges von den Sachen übriggeblieben, die einmal die Küche und demnach
die Tage einer Familie gestaltet hatten, die jetzt irgendwo in Australien dabei
war, sich häuslich niederzulassen. Kein Tisch aus grob gezimmertem Holz,
keine ordentlich um den Tisch gestellten Stühle ohne Lehne, keine Bank
unter dem Südfenster, auf der man an kalten Tagen sitzen und über das
Kleefeld zum Bach und auf den Berg dahinter schauen konnte. Kein mit rot-
316
weiß-kariertem Stoff überzogenes Geschirregal, das sicher zwischen Herd und
Fenster an der Südwand gestanden hatte. Keine Trennwand zur Vorratskammer, die sich nördlich von der Küche befand (daran abzulesen, daß in diesem ehemaligen Raum nicht das winzigste Überbleibsel auf einen Fußboden
hindeutete, so daß es hier kälter gewesen sein muß als in den anderen Räumen und damit auch günstiger für die Aufbewahrung der wenigen Speisen,
die man lagern konnte), und auch kein mit einfachen Blumen besticktes Tuch,
das gerade an dieser Wand gehangen haben muß, mit Taschen für das Besteck. Welcher Küchenspruch zur Belehrung der Hausfrau war wohl daraufgestickt? „Die kluge Köchin wenig spricht, damit nicht anbrennt ihr Gericht“? Das glaube ich nicht, denn das Tuch hing gegenüber dem Herd und
konnte die mit dem Rücken zu ihm stehende Köchin gar nicht ermahnen.
Dann war es vermutlich eine Belehrung über die Reinlichkeit, weil in den
Taschen das Besteck verwahrt wurde: „Die Küche rein, das Essen fein. Anders
darf’s bei mir nicht sein“. Ich weiß nicht, sicher ist nur, daß da ein Tuch
gehangen hat, auf dem eine wichtige, mit einfachen kursiven Buchstaben
aufgestickte Belehrung stand.
Außer den Blechüberresten in der Ecke, den Scherben eines Dachziegels
und den Bruchstücken eines morschen Brettes im Staub ist von der Trennwand zwischen Küche und Vorratsraum oder vom Fußboden kaum noch etwas übrig. Doch für ein Kind und auch für einen Erwachsenen, der gern in
der Stille und Einsamkeit träumt und sich etwas vorstellt, ist es vollauf genug,
um das Leben einer Familie zu rekonstruieren. Man kann sich leicht den
Vater vorstellen, wie er auf der Bank an der Südwand sitzt, raucht und zum
Bach hinüberschaut, dann zum Berg, der sich über dem Bach erhebt, während er darauf wartet, daß das Essen auf den Tisch kommt. Man kann sich
leicht die Tochter vorstellen, wenn sie eine gehabt haben, wie sie eifrig und
stolz, ein Tuch in der Hand, zwischen Tisch und Trennwand hin- und herläuft, das Besteck auf den Tisch legt und der Mutter hilft. Aber am leichtesten kann man sich den Jungen vorstellen, der jenem, der das alles imaginiert, ähnlich ist (diese Ähnlichkeit läßt sich nicht vermeiden, weil das Imaginäre, damit man es wirklich erleben kann, konkret und von Liebe erfüllt
sein muß), einen Jungen, der sich bemüht, die Schuldgefühle abzuwehren,
weil er nicht mithilft, sondern untätig und unnütz herumsitzt, während Mutter
und Schwester arbeiten. Um sein Unbehagen vor sich selbst zu verbergen,
stellt er sich vor, er sei ein Erwachsener, und diese vorgestellte Person gleicht
auffallend seinem Vater, der gerade vom Feld nach Hause gekommen ist, auf
der Bank unter dem Fenster sitzt und sich eine Zigarette anzündet.
317
Man kann sich das alles sehr leicht vorstellen, und dem aufmerksamen
Blick und Geist eines Menschen, der das Leben in den Häusern armer Leute
kennt, enthüllt es sich von selbst. Von selbst offenbart sich ihm, daß der
Raum nördlich vom Eingang, mit der Tür, die direkt auf die Eingangstür
hinausging, das Schlafzimmer war, wo die Mutter jede Nacht das Bettzeug
für sich und den Vater holte und die Kinder im kalten Zimmer allein ließ,
mit der Dunkelheit, mit den Ängsten, die sie weckt, und mit der Schläfrigkeit, die so gut vor der Angst schützt, wenn nichts Vertrauteres da ist, um die
Kinder zu trösten.
All das enthüllt sich nur dem, der aufmerksam genug schaut und bereit
ist, sich der Ruine und dem, was sie sagt, nicht zu verschließen. Nur ein
bißchen Erfahrung, ein Minimum an Wissen über das Leben in solchen Häusern und das notwendige Maß an Sensibilität, die Bereitschaft, sein Wesen
und seine Erfahrung der Rede der Ruine, in der der Junge seine Tage verbringt, zu öffnen – mehr braucht es nicht, um auf der Grundlage der erhaltenen Details die Form des Lebens, das hier währte, zu rekonstruieren und
in der Imagination aufleben zu lassen. Sich der Ruine zu öffnen, sich in ihr
aufzuhalten, wach, geduldig, lange und häufig genug, hat vollauf gereicht,
um das Leben, das sich hier abspielte oder sich zumindest genauso hätte
abspielen können, wie es sich der Junge vorgestellt hat, vollständig wiedererstehen zu lassen, um die Menschen, die dieses Leben ertragen mußten, kennenzulernen, um sich ihnen wirklich zu nähern. Obwohl ich sie nie gesehen
habe, obwohl sie schon vor meiner Geburt längst in Australien oder in jener
anderen Welt gewesen waren, habe ich sie gekannt und mich mit ihnen verstanden, bin in der Ruine ihren Erinnerungen an die hier zugebrachten
Tage begegnet, habe im Gesicht oder an den Händen die Seufzer der Sehnsucht nach dem schönen Blick durch das Südfenster oder die Angst vor der
Dunkelheit im kalten Schlafzimmer gespürt. Ich habe die Seelen ihrer schon
lange verstorbenen und unweit von hier beerdigten Vorfahren kennengelernt, die bisweilen wie zu einem ihrer Ursprünge hierhergekommen sind,
und habe gelernt, sie voneinander zu unterscheiden.
Damals wußte ich noch nicht, was Kunst ist, und habe auch nicht ahnen
können, daß ich mein ganzes Leben mit dem verbringen würde, was ich
damals tat: aus der Rede der Ruine, aus der Rede der Erinnerung, die das
Geschehen ungenau bewahrt hat, aus Überresten, auf der Grundlage einiger
Details, die erhalten geblieben sind oder sich mir entdeckt haben, gegenwärtig, sichtbar lind wirklich, das mögliche (wahrscheinliche) Leben abwesender, ferner, unsichtbarer, womöglich schon verstorbener oder niemals gebo-
318
rener, doch liebgewonnener und mir wie mein eigener Atem vertrauter Menschen zu rekonstruieren. Ich habe damals auch nicht ahnen können, daß ich
auf dieselbe Weise, wie ich die Familie Ligaè kennen- und liebengelernt habe,
später den guten und müden Onkel Wanja und seine Nichte Sonja, den
schlauen alten Pisteter, das unschuldige und leidenschaftliche Gretchen kennenlernen und lieben würde. Ich habe nicht geahnt, daß die Poetik des Erzählens und die Poetik der Ruine geistige Zwillingsschwestern oder zumindest
nahe Verwandte sind, ich habe nicht gewußt, daß Ruinen dem Erzählen so
nah und so unentbehrlich sind. Ich war wohl zu jung, um eigene Erinnerungen zu haben, und konnte deshalb nicht begreifen, daß die Ruine eine Hüterin der Erinnerungen ist und gerade deshalb unentbehrlich fürs Erzählen.
