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Inhaltsverzeichnis Vorwort (Moritz Csáky, Johannes Feichtinger, Ursula Prutsch) 9 Johannes Feichtinger Habsburg (post)-colonial. Anmerkungen zur Inneren Kolonisierung in Zentraleuropa 13 Ursula Prutsch Habsburg postcolonial 33 Heidemarie Uhl Zwischen „Habsburgischem Mythos“ und (Post)-Kolonialismus. Zentraleuropa als Paradigma für Identitätskonstruktionen in der (Post-)Moderne 45 Anil Bhatti Kulturelle Vielfalt und Homogenisierung 55 Peter Niedermüller Der Mythos des Unterschieds: Vom Multikulturalismus zur Hybridität 69 Wolfgang Müller-Funk Das Eigene und das Andere / Der, die, das Fremde. Zur Begriffsklärung nach Hegel, Levinas, Kristeva, Waldenfels 83 Michael Rössner Mestizaje und hybride Kulturen. Lateinamerika und die HabsburgerMonarchie in der Perspektive der Postcolonial Studies 97 Clemens Ruthner K.u.k. Kolonialismus als Befund, Befindlichkeit und Metapher: Versuch einer weiteren Klärung 111 Stefan Simonek Möglichkeiten und Grenzen postkolonialistischer Literaturtheorie aus slawistischer Sicht 129 Alois Woldan Bevormundung oder Selbstunterwerfung? Sprache, Literatur und Religion der galizischen Ruthenen als Ausdruck einer österreichischen Identität? 141 Hans-Christian Maner Zum Problem der Kolonisierung Galiziens. Aus den Debatten des Ministerrates und des Reichsrates in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 153 Robert Luft Machtansprüche und kulturelle Muster nichtperipherer Regionen: Die Kernlande Böhmen, Mähren und Schlesien in der späten Habsburgermonarchie 165 Elena Mannová Das kollektive Gedächtnis der Slowaken und die Reflexion der vergangenen Herrschaftsstrukturen 189 Éva Kovács Die Ambivalenz der Assimilation. Postmoderne oder hybride Identitäten des ungarischen Judentums 197 Gábor Gyáni Forgetting the diversity of the national past: Contrasting memories of the Hungarian Millennium 209 Andreas Pribersky Politische Erinnerungskulturen der Habsburger-Monarchie in Ungarn: Ein „Goldenes Zeitalter“? 221 Ursula Reber Periphere Angelegenheiten / Angelegenheiten der Peripherie. Einschreibungen in eine Karte von „Adiáphora“ 231 Diana Reynolds Kavaliere, Kostüme, Kunstgewerbe: Die Vorstellung Bosniens in Wien 1878–1900 243 Peter Stachel Der koloniale Blick auf Bosnien-Herzegowina in der ethnographischen Popularliteratur der Habsburgermonarchie 259 Florian Oberhuber Zur Konstruktion bürgerlicher imperialer Identität. Gustav Ratzenhofers Vorträge zur Okkupations Bosniens und der Herzegowina 277 Christian Promitzer Die Kette des Seins und die Konstruktion Jugoslawiens 289 Werner Suppanz Die Bürde des „österreichischen Menschen“. Der (post-)koloniale Blick des autoritären „Ständestaates“ auf die zentraleuropäische Geschichte 303 ^ Dzevad Karahasan Die Poetik der Ruine 315 Die AutorInnen 329 Personenregister 339 Vorwort Die theoretischen Überlegungen, die diesem Buch zugrunde liegen, orientieren sich an Erkenntnissen der Postcolonial Studies, die seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts für den literatur- und kulturwissenschaftlichen Diskurs vor allem im angloamerikanischen Raum von nachhaltiger Relevanz geworden sind. Anhand der konkreten Erfahrung einer postkolonialen Situation thematisieren sie das Verhalten der ehemals Kolonisierten den ehemals Kolonisierenden, den Definitionsmächtigen, gegenüber, untersuchen das Verhältnis, das heißt die gegenseitigen Abhängigkeiten der beiden und versuchen auf kulturelle Anleihen und Verquerungen aufmerksam zu machen, die in einer solchen Situation die Konstruktion von Identitäten zu bestimmen scheinen; sie analysieren also die (Macht)Strukturen in diesen nachkolonialen, komplexen soziokulturellen Systemen, die von Differenz, Heterogenität, Hybridität und Vielstimmigkeit geprägt sind. Während sich die Erkenntnisse der Postcolonial Studies Prozessen in der Gegenwart verdanken und diese mit neuen theoretischen Zugängen zu verstehen beziehungsweise zu erklären versuchen, scheint es berechtigt zu sein sich zu fragen, ob solche Prozesse nicht bereits in der Vergangenheit, zwar nicht unter den gleichen, jedoch unter analogen Bedingungen stattgefunden haben. Die ökonomische Globalisierung ist ohne Zweifel eine qualitativ veränderte Fortsetzung der Modernisierung, das heißt die Ziele und Mechanismen der Globalisierung sind bereits in der Modernisierung des 19. Jahrhunderts grundgelegt und nachweisbar. So hatte Karl Marx, um die Modernisierung beziehungsweise Industrialisierung zu charakterisieren, sich einer Ausdrucksweise bedienen können, die auch für eine Charakterisierung der Globalisierung zuträfe: „Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen.“ Ähnliches gilt, nach Marx, 9 für soziokulturelle Prozesse unter den derart veränderten ökonomischen Bedingungen: „Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut [...] und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur. [...] Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation.“1 Das heißt: Wie die Bourgeoisie „das Land von der Stadt, hat sie die barbarischen und halbbarbarischen Länder von den zivilisierten, die Bauernvölker von den Bourgeoisvölkern, den Orient vom Okzident abhängig gemacht.“2 Wenn diese Beobachtung zutrifft, dann ist es wohl auch berechtigt, sich des theoretischen Rüstzeugs, mit dem Prozesse in der Gegenwart erklärt werden, in analoger Weise auch für die Analyse von Prozessen in der Vergangenheit nutzbar zu machen. Dadurch werden Abläufe und Entwicklungen, wie beispielsweise die konkurrenzierenden nationalen Ideologien des 19. Jahrhunderts, unter einer ganz anderen (einer neuen) Perspektive erkennbar, als uns etwa die historische und sozialwissenschaftliche Nationalismusforschung diese bislang zu erklären versuchten. Unter einem solchen doppelten Aspekt versuchten sich die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes in einer übergreifenden, komparatistischen Weise an das Phänomen des Vielvölkerstaates der Habsburger beziehungsweise an Zentraleuropa anzunähern. Kann die ehemalige von Differenzen und Heterogenitäten geprägte politische Kohabitation der Habsburgermonarchie in der Tat als ein „Laboratorium“ aufgefasst werden, in dem in einem regional begrenzten, zentraleuropäischen Kontext bereits in der Vergangenheit Prozesse nachweisbar sind, die heute von globaler Relevanz geworden sind? Können die nationalen Vereinnahmungen und „Vergewaltigungen“, die oft unter enormem ökonomischen Druck stattfindenden Assimilationen, politische, soziale und kulturelle Inklusionen und Exklusionen, die Konstruktion von kollektiven (nationalen) Identitäten oder das vor allem in den kulturell hybriden urbanen Milieus nachweisbare Phänomen von multiplen personalen Identitäten, die sich auf mehrfache „mémoires culturelles“ beriefen, unter dem Aspekt, den die postkoloniale Theorie thematisiert, neu bewertet und vielleicht besser erklärt werden? Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der diesem Buch vorausgehenden Konferenz stimmten großteils darin überein, dass der postkoloniale Blick in der Tat ein neues Licht auf solche Prozesse zu werfen vermag. Die postkoloniale Theorie begreift das Chaos als komplexe Konfiguration und wertet die Mehrdimensionalität gegenüber linearen Sichtweisen auf. Daher lassen sich auch durch die Einnahme einer 10 postkolonialen Haltung konstruierte Machtgefüge, die als kolonialistisch aufgefasst werden mussten, radikal dechiffrieren. Ausgehend von einer ausdifferenzierten Verwendung der Begrifflichkeiten Multikulturalismus – Transnationalismus – Hybridität durchzogen mehrere Argumentationsstränge die Konferenz: Erstens das Wechselspiel von Homogenisierung und Differenzierung (Diversifizierung) als ein Spezifikum der zentraleuropäischen Region; zweitens die von den Postcolonial Studies eingeforderte Auflösung der Dichotomie Zentrum versus Peripherie. Die Verortung der Macht auf die Metropolen der Donaumonarchie (Wien, Budapest, Prag) wurde als zu kurz greifend erachtet. In diesem Zusammenhang wurden drittens auch Mikrokolonialismen, die für die Donaumonarchie besonders signifikant waren, diagnostiziert. Der Begriff des Mikrokolonialismus wurde als Terminologie vorgeschlagen, um den zu grob gestrickten heuristischen Ansatz eines reichsübergreifenden Kolonisierungsdiskurses, der sicher auch da war, aufzubrechen. So vervielfältigten sich die Träger der Macht (Kolonisierer), und auch die Opfer der Kolonisierung (Kolonisierte) konnten sich später in der Rolle von Kolonisatoren behaupteten. Das „deutschnationale“ Bürgertum erblickte die Aufgabe „Österreichs“ darin, „die Barbaren zu bekämpfen, seine spätere: sie zu kultiviren“3, das heißt sie zu „kolonisieren“. Nur war dieses deutschsprachige Bürgertum selbst Opfer einer nationalen Kolonisation „von außen“, ganz ähnlich wie sich die tschechische und die serbische nationale Ideologie bisweilen „von außen“, vom russischen Panslawismus, vereinnahmen ließen. Die vorliegende Publikation ist das Ergebnis eines internationalen Workshops, der im September 2003 von der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien im Rahmen ihres Forschungsprogramms „Orte des Gedächtnisses“ veranstaltet wurde (vgl. http://www.oeaw.ac.at/kkt). Autorinnen und Autoren aus acht Ländern (USA, Österreich, Deutschland, Großbritannien, Ungarn, der Slowakei, aus Bosnien sowie aus Indien) versuchen in ihren Beiträgen nicht nur aus dem Blickwinkel ihrer jeweiligen Fachrichtungen zu argumentieren, sondern auch transdisziplinär unterschiedliche Sichtweisen miteinander zu verknüpfen. Ein kulturhistorischer Essay des renommierten bosnischen Schriftstellers und Theatertheoretikers Dzevad Karahasan rundet den Band ab. An dieser Stelle möchten wir all jenen herzlich danken, die an der Tagung teilgenommen und sich am intellektuellen Gedankenaustausch beteiligt haben. Ebenso danken wir jenen, die durch ihre finanziellen Zuwendungen ^ 11 das Zustandekommen der Tagung und die Drucklegung der Tagungsergebnisse ermöglicht haben. Vor allem danken wir dem Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur (Wien), dem Kulturamt der Stadt Wien und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Moritz Csáky Johannes Feichtinger Ursula Prutsch Anmerkungen 1 Karl MARX, Friedrich ENGELS, Manifest der Kommunistischen Partei [1848], in: Karl MARX, Friedrich ENGELS, Werke, Bd. 4., Berlin 111990, S. 466. 2 Ebenda. 3 Ferdinand BAUERNFELD, Aus Alt- und Neu-Wien (1873), in: Emil HORNER (Hg.), Bauernfelds Werke in vier Bänden, Bd. 4., Leipzig o. J., S. 140. 12 Habsburg (post)-colonial. Anmerkungen zur Inneren Kolonisierung in Zentraleuropa Johannes Feichtinger Denn wo die Übernationalität nicht respektiert und ehrlich praktiziert, sondern von den stärksten Völkern als ideologische Waffe eingesetzt wird, dort werden die schwächeren, die in ihren Rechten beschnittenen, um ihre Autonomie gebrachten Völker zur Waffe des Nationalismus greifen und dem Kult dieser Waffe selbstzerstörerisch verfallen.1 Karl-Markus Gauss, 1998 Die Autoren und Autorinnen dieses Buches versuchen, die Geschichte des Habsburgerreiches, seiner Kulturen und Völker ausgehend von einer „postkolonialen Haltung“2 neu zu lesen, um dadurch das innovative Potenzial zu erkunden, das durch die Anwendung postkolonialer Theorie auf einen Staat ohne nennenswerte kolonialistische Vergangenheit frei wird. Gleichzeitig werden aber auch die Grenzen ihrer Anwendung erörtert. Vollständigkeit im Hinblick auf Themen, Epochen und Länder beansprucht dieser Sammelband keineswegs. Vorrangig ist es auch nicht, den „habsburgischen Kolonialismus“, sofern ein solcher bestand, aufzuarbeiten. Diese Studie versucht vielmehr die Vielschichtigkeit der quasi-kolonialen Machtverhältnisse, im besonderen aber ihre kulturellen Dimensionen in Zentraleuropa, innerhalb der habsburgischen Ordnung, sowie in vergleichbaren Staatswesen unter Anwendung kulturwissenschaftlicher Methoden aufzudecken.3 Außerdem werden die Auswirkungen solcher verfestigten Asymmetrien auf die jüngere Vergangenheit und die Gegenwart untersucht. Hierfür kann eine postkoloniale Haltung eine Reihe von Anregungen liefern. Aus der Sicht der angloamerikanischen Cultural Studies4 manifestiert sich die koloniale Vorstellung vornehmlich darin, dass sich Zentren der Macht 13 häufig als Träger eines universalistischen „Wertekanons“ verstehen, den sie anderen mit dem Ziel der Aufhebung jedweder Differenzialität aufzwingen. Jürgen Osterhammel definiert den Kolonialismus als eine Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven, bei welcher die fundamentalen Entscheidungen über die Lebensführung der Kolonisierten durch eine kulturell andersartige und kaum anpassungswillige Minderheit von Kolonialherren unter vorrangiger Berücksichtigung externer Interessen getroffen und tatsächlich durchgesetzt werden. Damit verbinden sich in der Neuzeit in der Regel sendungsideologische Rechtfertigungsdoktrinen, die auf der Überzeugung der Kolonialherren von ihrer eigenen kulturellen Höherwertigkeit beruhen.5 Historisch gesehen manifestiert sich der Kolonialismus vor allem in drei Spielarten:6 Einerseits durch direkte Machtausübung mit gleichzeitiger Implementierung fremder Kultursysteme, anderseits als indirekter Kulturkolonialismus, durch den autochthone kulturelle Strukturen überrollt werden, und schließlich als ein Kolonialismus, der sich auf die Ausbeutung ökonomischer Ressourcen anderer beschränkt. Jeglicher Kolonialismus scheint jedoch im besonderen den Anspruch zu erheben, Diversitäten aufzuheben. So wird Homogenität einerseits durch die Inklusion des Außen, das heißt durch dessen Sinnentleerung angestrebt. Anderseits kann Vereinheitlichung auch durch die Exklusion des Anderen erreicht werden.7 Hierbei werden Alteritäten für deviant erklärt und als unmündig punziert. Schließlich kann die Vereinheitlichung mitunter auch durch die Entrückung des Anderen in eine Idealsphäre erreicht werden, was aber einer Entmündigung des Anderen entspricht. Die Postcolonial Studies – eine Analyserichtung, die sich seit den 1980er Jahren aus heterogenen disziplinären, methodischen und theoretischen Ansätzen formierte – liefern ein wertvolles Instrumentarium, eine verfestigte Wahrnehmung vom asymmetrischen Machtgefüge, das im Zuge von Homogenisierung wirksam ist, aufzubrechen. So lassen sich auch die durch kulturellkolonialistische Überformung verwischten Differenzen wieder aufspüren. Häufig werden auch strukturelle beziehungsweise ökonomische Ursachen für eine ungleiche Machtverteilung verantwortlich gemacht, was neben den kulturellen Machtdimensionen in diesem Band nicht ausgeblendet werden soll. Zu überprüfen bleibt aber, ob hinter der ökonomischen Asymmetrie nicht auch diskursive Strategien kolonialer Herrschaft wirksam sind, zum Beispiel im Sinne einer bewussten Aufrechterhaltung der Rückständigkeit der/des Anderen. Gleichzeitig lassen postkoloniale Ansätze auch die bewusste Konstruktion von Differenzen, durch die sich kollektive Identitäten erzeugen ließen, in neuem Licht erscheinen. Maßgebliche Impulse erfuhr die postko- 14 loniale Theorie durch Edward Said, dessen Buch „Orientalism“8 im poststrukturalistischen Milieu entstand. Geprägt von Derrida, Lyotard und Foucault bildete Said mit seinem „Orientalismus“ den Ausgangspunkt für die colonialist discourse theory gegenwärtiger postkolonialer Autoren, wie unter anderem von Homi Bhabha.9 Waren die Anfänge des postkolonialen Theoriediskurses noch von Dichotomien bestimmt (zum Beispiel in der Annahme einer diskursiven Konstruktion des Westens, der im 19. Jahrhundert im „Orientalismus“ sein Bild des Orients auf die Wirklichkeit des vermeintlichen „Ostens“ projizierte und so das Andere für seine Identitätsfindung vereinnahmte), verwirft der neuere Postkolonialismus die Vorstellung dichotomer hierarchischer Differenzen (zum Beispiel in der Spielart: Zentrum versus Peripherie) vollends.10 Die Dichotomie zwischen „wir“ und „sie“, welche ein konstitutives Merkmal des Kolonialismus darstellte, wird vielmehr als Konstruktion entlarvt, binäre Oppositionen werden aufgelöst. So nimmt der Postkolonialismus zum Beispiel Abschied vom ausschließlich linear interpretierten Gegensatz von Kolonisator und Kolonisierten. Vielmehr versucht er die verborgenen und vervielfältigten Machtverhältnisse (Mikrokolonialismen)11 offen zu legen, die auf Homogenisierung (sprich auf „die bewusste Intervention in einen fluiden Praxiszusammenhang“12) abzielen. So werden vermeintliche Hierarchien von Macht aufgelöst und neu bestimmt. Im vorliegenden Band verweist Anil Bhatti auf das besondere Verdienst postkolonialer Theorie, das darin bestehe, ein Gegenmodell zu jeglicher Homogenisierung zu schaffen, „indem sie das so genannte Chaos als nicht begriffene Komplexität und Mehrdimensionalität auffasst und diese nun reflexiv begriffene Komplexität beziehungsweise Mehrdimensionalität gegenüber der Monotonie der linearen Welt der Eindimensionalität positiv aufwertet.“13 Habsburg postcolonial. Perspektiven zur Analyse der Diversität Vermag die postkoloniale Theorie diesen Anspruch zu erfüllen, so muss der postkoloniale Blick, einmal auf Zentraleuropa gerichtet, ein neues Licht auf die Staatswirklichkeit der Habsburgermonarchie werfen: Das habsburgische Imperium war als zweitgrößtes Staatswesen Europas durch äußerst komplexe Verhältnisse – durch Pluralitäten, Heterogenitäten und Widersprüchlichkeiten – geprägt, weshalb in diesem Reich der Boden für das Aufblühen von Imaginationen, die Homogenität versprachen, auch fruchtbarer war als anderswo. Vereinheitlichungen waren jedenfalls ein signifikanter Zug der 15 habsburgischen Staatswirklichkeit. Homogenisierung bedeutet (und bedeutete) aber immer auch das Ausspielen von Macht, sei es durch eine staatliche Ordnungsmacht oder von Seiten hegemonialer sozialer Schichten, Konfessionen und Kulturen, die anderen ihr Narrativ aufoktroyier(t)en und so „die lineare Welt der Eindimensionalität“ (Bhatti) positiv aufwerte(te)n. Akzeptiert man diesen Gedanken, so lässt sich mit Hilfe postkolonialer Ansätze umso mehr für die habsburgische Staatswirklichkeit aufzeigen, „wie sehr hegemoniale Bestrebungen durch Ausschließungspraktiken konstituiert sind und wie zentral das Marginalisierte und Ausgeschlossene wiederum für das Funktionieren einer wie auch immer gearteten ,Ganzheit‘ ist.“14 Die Österreichisch-Ungarische Monarchie war ein Vielvölkerstaat, der durch ethnische Vielfalt, unterschiedliche staatlich-verfassungsmäßige Traditionen, durch drei monotheistische Weltreligionen, vor allem aber durch eine Vielzahl von Sprachen (Polyglossie) geprägt war.15 Sie war ein vielsprachiger Staat, im verbalen und nonverbalen Sinne; so war die Monarchie auch durch eine Vielzahl sinngebender Symbolsysteme bestimmt (Architektur, Traditionen der Küche, der Musik und so weiter).16 In Zentraleuropa hatten sich im Laufe von Jahrhunderten kulturelle Differenzen manifestiert. Die verschiedenen Kulturen beeinflussten sich zwar wechselseitig, ohne dabei aber ihre jeweiligen Signifikanzen aufzugeben: So bezeichnete der Geograph Friedrich Umlauft die Habsburgermonarchie im ausgehenden 19. Jahrhundert als einen „Staat der Contraste“, in dem „alle Haupt-Völkergruppen Europa’s und zwar durch bedeutende Massen“17 vertreten seien. Der Staatstheoretiker Joseph von Eötvös erkannte die Ursache für diese Heterogenität im Verlauf der historischen Staatswerdung der Monarchie: Während die Ausbildung der modernen westeuropäischen Staaten durch die Assimilation kleinerer Domänen erfolgte, waren die Gebiete, die dem habsburgischen Erzhause zufielen, „in Hinsicht ihrer Größe mit den Erblanden, welche es damals besaß, in gar keinem Verhältniß, sodaß bei den nationellen und Culturverschiedenheiten eine Assimilation vernünftig nicht einmal zu versuchen war.“18 Diese „Culturverschiedenheiten“ waren für den Gesamtstaat so bestimmend wie für seine Königreiche, Herzogtümer, Grafschaften und Städte: In den urbanen Milieus waren die Differenzen infolge der unterschiedlichen ethnischen, kulturellen und konfessionellen Gruppierungen allgegenwärtig und für jedermann/frau auch ständig sichtbar. Daran änderte im übrigen auch der Zerfall der Donaumonarchie (1918) und die Schaffung souveräner Staaten auf der Grundlage des nationalen Prinzips (Selbstbestimmungsrecht) wenig.19 Auch noch heute sind viele der Staaten Zentraleuropas 16 in gleicher Weise vielfältig und von einem ethnisch-kulturellen Durcheinander geprägt wie zuvor der übernationale Gesamtstaat. War die Bewusstmachung solcher Differenzen schon ein maßgeblicher Ausgangspunkt der Postcolonial Studies amerikanischer Provenienz, so wurde diese Problematik, die sich insbesondere im kulturellen Gedächtnis manifestiert,20 zuletzt auch von Schriftstellern, Künstlern und Wissenschaftlern innerhalb Zentraleuropas verstärkt reflektiert. Auf wissenschaftlich-institutioneller Ebene ist es zum einen die von Moritz Csáky geleitete Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, die es sich zur Aufgabe macht, die spezifische Mehrdeutigkeit des kulturellen Gedächtnisses in Zentraleuropa zu analysieren,21 und zum anderen die Arbeitsgruppe „Habsburg revisited“, die kulturelle Symbolisierungsprozesse im Kontext der spezifischen Machtkonstellationen zwischen den „Völkern“ Österreich-Ungarns von 1867–1918 aus literatur- und kulturwissenschaftlichem Blickwinkel untersucht.22 Unter den Schriftstellern thematisiert im besonderen der bosnische Autor, Kritiker und Essayist Dzevad Karahasan die Problematik kultureller Diversitäten. In seinem „Tagebuch der Aussiedlung“23 unterstreicht er das Grundverhältnis der oppositionellen Spannung zwischen den (und innerhalb der) Kulturen als zentrales Merkmal des zentraleuropäischen Kulturmodells. Die Form der Beziehung (Abweisung oder Akzeptanz) erweist sich für Karahasan in diesem plurikulturellen Raum als ein aktives Spiel, in dem alle Teile des Systems das Verhältnis bestimmen – nicht als Dazugehörige zweiter Klasse, sondern als Hauptakteure: Dieses Spiel gleiche jenem einer dramatischen Inszenierung.24 Im Drama wie im dazu analogen Kultursystem seien daher Ignoranz und der Verzicht auf die Differenzen zwischen den Identitäten ausgeschlossen.25 Am Beispiel von Sarajevo zeigt Karahasan dieses „Grundverhältnis der Spannung“ auf: ^ Innerhalb des dramatisch konstituierten Kultursystems läuft, als sein markantestes Kennzeichen, ein erregendes Spiel ab, ein Spiel des gegenseitigen Kommentierens und Kontrastierens von Offenem und Geschlossenem, von Außen und Innen, ein Spiel, das aus sich selbst heraus auch die innere Organisation der Stadt bestimmt, sowohl die Struktur jedes ihrer Teile als auch das alltägliche Leben in ihr, aber auch jedes Einzelelement dieses Alltagslebens, vom Wohnen bis zum Essen.26 Kulturelle Differenzen, die außerhalb der verdichteten urbanen Kultursysteme nicht in diesem Maße wahrgenommen werden, werden in den Ordnungen der zentraleuropäischen Städte aufgrund der Begegnung verschiedener 17 kultureller Muster besonders sichtbar. So kontrastierten die unterschiedlichen ethnisch-kulturell-konfessionellen Codes (Gedächtnisse) einander und definierten sich wechselseitig. Auf diese Weise konnten auch Differenzen gemeinschaftsstiftend wirken, oder – wie Karahasan schreibt – waren die verschiedenen Kulturen gezwungen, „zu kohabitieren und Verhaltensformen zu suchen, die dieses gemeinsame Leben erträglich machten, indem sie bei dieser Suche auch Beziehungen aufbauten, die sich mit einem Goetheschen Ausdruck als ,Toleranz ohne Gleichgültigkeit‘ bezeichnen ließen.“27 Solche Diversitäten scheinen solange unproblematisch zu sein, solange ein aktives Spiel (Aushandlungsprozesse) zwischen den unterschiedlichen kulturellen Repräsentationen stattfindet, oder anders gesagt: solange ein Bewusstsein des Aufeinander-Angewiesen-Seins, Interessenskonvergenz und Reziprozität, und dank hoher individueller Mobilität zwischen den Kulturen eine Spezialisierung im Sinne von Arbeitsteilung vorherrscht.28 Das Grundkennzeichen dieses Systems war jedenfalls das des Pluralismus: In pluralistischen Systemen sind Austausch, Zirkulation und Vermischung natürlich und konstitutiv, während die Vorstellung von Verschmelzung mit und Isolation von dem Anderen die Entfaltung des Pluralismus blockiert. So war die Diversität der Kulturen in Zentraleuropa auch sichtbar, ohne dass sich letztere zwangsläufig isolierten. Die Suche nach Verknüpfungen war für dieses System konstitutiv, Hybridität (Kreolisierung, Mestizaje, Crossover29) die Folgeerscheinung. In der sozialen Wirklichkeit manifestierte sich dieses Durcheinander darin, dass es kein zwingendes Modell individueller kultureller Zugehörigkeit gab: weder „entweder-oder“ Identitäten noch „single“-Identitäten.30 Alsbald sollten diese Mehrdeutigkeiten aber durch eine diskursive Konstruktion von Differenzen aufgehoben werden. Homogenisierung im Habsburgerreich Die Vielzahl der Diversitäten zog infolge der „krisenhaften Verwerfungen des Modernisierungsprozesses“31 in Zentraleuropa zwangsläufig Vereinheitlichungsmanöver nach sich. War der Akt der Verwischung von Differenzen anderswo in kolonialistischem Sinne nach außen gerichtet, so verweisen im habsburgischen Vielvölkerstaat verschiedene administrative Maßnahmen auf eine nach innen gekehrte Kolonisierung. Ausdruck findet diese in einer gezielten Homogenisierungspolitik. Zum einen wurde „von oben“ vereinheitlicht, sowohl auf Seiten des Gesamtstaates als auch innerhalb der Teile des 18 Staatsgefüges (wofür die Magyarisierungspolitik in Ungarn ein Beispiel abgibt), zum anderen ist auch eine Homogenisierung „von unten“ registrierbar. Hierbei versuchten dominante gesellschaftliche Schichten ihre ökonomische, kulturelle und nationale Vorherrschaft zu sichern. So lässt sich auch der Assimilationdruck als Ausdruck von ungleichen Machtverhältnissen verstehen, wenn marginale Gruppen zunehmend den Zwang verspürten, sich in einem Akt der Selbstkolonisierung dem dominanten kulturellen Narrativ zu unterwerfen. Die Homogenisierung fand also auf verschiedenen Ebenen statt, sie traf die verschiedenen Teile des Imperiums unterschiedlich stark, und sie verfolgte zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Ziele. Unleugbar ist aber, dass sich hinter ihr quasi-koloniale Machtdiskurse verbargen, auch wenn die politische Vereinheitlichung vorderhand dem Zweck der Zentralisierung diente. So merkt auch Karl-Markus Gauss an, dass zum Beispiel schon der Name der „übernationalen Monarchie“, die in ihren späten Jahren als „österreichischungarische“ firmierte, verrate, dass die Gleichberechtigung der Nationen eine begrenzte blieb.32 Wie die Deutsch-Österreicher in der einen, so waren die Ungarn in der anderen Reichshälfte dazu privilegiert, den Kampf um eigene Vorrechte als übernationales Interesse auszugeben. Und das teils erbittert konkurrenzierende, teils verwandtschaftlich vertraute Verhältnis der österreichischen und ungarischen Eliten wuchs nicht aus dem geheimnisvollen Rankenwerk der Mythen heraus und wurde auch nicht mit dem Schmalz der Gefühle geschmiert, sondern war in diesen gemeinsamen Privilegien gegründet.33 Um unter den Völkern der Monarchie die wachsenden Selbstverwirklichungsansprüche zurückzuweisen, versuchte man im Sinne einer „funktionalen Aufklärung“ (Leslie Bodi) Zentrifugalkräfte zu schwächen und systemgefährdende, differenzierende Veränderungen durch Vereinheitlichungsmaßnahmen zu unterbinden. Die gewachsene „horizontale Differenziertheit“, die auf der ethnisch-sprachlich-kulturellen Heterogenität fußte, verschärfte sich noch durch den im Zuge der Modernisierung hervorgerufenen „vertikalen“ sozial-ökonomischen Differenzierungsprozess. So waren die Vereinheitlichungsmaßnahmen eine Reaktion auf die pluralistische Verfasstheit der Monarchie. Zwar bestand der Hauptgrund der Homogenisierung, die unter anderem die Verringerung der Symbolsysteme zum Ziel hatte, in der Steigerung der Zentralisierung seitens des aufgeklärten Monarchen und nicht in einer nationalromantischen Überformung anderer Völker des Vielvölkerstaates, zweifelsohne ließ aber die Standardisierung (discursive literacy) auch ein Bewusstsein für ethnische Unterschiede erwachen.34 So wurden diese Maßnahmen des Zen- 19 trums von den Völkern der Monarchie oftmals als autoritärer Akt und alsbald auch als nationale Bevormundung aufgefasst. Die Sprache sollte in diesem polyglotten Staat einen zentralen Stellenwert als Vereinheitlichungsmittel gewinnen. Daher wandte man sich in Ungarn vehement gegen die Sprachpolitik Josephs II., weil die mit ihr verbundene Zentralisierung zwangsläufig zur Aufhebung ständischer Vorrechte führte. Der Versuch, die deutsche Sprache durch Verordnung (1784) als Verwaltungs- und Staatssprache einzuführen, sollte zuvorderst der Auflösung der ständischen Verwaltungsorgane dienlich sein. Versetzbare deutschsprechende Staatsbeamte verfügten über keine Machtbasis vor Ort. Diese Homogenisierung war insbesondere auch dem österreichischen Aufklärer Joseph von Sonnenfels (1733–1817) ein zentrales Anliegen: Hatte Sonnenfels schon im Jahr 1765 mit seinen Grundsätzen der Polizey, Handlung und Finanz35 auf die Vereinheitlichung der staatlichen Verwaltung abgezielt, versuchte er nach dem Tod Josephs II. (1790) das öffentliche Recht als Grundlage für eine Staatsverfassung zu kodifizieren. Sonnenfels sah dabei die Vorteile, die ein einheitlicher Kodex für ein so sehr in verschiedene Provinzen zerfallenes Land wie Österreich mit sich bringen müsse.36 Dieser maßgebliche Aufklärer trat aber auch auf sprachlicher Ebene für Vereinheitlichung auf. Insbesondere versuchte er in der öffentlichen Verwaltung die Sprachenvielfalt zu reduzieren: Sonnenfels vereinheitlichte mit seinem an den Universitäten obligaten Lehrbuch „Über den Geschäftsstil“ (1784) die Verwaltungssprache der deutschsprachigen Länder des Vielvölkerstaates, indem er einen normierten „Sprachduktus“ introduzierte.37 Sein Ziel war nicht, einen Sprachnationalismus, wie er sich im 19. Jahrhundert ausbilden sollte, zu antizipieren, sondern vielmehr die Hebung des staatsbürgerlichen Geistes der deutschsprachigen Staatsbeamten. Vereinheitlichend wirkte aber auch das nonverbal-symbolische Sprachargument der Architektur. Zur Vereinheitlichung wurde ein habsburgischer „Universalstil“ geschaffen. In den Kronländern wurden zahlreiche öffentliche Gebäude in diesem „Universalstil“ errichtet. Die Orientierungsmuster lieferten dafür die großen Stile der Vergangenheit (Gotik, Renaissance, Barock), denen zunächst im Vielvölkerstaat kein nationalistischer Sinn anhaftete.38 Auch das „patriotische Gesamtstaatsdenken“, zum Beispiel des Historikers Joseph von Hormayr (1781–1848), in dem die Teile des Staates als eine einheitliche Größe präsentiert wurden, verfolgte ein ähnliches Ziel. Der Weg dahin führte über die Ausbildung der zukünftigen Staatsbeamten. Hormayr 20 entwarf ein romantisierendes Bild einer „österreichischen“ Kultur, das von Differenzen geprägt war. Jedoch ließ Hormayr noch die für die Gesamtstaatsauffassung auch maßgeblichen nivellierenden Aspekte außer Acht, welche in der 2. Jahrhunderthälfte in dem Motto der „Einheit in der Vielheit“ Ausdruck finden sollten:39 „Solch vermehrtes Hin- und Herwogen, solch vervielfältigtes Aus- und Zurückströmen, solch Nähe und Fülle wechselseitig hilfreicher Kraft [...] nährt und stärkt die Völker und die Lande, deren Originalität in einer, sich ewig wiederkäuenden Einförmigkeit bald verwerfen würde.“40 Mit Hormayr vergleichbar ist auch die Intention Joseph Alexander Freiherr von Helferts (1820–1910), eine österreichische „Nationalgeschichte“41 zu schaffen, verstanden als eine Geschichte des österreichischen Gesamtstaates und Gesamtvolkes: Damit sollte unter den Völkern der Monarchie ein vereinheitlichender Österreichpatriotismus geschürt werden. Nationalgeschichte ist uns daher nicht die Geschichte irgend einer racenmäßig ausgezeichneten Gruppe aus den vielzüngigen und vielfarbigen Stämmen des Menschengeschlechtes, sondern die Geschichte einer territorial und politisch zusammengehörenden, von dem Bande der gleichen Autorität umgeschlungenen, unter dem Schutze des gleichen Gesetzes verbundenen Bevölkerung.42 Die romantische Vorstellung von einer (österreichischen) Sprachnation wies Helfert jedoch emphatisch zurück, sich der Gefahr wohl bewusst, welche die Hervorhebung einer „racenmäßig ausgezeichneten Gruppe“ für die Monarchie darstellen konnte. Dieser Patriotismus zog aber keinesfalls die Vielfalt der Identitäten und Vergangenheiten in Österreich in Zweifel. Helfert unterscheidet sich von den vormärzlichen Vorstellungen besonders dadurch, dass er die verschiedenen Teile, die das „großösterreichische“ Ganze bildeten, als gleichberechtigte, aber eigenständige Teile betrachtet.43 Diese staatstreuen Autoren hatten die Vereinheitlichung bewusst nicht als sprachnationale Überformung intendiert, ihr Ziel war vielmehr das „Gemeingefühl der österreichischen Völker und Länder“44 zu stärken. Schließlich wurden Homogenisierungsmaßnahmen auch auf der akademischen Ebene durchgeführt, insbesondere in der Schaffung einer „Österreichischen Philosophie“, als einer „Grundlagenwissenschaft“ mit lebenspraktischer Orientierung, die sich im Rang einer Staatsphilosophie universitär entfaltete und auch in den Schulen vermittelt wurde.45 Diese Philosophie hatte somit offenbar die Aufgabe, im Sinne des Gesamtstaates stabilisierend zu wirken und die als staatsgefährdend aufgefassten Zentrifugalkräfte zu schwächen. 21 Ist die Annahme, dass sich hinter den oben angeführten Homogenisierungsmaßnahmen kulturkolonialistische Motive verbargen, zwar gerechtfertigt, aber doch diskutierbar, so wies die neoabsolutistische und zentralistische Vorgangsweise durch das „Ministerium Bach“ (1852–1859) eindeutig kolonialistische Züge auf, versteht man unter Kolonialismus (so wie eingangs ausgeführt) die direkte Machausübung einer Herrschaft mit gleichzeitiger Implementierung ihres Kultursystems. Ungarn wurde nach der Niederschlagung der Revolution (1849) sukzessive in das zentralisierte Habsburgerreich eingegliedert und einer autokratischen Zivilverwaltung unterworfen.46 Die Vereinheitlichung war auch nach 1867 (in dualistischer Zeit) ein vordringliches Anliegen des Staates (zum Beispiel durch die verbindende Figur des Kaisers, durch Militär, Verwaltung und den Hohen Adel), wenngleich die Zentralisierungspolitik infolge der verlorenen Kriege (1859 und 1866) und innerer Schwächen sukzessive zum Erliegen kam; seither drückte jedoch zusehends eine neue Gruppierung der Homogenisierung ihren Stempel auf:47 das aufstrebende deutsch-liberale Bürgertum (in Österreich) beziehungsweise die Magyaren (in Ungarn) – national gefärbte Schichten, die vermittels der Vereinheitlichung nicht nur ihre ökonomischen Interessen im Gesamtstaat zu wahren, sondern auf diesem expansiven Wege auch ihrer jeweiligen nationalen Idee die Vorherrschaft zu sichern suchten. Zwar versicherte die Verfassung die sprachlich-nationale Gleichberechtigung der Völker formell,48 jedoch lässt sich ein hegemoniales Ansinnen der Deutschliberalen und der Magyaren nicht verleugnen. Dieses verschärfte sich noch mit dem Aufkommen der nationalpolitischen Avancen der Slawen. Erfahrene Vielfalt versus Konstruktion von Differenzen Zwar waren mit der Vereinheitlichungspolitik und der Zentralisierung Bachscher Prägung die Diversitäten bewusst verwischt worden, im Zuge der Modernisierung in der zweiten Jahrhunderthälfte steigerten sich aber einerseits die ethnisch-sprachlich-kulturelle Vielfalt sowie die soziale Differenziertheit, ohne dass die Differenzen zunächst zwangsläufig im Sinne nationaler Abgrenzungen gedeutet wurden. Der Sinn für Diversitäten war vielmehr in der sozialen Praxis tief verwurzelt. Zugleich wurden aber anderseits auch bewusst Differenzen zwischen den verschiedenen Kulturen, Ethnien und Sprachen aufgewertet, konstruiert und „verfestigt“. Durch die Markierung von neuen Abgrenzungen ließen sich wieder Partikularitäten erzeugen. Auf diese Weise 22 konnten auch Alteritäten sichtbar gemacht und deren Ausgrenzung kulturell gerechtfertigt werden. Was diese beiden Differenzformen betrifft, soll im folgenden auf letztere und weiter unten auf erstere Bezug genommen werden. Zur symbolischen Konstruktion von Differenz Die symbolische Abgrenzung „kultureller Monaden“49 war das Mittel, durch das sich nationalkulturelle „Authentizität“ konstruieren ließ. Hierbei war auch noch der Rückgriff auf eine gemeinsame (selektiv ausgewählte) Vergangenheit behilflich. Mit der Herstellung solcher Ordnungen versuchte man jedenfalls, die zusehends als Chaos verstandene Komplexität vielschichtiger, aber konfliktbeladener ethnisch-kultureller Verhältnisse in Griff zu bekommen. Mit Hilfe einheitsstiftender Symbolisierungen sollte die Chaoswahrnehmung überwunden werden. Ordnung konnte vermittels kultureller Deutung verflüssigter Differenzen, durch bewusste Inklusionen oder Exklusionen geschaffen werden. Kulturelle Differenzen wurden so bewusst konstruiert, oder anders gesagt wurden Unterschiede nicht nur beschrieben, sondern auch mit einer bestimmten Kohärenz stiftenden Sinnvorgabe aufgeladen.50 Dadurch wurde kollektive Identität kulturell gestiftet,51 ohne dass diese unbedingt und immer tatsächlich Spiegelbild der Wahrnehmung von sozialer Wirklichkeit war. Anders gesagt bildet(e) sich das kollektive Bewusstsein also nicht immer durch bewusste Differenzwahrnehmungen direkt aus einem Ort, aus einem soziokulturellen Milieu oder einem historischen Gedächtnis (sei dieses nun einfach oder komplex-vieldeutig) aus, vielmehr können/konnten kollektive Identitäten auch Resultat aktiver Konstruktionsprozesse sein.52 Auch Heidemarie Uhl betont, dass das Selbstverständnis von Individuen und Kollektiven nicht immer auf objektiven Kriterien, wie einer gemeinsamen Sprache, Kultur oder Geschichte, beruhen musste, sondern es kann/konnte auch konstruiert sein,53 das heißt, durch wirkungsmächtige Diskurse (wie zum Beispiel dem Nationalismus) geschaffen sein. Die Entscheidung darüber, welche Abgrenzungskriterien (sei es Hautfarbe, Sprache, Religion) hierfür als maßgeblich und hinreichend erachtet werden/wurden, fällt/fiel diskursiv; der Diskurs ist/war allerdings durch die dominante Kultur bestimmt, oder um es mit Peter Niedermüller zu formulieren: „In diesem Sinne funktioniert die Kategorie der kulturellen Differenz in der Moderne als kognitiver und sozialer Deutungsmechanismus, der die soziokulturelle Welt, den sozialen Raum ordnet, erklärt und 23 interpretiert.