Als ich selbst zu erzählen begann, war der Umgang mit der Familie Ligaè
eine ferne Reminiszenz, und an meine „Begegnungen“ mit den Seelen und
Erinnerungen ferner Menschen habe ich mich manchmal mit einem Unbehagen erinnert, wie es wahrscheinlich ein wahrheitsliebender und der Wirklichkeit zugetaner Mensch empfinden würde, wenn er zugeben müßte, daß
er in eine Kristallkugel geschaut hat. Geblieben sind mir nur die Fragen, die
dann auftauchten und mich die ganze Zeit begleiteten, während ich die kindlichen Beschäftigungen bei ihrer Wiederholung vergessen hatte: wieviel objektive Wahrheit und wieviel von meinen Träumereien ist in dem vorhanden,
was sich mir als das Leben offenbart, das ich aus den sichtbaren Überresten
rekonstruiere; wie weit lassen sich die Form eines Lebens, die Tage in einem
Haus wirklich aus einer Ruine rekonstruieren; wieviel von dem Haus muß
erhalten sein; welcher Teil der Rekonstruktion ist ein wirkliches Lesen der
erhaltenen Details, und inwieweit ist diese Rekonstruktion nur ein Hineinlesen des eigenen Ichs in diese Details?
All diese Fragen zu überprüfen hatte ich im Frühherbst meines Lebens
Gelegenheit, als ich ein Jahr lang durch Ruinen ging. Von April 1992 an hat
sich meine Stadt vor meinen Augen in Ruinen verwandelt, so daß ich in
Ruinen gearbeitet habe, durch sie gegangen bin, in ihnen Deckung vor Granaten gesucht habe. Zu manchen bin ich, getrieben von einer naiven Hoffnung, gegangen, um zu überprüfen, ob nicht doch etwas übriggeblieben ist,
manche habe ich fast rituell aufgesucht, um mich an schöne Tage zu erinnern.
319
2
Die erste Ruine, die ich während der Kriegsjahre in Sarajevo kennengelernt
habe, war das ehemalige Orientalische Institut, das schon in den ersten Tagen des Krieges von Granaten getroffen wurde und ausbrannte. Ich ging hin
in der naiven Hoffnung (aus einem überstarken Bedürfnis heraus, durch das
wohl die naive Hoffnung hervorgebracht wird), daß es nicht so sein möge, wie
man sagte und wie es aussah, daß nicht alles zerstört wäre, ich ging hin in der
törichten Überzeugung, daß ich zumindest einen Teil der Institutsschätze,
der von der Vernichtung verschont geblieben wäre, würde finden können.
Im Orientalischen Institut wurden Hunderttausende Dokumente von unschätzbarem historiographischem Wert aufbewahrt, Dokumente, ohne die
man buchstäblich keine Geschichte dieser Region schreiben kann, und darauf gründete sich wohl meine törichte „Hoffnung zum Trotz“: Auch diejenigen, die die Stadt zerstören, können ihre Vergangenheit einzig aus den hier
aufbewahrten Dokumenten erfahren, auch sie werden das zuverlässige Gedächtnis und die Möglichkeit verlieren, ihr Gedächtnis zu überprüfen, wenn
sie dies alles vernichten. Darin zeigt sich die stumpfe Hartnäckigkeit dieser
„Hoffnung zum Trotz“: ich weiß, daß sie Barbaren sind, und ich weiß, daß sie
gerade deshalb Barbaren sind, weil ihnen die paradoxe Operation gelungen
ist, die Geschichte zu mythologisieren. (Ein historisches Ereignis erklären
sie zum mythischen Anfang aller Geschichte, so daß in ihrer Vorstellung die
Zeit ihre historische Kontinuität verliert; dem Menschen wird somit gestattet, seine Geschichte nach Lust und Laune zu ordnen und die Vergangenheit
willkürlich zu deuten. Das Erfinden von Pseudomythen ist die notwendige
Ergänzung dieser Operation.) Dennoch erwarte ich, daß ihnen die wertvollen
Dokumente wichtig sind, unverzichtbar für die historische Forschung – eine
Erwartung, die nur durch diese Hoffnung geweckt werden kann und trotz
objektiver Argumente und eigener Überzeugungen und, wenn es sein muß,
auch trotz der offensichtlichen Wahrheit hartnäckig existiert. Ich weiß, daß
diejenigen, die das Orientalische Institut niedergebrannt haben, kein dokumentiertes Gedächtnis brauchen, weil sie ihr „Gedächtnis“ im Pseudomythos
und in epischen Liedern haben; ich weiß, daß ihnen historische Dokumente
nur hinderlich sein können, denn Dokumente lassen keine Mythologisierung
der Geschichte zu, ihre Ideologie aber ist auf mythologisierte Geschichte angewiesen; all das weiß ich, doch meine „Hoffnung zum Trotz“ treibt mich zur
Überprüfung, erfüllt mich mit dem Gefühl, daß auch ihnen die Sammlung
wertvoller Dokumente zu teuer ist, um sie unwiederbringlich zu vernichten.
320
(Oder gründete sich meine törichte „Hoffnung zum Trotz“ auf das Vertrauen in die Gnade Gottes? Als Er sich den Menschen offenbarte, hat Gott
die Geschichte eingeleitet und die Zeit „in Bewegung gesetzt“, die Erinnerung ermöglicht und uns zum Gedächtnis verpflichtet. Deshalb wird Er es
nicht zulassen, daß eine Sammlung, in der das Gedächtnis dieser ganzen
Region aufbewahrt ist, untergeht.)
Diese „Hoffnung zum Trotz“ trieb mich zum Orientalischen Institut, ein
paar Tage nachdem es von Granaten in Brand gesetzt worden war. Sie hatten
so präzis ins Ziel eingeschlagen, daß kein Zweifel daran bestehen konnte, daß
die Koordinaten lange vor Beginn der Angriffe auf die Stadt festgelegt worden waren. Ich bin in der Hoffnung hingegangen, daß nicht alles, daß unmöglich alles ...
Und es war auch tatsächlich nicht alles – geblieben war eine Ruine, die ich
lesen konnte, so wie ich seinerzeit die aus dem Haus der Familie Ligaè entstandene Ruine hatte lesen können. Man konnte das Verweilen in diesen Räumen rekonstruieren, aus der Aufteilung und Größe der Räumlichkeiten konnte
man auf die Hierarchie schließen, die unter den Anwesenden geherrscht hatte, man konnte an den Formen, der Anordnung und den Verhältnissen der
nunmehr schwarzen Wandflächen erkennen, wo die Bücherregale, wo die
Dokumentenschränke und wo die nackten Wände gewesen waren. Man konnte natürlich auch das Ursprüngliche, jeder Arbeit und jedem Aufenthalt
Vorausgehende erkennen – aus welchen Materialien das Gebäude erbaut worden war, die quantitativen Verhältnisse dieser Materialien in der Zusammensetzung des Gebäudes, die durch sie geschaffenen Funktionen und Formen.
Man konnte auch erkennen, daß hier nicht gewohnt, sondern gearbeitet und
archiviert wurde, daß nicht produziert, sondern, pathetisch gesprochen,
Leben aufbewahrt wurde, das sich in konkreter Form an irgendwelchen anderen Orten abgespielt hatte. Und man konnte leider auch erkennen, daß
sich nichts von dem, was aufbewahrt worden war, erhalten hatte und daß wir
demnach das Leben, dessen Spuren hier gehütet worden sind, nicht mehr
rekonstruieren, sondern uns nur noch vorstellen können mit soviel Willkür,
wie wir uns selbst gestatten.