“54 Diskursiv produziert und symbolisch aufgeladen wurden jene Differenzen im zentraleuropäischen Kommunikationssystem vor allem zum Zwecke der Nationsstiftung. Hierfür war die verbale Sprache das maßgebliche Signum, anhand welchem sich kulturelle Differenzen konstruieren ließen. Vor 1848 war die Sprachpolitik der absoluten, autoritären Herrschaft noch auf Vereinheitlichung, das heißt, auf das Ziel der Schaffung einer modernen Ordnung (auf bürokratische Zentralisierung) ausgerichtet. Mit dem zunehmenden Stellenwert von Nationalität gewann die Sprache aber zusehends eine Symbolfunktion. Sprachen und Sprachverwendungen wurden mit der Aufgabe nationaler Identitätsstiftung befrachtet, übernahm sie doch zunehmend die Aufgabe, Differenzen symbolisch zu manifestieren. Identität reduzierte sich dadurch sukzessive auf die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv (der Nation) unter Auslöschung anderer individueller Identifikatoren. Die Nationalität(en) verkörperte(n) seither das Ideal, sie versah(en) sich mit dem Schein des Natürlich-Authentischen. So erschienen auch die multilingualen Verhältnisse alsbald als unnatürlich, obzwar Mehr- und Gemischtsprachigkeit in einem Großteil des Staatsverbandes, insbesondere in den Großstädten, noch die selbstverständlich geübte kommunikative Praxis waren. Auf diese Weise wurden kulturelle Differenzen bewusst aufgewertet, und zugleich wurden dort Grenzziehungen eingefordert, wo signifikante Unterschiede verloren zu gehen drohten. Dabei werden auch Parallelen zur Rolle der Sprache in den gegenwärtigen Nationsbildungsprozessen sichtbar, in denen zu vergleichbarem Zwecke BindestrichSprachen wie zum Beispiel das Serbo-Kroatische bewusst zerstört werden.55 Erfahrene Vielfalt Ungeachtet dieser künstlichen Aufwertung und Verfestigung von Differenzen war die soziale Praxis im ausgehenden 19. Jahrhundert in Zentraleuropa von einer ethnischen, kulturellen und konfessionellen Vielfalt geprägt. In der Haupt- und Residenzstadt Wien hatte sich die Zahl der Einwohner während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (bis 1914) verfünffacht. Der Großteil der in Wien, aber auch in anderen urbanen Zentren der Monarchie (Prag, Budapest) ansässigen Menschen, war – dem Sog der Industrialisierung in den Städten folgend – von anderen, häufig slawischen Sprachregionen der Monarchie zugewandert.56 So hatten sich im Zuge der ökonomischen Modernisierung, der Industrialisierung und der Urbanisierung die unterschiedlichen memoires culturelles in den Großstädten der Monarchie verdich- 24 tet. Obzwar die wirtschaftliche Modernisierung (Industrialisierung) in den größeren Städten Österreich-Ungarns auch vereinheitlichend wirkte,57 sollte sich die Wahrnehmung der Differenzen infolge der massiven Zuwanderung noch zusehends vertiefen. Zwar verliefen Assimilationen oft auch erfolgreich, aber die Differenzen blieben trotz der Aufgabe der tiefen Verwurzelungen in den Herkunftsmilieus vielfach bestehen; das Andersein war kaum zu verbergen. Somit stand vor allem der urbane Mitteleuropäer (war er zugewandert oder einheimisch) auch im Spannungsfeld vielfältiger kultureller Codes und Gedächtnisse. Hybride Verhältnisse beherrschten so alsbald die Szenerie. Die Erfahrung von Pluralismus hatte jedoch ambivalente Auswirkungen: Zum einen dürfte er zwar schöpferisches Argumentieren stimuliert haben, zum anderen waren hier auch infolge der Verunsicherungen, die durch die verwirrende Vielfalt der Kulturen hervorgerufen wurden, Spannungen, Krisen und Konflikte präsent. Solchen hybriden Verhältnissen war ein gehöriges Bedrohungspotenzial inhärent. Die Wahrnehmung von Heterogenität konnte daher auch eine „crise d’identité“(Jacques Le Rider)58 auslösen. Oftmals sollte dieser „Werteverlust“ durch Holismen ausgeglichen werden, oder wie Gotthart Wunberg schreibt: durch „Surrogatkonzepte“59, deren manifeste Verwirklichungsformen von der Wandervogelbewegung über die Theosophie zu politischen Entwürfen wie dem Nationalsozialismus reichten. In diesen Surrogatkonzepten manifestierte sich die bewusst konstruierte Differenz augenfällig. Für eine plurikulturelle Gesellschaft, wie sie im Habsburgerreich vorlag, war letztere jedenfalls verhängnisvoll: Wo individuelle und kollektive Identitäten auf ein einziges wirkmächtiges Narrativ und einen einzigen Handlungsgrund (wie zum Beispiel die Nationsbildung) reduziert wurden, war der Pluralismus als Lebensform nicht länger aufrecht zu erhalten. Anfangs wurde das Andere vielleicht noch toleriert, bald wurde es aber marginalisiert und schließlich drohte ihm nach der Ausgrenzung die Ausmerzung. Conclusio Wird der Analyse solcher Prozesse für unser gegenwärtiges Sein als wichtig erachtet, zeigt sich, dass sich durch die Anwendung postkolonialer Ansätze noch viele unentdeckte Zwischenräume aufspüren lassen. So können sich auch so manche neuen Perspektiven für eine österreichische Geschichte jenseits des Nationalstaats eröffnen. Das Inventar, das die postkoloniale Theorie zur Verfügung stellt, erlaubt unter anderem jedenfalls, jene Machtverhältnis- 25 se, die jeglicher kulturellen Differenz eingeschrieben waren/sind, zu dechiffrieren: Differenzen, die zu nationalpolitischen Zwecken missbraucht wurden, aber auch solche, die infolge der Vervielfältigung der Lebenswelt im modernen Zeitalter erfahren wurden, ohne kulturell gedeutet zu werden. Tritt man also mit einer postkolonialen Haltung an die Vergangenheit heran, wird auch wieder jene mehrdeutige Welt sichtbar, die ebenfalls ihre, wenn auch viel verborgenere Geschichte hat. Diese war häufig durch die dominante nationale, lineare und eindimensionale Perspektive, die auch in der österreichischen Geschichtsschreibung des letzten Jahrhunderts vorherrschte, verdeckt worden. Die Analyse der Mehrdeutigkeit scheint heute umso gerechtfertigter, als die Erfahrung der vervielfältigten Lebenswelt zu einem „performativen“ Kriterium der individuellen und kollektiven Identität des ausgehenden 20. Jahrhunderts und des noch jungen 21. Jahrhunderts wurde. Migrationen, Globalisierung und transnationale Identitäten, kurz das Problem kultureller Differenzen, sind unhintergehbare und bestimmende Kriterien gegenwärtiger politischer, sozialer und kultureller Prozesse. Die postkoloniale Haltung – exemplifiziert am „Laboratorium Zentraleuropa“ – vermag nicht nur Impulse für eine Gegenwartsgeschichte zu liefern, sondern vielleicht auch Strategien für einen künftigen Umgang mit kultureller Differenz zu modellieren. Dieser Aspekt reicht aus, dieses Buch zu veröffentlichen: Zentraleuropa im Blickfeld habend, handelt dieses doch von einem Problem von globaler und zeitgemäßer Relevanz: von der Einebnung von Vielfalt sowie der Konstruktion von kulturellen Differenzen. Dafür gibt gegenwärtig eine militärische Großmacht ein hervorragendes Beispiel ab. Anmerkungen 1 Karl-Markus GAUSS, Ins unentdeckte Österreich. Nachrufe und Attacken, Wien 1998, S. 95. 2 Anil BHATTI, Kulturelle Vielfalt und Homogenisierung, in diesem Band, S. ... 3 Zur Dechiffrierung solcher Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse, in denen die Einen auf Kosten der Anderen profitierten, bedarf es einer Analyse von Kultur. Kultur wird in unserem Zusammenhang nicht als organischer Körper begriffen, der wächst, lebt, sich abgrenzt und stirbt, sondern in einem offeneren anthropologischen Sinne als vielschichtiger „Text“, als eine Ansammlung von Codes, mittels derer Individuen kommunizieren. Vgl. u. a. Clifford GEERTZ, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 1994. Doris BACHMANN-MEDICK (Hg.), Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1996. 26 5 6 7 ^ 8 9 10 11 12 13 14 15 ^ 4 Moritz CSÁKY, Richard REICHENSPERGER (Hg.), Literatur als Text der Kultur, Wien 1999. Vgl. dazu unter anderem: Lutz MUSNER, Gotthart WUNBERG (Hg.), Kulturwissenschaften. Forschung, Praxis, Positionen, Wien 2002. Jürgen OSTERHAMMEL, Kolonialismus. Geschichte – Formen – Folgen, München 32001, S. 21. Zur genaueren Typologisierung des Kolonialismus vgl. Clemens RUTHNER, K. u. k. Kolonialismus als Befund, Befindlichkeit und Metapher: Versuch einer weiteren Klärung, in diesem Band, S. ... Das Thema der Inklusion/Exklusion ist bereits im Jahr 1996 durch den Steirischen Herbst aufgegriffen worden. Peter Weibel und Slavoj Zizek widmeten dem Problem des Postkolonialismus und der globalen Migration ein Symposion und ein Buch. Vgl. Peter WEIBEL, Slavoj ZIZEK (Hg.), Inklusion : Exklusion. Probleme des Postkolonialismus und der globalen Migration, Wien 1997, S. 45–74. Edward SAID, Orientalism. Western Conceptions of the Orient, New York 1977 (dt. Erstausgabe Frankfurt a. M. 1981). Zu den Postkolonial Studies vgl. u. a. Homi K. BHABHA, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000 (Stauffenburg Discussion 5). Leela GHANDI, Postcolonial Theory. A Critical Introduction, Edinburgh 1998. Bill ASHCROFT, Gareth GRIFFITHS, Helen TIFFIN, Key Concepts in Post-Colonial Studies, London–New York 1998. DIESS., The Postcolonial Studies Reader, London– New York 2002. John C . HAWLEY (Ed.), Encyclopedia of Postcolonial Studies, Westport, Conn. 2001. Robert J. C . YOUNG, Postcolonialism. An Historical Introduction, Oxford u. a. 2002. Einen ausgezeichneten Überblick zur postkolonialen Theorie liefert: http://www.postcolonialweb.org/poldiscourse/discourseov.html. Vgl. auch: Sebastian CONRAD, Shalini RANDERIA (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M.–New York 2002, darin im besonderen auch: Sebastian CONRAD, Shalini RANDERIA, Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt, S. 9–49. Auch Said hat inzwischen viele seiner ursprünglichen Standpunkte verlassen, vgl. Edward SAID, Orientalism Reconsidered, in: Francis BARKER, Peter HULME, Margaret IVERSEN and Diana LOXLEY (Hg.), Literature, Politics, and Theory, London 1986, S. 210-229. Vgl. Stefan SIMONEK, Möglichkeiten und Grenzen postkolonialistischer Literaturtheorie aus slawistischer Sicht, in diesem Band, S. ... Anil BHATTI, Kulturelle Vielfalt und Homogenisierung, S. ... Vgl. ebenda. Anke GRANESS, Nausikkaa SCHIRILLA, Hybridität. Einleitung, in: Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 8 (2001), S. 4–6, hier S. 4. Vgl. dazu: Moritz CSÁKY, Pluralität. Bemerkungen zum „Dichten System“ der zentraleuropäischen Region, in: Neohelicon 23, 1 (1996), S. 9–30. DERS., Pluralistische Gemeinschaften. Ihre Spannungen und Qualitäten am Beispiel Zentraleuropas, in: Eve BLAU, Monika PLATZER (Hg.), Mythos Großstadt. Archi- 27 16 17 18 19 20 21 22 28 tektur und Stadtbaukunst in Zentraleuropa 1890–1937, München–London–New York 1999, S. 44–56. DERS., Historische Reflexionen über das Problem einer österreichischen Identität, in: Herwig WOLFRAM, Walter POHL (Hg.), Probleme der Geschichte Österreichs und ihrer Darstellung, Wien 1991, S. 29–47. DERS., Die Vielfalt der Habsburgermonarchie und die nationale Frage, in: Urs ALTERMATT (Hg.), Nation, Ethnizität und Staat in Mitteleuropa, Wien– Köln–Weimar 1996 (Buchreihe des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa 4), S. 44–64. Die Volkszählung von 1880 ergab für die gesamte Monarchie 26,4% Deutsche, 17,1% Magyaren, 13,7% Tschechen, 8,6% Polen, 8,3% Ruthenen (= Ukrainer), 7,7% Serben und Kroaten, 6% Rumänen, 5% Slowaken, 3% Slowenen, 1,7% Italiener und 1,6% Sonstige; 1910: 24,2% Deutsche, 20,3% Magyaren, 13% Tschechen, 10 % Polen, 8,1% Ruthenen, 7,6% Serben und Kroaten, 6,5% Rumänen, 4 % Slowaken, 2,5% Slowenen, 1,6% Italiener, 2,2% Sonstige. Vgl. auch: Emil BRIX, Die Umgangssprachen in Altösterreich zwischen Agitation und Assimilation. Die Sprachenstatistik in den zisleithanischen Volkszählungen 1880 bis 1910, Graz 1982 (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs 72). Vgl. weiters Adam WANDRUSCHKA, Peter URBANITSCH (Hg.), Die Völker des Reiches, 2 Bde., Wien 1980 (DIESS., Die Habsburgermonarchie 1848–1918, 3). Vgl. dazu: Peter STACHEL, Ein Staat, der an einem Sprachfehler zugrunde ging. Die „Vielsprachigkeit“ des Habsburgerreiches und ihre Auswirkungen, in: Johannes FEICHTINGER, Peter STACHEL (Hg.), Das Gewebe der Kultur. Kulturwissenschaftliche Analysen zur Geschichte und Identität Österreichs in der Moderne, Innsbruck–Wien–München 2001, S. 11–45. Friedrich UMLAUFT, Einleitung, in: Die Österreichisch-Ungarische Monarchie. Geographisch-statistisches Handbuch, Wien–Pest 1876, S. 1–4. Joseph von EÖTVÖS, Die Garantien der Macht und Einheit Oesterreichs, Leipzig 41859, S. 11. Zahlenmäßige Belege für die ethnisch-sprachlicher Zersplitterung der Nachfolgestaaten liefert CSÀKY, Pluralistische Gemeinschaften, S. 54. Vgl. Moritz CSÁKY, Gedächtnis, Erinnerung und die Konstruktion von Identität. Das Beispiel Zentraleuropas, in: Catherine BOSSHART-PFLUGER, Joseph JUNG, Franziska METZGER (Hg.), Nation und Nationalismus in Europa. Kulturelle Konstruktion von Identitäten, Frauenfeld–Stuttgart–Wien 2002, S. 25–49. Vgl. http://www.oeaw.ac.at/kkt/; und die Publikationsreihen „Orte des Gedächtnisses“ und „Gedächtnis – Erinnerung – Identität“. Vgl. dazu: Moritz CSÁKY, Peter STACHEL, Mehrdeutigkeit. Die Ambivalenz von Gedächtnis und Erinnerung, Wien 2003 (Orte des Gedächtnisses). Jacques LE RIDER, Moritz CSÁKY, Monika SOMMER (Hg.), Transnationale Gedächtnisorte in Zentraleuropa, Innsbruck–Wien–München–Bozen 2002 (Gedächtnis – Erinnerung – Identität 1). Vgl. die Internetplattform www.kakanien.ac.at; das von Wolfgang Müller-Funk unter Mitarbeit von Clemens Ruthner, Peter Plener und anderen durchgeführte FWF-Projekt: „Herrschaft, ethnische Differenzierung und Literarizität. Fremd- und Selbstbilder in der Kultur Österreich-Ungarns 1867–1918“ und 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 ^ 24 25 ^ 23 den Sammelband: Wolfgang MÜLLER-FUNK, Peter PLENER, Clemens RUTHNER (Hg.), Kakanien revisited. Das Fremde und das Eigene (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie, Tübingen–Basel 2002 (Kultur – Herrschaft – Differenz 1). Vgl. Dzevad KARAHASAN, Tagebuch der Aussiedlung, Klagenfurt–Salzburg 1993. Vgl. Wolfgang LIPP, Drama Kultur, Berlin 1994. Vgl. Dzevad KARAHASAN, Das Ende eines Kulturmodells?, in: DERS., Fragen zum Kalender. Artikel, Essays, Reden, Wien 1999 (Interventionen 1), S. 77. KARAHASAN, Tagebuch der Aussiedlung, S. 14. KARAHASAN, Das Ende eines Kulturmodells?, S. 77. Vgl. Andreas ACKERMANN, Wechselwirkung – Komplexität. Einleitende Bemerkungen zum Kulturbegriff von Pluralismus und Multikulturalismus, in: Andreas ACKERMANN, Klaus E. MÜLLER (Hg.), Patchwork. Dimensionen multikultureller Gesellschaften. Geschichte, Problematik und Chancen, Bielefeld 2002, S. 11, S. 14. Zur Hybridität vgl. Elisabeth BRONFEN, Benjamin MARIUS, Hybride Kulturen. Einleitung zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, in: Elisabeth BRONFEN, Benjamin MARIUS, Therese STEFFEN (Hg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen 1997 (Stauffenburg Discussion 5), S. 1–29. Jan Nederveen PIETERSE, Der Melange-Effekt. Globalisierung im Plural, in: Ulrich BECK (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a. M. 1998, S. 87–124. Vgl. auch: Ursula PRUTSCH, Habsburg postcolonial, in diesem Band, S. ... Hybridität konnte zu sozialen Marginalisierungen führen, Marginalisierte entfalteten oft aber eine besonders kreative Haltung: „Mélange, Mischmasch, ein bißchen von diesem, ein bißchen von jenem, das ist es, wodurch das Neue in die Welt tritt“, sagt Salman RUSHDIE, in: Heimatländer der Phantasie, Essays und Kritiken 1981– 1991, München 1992, S. 458. Vgl. dazu auch: Johannes FEICHTINGER, Kulturelle Marginalität und wissenschaftliche Kreativität. Jüdische Intellektuelle im Österreich der Zwischenkriegszeit, in: FEICHTINGER, STACHEL, Das Gewebe der Kultur, S. 311–333. Vgl. auch: Peter NIEDERMÜLLER, Der Mythos des Unterschieds: Vom Multikulturalismus zur Hybridität, in diesem Band, S. ... Heidemarie UHL, Zwischen „Habsburgischem Mythos“ und (Post-)Kolonialismus. Zentraleuropa als Paradigma für Identitätskonstruktionen in der (Post-) Moderne, in diesem Band, S. ... Vgl. Karl-Markus GAUSS, Ins unentdeckte Österreich, S. 95. Vgl. ebenda, S. 96. Vgl. Michael MANN, The Emergence of Modern European Nationalism, in: John A. HALL, Ian Charles JARVIE (Hg.) Transition to Modernity. Essays on Power, Wealth and Belief, Cambridge 1992, S. 137–165, hier S. 142–151. Vgl. Joseph von SONNENFELS, Sätze aus der Polizey-, Handlungs- und Finanz-Wissenschaft, Wien 1765, dann mehrfach überarbeitet und erweitert, nach 1787 mehrfach neu aufgelegt und auch eigens für den Gebrauch als universitä- 29 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 30 res Lehrbuch bearbeitet. Vgl. dazu auch: STACHEL, Ein Staat, der an einem Sprachfehler zugrunde ging, S. 26 f. Vgl. dazu die Sonnenfelssche Denkschrift („Promemoria“) zur Kodifikation des öffentlichen Rechts, ausführlich behandelt in: Karl-Heinz OSTERLOH, Joseph von Sonnenfels und die österreichische Reformbewegung im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus. Eine Studie zum Zusammenhang von Kameralwissenschaft und Verwaltungspraxis, Lübeck–Hamburg 1970 (Historische Studien 409), S. 208 f. Grundlage hierfür war das Sonnenfelssche Sprachlehrbuch, das 1784 erstmals veröffentlicht wurde. Für die zweite Auflage gründlich überarbeitet und mit neuem Titel versehen, wurde dieses offizielle Lehrbuch für Beamte mehrfach nachgedruckt; es blieb bis 1848 an den österreichischen Universitäten als Lehrbuch in Gebrauch; vgl. Joseph von SONNENFELS, Ueber den Geschäftsstil. Die ersten Grundlinien für angehende oesterreichische Kanzleybeamte, Wien 1784. Vgl. dazu u. a. Moritz CSÁKY, Pluralität und Wiener Moderne, in: M. GODÉ, I. HAAG, J. LE RIDER (Hg.), Wien – Berlin: Deux cités de la modernité – Zwei Metropolen der Moderne (1900–1930), Montpellier 1993 (Cahiers d‘Etudes Germaniques 24), S. 246 f. Leslie BODI, Sprachregelung als Kulturgeschichte. Sonnenfels. Über den Geschäftsstil (1784) und die Ausbildung einer österreichischen Mentalität, in: Gotthart WUNBERG, Dieter A. BINDER (Hg.), Pluralität. Eine interdisziplinäre Annäherung. Festschrift für Moritz CSÁKY, Wien–Köln–Weimar 1996, S. 122–153. Peter STACHEL, Ein Staat, der an einem Sprachfehler zugrunde ging, S. 26 f. Vgl. Friedrich ACHLEITNER, Sprachprobleme der Architektur, oder: Worin unterschieden sich Nationalarchitekturen?, in: Moritz CSÁKY, Peter STACHEL, Mehrdeutigkeit. Die Ambivalenz von Gedächtnis und Erinnerung. Wien, 2002, S. 213–227. DERS., Pluralismus der Moderne. Zum architektonischen Sprachproblem in Zentraleuropa, in: BLAU, PLATZER, Mythos Großstadt, S. 94–106. Vgl. Peter KAROSHI, Einheit in der Vielheit? Pluralität und Ethnizität in den staatserhaltenden Narriven des habsburgischen Reiches, in: newsletter Moderne 6, 1 (2003), S. 14–18. Joseph von HORMAYR, An die Leser des österreichischen Plutarch, in: Oesterreichischer Plutarch, oder Leben und Bildnisse aller Regenten, und der berühmtesten Feldherren, Staatsmänner, Gelehrten und Künstler, Wien 1807, S. 51. Joseph Alexander Frh. von HELFERT, Über Nationalgeschichte und den gegenwärtigen Stand ihrer Pflege in Oesterreich, Prag 1853, S. 1. HELFERT, Über Nationalgeschichte, S. 1 f. Vgl. Peter KAROSHI, Patriotismus und Staatserhalt. Konstruktionen „österreichischer“ Gesamtstaatsideen, in: newsletter Moderne, Sonderheft 2 (2003), S. 12–16, hier S. 14. Joseph Alexander Frh. von HELFERT, Oesterreichische Geschichte für das Volk. Vortrag gehalten in der sechzehnten Generalversammlung des Vereins zur Verbreitung von Druckschriften für Volksbildung, Wien 1863. Vgl. Peter STACHEL, Leibniz, Bolzano und die Folgen: Zum Denkstil der österreichischen Philosophie, Geistes- und Sozialwissenschaften, in: Karl ACHAM 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften 1: Historischer Kontext, wissenschaftssoziologische Befunde und methodologische Voraussetzungen, Wien 1999, S. 253–296. Anton RADVÁNSZKY, Grundzüge der Verfassungs- und Staatsgeschichte Ungarns, München 1990 (Studia Hungarica 35), S. 102. Die ungarische Amtssprache wurde durch die deutsche ersetzt, das ungarische oberste Gericht nach Wien verlegt, das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch und das Österreichische Strafgesetzbuch in Ungarn eingeführt und auch das Konkordat von 1855 auf Ungarn ausgedehnt. Ähnliche Maßnahmen wurden auch für die von Slawen bewohnten Gebiete ergriffen, zum Beispiel in Kroatien-Slawonien, dem 1849 eine konservative Verfassung oktroyiert wurde. 1851 wurde auch diese Verfassung aufgehoben, somit begann auch in Kroatien die Zeit des Neoabsolutismus. Zum Wandel der imperialen Vorstellungen von den traditionellen Mächten zu den neuen Eliten, vgl. Florian OBERHUBER, Zur Konstruktion bürgerlicher imperialer Identität. Gustav Ratzenhofers Vorträge zur Okkupation Bosniens und der Herzegowina, in diesem Band, S. ... Vgl. Gerald STOURZH, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918, Wien 1985. Vgl. Anil BHATTI, Kulturelle Vielfalt und Homogenisierung, S. ... Vgl. Peter NIEDERMÜLLER, Der Mythos des Unterschieds: Vom Multikulturalismus zur Hybridität, S. ... Vgl. ACKERMANN, Wechselwirkung – Komplexität, S. 11. Vgl. NIEDERMÜLLER, Der Mythos des Unterschieds, S. ... Vgl. UHL, Zwischen „Habsburgischem Mythos“ und (Post-)Kolonialismus, S. ... NIEDERMÜLLER, Der Mythos des Unterschieds, S. ... Vgl. Holm SUNDHAUSSEN, Neue Untersuchungen zum destruktiven Potential von Sprache und zur Überlebensfähigkeit multilingualer Staaten, in: Berliner Osteuropa-Info 17 (2001), S. 7–9. Tatsächlich waren von den Einwohnern Wiens im Jahr 1880 nur 38%, 1900 46% in Wien geboren. Vgl. CSÁKY, Gedächtnis, Erinnerung und die Konstruktion von Identität, S. 44. Vgl. David F. GOOD, Der wirtschaftliche Aufstieg des Habsburgerreiches 1750– 1914, Wien–Köln–Graz 1986 (Forschungen zur Geschichte des Donauraumes 7). Jacques LE RIDER, Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität, Wien 1990. Gotthart WUNBERG, Unverständlichkeit. Historismus und literarische Moderne, in: Hofmannsthal. Jahrbuch 1 (1993), S. 309–350, hier S. 317. 31 Habsburg postcolonial Ursula Prutsch Im Jahre 1945, 27 Jahre nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie, beurteilte Ivo Andric in seinem Roman Die Brücke über die Drina die österreichische Okkupationspolitik in Bosnien und Herzegowina am Beispiel der Stadt Visegrad mit ein paar knappen Sätzen folgendermaßen: Die neue Obrigkeit hatte nach den ersten Missverständnissen und Konflikten bei den Menschen einen bestimmten Eindruck der Festigkeit und Dauer hinterlassen. (Auch sie selbst war von dieser Illusion erfüllt [...]). Sie war unpersönlich, mittelbar und schon daher leichter zu ertragen als die alte türkische Herrschaft. Alles, was an ihr grausam und habgierig war, das verbarg sie hinter Würde, Glanz und geheiligten Formen.1 Dieser, aus der Erinnerung konstruierten, auf Herrschaft wie auf Inszenierung der Habsburgermonarchie anspielenden Einschätzung von Ivo Andric folgt eine kurze Beschreibung des kulturellen Einflusses der die Modernisierung bringenden Fremden – der Beamten, Händler, umgesiedelten Bauern, Industriellen – auf die pluriethnische Gesellschaft Bosniens und Herzegowinas, und Andric fügt hinzu, dass diese Fremden sich selbst nicht dem Einfluss der „ungewöhnlich orientalischen Umwelt“2 zu entziehen vermochten. Um Gesellschaften, in denen eine Vielzahl von Kulturen auf engem Raum miteinander in Beziehung stehen, besser erfassen zu können, wird der Begriff der Multikulturalität, der auf einem Denken der Einheit und einem statischen Kulturkonzept beruht (des Schmelztiegels, der Nationalkultur), verstärkt durch die Begriffe Hybridität und Transkulturation ersetzt, um bipolare Erklärungsmuster zwischen Eigenem und Fremdem zu überwinden und um Einheit, Geschlossenheit, Authentizität kultureller Traditionen sowie die territoriale Bindung von Kulturen in Frage zu stellen.3 Der erstmals in der Botanik angewandte Begriff Hybridität setzte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts rasch als Metapher für negative Konsequenzen 33 von interethnischen, das heißt vor allem kulturellen, sexuellen und sprachlichen Beziehungen durch und wurde gerade im Kontext sozialdarwinistischer Ideologien („unreine Vermischung“) angewandt. Obwohl dem Begriff Hybridität bis heute botanisch-agrarindustrielle Konnotationen anhaften, wurde er im 20. Jahrhundert positiv umgedeutet und als Schlüsselbegriff in soziologischen und kulturwissenschaftlichen Debatten, ab 1980 gerade auch in den Postcolonial Studies verwendet. Das der Hybridität zugrundeliegende Konzept war früher unter den Begriffen Kreolisierung beziehungsweise Synkretismus bekannt.4 Die negativen Konnotationen der Kolonialzeit, die Zuschreibung von Schuld an Rückschrittlichkeit hatten etwa in Lateinamerika bereits im frühen 20. Jahrhundert einen Paradigmenwechsel im Kontext der kulturellen Dekolonisierung, des Infragestellens westlicher Moderneprojekte und der Hinwendung zu indigenen Bevölkerungsgruppen durchgemacht. Neben dem Begriff der mestizaje/mestizagem als Beschreibungsmöglichkeit für kulturelle Vermischung, in der verschiedene Elemente eine Verbindung eingehen, fand der Hybriditätsdiskurs früh Eingang in die Analyse des Kulturkontaktes, der „kulturellen Besonderheit“ und der Entdeckung des „Eigenen“.5 Der Vorteil des Begriffes der Hybridität gegenüber Konzepten der Vermischung liegt für den argentinisch-mexikanischen Anthropologen Néstor García Canclini darin, dass dieser Gegensätze und Konflikte in plurikulturellem Gefüge mitbedenke, während der Vermischungsgedanke die Kulturbegriffe auf das Konzept des National-Authentischen zuschneide.6 Es gehe bei hybriden Kulturen nicht um die verkennende Identifikation des Einen im Anderen, sondern um dasjenige, das aus Verschiedenem zusammengesetzt ist, das Fragmentarische, „die unendliche Vielzahl zumeist alltäglicher ‚Geschichten‘, die zu multiplen Formen der kulturellen Interaktion Anlass geben.“7 García Canclinis Definition des „Hybriden“ ist eine Implosion von tradierten Bedeutungsstrukturen. Nun wird das Prinzip des Überganges bestimmend; vormals definierte Kulturräume werden entgrenzt, Dichotomien wie Zentrum und Peripherie relativiert. Grenze wird als Übergang, nicht als Trennlinie interpretiert. Vielheit kann nicht mehr als Einheit gedacht werden. Hybridisierungsprozesse, die transnationale Umstrukturierung der Kulturen machen dabei weder die Fragen nach dem Nationalen, noch die Gegensätze zwischen hegemonialen und subalternen Gruppen und Klassen obsolet.8 Stuart Hall, für den kulturelle Identitäten immer hybrid sind, betont, dass vorgestellte Identität immer in die Kultur des politischen Gegners, also der Kolonisatoren oder einer Majorität verwickelt ist; zudem verweist er auf die Wichtigkeit historischer Textbezogenheit der Analysen. 34 Homi Bhabha übernahm im Rahmen der Diskussion über den kolonialen Diskurs der Postcolonial Studies Mitte der 1980er Jahre den Hybriditätsbegriff von Michail Bachtin, dessen Definition und Anwendung in der Literaturwissenschaft einen „turning point“ dargestellt habe, da er „Vermischung zweier sozialer Sprachen innerhalb einer einzigen Äußerung“ beinhaltete. Bhabha befasst sich mit der „anderen Szene“ kolonialer Machtentfaltung. Er hebt die unausweichliche Ambivalenz hervor, in die beide Seiten, Kolonisierte und Kolonisierer, mittels des Konzeptes der Mimikry verwickelt werden können.9 Er stellt damit das Hybride als diskursive Strategie des zivilen Ungehorsams der Kolonisierten (als Subversionsmöglichkeit gegen die Macht) aus. Kulturelle Differenzierung wird als Effekt einer diskriminatorischen Praxis produziert. Kolonisierte Subjekte befinden sich deshalb nicht zwischen zwei Kulturen; kulturelle Äußerungen verkörpern immer das „Eine im Anderen“. Begriff und Konzept haben mittlerweile zahlreiche kritische Stimmen hervorgerufen. Gayatri Spivak und Jonathan Friedman10 kritisieren am akademischen Diskurs, dass er bestehende Kluften zwischen sozialen Schichten und Geschlechtern beschönige und sich als Makromodell nicht für die mikrologische Beschaffenheit von Macht eigne.11 Der Kritik an einer harmonistischen und elitistischen Verwendung des Konzeptes, wie bei Bhabha, aber auch bei Vertretern der deutschsprachigen Hybriditätsdiskussion12, schließt sich Mark Terkessidis an. Er wirft den Hybriditäts-Apologeten vor, dass sie lieber postkoloniale Intellektuelle und Schriftsteller – glitzernde Wanderer und Kulturvermittler zwischen Peripherie und Zentrum – begehren, als ökonomisch und politisch marginalisierte Gruppen (wie illegale MigrantInnen). Grenzen würden in einer „binären Positionierung“ zwischen Kolonisierten und Kolonisierenden nur auf den ersten Blick überwunden werden, über die Beschaffenheit „interner Differenzen“ werde wenig gesagt. Kritiker von Néstor García Canclini geben zu bedenken, dass durch das Postulat „alles sei hybrid“ autochthonen Gruppen, die im Zuge der Kritik an nationalstaatlichen Konzepten Selbstbewusstsein erlangen und ihre Rechte als Ethnien einfordern, nun das Kultivieren ethnischer Reinheit vorgeworfen werde. Anil Bhatti verweist in seinem Beitrag zurecht auf die Gefahr eines Ausverkaufs an Begriffen und den Verlust an politischer Schärfe. Für Robert Luft macht der Begriff Hybridität nur dann einen Sinn, wenn zugleich eine nichthybride politische Kultur tatsächlich als Gegenwelt existiert (vgl. den Beitrag in diesem Band). 35 Zurück zum Ausgangspunkt: Die k.u.k. Monarchie war eine imperiale Großmacht ohne Kolonien, damit keine koloniale Macht im eigentlichen Sinne13, aber auch keine – wie neueste Forschungen plausibel darstellen – „antikoloniale Kraft“. Walter Sauer wies nach, wie konsequent etwa die Frage nach dem Verhältnis Österreich-Ungarns zum Kolonialismus vermieden wurde, indem die wissenschaftliche Informationsbeschaffung, wie beispielsweise logistische, kartographische Arbeiten von Forscherpersönlichkeiten und k.u.k. militärgeographischen Missionen als reiner Dienst an der wissenschaftlichen Sache dargestellt wurden. Kolonialistische Ambitionen wurden als symbolische Außenpolitik verharmlost,14 das Fehlen von Kolonien in Übersee im offiziellen Selbstverständnis positiv gewertet: 1902 schrieb der Außenhandelsexperte Moritz von Engel, dass sich gerade die Nichtbeteiligung ÖsterreichUngarns am kolonialen Wettlauf „als eine höchst glückliche Fügung“ erwiesen habe, denn „mit Genugtuung könne es sich nun seiner eigentlichen Aufgabe, der kolonisatorischen Tätigkeit“ in Südosteuropa widmen.15 ÖsterreichUngarn gab sich hierbei das Image einer mütterlichen Macht, die – im Gegensatz zum „männlichen“ preußischen Imperialismus – durch kulturmissionarische Politik eine „softe“ Variante von Herrschaft ausübe; sie wurde in der Selbstsicht auch als „aufopfernd und selbstlos“ gewertet und dargestellt (vgl. die Beiträge zu Bosnien in diesem Band). Ivan Lovrenovic, Verfasser einer 1998 im Folio-Verlag erschienenen Kulturgeschichte Bosniens und Herzegowinas, verwendet das Kolonialismusparadigma für die Beschreibung der Zäsur von 1878, dem Beginn der österreichisch-ungarischen Okkupation: „[...] gestern noch eine rückständige türkische Provinz, heute österreichischungarischer Kolonialbesitz.“16 Die Schilderungen Ivo Andrics von ÖsterreichUngarn als administrativer Ordnungsmacht, die schon im ersten Jahr der Okkupation Häuser nummerierte, die Einwohnerschaft zählte und dabei tiefe Befürchtungen erweckte,17 die Bemerkungen Moritz von Engels sprechen Elemente kolonialistischer Strategien an: ökonomische Interessen, das Auftreten einer Ordnungsmacht, die heterogene Strukturen vereinheitliche, die das Chaos beseitige, der Glaube an Führung, zivilisatorische, das heißt westliche, katholische Mission und die „Kunst der bürokratischen Geometrie“ (Jürgen Osterhammel).18 Aus diesen Bemerkungen zu Postcolonial Studies, zu Strategien der Vereinheitlichung, Hybridität und binnenkolonisatorischen Interessen – auch als Kompensation für fehlende überseeische Kolonialpolitik – ergaben sich einige Fragestellungen, die von den BeiträgerInnen des vorliegenden Sammelbandes diskutiert wurden: Kann man von Strukturen Innerer Kolonisie- 36 rung in der Monarchie sprechen? Wenn ja, worin äußern sich diese? Sind die Konzepte der Postcolonial Studies, die meist auf einem kolonialen Homogenitätsdiskurs als Form kultureller Besitzergreifung aufbauen, und die von ihnen verwendeten Begriffe der Hybridität, des „third space“, des „in-between“ auf die Habsburgermonarchie anwendbar? Können dadurch Strukturen von Macht und Herrschaft, die sich etwa gerade in Formen der Kulturpolitik äußern, besser analysiert werden? Im Gegensatz zu homogenisierenden Strategien musste die k.u.k. Monarchie – um ihre Existenz zu wahren –, ihre plurikulturelle, übernationale Struktur verteidigen und hob sie als besseres Gegenmodell zum Nationalstaat hervor. Gab es diese plurikulturelle Toleranz wirklich? Waren Vereinheitlichungstendenzen fixierbar? Diente das Betonen der Übernationalität nicht auch dazu, politische und ökonomische Herrschaft besser zu verkleiden als repressiver agierende Staaten? Und schliesslich: Wie stellen sich solche Herrschafts- und Machtstrukturen der Vergangenheit im kollektiven Gedächtnis, gerade in jüngeren Umbruchszeiten dar? Die Autorinnen und Autoren, die aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen wie der Geschichte, der Politologie, Soziologie, Philosophie, Kunstgeschichte, Anthropologie, Slawistik und der vergleichenden Literaturwissenschaft kommen, bieten der zur Diskussion gestellten Thematik auch differente methodische Zugänge. Der erste Beitragsteil ist dem postkolonialen Theoriekomplex gewidmet, den Anil Bhatti in seinem Beitrag eher als Haltung, denn als eine systematisch ausgebaute und ausbaufähige Theorie wertet. Peter Niedermüller beschreibt die Konzepte des Multikulturalismus, des Transnationalismus sowie der kulturellen Differenz, die durch den vergleichenden Blick entstehen. Die kulturelle Differenz hat politische Funktion. Sie dient dazu, die politische und soziale Welt durch kulturell definierte Unterschiede zu deuten; die Grenzen des Eigenen und Fremden werden als fließend gewertet. Das Erkennen von Alterität gelingt durch das Einverständnis, sich das Andere weder aneignen, noch kontrollieren zu können, wie Wolfgang Müller-Funk in seinem Beitrag zum Alteritätsdiskurs präzisiert: Zudem hebt er die Verbindung von Kultur und Gewalt in kolonialistischem Verhalten hervor, das sich etwa in Exotismus als dem ethnisch und sexuell Anderen besonders ausdrückt. All jene Elemente des Anderen, Fremden lösen Angst aus, die nicht in den eigenen symbolischen Haushalt zu integrieren sind. Anil Bhatti und Michael Rössner plädieren dafür, ausgehend von den sehr heterogenen kolonialen Situationen und multiethnischen Gebilden (dem British Empire und den ehemals kolonisierten Staaten Lateinamerikas) 37 erstmals das dort entwickelte Begriffsinventarium auf die Habsburgermonarchie anzuwenden. Michael Rössner testet die verschiedenen Definitionen des lateinamerikanischen postkolonialen Ansatzes ab: das Konzept der „Heterogenität“ (José Joaquin Brunner) statt jenem der „Reinheit“, den „dritten Raum“ als einem Spannungsverhältnis von Historischem und Gegenwärtigem (Jesús Martín Barbero), die Hybriditätsdefinition von Néstor García Canclini und besonders den Ansatz von Alfonso de Toro, der die Dichotomien Zentrum und Peripherie, Hegemonie und Dependenz überwinden will. Clemens Ruthners Abhandlung der Begriffsgeschichte von Kolonisierung und Kolonialismus macht deutlich, dass man Österreich-Ungarn in gewissem Sinne einen innerkontinentalen Kolonialismus zuschreiben könne, dass vor allem spezifisch symbolische Formen ethnisch differenzierender Herrschaft Ähnlichkeiten zu Formen in überseeischen Kolonialreichen aufweisen. Der Kolonialismusbegriff ist allerdings auch eine, von nationalistischen Diskursen im 19. Jahrhundert gebrauchte Metapher. Für Ruthner stellt Bosnien-Herzegowina den einzig möglichen