Später, während der Kriegsjahre in Sarajevo, habe ich viele Ruinen dieses
Typs kennengelernt, weil Bauten, die einen symbolischen Wert hätten haben
können, systematisch zerstört wurden. Das Gebäude des Roten Kreuzes, das
Hotel Europa, die Magribija-Moschee, das Olympische Museum ... Ich denke, daß ich während dieser Jahre die grundlegenden gattungsmäßigen Unterschiede zwischen diesem Typ von Ruine und jenem Typ, den ich als Kind
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kennengelernt und erforscht hatte, verstanden habe. Ich glaube, daß die vollständige imaginäre Rekonstruktion einer Ruine nur möglich ist, wenn sich
in ihr ein konkretes, vollständiges, alltägliches Leben abgespielt hat, während die aus großen repräsentativen Gebäuden entstandenen Ruinen wie ein
ganz anderer Texttyp funktionieren, weil sie einen ganz anderen Typ von
Daten, Wissen, Fragen liefern. Beim Lesen der Hausruine der Familie Ligaè
stellen wir uns ihre Bewohner, ihr Mittagessen oder ihre Launen und Stimmungen während des Tages vor; aber wenn wir die aus dem Orientalischen
Institut entstandene Ruine lesen, erschließen sich uns spezifische Eigenarten der Bautechnik in der österreichisch-ungarischen Monarchie, der Raumaufteilung in den Institutionen des Zweiten Jugoslawien, Einzelheiten über
die Hierarchie innerhalb dieses konkreten Instituts, über die Vorlieben einzelner Angestellter bei der Einrichtung des Büroraums. Es erschließen sich
uns objektive Informationen über objektive Phänomene, wir begreifen „gesellschaftliche“, nicht individuelle „menschliche“ Fakten.
Wir spüren den Stolz der Tochter der Ligaès, während sie ihrer Mutter
bei der Vorbereitung des Mittagessens hilft, obwohl wir weder sie noch ihre
Mutter jemals gesehen haben, wir spüren ihn sogar, wenn es die Tochter
überhaupt nicht gegeben hat, wir spüren ihn, weil man ihn einfach spüren
muß, wenn man in der ehemaligen Küche steht, zwischen der Stelle, an der
früher der Tisch stand, und der Wand, an der das Tuch mit den Taschen
hing. Und wir spüren nicht, wir können schlicht nicht spüren, wie die Hand
einer ehemaligen Institutsangestellten zittert, selbst wenn wir diese Angestellte gekannt haben, selbst wenn wir Zeuge waren, daß ihre Hand zitterte,
als sie eine Mappe aus dem Schrank nehmen wollte, und selbst wenn wir an
jener selben Stelle stehen, in ihrem ehemaligen Büro neben der schwarzen
Aureole, die dieser ehemalige Schrank an die Wand gezeichnet hat. Alles ist
da: das Zimmer und die Wand, die Spuren des Schranks an der Wand und
das Bild unserer Freundin, unsere lebendige Erinnerung an die Worte, die
sie an eben diesem Ort, in eben diesem Moment, als ihre Hand zitterte, vor
eben diesem Schrank, den uns die schwarze Aureole ins Gedächtnis ruft,
ausgesprochen hat. Vergebens – das Gefühl dieses Augenblicks wird nicht
wiederbelebt, unser Geist registriert nicht das Zittern der Hand, die wir
gesehen haben und deren Bild wir in der Erinnerung wiederbeleben können. Und das hat, glaube ich, nichts mit uns zu tun, das hat mit dem zu tun,
was die Ruine redet und sagen kann.
Die Ruine eines Hauses ist voller Spuren, die etwas über die Menschen
verraten, die in ihm gelebt haben. Aus unserem Haus können wir nicht völlig
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verschwinden. Unser Zimmer verrät auch das über uns, was wir nicht einmal
selbst über uns wissen, die Formen und ihre Anordnung in unserem Heim
sind ein präzises Bild unserer Alltagsrituale, und diese Rituale wiederum
sind ein Bild unserer Tage, eine Gestalt der Zeit, die wir uns gönnen konnten. Wenn unsere Seelen nach unserem irdischen Tod das Diesseits aufsuchen, dann suchen sie sicherlich die Ruinen unserer Häuser auf. Deshalb ist
eine Hausruine das künstlerische „Ruinengenre“ schlechthin, ein Genre, das
uns ein ehemaliges Leben verstehen läßt und uns die Bewohner so nahe bringt,
als hätten wir sie schon immer gekannt, ja als wären wir selbst einer dieser
Bewohner gewesen. Beim Lesen einer Hausruine befreien wir uns einen Augenblick lang von der uns auferlegten Existenz und erlangen ein Wissen, das
wir haben könnten, wenn wir ein anderer wären – wenn wir nämlich ein
Bewohner dieser Ruine gewesen wären, solange diese jemandes Haus gewesen
ist.
Im Gegensatz dazu enthüllt die Ruine eines repräsentativen oder eines
öffentlichen Gebäudes die kulturellen Strukturen der Gesellschaft, in der es
entstanden ist, und der Gesellschaft, die es genutzt hat. Sie enthüllt dem
Betrachter die Architektur und das Bauwesen einer Epoche, sagt ihm, wie
diese Epoche sich ein repräsentatives Gebäude vorgestellt hat (wenn man die
Ruine z. B. des Orientalischen Institutes liest, begreift man, daß ÖsterreichUngarn seine Präsenz in Sarajevo und die Stadt selbst sehr ernst genommen
hat, weil das Gebäude entsprechenden Gebäuden in österreichischen Städten
auffallend ähnlich ist), enthüllt ihm die Vorstellung von Büroarbeit, wie sie
in der Gesellschaft, die das Gebäude im Moment seiner Umwandlung in eine
Ruine genutzt hat, üblich war, spricht über die innere Organisation öffentlicher Einrichtungen. Wer eine Hausruine liest, kann ihre Bewohner erahnen
(wenn er fähig ist, etwas zu erahnen), wer aber die Ruine eines öffentlichen
Gebäudes liest, wird die gesellschaftlichen Strukturen erahnen, also die Formen einer Kultur, nicht aber auch die Formen konkreter Wesen und ihres
Alltags, die diese Kultur geprägt hat. Alle Unterschiede zwischen diesen zwei
„Ruinengenres“, von den Methoden des Lesens und Verstehens bis zu den
Resultaten der Interpretation, sind die Folge dieser grundsätzlichen Differenz – der Differenz zwischen den allgemeinen kulturellen Strukturen und
den Tatsachen des realen, einzelnen, ganz konkreten Lebens, das wir mit uns
selbst und mit unseren Lieben verbringen.
Die Fähigkeit einer Ruine, uns das Vergangene vor Augen zu führen, hat
mich während des Krieges vor völliger Verzweiflung bewahrt. Sarajevo verwandelte sich zwar in eine Ruinenlandschaft, aber diese Landschaft ermög-
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lichte es, ähnlich wie ein altertümlicher Garten, die Formen des Lebens, das
sich an diesem Ort abgespielt hatte, zu überblicken und zu begreifen. Solange Menschen in einer Ruine leben oder sich von ihr angezogen fühlen, solange eine Ruine von den Menschen aufgesucht und gedeutet wird, funktioniert
sie als Abbild des Lebens, als Speicher der Erinnerung. Es gibt aber auch
Ruinen, die keinem Garten ähneln, weil sie kein Leben speichern und weitergeben, keine Erinnerungen bewahren und keine Vergangenheit evozieren.
Sie sind zeitlos, sie sind ein besonderes Genre.
3
Dieses dritte „Ruinengenre“ habe ich ebenfalls in Sarajevo kennengelernt,
und wenn ich es mir recht überlege, fertige ich diese Aufzeichnungen
seinetwegen an. Das Wort „Ruine“ ist hier selbst unter Vorbehalten strenggenommen nicht angebracht, denn das, was vom UNIS-Hochhaus in Marindvor,
vom Parlamentsgebäude, von einer Reihe sehr moderner Geschäftshäuser,
eigentlich von allen abgebrannten modernen Glas- und Stahlbauten übrigblieb, ist schlicht keine Ruine in dem Sinne, wie das Haus der Ligaès und das
Gebäude des Orientalischen Instituts Ruinen sind. (Eine wegen meiner absoluten Unkenntnis der Bautechnik unumgängliche Anmerkung: die Materialien, aus denen man diese Bauten errichtet, sind womöglich gar nicht Glas
und Stahl, sondern sehen nur für mich, den Unwissenden, so aus. Das sind
jene Gebäude, die glänzen, als wären sie aus Spiegeln, jene Gebäude, die wie
jeder Spiegel gegenüber der Welt um sie herum gleichgültig sind, so daß sie
immer gleich aussehen, sich den gleichen Anschein geben und gleichermaßen
gleichgültig eine mediterrane, tropische und nördliche Landschaft widerspiegeln. Wohl wegen ihrer Gleichgültigkeit gegenüber der Umgebung und
dem Klima, in dem sie errichtet worden sind, hat man bei ihrem Anblick das
Gefühl, daß sie hinter den blitzenden Flächen leer sind, wie jeder andere
Spiegel auch – daß sich hinter dem Glanz eine virtuelle Wirklichkeit befindet, an die vielleicht nur derjenige glaubt, der sich im Spiegel reflektiert und
nur in dem Moment, in dem er sich reflektiert.)