Anwendungsfall für eine Kolonialismusdebatte im engeren Sinne dar. Heidemarie Uhl sieht in ihren Überlegungen zu Zentraleuropa als Paradigma für Identitätskonstruktionen in der (Post-)Moderne den Gewinn postkolonialer Perspektiven darin, dass diese den Blick für die Legitimierung politischer Hegemonie in der Habsburgermonarchie mit dem Argument der kulturellen Überlegenheit gegenüber „unterentwickelten“ Ethnien schärfen und dass sie einen multiperspektivischen Zugang auf Wien und Zentraleuropa um 1900 öffnen. Uhl sieht allerdings auch die Gefahr gegeben, dass postkoloniale Zugänge ethnische Vielschichtigkeit auf das Muster einer Differenz zwischen hegemonialer Elitenkultur und „kolonisierten“ Ethnien reduzieren. Stefan Simonek hegt aus literaturwissenschaftlicher Sicht Zweifel an kolonialistischen Formen in der Habsburgermonarchie. Das Konzept der Hybridität wird für ihn dann fruchtbar, wenn die Mehrsprachigkeit – wie etwa bei Ivan Franko, dem bedeutendsten Schriftsteller der Westukraine, – in die Texte hineinreicht. Simonek regt an, deutschsprachige Reiseberichte mit entsprechenden slawischen Quellen gegenzulesen, damit sich objektbezogenes Fremdbild und subjektbezogenes Selbstbild ergänzen; dadurch können konstatierte pseudokoloniale Züge einer Zentralmacht relativiert werden. Auf den Schriftsteller Ivan Franko, der seine Texte in polnischer, ukrainischer, deutscher und russischer Sprache verfasste und veröffentlichte, beziehen sich neben Simonek auch Clemens Ruthner und Alois Woldan. Ivan Franko fungiert als gutes Beispiel für eine Persönlichkeit des „in-between“, deren Rolle 38 von einer kohärenten Nationalliteratur noch nicht ausreichend wahrgenommen worden ist. Franko bezog für Woldan eine, von Edward Said im Rahmen des Verhältnisses von Kolonisierenden und Kolonisierten beschriebene typische Position, da er zum einen die Machtverhältnisse des Zentrums sanktioniert, zum anderen an den vom Zentrum auf die Peripherie ausgedehnten Institutionen festgehalten habe. Alois Woldan und Hans-Christian Maner beziehen sich in ihren Beiträgen auf Galizien. Nicht nur die politische Rolle der griechisch-katholischen Kirche der galizischen Ruthenen ist für Alois Woldan mit Kategorien der Postcolonial Studies gut beschreibbar, sondern auch ihre Literatur, deren Zweisprachigkeit von der Wissenschaft bislang nicht in gebührendem Maß berücksichtigt worden sei. In bezug auf die Situation ruthenischer Schriftsteller wagt Woldan Analogien zum Schrifttum englischsprachiger indischer und karibischer Autoren; denn in Galizien habe es zwar ruthenische und polnische Elementarschulen gegeben, die Vorrangstellung des Deutschen sei aber mit eingeschlossen gewesen. Hans-Christian Maner widmet seinen Beitrag der Machtpolitik der Habsburgermonarchie in Galizien nach dem polnischen Aufstand von 1863 und wertet sie als eine Form der Kolonisierung. Die politischen Rahmenbedingungen, die Umstände, unter denen das Kronland zu Österreich kam, forderten immer wiederkehrende Legitimitätsdiskurse. Éva Kovács, Gábor Gyáni und Andreas Pribersky nehmen Ungarn genauer unter die Lupe. Das Konzept der Hybridität ist für Éva Kovács besser geeignet zur Beschreibung multipler jüdisch-ungarischer Identitäten im slowakischen Kaschau nach Ende der Habsburgermonarchie als Shulamit Volkovs und Zygmunt Baumans postmoderne Versuche, die lange vertretene Assimilationstheorie von den „Ungarn mosaischen Glaubens“ zu dekonstruieren. Sie kritisiert zudem an der ungarischen Geschichtsschreibung, sich nicht von der Sprache des ehemaligen Kolonisierungsdiskurses befreit zu haben. Andreas Pribersky weist Rückgriffe der ungarischen Politik ab den 1960er Jahren auf historische Muster, etwa mittels des Mythos vom „Goldenen Zeitalter“ der Habsburgermonarchie um 1900, nach und analysiert dessen Funktion als Modell einer gelungenen Modernisierung und Verwestlichung Ungarns. Gábor Gyáni verweist auf die Dialektik des Vergessens und Erinnerns im Prozess der Konstruktion nationaler Geschichtsbilder. Am Beispiel der ungarischen Millenniumsfeiern wird festgemacht, wie das nationale magyarische Narrativ von den Geschichtsdarstellungen der einzelnen Ethnien (den Anti-Narrativen) abweicht. Die unterschiedlichen Narrative erschwerten die Fixierung eines kanonisierten Geschichtsbildes. 39 Im slowakischen historischen Diskurs taucht die Metapher der Inneren Kolonisierung gelegentlich auf, im Kontext der Beschreibung von Dominanzbeziehungen und kulturellen Hierarchien. Elena Mannová weist in einem Überblick über den Geschichtsdiskurs nach, dass die Slowaken ihre Vergangenheit im Zeitraum des Ungarischen Königreiches zwar mit Unterdrückung verbanden, aber nie direkt als „kolonial“ werteten. Robert Luft, der Machtund Politikformen der böhmischen, mährischen und österreichisch-schlesischen Provinz analysiert, macht plausibel, dass von Innerer Kolonisierung in diesen Räumen nicht gesprochen werden kann. Zu deutlich waren deren ökonomische Stärke und ihr politischer und gesellschaftlicher Einfluss auf das Zentrum Wien, dass vielmehr von einer machtpolitischen Durchdringung des Zentrums durch die Provinz ausgegangen werden könne. Mit den kulturpolitischen Strategien der k.u.k. Monarchie in Bosnien und Herzegowina beschäftigen sich Ursula Reber, Diana Reynolds, Florian Oberhuber und Peter Stachel. Sie sind sich einig darin, dass „kolonialistisches Verhalten“ am ehesten in Bosnien-Herzegowina nachvollziehbar ist. Hier zeigen sich die Auswirkungen eines hegemonialen Konzeptes der zwangsweisen Vereinheitlichung kultureller Differenzen am deutlichsten. Ursula Reber verfolgt die logistische Landnahme von Bosnien, Herzegowina und Montenegro, drei wirtschaftlich und politisch begehrten Peripherien mit Hilfe von Edward Saids Analysen von Kulturkolonialismus. Die Reiseberichte vermitteln die Leistungen österreichisch-ungarischer „Befreiungs- und Entwicklungsarbeit“ (Ordnung, Kapital, Arbeitsamkeit, Hygienemaßnahmen) in einem ehemals durch die Osmanen verursachten „Chaos“. Um die „sanftere“, das heißt kulturpolitisch agierende Variante von imperialistischer Macht herauszuarbeiten, die Österreich-Ungarn als weibliche protektionistische Großmacht präsentiert, wendet Diana Reynolds erstens die Gender-Perspektive an, zweitens den auf Foucault zurückgehenden Exhibitionary Complex, das Netzwerk von Museen und neuen Wissenschaftsdisziplinen, und drittens die Reform des Kunstgewerbes: Die Zentralregierung verordnete und lenkte „von oben“ ihre ästhetischen Vorstellungen bosnischer Kunsthandwerkstradition. An Reynolds Analysen fügen sich jene der Textbeispiele des Forschrittsoptimisten Gustav Ratzenhofer, wie sie Florian Oberhuber vornimmt. Ratzenhofer legitimiert die militärische Okkupation Bosniens und der Herzegowina wissenschaftlich – wiederum mit Argumenten fehlender Ordnung; er wählt die Form einer „bürgerlichen Erzählung“ der Zivilisation und mildert das militärische Eingreifen damit ab. Dass die Bewohner Bosniens und der Herzegowina sogar als „Eingeborene“ bezeichnet werden, wie Peter Stachel nach- 40 weist, zeigt durchaus die Anwendung kolonialistischen Vokabulars auf die neuerworbenen Gebiete der Monarchie. Peter Stachel bezeichnet die Programmatik einer homogenisierenden Überwindung historisch entstandener Differenz zum vermeintlich „höheren“ zivilisatorischen Niveau des westlichen Europa als „essentiell kolonialistisch“. Wie Elena Mannová, Éva Kovács und Andreas Pribersky konzentrieren auch Christian Promitzer und Werner Suppanz ihre Beiträge auf Tradierungen von Geschichtsbildern in den Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie und versuchen, Brüche und Strategien der Legitimierung festzumachen. Christian Promitzer beschreibt die Konzeptionen einiger slawischer Geographen der Habsburgermonarchie, die Einfluss auf die Konstruktion von Jugoslawien hatten, indem sie etwa das in Europa herrschende Stufenmodell von Nationen und Ethnien zugunsten der jugoslawischen Einigung modulierten. Auch hier spielen Diskurse Innerer Kolonisierung und die Definition von Kultur- und Zivilisationsgrenzen zwischen „Westen“ und „Balkan“ eine Rolle. Dass die Politik der Inneren Kolonisierung, der Landnahme seit dem Frühmittelalter (Ostmark) und das binnenkolonisatorische zivilisatorische Missionswerk der k.u.k. Monarchie vor allem in Bosnien und der Herzegowina vom österreichischen Ständestaat wiederholt herangezogen wurden, um die Superiorität des „österreichischen Menschen“ als Vertreter des „christlich-abendländischen Deutschtums“ zu konstruieren, beschreibt Werner Suppanz. Er zeigt, dass die Geschichte im Ständestaat als eine Abfolge von Kolonisierungsprozessen verstanden wurde. Den Band rundet ein literarischer Essay des bedeutendsten bosnischen Autors, Dzevad Karahasan, über die „Poetik der Ruinen“ und ihre Funktion als Orte der Erinnerung im zerstörten Sarajewo ab. ^ Nicht alle Autorinnen und Autoren finden die Brauchbarkeit der Postcolonial Studies gleichermassen gegeben. Manche nennen Schwächen des Ansatzes, etwa die Schwammigkeit von Begriffen, hegen Zweifel, ob die Postcolonial Studies das vielschichtige Phänomen des Nationalismus neu zu dechiffrieren vermögen, und haben zum Teil Vorbehalte wegen einer Übertragbarkeit des Konzeptes auf den Kontext der Habsburgermonarchie, die kein Kolonialstaat im eigentlichen Sinne war. Denn nicht jede regionale Nachrangigkeit beziehungsweise Abhängigkeit bedingt eine kolonialistisch-postkoloniale hybride Identität. Zudem besteht die Gefahr, kolonialistisches Verhalten, die Vorstellung eines homogenen Anderen zu konstruieren, um die Postcolonial Studies anwenden zu können. 41 Am besten kann das postkoloniale Begriffsinstrumentarium im Kontext von Bosnien/Herzegowina fruchtbar gemacht werden, wo militärische Eroberung, Verwaltung und Kulturpolitik koloniale Züge trugen. Die BosnienPolitik wurde praktisch auch als „binnenkolonialistische Tat“ und Kompensation für fehlende Überseekolonien gewertet. Auch gewisse Textsorten wie Reiseberichte werden durch den postkolonialen Blick als Quellen für die Legitimation eines kolonialistischen Gestus erschlossen. Transnationalismus und Hybridität, die Relativierung der Dichotomie von Peripherie und Zentrum, der „third space“ und die Position des „Dazwischen“ sind jene Konzepte der Postcolonial Studies, die soziokulturelle Phänomene in pluriethnischen Gebilden gut zu beschreiben vermögen. Sie liefern für die Bewertung literarischer Produktionen und ihre Einbettung in den jeweiligen Kontext ebenso ein nützliches Inventarium wie für die Beschreibung von individuellen und kollektiven Mehrfachidentitäten. Die Möglichkeiten der Postcolonial Studies lassen Ambivalenzen erkennen und machen symbolische Formen von kulturpolitischen Strategien als Legitimation für ökonomische und machtpolitische Interessen erkennbar. Auch für die Analysen sozialer und kultureller Prozesse in der Habsburgermonarchie können sie sich insgesamt als fruchtbar erweisen. Anmerkungen 1 Ivo ANDRIC, Die Brücke über die Drina, München 122001, S. 238. 2 Ebenda, S. 239. 3 Vgl. Projektbeschreibung des Graduiertenkollegs Kulturhermeneutik im Zeitalter von Differenz und Transdifferenz am Lehrstuhl für Amerikanistik in Erlangen (www.uni-erlangen.de/kulturhermeneutik/amerikanistik.html). 4 Vgl. Robert J. C . YOUNG, Colonial Desire. Hybridity in Theory, Culture and Race, London–New York 1995, S. 6. Vgl. zur Hybriditätsdebatte und ihrer Rolle in den Postcolonial Studies auch Monika FLUDERNIK, Miriam NANDI, Hybridität. Theorie und Praxis, in: Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 8 (2001), S. 7–24. 5 Das Konzept der Hybridität wurde in diesem Kontext seit den 1950er Jahren zudem als positives Gegenbild (Musikalität, Poetentum) zu der als brutal empfundenen, zweckrationalistischen Modernität der USA interpretiert. 6 Vgl. Néstor GARCÍA CANCLINI, Culturas híbridas. Estrategias para entrar y salir de la modernidad, Buenos Aires 1989, S. XX–XI. 7 Petra SCHUMM, „Mestizaje“ und „culturas híbridas“ – kulturtheoretische Konzepte im Vergleich, in: Birgit SCHARLAU, Lateinamerika denken. Kultur- 42 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 theoretische Grenzgänge zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen 1994, S. 59–80, hier S. 67. Vgl. Néstor GARCÍA CANCLINI, Cultura y nación. Para qué no nos sirve ya Gramsci, in: Nueva Sociedad 115 (1991), S. 98–103. Vgl. Mark TERKESSIDIS, Globale Kultur in Deutschland, in: parapluie (www.parapluie.de/archiv/generation/hybrid). Vgl. seine Kritik an der Umlegung des postkolonialen Hybriditätsbegriffes auf den deutschsprachigen Kontext durch Elisabeth Bronfen und Benjamin Marius. Mark TERKESSIDIS, Globale Kultur in Deutschland. Vgl. Jonathan FRIEDMAN, Debating cultural hybridity, in: Pnina WERBNER, Tariq MODOOD (Hg.), Debating Cultural Hybridity, London 1997, S. 70–89, hier S. 81. Vgl. Nikos PAPASTERGIADIS, Tracing Hybridity in Theory, in: WERBNER, MODOOD, Debating Cultural Hybridity, S. 257–281, hier S. 258, S. 279. Vgl. Elisabeth BRONFEN, Benjamin MARIUS, Therese STEFFEN (Hg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen 1997. Vgl. dazu Raymond DETREZ, Colonialism in the Balkans, in: www.kakanien. ac.at/beitr/theorie/Rdetrez1.pdf [2002]. Detrez spricht von Semikolonialismus am Balkan. Vgl. Walter SAUER, k.u.k. kolonial. Habsburgermonarchie und europäische Herrschaft in Afrika, Wien–Köln–Weimar 2002, S. 7. Vgl. ebenda. Ivan LOVRENOVIC, Bosnien und Herzegowina. Eine Kulturgeschichte, Wien– Bozen 21999, S. 146. Vgl. ANDRIC, Brücke über die Drina, S. 208–11. Andric beschreibt den passiven Widerstand der Bewohner, die die Hausnummern zwar an den Fassaden befestigt, dann jedoch gleich mit Farbe übertüncht hätten. Jürgen OSTERHAMMEL, Colonialism: A Theoretical Overview, Princeton 1997, S. 111. 43 Zwischen „Habsburgischem Mythos“ und (Post-)Kolonialismus. Zentraleuropa als Paradigma für Identitätskonstruktionen in der (Post-)Moderne1 Heidemarie Uhl Reinventing Central Europe 2 – dieser Titel könnte als Programm der unterschiedlichen Konzepte von Wieder- und Neuentdeckungen des zentraleuropäischen Raums dienen, die seit den 1980er Jahren immer wieder neue Sichtweisen der kulturellen, politischen und mentalen Gemengelage dieser pluriethnischen Region eröffnen. Einen ersten, nach wie vor präsenten und vor allem im Hinblick auf seine politischen Implikationen wirkungsmächtigen Topos hat der Triestiner Germanist Claudio Magris bereits 1963 formuliert – der Habsburgische Mythos umschreibt seither die positive Sinnstiftung der Habsburgermonarchie als rückwärtsgewandte Utopie einer „glücklichen und harmonischen Zeit“, eines „geordneten und märchenhaften Mitteleuropa“3. Zur selben Zeit war das kulturelle „Erbe“ der Habsburgermonarchie in Österreich selbst weitgehend vergessen – vom „Vergessen des Geisteskontinents Österreich“ sprach Friedrich Heer 1974 in der Einleitung zu William M. Johnstons Österreichischer Kultur- und Geistesgeschichte 4 – oder aber politisch umstritten: Im November 1966 traten rund 250.000 Arbeiter aus Protest gegen den ersten Aufenthalt Otto Habsburg-Lothringens in den Streik, die „Habsburg-Frage“ blieb bis in die 1970er Jahre ein innenpolitisches Konfliktthema. Erst in den 1980er Jahren wurden jene Vorstellungen, die Zentraleuropa – und vor allem „Wien um 1900“ – nun unter einem neuen, positiven Vorzeichen thematisierten, in Österreich selbst breiter rezipiert. Die Akzeptanz dieser „invention of tradition“ verdankt sich nicht zuletzt der „Mitteleuropa“-Euphorie von Schriftstellern und Intellektuellen jenseits des Eisernen Vorhangs: Mit der „Entdeckung“ eines die nationalen und vor allem die Grenzen des Kalten Krieges überschreitenden zentraleuropäischen Raums verband sich eine neue imaginäre kulturelle Grenzziehung, nämlich jene zum „Osten“ – womit keine exakt lokalisierbare geographische Beschreibung, sondern eine mentale Codierung des „Anderen“ der europäischen Zivilisation bezeichnet wurde.5 45 Im wissenschaftlichen Feld ist das neue Interesse für den zentraleuropäischen Raum seit den 1980er Jahren durch ambivalentere Zugänge charakterisiert. Die Hintergrundfolie für unterschiedliche Fragestellungen bilden die krisenhaften Verwerfungen des Modernisierungsprozesses in dieser Region – Industrialisierung, Demokratisierung und die Herausbildung von Nationalstaaten als Basisprozesse der Modernisierung führten im pluriethnischen Zentraleuropa nicht zur nationalstaatlichen Homogenisierung, sondern wurden zum Generator für vielfältige national-politische beziehungsweise ethnisch-kulturelle Konfliktkonstellationen. Mit Zentraleuropa kam eine krisenhafte Moderne ins Blickfeld, die nun – unter postmodernem Vorzeichen – allerdings nicht mehr als devianter „Sonderfall“ galt, sondern vor den Krisenerscheinungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts an Relevanz gewann. Seit der bahnbrechenden Studie von Carl E. Schorske über Politics and Culture im Wien der Jahrhundertwende (1980, 1982 in deutscher Übersetzung)6 bildete der Widerspruch zwischen dem kreativen Potenzial der Wiener Moderne – eine Epochenbezeichnung, die sich ebenfalls erst in den 1980er Jahren durchgesetzt hat – und seinen „antimodernen“ gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, der katholisch-konservativ geprägten, antisemitisch und nationalistisch gefärbten politischen Kultur der Wiener Jahrhundertwende, den Erklärungshintergrund für eine spezifische Wiener Moderne. Das von Moritz Csáky initiierte Forschungsprogramm „Moderne. Wien und Zentraleuropa um 1900“ richtete den Fokus auf die multiethnische Pluralität der Habsburgermonarchie als Erfahrungshorizont und epistemologischen Kontext der Protagonisten der Wiener Moderne,7 andere Zugänge (Jacques Le Rider8, Steven Beller9) rückten die Identitätssuche der intellektuellen Eliten jüdischer Herkunft in einer antisemitischen Umwelt in den Vordergrund. Das Bild von Wien und Zentraleuropa um 1900 gewann in den 1980er Jahren somit neue Konturen – als Geburtsort oder zumindest als retrospektiver Bezugspunkt eines „postmodernen Denkens“, das sich vom Pathos des Fortschrittsglaubens und seinem historischen Narrativ, einer teleologischen Modernisierungstheorie, verabschiedete und den Vereinheitlichungstendenzen der Moderne (der „großen Erzählung“) Vorstellungen von Pluralität entgegensetzte – Jean-François Lyotard hat in seinem Essay Das postmoderne Wissen diese Genealogie in bezug auf den Pessimismus der Generation der Jahrhundertwende in Wien um 1900 angedeutet.10 Die Formulierung neuer Forschungsfragen im Hinblick auf „Wien und Zentraleuropa um 1900“ folgte aber auch den methodologischen und theore- 46 tischen Veränderungen im wissenschaftlichen Feld. Im Rahmen eines „postmodernen“ kulturwissenschaftlichen Paradigmenwechsels in den Geisteswissenschaften wurde „Identität“ zum Schlüsselbegriff: Die Frage nach der Konstruktion kollektiver und individueller Identitäten erlaubt nicht nur eine methodische Verschränkung der diskursiven „Konstruktionen sozialer Wirklichkeit“ mit dem sozialen Raum, in dem diese Narrationen produziert und durchgesetzt und damit identitätsstiftend (oder aber marginalisiert) werden. Das Selbstverständnis von Individuen und Kollektiven (beziehungsweise Ethnien und Nationen) beruht – so das konstruktivistische „Credo“ – nicht auf „objektiven“ Kriterien wie einer gemeinsamen Sprache, Geschichte und Kultur, sondern auf jenen Vorstellungen von „Gemeinschaft“ und „Zugehörigkeit“, die den jeweiligen Wissens- und Kommunikationssystemen inhärent sind. Betrachtet man die auferlegte/eingeforderte Selbstzuordnung des Individuums in eine (nationale) Solidargemeinschaft als ein zentrales Merkmal moderner, ausdifferenzierter Gesellschaften,11 so ist diese Konstruktion kollektiver und individueller Identitäten im zentraleuropäischen Raum mit einer komplexen, pluriethnischen Situation konfrontiert, die vielfach keine eindeutigen Kriterien nationaler Zugehörigkeit im Sinne des Herderschen Nationsverständnisses einer Kultur- und Sprachgemeinschaft eröffnete. Auch in Frankreich, Italien und Deutschland waren die Prozesse des nation building weitaus komplexer und die regionalen Unterschiede gravierender, als es die pathetischen Beschwörungen nationaler Einheit beschrieben. Die Vorstellungen einer einheitlichen Nation waren, wie in der Literatur der letzten Jahre vielfach analysiert, Imaginationen (imagined communities12), formuliert von Intellektuellen, zunächst vielfach ohne große Resonanz in der breiten, vor allem der ländlichen Bevölkerung. Der zentraleuropäische Raum unterschied sich davon allerdings im Hinblick darauf, dass sich diese Heterogenität nicht nur in unterschiedlichen Durchdringungsgraden der nationalen Idee zeigte, sondern zu konkurrierenden nationalen Konzepten innerhalb eines Staates führte.13 Die (Selbst)zuordnung beziehungsweise das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer „Nation(alität)“ konnte sich in gemischtsprachigen Gebieten beziehungsweise in den Städten nicht auf essentialistische „Selbstverständlichkeiten“ wie die Sprache berufen, sondern war vielfach eine (politisch motivierte) Entscheidung des Einzelnen. Die Konflikte anlässlich der regelmäßigen Erhebung der Umgangssprache in der Habsburgermonarchie geben Einblick in die Fragilität und den machtpolitischen Hintergrund dieser Zuordnungen.14 47 Der Entscheidungsspielraum im Hinblick auf das nationale Selbstverständnis betraf nicht nur das Bekenntnis zur deutschen beziehungsweise ungarischen, einer slawischen oder anderen Sprache (und damit zur jeweiligen Nation), auch die deutschsprachige Bevölkerung war zwischen Österreichpatriotischem und deutschnationalem Selbstverständnis gespalten. Vertieft wurde die nationale Konkurrenz- und Konfliktsituation durch weitere politische Fragmentierungen, die zumeist mit unterschiedlichen und vielfach antagonistischen Vorstellungen über den Charakter der Nation verbunden waren, wie sie etwa in den Konflikten zwischen urban-liberalen und ländlichklerikalen Konzepten einer „slowenischen Nation“ zum Ausdruck kommen.15 Die latente nationalpolitische Konfliktsituation und die vielfältigen (diskursiven) Grenzziehungen bilden auch den Ausgangspunkt für aktuelle „postkoloniale“ Sichtweisen auf die Habsburgermonarchie. Formuliert wurde dieses Konzept im Rahmen eines literaturwissenschaftlichen Forschungsprojekts (Wolfgang Müller-Funk, Peter Plener, Clemens Ruthner), das von der Frage ausgeht, „ob sich nämlich die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie (und die Habsburger-Monarchie vor 1867) nicht als ein quasi-kolonialer Herrschaftskomplex begreifen lässt“, in dem die hegemoniale Kultur sich beständig durch Grenzziehungen zu ihrem kulturell-zivilisatorischen „Anderen“ legitimiert.16 Im Fall der Habsburgermonarchie lagen die mit dem ethnologischen Blick erfassten exotischen Territorien jedoch nicht außerhalb der Staatsgrenzen, sie waren Bestandteil eines „Vielvölkerstaates“, zu dessen zentralem Postulat – vor allem in Cisleithanien17 – die sprachliche und nationale Gleichberechtigung zählte. Wenn hier die Frage nach den neuen Erkenntnissen dieses Zugangs gestellt werden soll, so ist generell festzuhalten, dass jede Rekonstruktion der Vergangenheit bestimmte Lesarten eröffnet beziehungsweise legitimiert und andere marginalisiert. Eine „postkoloniale“ Perspektive macht aufmerksam auf die Legitimierung politischer Hegemonie in der Habsburgermonarchie mit dem Argument der kulturellen Überlegenheit gegenüber „unterentwickelten“, „rückständigen“ Nationen und Ethnien. Diese Vorstellung einer zivilisatorisch-kulturellen Hierarchie durchdringt die Fremd- und Selbstzuschreibungen der ethnischen beziehungsweise nationalen Gruppen in der Habsburgermonarchie vielfach; die Imaginationen kultureller Überlegenheit beschränken sich nicht auf ein deutschnational beziehungsweise deutschösterreichisch geprägtes Narrativ, sondern prägen – in unterschiedlichen Konstellationen der Zuordnung und Abgrenzung des jeweiligen Kollektivs – auch die identitätsstiftenden Selbstbeschreibungen der nichtdeutschsprachigen 48 Nationalitäten.18 Gerade auch in das „Erwachen“ der „jungen“ nationalen Bewegungen und ihrem Streben nach kultureller Emanzipation ist diese Differenzziehung zu zivilisatorisch „rückständigeren“ Ethnien eingeschrieben. Allerdings verbindet sich mit der postkolonialen Perspektive eine Komplexitätsreduktion, gerade im Hinblick auf die spezifischen Charakteristika des nation building in Zentraleuropa, die eben nicht nur durch ein „Schlachtfeld der nationalen Chauvinismen, der ethnischen und sozialen Gegensätze und schlussendlich der Rassismen aller Art und des Antisemitismus“ – so der von Jacques Le Rider formulierte „schwarze Mythos“ Zentraleuropas 19 – charakterisiert sind, sondern auch durch die Entwicklung einer supranationalen Staatsnation mit gleichen staatsbürgerlichen Rechten geprägt sind, wie sie in den Staatsgrundgesetzen formuliert wurden.20 Dem Leitbild des „übernationalen“ Staates entsprachen symbolische Formen einer „Politik der Anerkennung“. In diesem Rahmen verweist auch das Kronprinzenwerk, nicht zu Unrecht auch ein Schlüsseltext für postkoloniale Diskursanalysen, auf vielschichtige „soziale Energien“: Dargestellt wird nicht nur die ethnische Differenz der „Volksstämme“, das Bild ethnischer Authentizität durch die Beschreibung ruraler Sitten und Gebräuche bezieht sich auch auf die deutschsprachigen Kronländer, zudem sind fallweise auch nationale „Gegennarrationen“ vertreten.21 Dennoch: Bereits durch den Beobachterstatus, die Struktur, die Sprache und die Intention dieses Unternehmens ist in die Imagination einer harmonischen Völkerfamilie die subkutane, staatspolitisch nicht opportune Hegemonie der deutschsprachigen Kultur eingeschrieben. Offen zutage traten die Widersprüche zwischen dem Postulat der Anerkennung von Differenz im Sinne des supranationalen Staatsgedankens und dem Versuch einer Festschreibung des „nationalen Charakters“ angesichts der demographischen Veränderungen des Urbanisierungsprozesses allerdings bereits im „Kronprinzenwerk“ selbst, etwa in der Beschreibung der Wiener Bevölkerung. Der Versuch, das „Wiener Volksleben“ vor dem Hintergrund der „mächtigen Veränderungen, ja förmlichen Umwälzungen im gesammten socialen Verkehr“ zu erfassen, vermerkt eingangs die „ gewaltig[en]“ Veränderungen, die die Stadt binnen weniger Jahrzehnte erfahren habe: Nicht nur in baulicher Hinsicht sei sie „in wenigen Decennien eine andere geworden; es hat auch das Leben und Treiben und haben die Sitten, Gebräuche, Bedürfnisse und Gewohnheiten der riesig angewachsenen und durch die ungeahntesten Ereignisse durcheinander geschüttelten Bevölkerung eine andere, völlig fremdartige Physiognomie angenommen.“ Die narrative Argumentation 49 im Hinblick auf die Namhaftmachung eines Wiener Volkscharakters angesichts der multiethnischen Bevölkerungsstruktur konfrontiert einen fiktiven Stadtbewohner des Vormärz mit der Erfahrung des urbanen Lebens in den 1880er Jahren: Wenn dieser, „begleitet von dem modernsten Lärm, dem Schellengeklingel der Tramway, eine der schönsten Straßen dieses Planeten – unserem ureinzigen ‚Ring‘ – auf und ab spazierte und alsdann in die elegante Lästerallee des neugeschaffenen pittoresken ‚Stadtpark‘ geriethe“, wo die „aufgedonnerte ‚beau monde‘“ flaniere, so würde er sich verwundert fragen: „Das wären Wiener und Wienerinnen, seine engeren Landsleute? Unmöglich! [...]“. „So ist es auch“, fährt der Verfasser, der Journalist und Schriftsteller Friedrich Schlögl, fort. Doch in den Vorstädten und an den Peripherien der Metropole finde man die „Original-Wiener“: Nicht nur ihrer äußeren Erscheinung, sondern auch in ihrer Lebensweise, ihren Thun und Gehaben, ihren Sitten und Gebräuchen nach [...] directe und unverfälschte und unvermischte Nachkommen des Originalstammes, [...] mit dem unvertilgbaren Kennzeichen des „echten Wieners“. [...] sie verschaffen auch dem Gesammtbilde der bunten Stadt, gerade durch ihre markanten Chargen, noch immer das Gepräge des „Wienerthums“, und man kann und wird deshalb ungeachtet der vielköpfigen Invasion von Repräsentanten anderer Racen, Stämme und Nationalitäten, wenn man von „Wien und den Wienern“ in ihrer Totalität spricht, unter letzteren doch meist nur den – richtigen Wiener im Auge haben.22 Dieser Exklusion der nichtdeutschsprachigen Zuwanderer aus dem „Wiener Volk“, veröffentlicht in einer offiziösen Beschreibung der österreichisch-ungarischen Monarchie, fehlt der aggressiv-polemische Gestus der deutschnationalen Publizistik, umso deutlicher wird allerdings sichtbar, mit welchen Argumenten auch unter dem Vorzeichen eines supranationalen Konzepts der Ausschluss aus einem sozialen Raum legitimiert werden kann. Im sozialen Handlungsfeld Wiens sollte diese Ausgrenzung vor allem im Hinblick auf die große tschechische beziehungsweise die jüdische Minderheit konkrete Formen annahmen.23 Aber auch auf kommunaler Ebene wurden entsprechende Maßnahmen ergriffen: Bereits im Jahr 1900 legte eine Ergänzungsbestimmung zum neuen Wiener Gemeindestatut fest, dass bei jeder Bewerbung um das Wiener Bürgerrecht ein Schwur geleistet werden musste, den „deutschen Charakter“ der Stadt nach Kräften zu bewahren. 24 Die Imaginationen der ethnisch-nationalen Homogenität eines sozialen Raums beziehungsweise politische und kulturelle Maßnahmen zu deren Durchsetzung (und damit der Ausgrenzung von Minderheiten) lassen sich in unterschiedlichen Konstellationen in vielen urbanen Zentren Zentraleuropas beobachten. 50 Aus heutiger Perspektive ist es aber weniger die offene Diskriminierung von Minderheiten, sondern das „verborgene“ Narrativ des Ausschlusses beziehungsweise der kulturellen Differenzziehung innerhalb einer von den bürgerlichen Grundrechten basierenden Gesellschaft von Interesse, denn gerade diese Konstellation – das Spannungsfeld zwischen der Anerkennung von Differenz und den subtilen Mechanismen kultureller Hegemonie – lässt den zentraleuropäischen Raum zu einem „Laboratorium gegenwärtiger Problemlagen“ und zu einem historischen Bezugspunkt aktueller Erfahrungen ethnischer-nationaler beziehungsweise kultureller Heterogenität werden.25 Die Frage nach den Ursachen für das Scheitern des „multikulturellen Experiments“ der Habsburgermonarchie ist allerdings nicht nur mit dem Hinweis auf die in die Denkfigur der kulturellen Differenz eingeschriebenen Herrschaftsmechanismen zu beantworten – Kultur als Raum von Machtstrukturen zu konzipieren, zählt zu den Grundannahmen einer an den angloamerikanischen Cultural beziehungsweise Postcolonial Studies (Stuart Hall, Edward Said, Homi K. Bhabha et cetera) beziehungsweise an Theorien kultureller Hegemonie (Antonio Gramsci, Pierre Bourdieu) orientierten Auffassung von „Kultur“. Was eine postkoloniale Fragestellung – über das konkrete historische Fallbeispiel der Habsburgermonarchie hinaus – sichtbar machen kann, sind die latenten Potenziale eines hegemonialen Überlegenheitsanspruchs in den Meistererzählungen der Moderne, also die latenten Widersprüche im Hinblick auf die Universalität beanspruchenden Normen und Werte (Aufklärung, Menschen- und Bürgerrechte, Toleranz et cetera) und den konkreten Umgang mit dem „Anderen“ der „modernen Vernunft“. Die Analyse der subkutanen Strategien eines „unterirdisch murmelnden Diskurses“, der die Gleichheitsvorstellungen wieder außer Kraft setzt, wie dies Wolfgang MüllerFunk in bezug auf das Kronprinzenwerk postuliert, könnten zur Sensibilisierung gegenüber gegenwärtigen Aporien einer „Politik der Anerkennung“ gegenüber dem Fremden beitragen.26 Wenn „Zentraleuropa“ nicht zum diskursiven Steinbruch für ein nahezu beliebiges Spektrum von Hypothesen werden soll, so ist jede neue Forschungsperspektive im Hinblick auf die Berücksichtigung der in dieser Region zu konstatierenden Vielstimmigkeit von Narrationen über das „Eigene“ und das „Fremde“ zu befragen. Das Deutungsmuster des Postkolonialismus eröffnet wesentliche neue Erkenntnisse, es sollte allerdings nicht dazu führen, die Vielschichtigkeit von ethnisch-nationalen Konfliktlagen und die Entwicklung von Konsenskonzepten auf das dichotome Muster einer hierarchischen Differenz zwischen hegemonialer Elitenkultur und „kolonisierten“ Ethnien be- 51 ziehungsweise Nationalitäten zu reduzieren. Vielmehr stellt sich die Frage, ob nicht gerade durch diese Dichotomie die Vorstellung eines homogenen „Anderen“ – in Form der kolonisierten Kulturen – generiert wird. Heuristisch mag es durchaus fruchtbar sein, fiktionale und nicht-fiktionale Texte der Habsburgermonarchie nun „gegen den Strich“ zu lesen, das innovative Potenzial einer postkolonialen Lesart wird sich aber daran messen lassen müssen, inwieweit es über bisherige Analysen der Konstruktion kollektiver Identitäten in einer pluriethnischen Konstellation hinausgeht.27 Wie sind etwa die vielschichtigen Selbstbeschreibungen der slowenischen, kroatischen, tschechischen, slowakischen literarischen Moderne um 1900 zu erfassen, wie können die vielfachen Duplizierungen von (binnen-)kolonialen Imaginationen im Hinblick auf die Konstruktionen des „Eigenen“ und des „Fremden“ bei den „jungen“ Nationalitäten integriert werden? Wie ist schließlich das Verhältnis Österreich-Ungarns zu den erfolgreichen nationalen Homogenisierungskonzepten, vor allem im Deutschen Reich, zu verorten, im Hinblick auf die seit 1871 um sich greifende Überzeugung der Rückständigkeit Wiens gegenüber der dynamischen „Weltstadt“ Berlin? 28 Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Reaktivierung der Vorstellungen von kultureller Überlegenheit (Debatten um das tschechische Atomkraftwerk Temelín, EU-Osterweiterung), die auf das offenkundige Weiterwirken von abwertenden mentalen Einstellungsmustern gegenüber dem „Osten“ verweisen, ist die Analyse (post-)kolonialer Denkmuster allerdings eine wichtige neue Perspektive im Rahmen eines multiperspektivischen Zugangs auf „Wien und Zentraleuropa um 1900“. Anmerkungen 1 Bei diesem Beitrag handelt es sich um die erweiterte Fassung eines im newsletter MODERNE 5, 1 (2002) publizierten Artikels. 2 Steven BELLER, Reinventing Central Europe, Minneapolis 1991 (Center for Austrian Studies, Working Paper 92–95). 3 Claudio MAGRIS, Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur, Wien 32000, S. 19. 4 William M. JOHNSTON, Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848 bis 1938, Wien–Köln–Weimar 31992 (Forschungen zur Geschichte des Donauraumes 1), S. 13. 5 Vgl. Janos Matyas KOVACS, Westerweiterung. Zur Metamorphose des Traums von Mitteleuropa. Eine Einleitung, in: Transit. Europäische Revue 21 (2001), Themenheft Westerweiterung? Zur symbolischen Geographie Osteuropas, S. 3–20. 52 6 Vgl. Carl E. SCHORSKE, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, München–Zürich 1994. 7 Vgl. Moritz CSÁKY, Die Wiener Moderne. Ein Beitrag zu einer Theorie der Moderne in Zentraleuropa, in: Rudolf HALLER (Hg.), nach kakanien. Annäherung an die Moderne, Wien–Köln–Weimar 1996 (Studien zur Moderne 1), S. 59–102. 8 Vgl. Jacques LE RIDER, Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität, Wien 1990. 9 Vgl. Steven BELLER, Wien und die Juden 1867–1938, Wien–Köln–Weimar 1993 (Böhlaus zeitgeschichtliche Bibliothek 23). 10 Jean-François LYOTARD, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, hg. v. Peter ENGELMANN, Wien 1994 (Edition Passagen 7), S. 121 f. 11 Vgl. Herbert WILLEMS, Alois HAHN, Einleitung. Modernisierung, soziale Differenzierung und Identitätsbildung, in: DIES. (Hg.), Identität und Moderne, Frankfurt a. M. 1999, S. 9–29. 12 Vgl. Benedict ANDERSON, Die Erfindung der Nation, Frankfurt a. M. 21993. 13 Vgl. Ernest GELLNER, Nationalismus und Moderne, Berlin 1991, S. 146 f. 14 Vgl. Emil BRIX, Die Umgangssprachen in Altösterreich zwischen Agitation und Assimilation. Die Sprachenstatistik in den zisleithanischen Volkszählungen 1880 bis 1910, Wien–Köln–Graz 1982. 15 Einblick in die ideologischen Differenzen, die zum Teil ausgeprägter waren als das Interesse an nationalpolitischer Kohäsion, gibt zum Beispiel die Kulturpolitik in Laibach/Ljubljana; vgl. Egon PELIKAN, Theater, Politik und Gesellschaft. Aspekte der Geschichte des slowenischen Theaters in Ljubljana/Laibach in den Jahren 1867 bis 1918, in: Heidemarie UHL (Hg.), Kultur – Urbanität – Moderne. Differenzierungen der Moderne in Zentraleuropa um 1900, Wien 1999 (Studien zur Moderne 4). 16 Vgl. Wolfgang MÜLLER-FUNK, Kakanien revisited. Über das Verhältnis von Herrschaft und Kultur, in: DERS., Peter PLENER, Clemens RUTHNER (Hg.), Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie, Tübingen 2001 (Kultur – Herrschaft – Differenz 1), zitiert nach http://www.kakanien.ac.at/beitr. 17 Vgl. Gerald STOURZH, Die Idee der nationalen Gleichberechtigung im alten Österreich, in: Erhard BUSEK, Gerald STOURZH (Hg.), Nationale Vielfalt und gemeinsames Erbe in Mitteleuropa, Wien–München 1990, S. 39–48. Stourzh weist auf die „grundverschiedene Struktur“ Österreichs und Ungarns im Bereich des Nationalitäten- und Sprachenrechts hin: Während Ungarn ein Nationalstaat mit nationalen Minderheiten (und einem Sonderstatus für das als „politische Nation“ anerkannte Kroatien) war, bildete Österreich einen Nationalitätenstaat, dessen Verfassung von der Gleichberechtigung der Volksstämme ausging. Der Minderheiten-Rechtsschutz im öffentlichen Recht Österreichs kann „als eines der am weitesten entwickelten Rechtsschutzsysteme im Bereich von Verfassung und Verwaltung in Europa in den Jahrzehnten vor 1918 angesehen werden.