Eine Ruine ist der Überrest ehemaligen Lebens, eine Ansammlung von
Spuren und Zeugnissen, auf deren Grundlage sich das Denken und die Arbeit, das Weltempfinden und die Existenzweise der Menschen, die diese Ruine
bewohnt haben, bevor sie zu einer geworden ist, rekonstruieren und verstehen, vorstellen oder wenigstens erahnen läßt. Wenn das eine Ruine ist – und
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die „traditionelle Ruine“ ließe sich genau so definieren –, dann werden die
modernen Bauten aus Glas und Stahl sicherlich keine Ruinen sein, wenn sie
einmal zerstört werden. Ich weiß nicht, als was man die Überreste dieser
Gebäude bezeichnen sollte, ich weiß nicht, in welches Genre man sie einordnen müßte, wenn wir sie dennoch als Ruinen bezeichnen wollen, aber ich
weiß, daß das, was übrigbleiben wird, seinen entscheidenden Eigenschaften
nach etwas ganz anderes als eine traditionelle Ruine ist.
Vom ehemaligen Parlamentsgebäude, das ich gut gekannt habe, weil ich
dort oft zum Wasserholen hingegangen bin, ist eine grotesk deformierte Stahlkonstruktion und viel schwarze Masse übrig geblieben, die nicht Teer, nicht
Ruß, nicht ... ist. Sie ist mit nichts zu vergleichen, was mir aus der Wirklichkeit, die ich kenne, bekannt wäre. Die Außen- und Trennwände, die Bodenbeläge und die Möbel, all das ist wahrscheinlich geschmolzen und in eine
schwarze Materie verwandelt worden, die sich weder benennen noch beschreiben läßt, oder es ist in einen genauso undefinierbaren schwarzen Staub zerfallen. Die phantastisch verbogene Stahlkonstruktion und die erwähnte Menge schwarzer Materie, über die ich gern sagen würde, daß sie die Gegenwart,
daß sie das sichtbare Antlitz des Nichts sei, sind dennoch keine Ruine, aus
der sich etwas ablesen, rekonstruieren, erahnen ließe, aus der sich eine vergangene Zeit und andere Menschen, die die Ruine im Gedächtnis behalten
hätte und uns jetzt enthüllte, spüren und verstehen ließe. Das ist keine Ruine, das ist der Tod im Erleben des modernen Menschen: Tod nicht als Übergang in eine andere Existenzform, sondern als Abgang in das pure Nichts.
Oder wenn es doch eine Ruine wäre, weil es sich hier um Überreste eines
ehemaligen Gebäudes handelt, dann eine Ruine neuen Typs, der sich von
den bisher bekannten nicht graduell, sondern qualitativ unterscheidet. Der
erste und offensichtlichste Unterschied besteht in seinem Verhältnis zur Zeit:
Die neue Ruine ist wie der Spiegel absolute Gegenwart, sie erinnert an nichts
und niemanden und tut sich nicht kund, bei ihrem Anblick kann man nicht
glauben, daß es eine Vergangenheit gab und eine Zukunft geben könnte. Sie
bewahrt keine Erinnerung an die Menschen, die sich in ihr aufgehalten haben, solange sie noch ein Gebäude und keine Ruine war, sie bewahrt nichts
von den kulturellen Strukturen, die sie bestimmt haben, sie teilt auch nichts
über die Materialien mit, aus denen sie erbaut ist. (Oder doch, nur daß ich
über diese Materialien nichts weiß und nicht in der Lage bin, ihr neues Gesicht zu lesen – jene schwarze Materie, die mich so erschreckt hat?) Die einzige Information, die wir einer solchen Ruine über das Gebäude, das früher an
ihrer Stelle gestanden hat, entnehmen können, ist die, daß wahrscheinlich
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auch dieses Gebäude „zeitlos“ gewesen ist: solange es steht und funktioniert,
sieht es wie neu aus, aber in dem Moment, wo es nicht mehr neu ist, wird es
zu einem gewesenen. Aber vielleicht stimmt auch das nicht. (Mal ernsthaft,
können diese Gebäude, die wie Spiegel aussehen, alt sein? Haben sie ein Gedächtnis? Wie sehen sie aus, wenn sie fünfzig Jahre alt sind? Unterscheiden
sie sich, und wie unterscheiden sie sich von denen, die hundert Jahre alt
sind?)
Wie könnte man diesen Ruinentyp in einer Übersicht der „Ruinengenres“, die ich mich hier zu skizzieren bemühe, klassifizieren? Wie ist eine
Ruine dieses Typs zu lesen, wie zu verstehen und wie zu interpretieren?
Welche Informationen liefert sie über sich selbst, über das Gebäude, aus dem
sie entstanden ist, über die Menschen, die sie erbaut, und die Menschen, die
sie genutzt haben, solange sie ein Gebäude war? Welche Sinngehalte und
Bedeutungen, welches Weltempfinden und welcher Denkstil lassen sich aus
den Informationen, die eine solche Ruine liefert, erahnen? Welcher Art von
Text ist eine solche Ruine zuzuordnen? Ist das überhaupt ein Text, und wenn
ja, wie ist er zu lesen, zu verstehen, zu analysieren? Ist das einer von jenen
Texten, die, wie die dadaistischen, nicht „bedeuten“, sondern „sein“ wollen
(als wäre das eine ohne das andere möglich), so daß er nicht über sich hinaus
weisen kann? Ein Text, der mit sich selbst absolut identisch ist, dessen Körper und Schatten, Bedeutung und Sinn, Ziel und Anlaß, Quelle und Mündung – eins sind? Wie ist dieser Texttyp zu verstehen und wie zu definieren,
wie ist er überhaupt zu beschreiben? Als Ultrakonkretismus? Die Überreste
des Parlaments als ultrakonkrete Ruine, die „nicht bedeutet, sondern ist“,
die absolut mit sich selbst übereinstimmt und mit sich selbst beweist, daß sie
eine mögliche Handvoll schwarzen Staubs unter einer grotesk verbogenen
Konstruktion ist, die früher, wenn Sie sich erinnern, das ganze Gebäude
getragen hat.
Eine solche Ruine ist gewiß kein Zeichen und auch keine Zeichenstruktur. Augustinus hat in De doctrina christiana das Zeichen als Ding definiert,
das den Wahrnehmungen Form verleiht und in das Denken etwas anderes
hineinbringt, indem es dieses andere aus sich selbst erzeugt. Diese Definition
des Zeichens sagt mir am meisten zu, weil sie auch der Natur des Zeichens
und nicht nur seinen Funktionen Rechnung trägt. Eine solche Ruine ist ganz
gewiß kein Zeichen und kann erst recht keine Zeichenstruktur sein: Sie verleiht nichts eine Form, sie hat auch selbst keine Form, sie ist Abwesenheit der
Form, sie ist der Zerfall selbst, der uns auf die Frage bringt, ob hier Form
überhaupt möglich ist, ob es sie je gab. Noch weniger bringt diese Ruine,
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dieses bißchen schwarze, formlose Materie etwas anderes in den Geist des
Menschen (wenn ich nicht irre, hat Augustinus dieses „andere“ nach dem
Vorbild der Stoiker lecton genannt), einen Sinn, das mentale Bild eines Gegenstands, einer Erscheinung, eines Zustands, weil sie einfach nicht dazu
fähig ist, auch nur irgend etwas in den Geist hineinzutragen. Und noch
weniger ist sie fähig, aus sich selbst heraus ein mentales Bild, einen Gedanken oder irgend etwas, das Form in der Zeit und/oder im Raum voraussetzt,
zu erzeugen. Sie verweist auf nichts außerhalb von sich, und auch selbst liefert sie weder noch besitzt sie irgendeine Form, irgendeine Bedeutung, irgendeinen Sinn. Das einzige, was sie aussagt, ist, daß hier, wo wir jetzt ein
wenig schwarze Materie sehen, wahrscheinlich früher einmal etwas gewesen
war. Wenn sich der Mensch, der das betrachtet, erinnert, und wenn er sich
erinnert, daß dort das Parlamentsgebäude gestanden hat, dann sagt sie noch
etwas mehr aus – nämlich daß dort einmal ein schönes und stolzes Gebäude
stand. Aber das sagt sie nur ihm, dem, der sich erinnert.