“ Ebenda, S. 43. 18 Vgl. etwa den Beitrag von Elena Mannová in diesem Band. 53 19 Jacques LE RIDER, Mitteleuropa. Auf den Spuren eines Begriffes. Essay, Wien 1994, S. 78. 20 Vgl. Gerald STOURZH, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918, Wien 1985. 21 So weist die Darstellung von Krain sowohl einen Beitrag über „Die deutsche Literatur“ (von Eduard SAMHABER) als auch über „Die slovenische Literatur“ (von Gregor KREK) auf. Vgl. Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Kärnten und Krain, Wien 1891, S. 411–416 beziehungsweise S. 429–448. Zum Kronprinzenwerk im Kontext der Ethnographie in der Habsburgermonarchie vgl. allgemein: Peter STACHEL, Die Harmonisierung national-politischer Gegensätze und die Anfänge der Ethnographie in Österreich, in: Karl ACHAM (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften 4: Geschichte und fremde Kulturen, Wien 2002, S. 323–367. 22 Friedrich SCHLÖGL, Wiener Volksleben, in: Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Wien und Niederösterreich. 1. Abtheilung: Wien, Wien 1886, S. 91–123, hier S. 91–93. 23 Der Kampf gegen eine befürchtete „Vertschechung“ der Stadt wurde unter anderem mit Hetzartikeln gegen den tschechischen „Pöbel“, mit der Ächtung von Firmen, die nichtdeutsche Arbeiter beschäftigten, mit dem Boykott tschechischer Geschäfte und der Störung von Versammlungen tschechischer Vereine geführt. Aus Angst vor Terrorisierung und aus Sorge, die deutsche Kundschaft zu verlieren, wurden tschechische Firmentafeln vielfach durch deutsche ersetzt, viele tschechische Familien ließen ihren Namen eindeutschen. Ähnliche Imaginationen der Überfremdung („Verjudung“) dienten auch zur Legitimation von antisemitischen Aktionen. Vgl. Brigitte HAMANN, Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, München–Zürich 1996, S. 437–446. 24 Vgl. Walter ÖHLINGER, Wien im Aufbruch zur Moderne, Wien 1999 (Geschichte Wiens 5), S. 156. 25 Moritz CSÁKY, Die Vielfalt der Habsburgermonarchie und die nationale Frage, in: Urs ALTERMATT (Hg.), Nation, Ethnizität und Staat in Mitteleuropa, Wien–Köln–Weimar 1996 (Buchreihe des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa 4), S. 44–64. 26 Wolfgang MÜLLER-FUNK, Kultur, Kultur. Anmerkungen zu einem Zauberwort, in: Merkur 55 (2001), S. 723. 27 Vgl. dazu exemplarisch: Pieter M. JUDSON, Versuche um 1900 die Sprachgrenze sichtbar zu machen, in: Moritz CSÁKY, Peter STACHEL (Hg.), Die Verortung von Gedächtnis, Wien 2001 (Passagen Orte des Gedächtnisses), S. 163–174. 28 Vgl. Juliane MIKOLETZKY, Die Wiener Sicht auf Berlin, 1870–1934, in: Gerhard BRUNN, Jürgen REULECKE (Hg.), Metropolis Berlin. Berlin als deutsche Hauptstadt im Vergleich europäischer Hauptstädte 1871–1939, Bonn–Berlin 1992, S. 471–528. 54 Kulturelle Vielfalt und Homogenisierung Anil Bhatti I Es gibt, meines Erachtens, einen grundlegenden Unterschied zwischen Kulturauffassungen, die von einer positiven Bewertung der Plurikulturalität ausgehen und solchen, die von einer gegnerischen adversialen Voraussetzung ausgehen. Im plurikulturellen Verständnis ist Differenz oder Andersheit ein Konstituens der Kultur und nicht ein Systemwiderspruch. Im adversialen Verständnis von Kultur stört die Differenz, oder sie wird in den Bereich des „Interessanten“ gerückt. Deshalb werden Abgrenzungen vorgenommen, kulturelle Monaden werden konstruiert und zivilisatorische Hierarchien werden behauptet. Im günstigsten Falle kann es zu einer macht- und majoritätsgeschützten protektionistischen Toleranz kommen, die vom „Wohlwollen“ der Majorität abhängig ist. Sonst ist die Marginalisierung oder gar Ausmerzung der Differenz im politischen Prozess, wie wir aus der Geschichte wissen, eher üblich. Ich betrachte plurikulturelle Verhältnisse als selbstverständlich vorhandene Kommunikationszusammenhänge. Bilder dafür finden wir etwa in der Polyglossie und Polysemie der plurikulturellen Städte. Diese Plurikulturalität wird gerade nicht durch den Tourismus hergestellt, sondern sie ist Teil des Alltags. Bei Doderer gibt es eine Stelle, wo der Erzähler ironisch-lakonisch von der „polyglotte(n) Bereitwilligkeit der Stadt“ spricht.1 Gemeint ist natürlich Wien, und der Roman handelt vom Schicksal eines jungen Engländers, dessen Vater eine Fabrik in Wien gegründet hat. Der Sohn wächst in England und Wien auf. „In zwei Ländern jugendlich lebend, umschloss ihn niemals die Verhärtung in einem einzigen, das dann allein den Blickpunkt bildet.“2 Und in Wien wächst er in einer polyglotten Welt auf, wo deutsch, ungarisch und slawische Sprachen zu seinem Umfeld gehören. Mehrsprachigkeit ist hier selbstverständlich. Die dichotomisierende Hermeneutik von „eigen“ und 55 „fremd“ kommt nicht zum Tragen. Die Frage, ob jemand oder etwas (ein Ausländer oder eine religiös konnotierte Gruppe etwa) integrierbar sei, wäre aus dieser Sicht und als Frage höchst sonderbar, denn es geht in plurikulturellen Verhältnissen nicht so sehr um Integration (womöglich unter einer Leitkultur) als um die Ermöglichung funktionierender Kommunikationsverhältnisse in der Entwicklung urbaner Großräume.3 Plurikulturelle Verhältnisse signalisieren freilich keineswegs, dass wir es mit bereits befriedeten, konfliktfreien Gesellschaften zu tun haben, denn die Rahmenbedingungen dafür sind komplizierter. Das Zerstörungspotenzial in plurikulturellen Verhältnissen dürfte bei inkludierten und exkludierten Gruppen ungefähr gleich sein. Es geht eben nur darum, dass wir Alterität normal finden. Sie ist selbstverständlich. Die Geschichtserfahrung lehrt uns aber, dass mehrsprachige, plurikulturelle Staatsformationen stets gefährdet waren und noch sind. Im nationalstaatlichen Zeitalter gelten sie als problematisch, bestenfalls als transitorische Geschichtsmomente.4 Ihnen wird Normalität abgestritten. Sie sind stets als Übergangsmomente gedacht für homogenisierte Zusammenhänge, in denen es zu einer Kongruenz von bestimmten Merkmalen in der Bevölkerung (meistens Sprache, Überlieferung, Religion) kommt und die Anderen stigmatisiert werden können. Sprachenkonflikte, die auch Klassenkonflikte sind, spielen da eine wichtige Rolle. Zum Beispiel bilden die Sprachen Hindi und Urdu sowohl aus sprachwissenschaftlicher als auch aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht eine nordindische Sprachgemeinschaft. Die Hindi-Variante wird in der aus dem Sanskrit abgeleiteten Devanagari-Schrift und die Urdu-Variante in der persischen Schrift geschrieben. Wenn man Devanagari mit „Hindu“ und die persische Schrift mit „Moslem“ konnotiert, hat man den Keim eines religiösen Konflikts, der eine plurikulturelle Konstellation zerstört. Dies begann im 19. Jahrhundert im britischen Indien, wobei der Konflikt zwischen Urdu und Hindi durch die Aspirationen einer neuen aufstrebenden Hindu-Mittelschicht (middle class), die Arbeit, Anerkennung und Macht suchte, mitbedingt wurde.5 Strukturell ist dies durchaus vergleichbar mit der Zerstörung der serbo-kroatischen Sprachgemeinschaft in unseren Tagen.6 Dort wo emotive, symbolische Funktionen der Sprache traditionelle, gesellschaftliche und kommunikative Funktionen verdrängen, gewinnen Homogenisierungsmomente den Vorrang und plurikulturelle Verhältnisse brechen zusammen. Diese Ideologie der Homogenität7 gewinnt ihre Kraft dadurch, dass eine an sich kontingente Struktur ihre eigene Legitimität dadurch behauptet, dass 56 sie sich mit dem Schein des Natürlichen versieht. Der monochrone, semantisch eindeutige Nationalstaat wird zum Ideal. „Vielfachkodierung“8 gilt als unnatürlich. Das Modell, das sich hier durchsetzt, will von der Komplexität zu Einfachheit gelangen oder, anders ausgedrückt, einem vermeintlichen Chaos zur Ordnung verhelfen. Dieses Motiv bildet sich in der europäischen Kulturtheorie früh aus. Bereits Herder hebt die Diversität europäischer Herkunft hervor, um sie effektiver zu homogenisieren. Bekanntlich setzte Herder eine Völkermischung gewissermaßen als Vorbedingung für die Nationalisierung in Europa voraus. Um 1784 schreibt er: In keinem Welttheil haben sich die Völker so vermischt, wie in Europa: in keinem haben sie so stark und oft ihre Wohnplätze, und mit denselben ihre Lebensart und Sitten verändert. [...] Durch hundert Ursachen hat sich im Verfolg der Jahrhunderte die alte Stammesbildung mehrerer Europäischer Nationen gemildert und verändert; ohne welche Verschmelzung der Allgemeingeist Europas schwerlich hätte erweckt werden mögen.9 Assimilation ist für Herder die notwendige natürliche Vorgeschichte eines historischen Prozesses, der zur Komplexität führt und organisatorische Lösungen verlangt. Nur jene Organisationsform, welche die Natürlichste ist, kann dem Naturplan entsprechen. Da die Natur Familien erziehe, wäre der natürlichste Staat „also auch Ein Volk mit einem Nationalcharakter“. Aus dieser Perspektive lehnt Herder die „unnatürliche Vergrößerung der Staaten, die wilde Vermischung der Menschen-Gattungen und Nationen unter Einen (sic!) Szepter“ ab, eben weil sie als bewusster Akt gegen das Natürliche gerichtet ist.10 Herders Opposition zum Kolonialismus lässt sich mitunter auch darauf zurückführen. Die Zähmung des Chaos und die Herstellung einer taxonomischen Ordnung ist ein integraler Bestandteil der Epistemologie des Kolonialismus. Die Diversität und Komplexität Indiens zum Beispiel wurde im Rahmen der Wissensaneignung durch den britischen Kolonialismus als Chaos empfunden, das durch eine beispiellose Entfaltung klassifikatorischer und taxonomischer Energie beherrscht werden sollte. Im Rahmen der Entwicklung einer kolonialen Kompetenz war die systematische Kodifizierung der modernen Volkssprachen und Mundarten Indiens ein wichtiges Anliegen des britischen Kolonialismus.11 Die Erkenntnis, dass Sprachkenntnisse und Übersetzungsprogramme für die Ausübung von Herrschaft wichtig sind, führte dazu, dass eine bestimmte Sprachideologie sich durchsetzte. Sprachen mussten gesondert, ka- 57 talogisiert, klassifiziert und als autonome Gebilde betrachtet werden. Die in der sozialen Praxis vorhandene multilinguale Situation mit Überlappungen wurde linguistisch eingeebnet. Das war im britischen Indien. Und es entbehrt nicht einer gewissen historischen Ironie, dass die Komplexität Indiens heute durch den Drang nach Homogenisierung von fundamentalistischen Hindus gefährdet ist. Die pluralistische soziale Praxis des Hinduismus (man sollte eigentlich von verschiedenen Formen des praktizierten Hinduismus im Plural sprechen) soll zu einem monolithischen Block geformt werden, der dann andere Religionen Indiens (Islam, Christentum zum Beispiel) marginalisiert. Durch die Gefährdung und Relativierung des säkularen Diskurses wird die mehrsprachige, multikulturelle Landschaft Indiens parzelliert. Diese angeblich autochthone Bewegung erfüllt damit paradoxerweise eine Forderung europäischer Kolonialideologie, die im amorphen Hinduismus (kein Messias, kein Urtext, keine Kirche!) keine Merkmale fanden, die den Buchreligionen (Christentum, Islam) entsprechen würden. Die nach Authentizität drängenden Hindufundamentalisten werten sich sozusagen im Kanon der europäischen Religionswissenschaft auf. Homogenisierung ist eine bewusste Intervention in einen fluiden Praxiszusammenhang, der durch Kodifizierung eingefroren wird. Kodifizierte Praxis solcher Art gewinnt eine eigene materielle Gewalt, die sich dann als Realität ausgibt. In diesem Sinne werden soziale Kategorien „erfunden“. Fortan haben die Träger dieser erfundenen Kategorien ein materielles Interesse an deren Beibehaltung, womit sich der Kreis schließt. Das heterogene „Chaos“ wird domestiziert und das Resultat wird zum „natürlichen“ Akteur im gesamtgesellschaftlichen Prozess. Man vergisst, dass diese sozialen Akteure Konstruktionen sind. Plurikulturelle Aktionsräume und Kommunikationszusammenhänge werden also erst im Homogenisierungsprozess normativ aufgeladen. Erst dann bekommen Sprache, Herkunft, Territorium eine Bedeutung in der Öffentlichkeit und erst dann können sie zu Akteuren im politischen Prozess werden. Während es für die plurikulturelle Situation typisch ist, dass wir Handlungszusammenhänge konstatieren und sie nicht kulturell deuten (Ich frage nicht nach der religiösen oder kulturellen Zugehörigkeit meines „Interlocutors“), ist es nun in der Situation der Homogenisierung typisch, dass wir Verstehenszusammenhänge suchen oder blockieren (Ich kaufe bewusst nicht bei einem Juden oder Moslem ein). 58 II In mancherlei Hinsicht stellt postkoloniale Theorie ein Gegenmodell zur Homogenisierung dar, indem sie das so genannte Chaos als nicht begriffene Komplexität und Mehrdimensionalität auffasst und diese nun reflexiv begriffene Komplexität beziehungsweise Mehrdimensionalität gegenüber der Monotonie der linearen Welt der Eindimensionalität positiv aufwertet. Es scheint mir allerdings nach wie vor nützlich zu sein, wenn wir postkoloniales Gedankengut eher als eine Haltung betrachten, anstatt darin eine systematisch ausgebaute und ausbaufähige Theorie zu erblicken. Sein Arbeitsmaterial, sein Archiv ist der Kolonialismus (in seiner Textualität) und die koloniale und postkoloniale Weltordnung. Seine Äußerungen sind häufig explizit erfahrungsbezogen und existentiell geprägt. Es geht ihm um Momente des historischen und kognitiven Bruchs (ruptures). Dies erklärt sein ethisch getragenes Pathos.12 Seine wesentliche Leistung besteht darin, dass es eine Umwertung kolonialer Werte in mindestens zwei Richtungen erreicht hat. Die Privilegierung von rassenmäßiger Reinheit, Sprachpurismus, Bodenständigkeit und Authentizität wurde aufgehoben und durch Termini und Begriffe wie Hybridität, Migrantentum, Zwischenräume, Transitbereiche ersetzt, die ihrerseits Prozesse signalisieren, die als integraler Bestand des Kolonialismus und der kapitalistischen Moderne gesehen werden können.13 Aber man muss auch sehen, dass postkoloniales Denken die Exilerfahrung, etwa im europäischen Faschismus, aufgenommen hat, ohne ihre diversen politischen Programme unbedingt mit zu reflektieren. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass Begriffe wie Hybridität an politischer Schärfe verlieren, wenn sie lediglich als eine neutrale Zustandsbeschreibung aufgefasst werden. Wenn alles in der postmodernen und postkolonialen Welt hybrid ist, bleibt es nur bei der Kritik an älteren rassistischen Ideologien. Ebenfalls ist die Kritik am triumphalen linearen Prozess der Weltbeherrschung in der Aufklärungsnarrativik berechtigt, aber ohne an die Dialektik der Aufklärung zu denken, bleibt der postkoloniale Denker bei der Klage über den Authentizitätsverlust durch den Kolonialismus als vermeintlich singulären Bruch allein, ohne zu bedenken, dass der antifeudale Kampf mit Mitteln der Aufklärung durchgeführt wurde und wird.14 59 III Postkoloniale Reflexionen und Haltungen operieren heute in einem Feld, wo wir heuristisch von zwei Modellen ausgehen können. Das erste Modell (beziehungsweise die erste Argumentationslinie) begreift Kolonialisierung als Deformation, als Störung eines eigenen authentischen historischen Wegs. Dekolonisation wird als Befreiung vom Außenzwang und von fremder „Superimposition“ begriffen. Literaturproduktion und Identitätskonstruktion zielen auf Rückgewinnung der reinen, authentischen, ursprünglichen Wurzeln („roots“) der „eigenen“ Tradition. Es geht um unterdrückte, verlorene und wiederzugewinnende Identität. Nationale Identitätsgewinnung wird ausgehandelt zwischen dem postkolonialen, indischen „Selbst“ und dem internationalen „Anderen“. Dieses „Andere“ ist zwar auch eine komplexe Konstruktion, die historische Erinnerung und gegenwärtige Konfrontation auf eine komplexe Weise vernetzt, aber das theoretische Grundmuster dieses Paradigmas geht letztendlich auf ein „romantisches“ Verständnis von Sprache, Nationalität und Staat zurück. Tendenziell führt dies zu einem „geschlossenen“ Kulturverständnis. Die Übersetzbarkeit von Kulturen ist Verhandlungssache. Die dichotomisierende Hermeneutik von „Eigen“ und „Fremd“ hat hier ihren Platz. Das zweite Modell (beziehungsweise die zweite Argumentationslinie) begreift Kolonialisierung als Teil der widerspruchsvollen Gesamtentwicklung eines Weltsystems in einem Prozess der zunehmenden Vernetzung. Als Konsequenz werden Fragen der Literaturproduktion und Identitätskonstruktion als wechselseitige Entwicklungs- und Konstruktionsmomente im internationalen Zusammenhang begriffen. Komplexe Kulturformationen wie Europa oder Indien sind Resultate dieser Gesamtentwicklung und sind nicht vorgegebene Wesenseinheiten. Europäische und indische Identitätskonstruktionen bedingen sich wechselseitig, und die ökonomische, politische und kulturelle Neuordnung des kolonialen und postkolonialen Zeitalters wird als Prozess begriffen. Tendenziell führt dies zu einem „offenen“ Kulturverständnis. Grenzen sind porös. Übersetzbarkeit wird bei aller notwendigen Problematisierung stets prinzipiell vorausgesetzt. Man sieht eher die Verflechtungen im Geschichtsprozess, die Solidaritätslinien gleich Betroffener und die Überlappungen als Trennlinien und Grenzmarkierungen. Hier ist man konsequenterweise hermeneutisch „abstinent“. Im ersten Modell gestaltet sich das Denken in dichotomisierenden Kategorien wie das Eigene und das Fremde, zwischen denen im Akt des herme- 60 neutischen Verstehens Beziehungen geschaffen werden, und dies ist historisch sicherlich die dominante Tradition gewesen. Dies wurde durch die nationalstaatliche Konfiguration des kolonialen und postkolonialen Zeitalters begünstigt, so dass Toleranz sich über monolinguale und monokulturelle Trennlinien artikuliert hat. Dies ist ein gewiss wichtiges Unternehmen und vielleicht haben genuin monolinguale und monokulturelle Nationen, falls es sie gibt, gar keine andere Wahl. Betrachtet man die Welt jedoch eher als Ensemble von multilingualen und multikulturellen Formation (im Entstehen, im Vergehen […]), die noch dazu stark vernetzt sind, ist die Metaphorik des Rhizoms15 glücklicher als die der Wurzel. Nicht eine Verstehenshermeneutik, sondern eher eine operative Kunst des Aneignens ist gefragt. Wer diese Position vertritt, gibt zu, dass es wichtiger ist mit einander auszukommen als einander zu verstehen. Ich möchte dies auch als Primat des Agoraprinzips bezeichnen. Die Verteidigung der bürgerlichen Rechte und der Zugang zur Öffentlichkeit bewegen uns. Metaphorisch gesprochen zählt auch auf dem „Jahrmarkt der Kulturen“ die kommunikative Performanz.16 IV Die plurikulturelle Geschichte des indischen Subkontinents kann man in der Spannung zwischen den oben skizzierten zwei Polen situieren und sie in klärender Absicht mit anderen plurikulturellen Formationen wie der Habsburger Monarchie modellhaft in Beziehung setzen. Gegen Ende ihrer Herrschaft in Indien, und viel zu spät, haben die Briten genau das versucht. Es gehört zu den bitteren Ironien der Weltgeschichte, dass das britische Empire, das sich Mühe gab, auf der Weltbühne als ein multiethnisches, multikulturelles Gebilde zu reüssieren, dem religiösen Homogenisierungsdrang nachgeben musste und den indischen Subkontinent als geteiltes Gebilde in einen religiös geprägten Genozid entließ. Das Empire erlag seiner Unfähigkeit, die faktisch vorhandene Plurikulturalität anders als „Inkohärenz“ aufzufassen, das heißt negativ zu konnotieren. Die Machtübergabe nach dem zweiten Weltkrieg wurde durch die Forderung nach einem unabhängigen muslimischen Staat – Pakistan – entscheidend geprägt. Zwischen der Forderung nach Pakistan und vor allem Nehrus Konzept eines säkularen Indien gab es eine Kluft, die allerdings nicht unüberbrückbar war. Nehru kritisiert den Missbrauch des Ausdrucks Kultur 61 und die angebliche Unvereinbarkeit von Muslim „culture“ und Hindu „culture“: „The inevitable deduction from this is (although it is not put baldly) that the British must remain in India for ever and ever to hold the scales and mediate between the two ,cultures‘.