Deshalb gibt es wohl kein Kind, das morgen unsere Seelen, Erinnerungen, Leben, Werke und Tage aus den Ruinen, die wir hinterlassen, erahnen
und rekonstruieren könnte – ich glaube es nicht wegen der Kinder von morgen, sondern unseretwegen, der Ruinen wegen, die wir hinterlassen. Wir
sind Baumeister, die keine erinnerungsfähigen Ruinen hinterlassen, wir sind
Menschen, an die die Welt, in der wir uns aufgehalten haben, sich nicht
erinnern kann. Was wir erbauen, wird niemals zu einer Ruine werden, aus
der man unsere Person erahnen und im Imaginären wiedererstehen lassen
könnte. Die Gebäude, die wir errichten, können, wenn sie zu funktionieren
aufhören, einzig das reale, materialisierte Bild des Nichts werden. Unsere
Seelen werden nicht wissen, wohin sie zurückkehren können, denn was wir
hinterlassen, sind keine Ruinen, keine Orte, sondern das Nichts. Und dieses
Nichts ist natürlich ahistorisch, wie es auch die Barbaren sind, die anstelle
einer beschichte einen Pseudomythos haben und anstelle des Mythos eine
(mythisierte) Pseudogeschichte.
An dem, was wir anstelle von Ruinen hinterlassen, kann man weder kulturelle Strukturen noch den ehemaligen Menschen und seinen Alltag erahnen.
Nach dem „Ruinengenre“ zu urteilen, das wir zu produzieren fähig sind,
werden wir nur ein leeres Fundament hinterlassen, auf dem man konstruieren, willkürlich erfinden, schwätzen kann, was einem beliebt, also ein Fundament, das einzig zur Produktion von Pseudomythen geeignet ist. Die Ruinenlandschaft, die wir hinterlassen, wird kein Kind, wird kein Mensch als Garten deuten können, denn Gärten gibt es nur dort, wo die Kultur, wo die
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wahren Mythen und die kritische Geschichte sich gegenseitig in trage stellen
und ergänzen. Doch wo Pseudomythen und mythologisierte Geschichte das
Bewußtsein bestimmen, sind keine Gärten möglich. Daher meine Angst, daß
die Zeit der Barbaren kommt, daß die Barbaren doch noch kommen, daß sie
schon unter uns sind. In uns?
Anmerkung
^
* Dzevad KARAHASAN, Die Poetik der Ruine, in: Das Buch der Gärten. Grenzgänge zwischen Islam und Christentum. Aus dem Bosnischen von Katharina
Wolf-Grießhaber, Frankfurt: Insel 2002, S.
. Der Dank gilt dem INSELVerlag für die freundliche Abdruckgenehmigung.
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Die AutorInnen
BHATTI, Anil, Jg. 1944, ist Professor am Centre of German Studies, Jawaharlal Nehru University, New Delhi. Studium der Germanistik, Politikwissenschaft und Philosophie an der Ludwig Maximilians-Universität, München
und Promotion 1971. Forschungsstipendiat der Alexander von HumboldtStiftung (1975/1976 und 1982 in Bielefeld, München und Göttingen). Gastwissenschaftler und Gastprofessor an den Universitäten Göttingen, Kassel,
Graz und Wien, Präsident der Goethe Society of India. Korrespondierendes
Kuratoriumsmitglied Europäisches Forum Alpbach. Jakob- und Wilhelm
Grimm-Preis des DAAD 2001. Neuere Publikationen: Mehrere Aufsätze auf
den Gebieten der Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft, Multikulturalismus, Postkolonialismus aus komparatistischer Sicht. Aufsätze aus jüngster
Zeit: Ethik und Globalisierung. Eine Anmerkung zum Unbehagen, in: Karl
ACHAM (Hg.), Moral und Kunst im Zeitalter der Globalisierung, Wien 2002.
Nationales und Internationales. Eine literaturwissenschaftliche Anmerkung
aus Indien. Rede anlässlich der Verleihung des Jacob- und Wilhelm-GrimmPreises. Bonn 2001. (m. H. TURK), Kulturelle Identität. Deutsch-indische
Kulturkontakte in Literatur, Religion und Politik, Berlin 1997. (m. J. H.
VOIGT), Jewish Exile in India, New Delhi 1999; email: Anil Bhatti <anilbhatti@
hotmail.com>
CSÁKY, Moritz, Jg. 1936, ist Professor für österreichische Geschichte an der
Universität Graz. Leiter der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).
Gründer und Präsident (1992/3–1995) des IKF Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Wien. Wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und korrespondierendes Mitglied der
Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Neuere Publikationen: Ideolo-
329
gie der Operette und Wiener Moderne. Ein kulturhistorischer Essay zur
österreichischen Identität. Wien u. a. ²1998 (Übersetzungen ins Ungarische,
Russische, Italienische und Slowenische). (Hg.), Hermann Bahr, Tagebücher
– Skizzenbücher – Notizhefte. I: 1885–1890, II: 1890–1900, III: 1901–1903, IV:
1904–1905, V: 1906–1908, Wien u. a. 1994–2003. (mit P. STACHEL), Speicher
des Gedächtnisses. Bibliotheken, Museen, Archive. 2. Bde, Wien 2000–2001.
Die Verortung von Gedächtnis, Wien 2001. Mehrdeutigkeit. Die Ambivalenz
von Gedächtnis und Erinnerung, Wien 2002. (m. J. LE RIDER, M. SOMMER), Transnationale Gedächtnisorte in Zentraleuropa, Innsbruck u. a. 2002
(Gedächtnis – Erinnerung – Identität 1). (m. K. ZEYRINGER) I: Ambivalenzen des kulturellen Erbes, III. Pluralitäten, Religionen und kulturelle Codes, IV: Inszenierungen des kollektiven Gedächtnisses, Innsbruck u. a. (Paradigma Zentraleuropa, 2000–2002) und zahlreiche Aufsätze zur zentraleuropäischen Geschichte, neueren Kulturgeschichte, zur Moderne, Postmoderne
und zu den Kulturwissenschaften; email: Moritz Csáky <moritz.csaky@oeaw.
ac.at>
FEICHTINGER, Johannes, Jg. 1967, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter
des SFB „Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900“ an der Universität
Graz (Institut für Geschichte). Studium der Geschichte, der Deutschen Philologie sowie der Medienkunde (Graz). Mitarbeiter an der Wiener Ausgabe
der Wittgenstein-Manuskripte (Cambridge, England). FWF-Projekte: Die Steiermark unter britischer Besatzung 1945–1955, Austrian Refugee Scholars. Gastprofessor an der University of Arkansas at Little Rock (UALR). Förderpreise: Josef
Buttinger Preis (1993), Theodor-Körner-Preis (2000), Karl von VogelsangPreis (2002). Lehrbeauftragter an der Universität Graz. Neuere Publikationen: Wissenschaft zwischen den Kulturen. Österreichische Hochschullehrer
in der Emigration 1933–1945, Frankfurt a. M.–New York 2001. (mit P. STACHEL), Das Gewebe der Kultur. Kulturwissenschaftliche Analysen zur Geschichte und Identität Österreichs in der Moderne, Innsbruck u. a. 2001,
zahlreiche Aufsätze zur Zeitgeschichte, zur neueren österreichischen Geschichte, zur neueren Kulturgeschichte und zur Geschichte der Migrationen; email:
Johannes Feichtinger <johannes.feichtinger@uni-graz.at>
GYÁNI, Gábor, Jg. 1950, Dr., ist Sozial- und Stadthistoriker (Urban History). Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Ungarischen Akademie der Wissenschaften und am Institut für Soziologie der Eötvös Loránd Univerisät (ELTE) Budapest. Studium und Studienabschluss an
330
der Universität Debrecen (1974). Neuere Publikationen: (Co-authored with
G. KÖVÉR), Magyarország társadalomtörténete a reformkortól a második
világháborúig (Social history of Hungary from the Reform Age till the WWII),
Budapest 1998. Emlékezés, emlékezet és a történelem elbeszélése (Remembering, memory and the telling of history), Budapest 2000. Történészdiskurzusok (Historian’s discourses), Budapest 2002. Parlor and Kitchen. Housing
and Domestic Culture in Budapest, 1870–1940, Budapest 2002; email: Gábor
Gyáni <gya8632@ella.hu>
^
KARAHASAN, Dzevad, Jg. 1953, Dr., ist Schriftsteller, Kritiker, Essayist.
Professor für Literaturtheorie an der Philosophischen Fakultät der Universität Sarajevo. Professor für Dramaturgie und Dramengeschichte an der Akademie für szenische Künste der Universität Sarajevo (1986–1993). Studium
der Literaturwissenschaft und der Theaterwissenschaft an der Universität
Sarajevo. Dekan der Akademie der szenischen Künste Sarajevo (1992–1993).
Hauptredakteur der Zeitschrift für Theorie und Kritik der Kunst „Izraz“ in
Sarajevo (1989–1992). 1995 DAAD-Stipendium in Berlin. Gastprofessuren an
den Universitäten Salzburg, Mannheim und Göttingen. Dramaturg am Nationaltheater Sarajevo (1996–1999). 1997–2003 Stadtschreiber in Graz. 1995 Europäischer Essay-Preis in Paris, Bruno-Kreisky-Preis in Wien und HerderPreis für das Jahr 1999. Neuere Veröffentlichungen: Der östliche Diwan,
Berlin 1992. Tagebuch der Aussiedlung, Klagenfurt 1993. Schahrijars Ring.
Roman einer Liebe, Berlin 1997. Die Fragen an den Kalender. Artikel, Essays. Reden, Wien 1999. Sara und Serafina, Berlin 2000. Das Buch der Gärten. Grenzgänge zwischen Islam und Christentum, Frankfurt 2002.
KOVÁCS, Éva, Jg. 1964, Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Mitteleuropäische Studien, Budapest. Studium der Soziologie und
Ökonomie. Gastprofessorin an der Eötvös Loránt Universität (ELTE) Budapest und an der Janus Pannonius Universität Pécs. Mitarbeiterin der Zeitschrift „Regio“. Forschungsschwerpunkt: Ethnisches Zusammenleben, kulturelle Vielfalt, sozio-kulturelle Prozesse in Mitteleuropa (19.–21. Jhdt.). Neuere Publikationen: (m. G. BAUMGARTNER und A. VÁRI), Entfernte Nachbarn – Jánossomorja und Andau 1990–2000, Budapest 2002. (m. J. VAJDA),
Mutatkozás – Zsidó Identitás Történetek (Presence – Jewish Identity Stories),
in: Múlt és Jövõ, Budapest 2002. (m. J. VAJDA), Interchanged identities –
the role of a Jewish school in a mixed marriage, in: The History of the Family
7 (2002), S. 239–257; email: Éva Kovács <kova@compuserve.com>
331
LUFT, Robert, Jg. 1956, Dr., ist Geschäftsführer des Collegium Carolinum.
Studium der Geschichte, osteuropäischen Geschichte, Mathematik und Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Mainz und Wien, seit 1997 Organisation
der Münchner Bohemisten-Treffen. Mitglied der Gemeinsamen deutsch-tschechischen Schulbuchkommission, lehrt an den Universitäten Regensburg und
Passau. Neuere Publikationen: Tschechische Parteien, Vereine und Verbände
vor 1914. Besonderheiten und Defizite der politischen Kultur einer modernen
Nation in einem Vielvölkerstaat, in: Joseph MARKO, Alfred ABLEITINGER,
Alexander BRÖSTL und Pavel HOLLÄNDER (Hg.), Revolution und Recht.
Systemtransformation und Verfassungsentwicklung in der Tschechischen und
Slowakischen Republik, Frankfurt a. M. u. a. 2000, S. 311–350. Die Grenzen
des Regionalismus: das Beispiel Mähren im 19. und 20. Jahrhundert, in: Philipp THER und Holm SUNDHAUSSEN (Hg.), Regionale Bewegungen und
Regionalismen in europäischen Zwischenräumen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Marburg/Lahn 2003, S. 63–85; email: Robert Luft <robert.luft@
extern.lrz-muenchen.de>
MANER, Hans-Christian, Jg. 1963, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter
an der Abteilung für osteuropäische Geschichte der Universität Mainz im
Rahmen des Projekts der VW-Stiftung „Grenzräume und ihre Funktionen
an den Rändern Europas: Galizien und die Bukowina im Kalkül der Donaumonarchie im 19. Jahrhundert“. Studium der Osteuropäischen Geschichte,
Mittleren und Neueren Geschichte, Religionswissenschaften/Ev. Theologie,
Politikwissenschaften. Jüngste Veröffentlichungen: (m. M. SCHULZE WESSEL), Religion im Nationalstaat in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen
(1918–1939). Polen-Tschechoslowakei-Ungarn-Rumänien, Stuttgart 2002. Mitherausgabe und Redaktion der „Jahrbücher für Geschichte und Kultur Südosteuropas“, Bd. 1 (1999) ff.; außerdem mehrere Beiträge vorrangig zum 19.
und 20. Jahrhundert in Ostmittel- und Südosteuropa (z. B. orthodoxe Kirchen in Südosteuropa im 20. Jahrhundert, 1848, Zweiter Weltkrieg); email:
Hans-Christian Maner <maner@uni-mainz.de>
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am Historischen Institut der Slowakischen Akademie der Wissenschaften in
Bratislava. Studium auf der Comenius-Universität in Bratislava, Archivarin
und Historikerin. Neuere Veröffentlichungen: (m. M. CSÁKY), Collective
Identities in Central Europe in Modern Times, Bratislava 1999. A Concise
History of Slovakia, Bratislava 2000. Aufsätze u. a. über Vereinswesen im 19.
332
und 20. Jahrhundert, Bürgertum, kollektives Bewußtsein der Slowaken,
Deutschen und Magyaren in der Slowakei; email: Elena Mannová <humann@
klemens.savba.sk>
MÜLLER-FUNK, Wolfgang, Jg. 1952, ist Literaturwissenschaftler und Kulturphilosoph. Professor of Cultural Studies an der University of Birmingham. Gastprofessor an der Universität Wien. Lehr- und Forschungstätigkeit
an den Universitäten Klagenfurt, Innsbruck und Birmingham. Betreuung
und Durchführung diverser kulturwissenschaftlicher Forschungsprojekte
(Stadt Wien, FWF, BMBWK). U. a. Leiter des Forschungsprojektes FWF 14727:
„Herrschaft, ethnische Differenzierung und Literarizität. Selbst- und Fremdbilder in Österreich und Ungarn 1867–1918.“ Neuere Publikationen: Junos
Pfau. Studien zur Anthropologie des inszenierten Menschen, Wien 1999. Die
Farbe Blau. Untersuchungen zur Epistemologie des Romantischen, Wien 2000.
Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung, Wien u. a. 2002. (Hg.),
Zeit. Mythos, Phantom, Realität, Wien u. a. 2000. (m. P. PLENER und C.
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Mueller-Funk <wolfgang.mueller-funk@univie.ac.at>
NIEDERMUELLER, Peter, Jg. 1952, ist Professor für Europäische Ethnologie an der Humboldt Universität zu Berlin. Neuere Veröffentlichungen:
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Peter Niedermüller <pniedermueller@compuserve.de>
OBERHUBER, Florian, Jg. 1975, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des
Forschungsschwerpunktes „Diskurs, Politik, Identität“ an der ÖAW. Studium der Soziologie, Politikwissenschaft, Philosophie und Geschichte in Salzburg, Bowling Green (Ohio, USA) und Wien. Forschungsaufenthalt am Institut d’Etudes Européennes der ULB, Brüssel. Neuere Publikationen: Das Dilemma des Politischen in der Habsburgermonarchie. Ideengeschichtliche
Studien zu Gustav Ratzenhofer, 1842–1904, Phil. Diss., Wien. Die Erfindung
des Obdachlosen. Eine Geschichte der Macht zwischen Fürsorge und Verführung, Wien 1999. „Reich und Kultur. Zum neu-josephinischen Kulturbe-
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griff 1848–1918“, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 13, 2 (2002), S. 9–33. Das „doppelursprüngliche Wesen der Staatsautorität“. Moderner Staat, soziologische Autorität und der politische Pluralismus
Gustav Ratzenhofers (1842–1904), in: Sociologia Internationalis 40, 1 (2002),
S. 85–116; email: Florian Oberhuber <oberhuber@gmx.at>
PRIBERSKY, Andreas, Jg. 1957, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Studium der Philosophie. Neuere Publikationen: (m. C. GROSSER, S. KURTÁN, K. LIEBHART),
Genug von Europa. Ein Reisejournal aus Ungarn und Österreich, Wien 2000.
(m. S. KURTÁN, K. LIEBHART), Ungarn, München 1999. Politische Mythen der k.u.k. Monarchie, in: Wolfgang MÜLLER-FUNK, Peter PLENER,
Clemens RUTHNER (Hg.), Kakanien revisited, Tübingen u. a. 2002, S. 321–
330. Eine Krone für die 3. Ungarische Republik? Geschichte als Archiv der
Gedächtnispolitik, in: Jacques LE RIDER, Moritz CSÁKY, Monika SOMMER (Hg.), Transnationale Gedächtnisorte in Zentraleuropa, Innsbruck u.
a. 2002, S. 67–77. (m. M. HEINTEL, K. LIEBHART, N. WEIXLBAUMER),
Die österreichische Ostgrenze. Zur Dynamik mentaler Grenzziehungen, in:
Karin LIEBHART, Elisabeth MENASSE, Heinz STEINERT (Hg.), Fremdbilder-Feindbilder-Zerrbilder, Klagenfurt–Celovec 2002, S. 95–121. (m. K.
LIEBHART, S. KURTÁN, A Temple for the Nation: Redesigning a Common Symbolic Space of Central European Conservatism, in: Christina LUTTER, Lutz MUSNER (eds.), Cultural Studies, Theorizing Politics, Politicizing Theory 16, 6 (2002) (Special Issue „Austrian Cultural Studies“), S. 797–
808; email: Andreas Pribersky <Andreas.Pribersky@univie.ac.at>
PROMITZER, Christian, Jg. 1962, Dr., ist Vertragsassistent an der Abteilung für Südosteuropäische Geschichte an der Universität Graz, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Wieser Enzyklopädie des Europäischen Ostens und
Leiter eines Forschungsprojektes über „Versteckte Minderheiten“ zwischen
Zentral-europa und dem Balkan. Neuere Publikationen: (m. K.-J. HERMANIK), Grenzenlos zweisprachig. Die Erinnerungen des Keuschlersohnes Anton
Šantel (1845–1920) an seine Kindheit in Leutschach und Jugend in Marburg,
Graz 2002. The South Slavs in the Austrian Imagination: Serbs and Slovenes
in the Changing View from German Nationalism to National Socialism, in:
Nancy WINGFIELD (Ed.), Creating the Other: Nationalism and Ethnic
Enmity in Habsburg Central Europe, New York 2003; email: Christian Promitzer <promi@gewi.uni-graz.at>
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PRUTSCH, Ursula, Jg. 1965, Dr., ist Inhaberin einer Hertha-Firnberg-Stelle
am Institut für Geschichte der Universität Wien zum Thema „US-Kulturpolitik in Lateinamerika am Beispiel Brasiliens und Argentiniens (1930–1945)“.
Forschungsprojekte des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) zu „Paul Frischauer“ und „Leopold von Andrian“ (1994-2000).
Neuere Veröffentlichungen: Das Geschäft mit der Hoffnung. Österreichische
Auswanderung nach Brasilien 1918–1938, Wien u. a. 1996. (m. K. ZEYRINGER), Die Welten des Paul Frischauer, Wien u. a. 1997. (m. M. LECHNER),
Das ist Österreich. Innensichten und Außensichten, Wien 1997. Arbeit als
Machtinstrument. Soziale, ökonomische und kulturelle Auswirkungen in
Lateinamerika, Frankfurt a. M. 2000. (m. K. ZEYRINGER), Leopold von
Andrian (1875–1951): Korrespondenzen, Notizen, Essays, Berichte, Wien u. a.
2003; email: Ursula Prutsch <ursula.prutsch@univie.ac.at>
REBER, Ursula, Jg. 1972, Mag., ist Redakteurin der Internet-Plattform Kakanien revisited (www.kakanien.ac.at). Studium der Klassischen Philologie,
Germanistik, Philosophie, Indologie u. Religionswissenschaften an der Philipps-Univ.-Marburg. 1998 Studienabschluss mit einer Arbeit über Geschichtskonzeptionen und Messianismus in Frank Herberts Der Wüstenplanet. 1999–2000
DAAD-Lektorin für deutschsprachige Literatur an der Universität Tartu,
Estland. Arbeitet seit 2000 an einer Diss. zu einer Theorie der Metamorph/
fose(n) an der Univ. Wien. Neuere Publikationen (in www.kakanien.ac.at):
(mit S. L. VIDULIÆ), Bizarrerien in Gewandfragen – Deutsche Pullover &
südslavische Röcke. Identitäten explizit-implizit. (mit M. RIES), Adiaphorische Räume; Pista und Puszta. Eine kleine Imagologie der kakanischen Nationalitäten bei Doderer; Briefe von Carl Rothe an Lõrinc Szabó und von Lõrinc
Szabó an Carl Rothe; Verwandlungen. Intertextualität als Durchkreuzung
des Eigenen und des Fremden; Einen Gedanken fassen. Bemerkungen zu
„Geist und Seele“ mit Hilfe von Musil, unter Zeugenschaft Nietzsches; email:
Ursula Reber <usha.reber@kakanien.ac.at>
REYNOLDS, Diana, Jg. 1951, Dr., ist Associate Professor of History at Point
Loma Nazarene University, San Diego, California (USA). Studium der Kunstgeschichte an der Universität Erlangen und Geistesgeschichte an der University of California, San Diego (Ph.D. 1997). Laufendes Buchprojekt: Manufacturing Mother Austria: Arts and Crafts Reform and Austrian Identity
1871–1914, gefördert durch ein Fulbright Research Grant (Sommer 2002).
Neuere Publikationen: Die österreichische Synthese: Metropole, Peripherie
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und die kunstgewerblichen Fachschulen des Museums, in: Peter NOEVER (Hg.),
Kunst und Industrie, Wien 2000, S. 203–217. Vom Nutzen und Nachteil des Historismus für das Leben. Alois Riegls Beitrag zur Frage der kunstgewerblichen Reform, in: Kunst und Industrie, 2000, S. 20–29. The Great Exhibition of 1851, in:
John FINDLING (Hg.), Events that Changed Great Britain, New York 2001. Alois
Riegl und Wien. Kunstgewerbe, Kunstpolitik und Kunstgeschichte 1875–1905, Wien
u. a. 2003 (im Druck); email: Diana Reynolds <DianaReynolds@ptloma.edu>
RÖSSNER, Michael, Jg. 1953, ist Universitätsprofessor für Romanische Philologie in München. Studium der Übersetzerausbildung, der Romanistik und
der Rechtswissenschaften an der Universität Wien. Lehrtätigkeit als Gastprofessor an den Universitäten Salzburg, Buenos Aires und Tucumán (Argentinien), Querétaro (Mexiko) sowie an der Wirtschaftsuniversität Wien. Vorsitzender des Deutschen Pirandello-Zentrums e.V., Mitglied des Österreichischen PEN-Zentrums. Übersetzer und Herausgeber des Gesamtwerks von
Luigi Pirandello, Übersetzer von Goldoni und mehrerer lateinamerikanischer Autoren (N. Parra, M. A. Campos, O. Collazos). Autor zahlreicher
Studien zur italienischen, französischen, spanischen, portugiesischen und
lateinamerikanischen Literatur, darunter Pirandello Mythenstürzer. Fort vom
Mythos; mit Hilfe des Mythos; hin zum Mythos, Wien u. a. 1980. Auf der
Suche nach dem verlorenen Paradies. Zum mythischen Bewußtsein in der
Literatur des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1988. Neuere Publikationen:
Lateinamerikanische Literaturgeschichte. 2. erw. Aufl., Stuttgart u. a. 2002.
(Hg.), Literarische Kaffeehäuser. Kaffeehausliteraten, Wien u. a. 1999. „¡Bailá!
¡Vení! ¡Volá!“. Studien zu Tango und Literatur, Frankfurt a. M. 2000; email:
Michael Rössner <michael.roessner@romanistik.uni-muenchen.de>
RUTHNER, Clemens, Jg. 1964, Dr., ist Lektor am Germanistik-Institut an der
Universität Antwerpen (UA) und Leiter des dortigen Zentrums für ÖsterreichStudien (OCTANT). Studium der Germanistik, Philosophie und Publizistik
in Wien. 1991–1993 österreichischer Auslandslektor an der Eötvös Loránd Universität (ELTE) Budapest. 2003/04 Gastprofessor an der University of Alberta
(Kanada). Neuere Publikationen: Aufsätze zur österreichischen Literatur und
zu kulturwissenschaftlichen Themen (im Internet unter www.kakanien.ac.at).
(m. W. MÜLLER-FUNK, P. PLENER), Kakanien revisited, Tübingen u. a.
2002. Am Rande. Kanon, Peripherie und die Intertextualität des Marginalen
am Beispiel der (österreichischen) Phantastik im 20. Jahrhundert, Tübingen
2004 (im Druck); email: Clemens Ruthner <clemens.ruthner@ua.ac.be>
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SIMONEK, Stefan, Jg. 1964, ist a.o. Professor am Institut für Slawistik der
Universität Wien. Studium der Slawistik und der Vergleichenden Literaturwissenschaft an der Universität Wien; Promotion 1991 mit einer Arbeit zu
Osip Mandel’štam und den ukrainischen Neoklassikern. Neuere Publikationen: Galizien, Klagenfurt–Celovec 1998 (Europa Erlesen). Ivan Franko und
die „Moloda Muza“. Motive in der westukrainischen Lyrik der Moderne,
Köln u. a. 1998. Distanzierte Nähe. Die slawische Moderne der Donaumonarchie und die Wiener Moderne, Bern u. a. 2002. Zahlreiche Aufsätze zur
russischen und ukrainischen Moderne und zu den Verbindungen zwischen
Wiener Moderne und zu den slawischen Literaturen Mitteleuropas. Mitherausgeber der Buchreihe Wechselwirkungen. Österreichische Literatur im internationalen Kontext (Peter-Lang-Verlag); email: Stefan Simonek <stefan.
simonek@univie.ac.at>
STACHEL, Peter, Jg. 1965, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen
Akademie der Wissenschaften. Studium der Geschichte, Europäischen Ethnologie und Philosophie in Graz, seit 1994 Mitarbeiter des SFB „Moderne –
Wien und Zentraleuropa um 1900“ an der Universität Graz (Institut für Geschichte). Lehrbeauftragter an der Universität Graz. Neuere Publikationen:
(mit M. CSÁKY), Speicher des Gedächtnisses. Bibliotheken, Museen, Archive. 2. Bde, Wien 2000–2001. (mit B. BOISITS), Das Ende der Eindeutigkeit.
Pluralismus in Moderne und Postmoderne, Wien 2000. (mit J. FEICHTINGER), Das Gewebe der Kultur. Kulturwissenschaftliche Analysen zur Geschichte und Identität Österreichs in der Moderne, Innsbruck u. a. 2001. (mit M.
CSÁKY), Die Verortung von Gedächtnis, Wien 2001; Mythos Heldenplatz,
Wien 2002. (mit M. CSÁKY), Mehrdeutigkeit. Die Ambivalenz von Gedächtnis und Erinnerung, Wien 2002 und zahlreiche Aufsätze zur neueren österreichischen Geschichte; email: Peter Stachel <Peter.Stachel@oeaw.ac.at>
SUPPANZ, Werner, Jg. 1961, DDr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des
SFB „Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900“ an der Universität Graz
(Institut für Geschichte). Lehrbeauftragter an der Abteilung Zeitgeschichte.
Forschungsschwerpunkte: Geschichts- und Gedächtnispolitik, politische
Kultur. Neuere Publikationen: Österreichische Geschichtsbilder. Historische
Legitimationen in Ständestaat und Zweiter Republik, Köln 1998. „Österreicher, lernt eure Geschichte!“ – Historische Legitimation und Identitätspolitik im Ständestaat, in: Michael ACHENBACH, Karin MOSER (Hg.), Öster-
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reich in Bild und Ton. Die Filmwochenschau des austrofaschistischen Ständestaates, Wien 2002. „Wir haben nun keine Tradition des säkularen Textes“:
Religion, Politik und ihre Kompetenzen in der politischen Kultur Österreichs, in: Manfred BROCKER, Hartmut BEHR, Mathias HILDEBRANDT
(Hg.), Religion – Staat – Politik. Zur Rolle der Religion in der nationalen und
internationalen Politik, Wiesbaden 2003, S. 33–46; email: Werner Suppanz
<werner.suppanz@uni-graz.at>
UHL, Heidemarie, Jg. 1956, Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der
Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Lehrbeauftragte an der Abteilung Zeitgeschichte der Universität Graz und am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Wissenschaftliche Mitarbeiterin des SFB „Moderne – Wien
und Zentraleuropa um 1900“ an der Universität Graz und des kulturwissenschaftlichen Forschungsschwerpunktes des Bundesministeriums für Bildung,
Wissenschaft, und Kultur. Charlotte Bühler-Habilitationsstipendium des
Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF). Neuere Publikationen: Zwischen Versöhnung und Verstörung. Eine Kontroverse um
Österreichs historische Identität fünfzig Jahre nach dem Anschluß, Wien u. a.
1992. (m. S. RIESENFELLNER), Todeszeichen. Zeitgeschichtliche Denkmalkultur in Graz und in der Steiermark vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur
Gegenwart, Wien u. a. 1994. (m. C. GERBEL, R. KANNONIER, H. KONRAD, A. KÖRNER), Urbane Eliten und kultureller Wandel, Wien 1996.
(Hg.), Kultur – Urbanität – Moderne. Differenzierungen der Moderne in
Zentraleuropa um 1900, Wien 1999. (m. A. SENARCLENS DE GRANCY),
Moderne als Konstruktion. Debatten, Diskurse, Positionen um 1900, Wien
2000; email: Heidemarie Uhl <Heidemarie.Uhl@oeaw.ac.at>
WOLDAN, Alois, Jg. 1954, ist Professor für Ost-Mitteleuropa-Studien an
der Universität Passau/Bayern. Studium der Theologie, Slawistik und Komparatistik in Innsbruck (1978 Mag. theol, 1982 Dr. phil). Österreichischer
Lektor in Moskau und Wroc³aw/Breslau, Assistent und Dozent (Habilitation
1995) an der Universität Salzburg. Neuere Publikationen: Der ÖsterreichMythos in der polnischen Literatur, Wien u. a. 1996. Zahlreiche Aufsätze zu
Aspekten der polnischen, russischen und ukrainischen Literatur sowie zu
Fragen literarischer und kultureller Wechselbeziehungen, email: Alois Woldan
<Alois.Woldan@uni-Passau.de>
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