“ Der inflatorische Gebrauch des Kulturarguments kommt ihm bereits 1936 überholt vor, denn: „The day of even national cultures is rapidly passing and the world is becoming one cultural unit.“17 Zu später Stunde und als es zunehmend klar wurde, dass Großbritannien Indien nicht mehr halten konnte und wollte, gab es zaghafte Versuche im Kreise der britischen policy makers, Alternativüberlegungen anzustellen, um die Einheit Indiens zu bewahren und eine Art gesamtindische Föderation anzustreben. Als „Precedent“ wurde die Doppelmonarchie mit dem Ausgleich von 1867 vorgeschlagen. Bereits dem britischen Kriegskabinett (Feb. 1945) lag eine Note vor, die bemerkte: The Habsburg dominions fell into the Austrian and Hungarian halves, which were united only in the person of the sovereign and their common institutions which included, the Ministries of Foreign Affairs, War and Finance (the two last-named only for affairs of common interest) and the Austrian and Hungarian Delegations composed of representatives of both halves of the Empire, which were to debate on common Affairs in Vienna and Budapest alternately. Lakonisch stellt die Note allerdings auch fest: „The financial difficulties of the dual monarchy were notorious.“18 Im April 1946 schrieb der Abgeordnete Amery auch in diesem Sinne an Lord Pethick Lawrence, der die Aufgabe der Abwicklung der Machtübergabe hatte, und hob hervor: „This Ausgleich, or joint arrangement, had to come up for consideration every ten years,“ um dann bezüglich der drohenden Teilung Indiens zu fragen: „Might it not be possible to get agreement at this moment on the basis of such a dual arrangement?“19 Und noch im Mai 1947 (drei Monate vor der Unabhängigkeit) heißt es in einem Protokoll der Diskussion zwischen dem letzten Viceroy Lord Mountbatten und indischen Politikern über die heikle Frage der Teilung der indischen Armee: „His excellency the Viceroy said there could be a joint Defence Headquarters. He quoted the example of the Austro-Hungarian Empire before 1914–1918 War.“ Lakonisch steht dann im Protokoll: „With this Nehru agreed.“20 Wahrscheinlich war er der Einzige, denn aus diesem Plan wurde nichts. 62 V Um zu einer Einschätzung der historischen Leistung des säkularen indischen Staats im Zusammenhang der Aufrechterhaltung plurikultureller Verhältnisse zu gelangen, muss man wissen, dass es eine exkludierende Auffassung von der staatspolitischen Zukunft Indiens sowohl aus hinduistischer als auch aus muslimischer Sicht im Empire gab. Aus der Sicht des bedeutenden indischen Dichters und islamischen Philosophen Sir Muhammad Iqbal bildeten die Moslems Indiens eine homogene Einheit. In seiner Präsidentenrede bei der 25ten Versammlung der All India Muslim League im Jahr 1930 heißt es: We are seventy millions and far more homogeneous than any other people in India. Indeed, the Muslims of India are the only Indian people who can truly be described as a nation in the modern sense of the word. The Hindus, though ahead of us in almost all respects, have not yet been able to achieve the kind of homogeneity which is necessary for a nation, and which Islam has given you as a free gift.21 Für Iqbal bildet die religiös homogene Nation eine reflexiv höhere Stufe, die in der Vielfalt Indiens, in seiner „infinite variety in climates, races, languages, creeds and social systems“ eine territoriale Verankerung verlangt. Iqbal war kein Rassist. Seine Gedanken sind konsequente Fortführungen seines Versuchs einer Erneuerung des Islam im zwanzigsten Jahrhundert, und es ist denkbar, dass dieser einst glühende pan-indische Patriot von dem sich entwickelnden Hinduchauvinismus abgestoßen wurde. Aber der ideologische Führer der rechtsgerichteten Hindupartei, der „Hindu Mahasabha“, Golwalkar rekurrierte 1939 explizit auf rassistische Theorien aus Deutschland, um den Vorrang eines exklusiv hinduistischen Indien zu behaupten. Deutschland habe erfolgreich gezeigt, behauptete er, dass eine Assimilation von grundverschiedenen Rassen und Kulturen nicht möglich sei.22 Aus Golwalkars Sicht waren „nicht-Hindus“ schlicht Ausländer. Über die Bedingungen unter denen sie in Indien leben könnten, schreibt er: The foreign races in Hindusthan must either adopt the Hindu culture and language, must learn to respect and hold in reverence Hindu religion, must entertain no idea but those of the glorification of the Hindu race and culture, i.e. of the Hindu nation and must lose their separate existence to merge in the Hindu race, or may stay in the country, wholly subordinated to the Hindu Nation, claiming nothing, deserving no privileges, far less any preferential treatment – not even citizen’s rights.23 63 Der Homogenisierungsgedanke, wir sagten es schon, basiert auf den Anspruch „natürlich“ zu sein. Die natürliche Ordnung für Mensch und Welt soll die religiös eindeutig kompakte Ordnung sein. Der säkulare Staat verzichtet dagegen auf den Schutz durch die Natürlichkeit und ist bewusst als utopisches Konstrukt angelegt. Der Säkularismus verzichtet ebenfalls auf das stammesmäßige „tribale“ Prinzip der religiös/rassistisch/sprachlich motivierten Zusammenrottung. Das erklärt auch seine Verwundbarkeit und seine Fragilität. Er ist in hohem Maße von der intakten Funktion demokratischer Institutionen abhängig. In Opposition zum Homogenisierungsversuch, sei er hinduistischer, sei er muslimischer Prägung, stand das postkoloniale säkular-demokratische Projekt des plurikulturellen indischen Staats beziehungsweise seine Idee.24 Indien als säkulares Projekt war eher eine Utopie und es kann in dem Sinne nicht als Willens- oder Solidargemeinschaft im Sinne von Renans Nationsbegriff betrachtet werden. Wenn die rechtsgerichteten Hindutva-Kräfte jetzt ein homogenes Hindu-Indien herstellen möchten, so knüpfen sie wieder an ihre eigenen ideologischen Ursprünge an und liefern das hinduistische Pendant zum exkludierenden Moslemstaat nach. Als Gegenkonzept zu allen Homogenisierungsideen zu Indien in der Kulturtheorie fungiert der Palimpsest-Gedanke, der sowohl den Authentizitätsdiskurs als auch die Homogenisierungsthese negiert. In The Discovery of India hat wiederum Jawaharlal Nehru versucht, die sprachliche und kulturelle Komplexität Indiens, seine Diversität und die Einheit in der Diversität mit dem Bild des Palimpsests zu erfassen – allerdings ein Palimpsest, dessen Gültigkeit in seiner Ganzheit liegt und nicht in irgendeiner Schicht, zu der man durch einen Akt der Reinigung oder Wegradierung stößt. Indien war für Nehru wie irgendein ancient palimpsest on which layer upon layer of thought and reverie had been inscribed, and yet no succeeding layer had completely hidden or erased what had been written previously. All of these exist together in our conscious or subconscious selves, though we may not be aware of them, and they had gone to build up the complex and mysterious personality of India.25 Das Bild des Palimpsests gibt den Gedanken von der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Ernst Bloch) sehr plastisch wieder. Bei der Schichtung kommt es nämlich auf das Multiple an. Dieses bedeutet Fülle und Reichtum im historischen Prozess. Dies kehrt sich ins Gegenteilige, wenn die Schichtung als zunehmender Verlust an Authentizität aufgefasst wird. Anstatt die 64 komplexe Totalität zu sehen, bedeutet die Suche nach Wurzeln, dass die Durchdringung der vertikalen Richtung der Schichtung mit Fragen nach dem Wahren oder Authentischen oder nach der Suche nach den Quellen oder nach dem Urtext, der allein Wirklichkeit wäre, gleichgesetzt wird.26 Im Gegenteil, das sogenannte wirkliche Indien, wenn man es wirklich will, läge nicht in der Urschicht, sondern bestünde in der Ganzheit und Gleichzeitigkeit des mehrschichtigen Prozesses. Homogenisierungsversuche sind also Formen der kulturellen Besitzergreifung, die solche Gesamtheiten negieren, um einer bestimmten Schicht Authentizität zuzusprechen. Aber streng genommen wäre die Urschicht eines solchen Palimpsests ein leeres Blatt. Metaphorisch gesprochen weist der Drang nach Authentizität in einer plurikulturellen Gesellschaft ins Leere. VI Der Versuch, „organische“ Gemeinschaften zu konstruieren, führt also tendenziell zum Zusammenbruch von plurikulturellen Staaten und Formationen. Das Ziel des säkularen Projekts in Indien war dagegen eine indische Gesellschaft als Gegenentwurf zum Projekt einer majoritären Hindu-Gemeinschaft. Dieser Zusammenbruch wird auch durch die Besetzung von Gedächtnisorten begünstigt. Dies geschieht sowohl buchstäblich als auch metaphorisch. Die Erfindung eines Gedächtnisorts ist ein notwendiger Teil des Homogenisierungsprozesses. Identifikationsfelder werden aus Mythos, Geschichte und politischer Bewegung konstruiert. In der nordindischen Stadt Ayodhya, legendärer Geburtsort des Hindu-Gottes Rama, gibt es eine dem Moghul Kaiser Babur (15. Jahrhundert) zugeschriebene Moschee. Erbaut im 15. Jahrhundert soll sie auf zerstörten hinduistischen Tempelresten stehen. Beweise fehlen, aber darum geht es nicht. Hinduistische Fundamentalisten haben 1991 die Moschee im Namen ihres religiösen Machtanspruchs zerstört.27 Vom Palimpsest-Gedanken aus gesehen, wäre die Vermutung, dass eine Moschee auf Resten eines Tempels gebaut wurde, weder eine Überraschung noch unbedingt ein Sakrileg, sondern lediglich etwas, was dem blutigen machtorientierten Gang der Geschichte zugeschrieben werden kann, die man jetzt als plurikulturelles Resultat aufzufassen gewillt ist. Es käme dann darauf an, den Gedächtnisort Ayodhya im Sinne des Säkularismus sowohl für Hindus als auch für Moslems operationell zu machen. Das heißt, beide Religionsge- 65 meinschaften sollen dort ihre Einrichtungen haben und beten können. Aber genau das widerspricht dem Fundamentalismus jeden Couleurs. Der Fundamentalismus nimmt den Palimpsest-Gedanken zurück, verwirft ihn, um die Monochronie des reinen Ursprungs zu finden und dabei zu erfinden. Man könnte schließlich Homogenisierung als eine Form der kulturellen Besitzergreifung auffassen, die ein spezifisches Verhältnis zwischen Kultur und Identifikation postuliert. In plurikulturellen Gesellschaften dagegen hat man zwar Kulturen, man besitzt sie aber nicht. Ich variiere damit eine Formulierung, die Derrida im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zur Mehrsprachigkeit angestellt hat.28 Derridas Paradoxien über den Monolingualismus („Ja, ich habe nur eine Sprache, aber sie ist nicht meine.“ „Wir sprechen immer nur eine Sprache. Wir sprechen nie nur eine Sprache.“) sind auch kulturtheoretisch einleuchtend. Wenn ich eine Haltung einnehme, die bereit ist zu behaupten, dass meine Kultur mir nicht gehört, dann signalisiere ich ein Interesse für grenzüberwindende Phänomene und den arbiträren Charakter der Grenzziehung. Ich kann dann einsehen, dass gesellschaftliche Transformationen mit Macht und Herrschaft verbunden sind, dass aber diese nicht unbedingt sprachlich, religiös und rassenmäßig verdinglicht werden müssen. Anmerkungen 1 Heimito von DODERER, Die Wasserfälle zu Slunj. Roman, München 1971, S. 324. 2 Ebenda, S. 140. 3 Zu Wien: Vgl. Moritz CSÁKY, Ambivalenz des kulturellen Erbes: Zentraleuropa. Moderne und/oder postmoderne Befindlichkeit, in: Moritz CSÁKY, Klaus ZEYRINGER (Hg.), Ambivalenz des kulturellen Erbes. Vielfachkodierung des historischen Gedächtnisses. Paradigma: Österreich, Innsbruck u. a. 2000, S. 31–34. 4 Zum Problem und für Zentraleuropa als „Vorgeschichte“ späterer Nationalstaaten vgl. Johannes FEICHTINGER, Peter STACHEL (Hg.), Das Gewebe der Kultur. Kulturwissenschaftliche Analysen zur Geschichte und Identität Österreichs in der Moderne, Innsbruck u. a. 2001, S. 8. 5 Vgl. Alok RAI, Hindi Nationalism, Delhi 2001. 6 Vgl. Holm SUNDHAUSSEN, Neue Untersuchungen zum destruktiven Potential von Sprache und zur Überlebensfähigkeit multilingualer Staaten, in: Berliner Osteuropa-Info, 17 (2001), S. 7–9. 7 Der Drang nach Homogenität kann als ein spezifisches Merkmal der europäischen Moderne in ihrer Ausprägung mit dem und durch den Kolonialismus gesehen werden. Die westeuropäische nationalstaatliche Konsolidierung ging 66 8 9 10 11 12 13 14 15 16 Hand in Hand mit der Disziplinierung von komplexen plurikulturellen Überseereichen in einem widerspruchsvollen Prozess. Aus Raumgründen kann ich auf dieses Thema nicht eingehen Vgl. dazu: Prasanjit DUARA, Rescuing History from the Nation. Questioning Narratives of Modern China, Chicago and London 1995, S. 20. Und: David ARMITAGE, The British Conception of Empire in the Eighteenth Century, in: Franz BOSBACH, Hermann HIERY in Zusammenarbeit mit Christoph KAMPMANN (Hg.), Imperium–Empire–Reich. Ein Konzept politischer Herrschaft im deutsch-britischen Vergleich. An Anglo-German Comparision of a Concept of Rule, München 1999, S. 91–108. Zum Begriff vgl. Moritz CSÁKY, Klaus ZEYRINGER (Hg.), Ambivalenz des kulturellen Erbes. Vielfachkodierung des historischen Gedächtnisses. Paradigma: Österreich, Innsbruck u. a. 2000. Johann Gottfried HERDER, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Frankfurt a. M. 1989, S. 287. Ebenda, S. 369. Vgl. dazu auch: Anil BHATTI, Aspekte der Grenzziehung; postkolonial, in: Horst TURK u. a. (Hg.), Kulturelle Grenzziehungen im Spiegel der Literaturen. Nationalismus, Regionalismus, Fundamentalismus, Göttingen 1998. Grundlegend dazu: Bernhard COHN, The Command of Language and the Language of Command, in: Ranajit GUHA (Hg.), Subaltern Studies IV, Delhi 1985, S. 276–329; vgl. auch: Anil BHATTI, Zum Verhältnis von Sprache, Übersetzung und Kolonialismus am Beispiels Indiens, in: Horst TURK, Anil BHATTI (Hg.), Kulturelle Identität. Deutsch-indische Kulturkontakte in Literatur, Religion und Politik, Berlin 1997, S. 3–19; vgl. auch: Anil BHATTI, „Polyglotte Bereitwilligkeit“. Eine Miszelle über Mehrsprachigkeit und Multikulturalität, in: Herbert ARLT u. a. (Hg.), TRANS. Dokumentation eines kulturwissenschaftlichen Polylogversuchs im WWW (1997–2000), St. Ingbert 2002, S. 77–85. Vgl. dazu: Leela GANDHI, Postcolonial Theory. A critical Introduction, New Delhi 1998, S. 176. Aus der schier uferlosen Literatur zum Thema sei erwähnt: Bill ASHCROFT, Gareth GRIFFITHS, Helen TIFFIN, Key Concepts in Post-Colonial Studies, London and New York 1998. Für eine detaillierte Artikulation dieser Kritik: Vgl. Kumkum SANGARI, Politics of the Possible. Essays on Gender, History, Narrative, Colonial English, New Delhi 1999, S. xxxv–xxxix. Über diese Aporie schreibt besonders eingehend: Dipesh CHAKRABARTY Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, New Delhi 2001. Vgl. Gilles DELEUZE, Felix GUATTARI, A thousand Plateus. Capitalism and Schizophrenia (übersetzt von Brian MASUMI), London 1988, S. 15 (franz. Original: 1980). Das französische Original stand mir nicht zur Verfügung. Es ist immerhin bemerkenswert, dass der historisch funktionierende Säkularismus in Indien erstaunlich arm an hermeneutischer Tätigkeit war. Es gibt wenige Beiträge aus hinduistischer oder muslimischer Hand über die Religion des jeweils anderen. Beide greifen zur europäischen Wissenschaft, wenn es um Religionsinterpretation geht. Insofern war der funktionierende plurikulturelle Code in Indien a-hermeneutisch angelegt. 67 17 Jawaharlal NEHRU, An Autobiography, New Delhi 1989, S. 469 (Original: London 1936). Nicht nur im Bereich des Kulturdenkens sondern in dem sensiblen Bereich der Sprache bleibt Nehru gegen Homogenisierung eingestellt: „Purists object to the use of foreign words, but I think they make a great mistake, for the way to enrich our language is to make it flexible and capable of assimilating words and ideas from other languages.“ Vgl. ebenda, S. 456. Der Freiheitskämpfer Jawaharlal Nehru wurde später der erste Premierminister des unabhängigen Indien. 18 Nicholas MANSERGH (Hg.), The Transfer of Power. The Transfer of Power 1942–1947. London 1970–1983, hier: Volume 5 (1974), S. 535. Ich danke Margit Köves für diesen Hinweis. Vgl. auch: Mushirul HASAN (Hg.), India’s Partition. Process, Strategy and Mobilization, Delhi 1993. 19 Ebenda, Volume 7 (1977), S. 300 f. 20 Ebenda, Volume 10 (1981), S. 736. 21 Iqbals Rede wird zitiert nach: Allama Muhammad Iqbal’s 1930, Presidential Address, 25th Session of All India Muslim League, December 29–30, 1930 at Allahabad (U.P.) (http://salam.muslimsonline.com/~azahoor/iqbal1930.htm). Zu Iqbal vgl. Iqbal SINGH, The Ardent Pilgrim. An Introduction to the Life and Work of Mohammed Iqbal, Delhi 1997, S. 85–96. 22 Madhav Sadasiv GOLWALKAR, We or our Nationhood defined, Nagpur 1939, hier zitiert nach: Christophe JAFFRELOT, The Hindu Nationalist Movement and Indian Politics. 1925 to the 1990s, New Delhi 1999, S. 55 (franz. Original: 1993). 23 Ebenda, S. 56. 24 Vgl. Octavio PAZ, Im Lichte Indiens. Ein Essay, Frankfurt a. M. 1999, S. 83–148 (span. Original: 1995). Sunil KHILNANI, The Idea of India, London 1997. 25 Jawaharlal NEHRU, The Discovery of India, New Delhi 1997, S. 26 (Original: Calcutta 1946). Wir kennen das Palimpsest-Bild sonst als Sinnbild für die Gehirnfunktion aus Schriften von Thomas de Quincy: „What else than a natural and mighty palimpsest is the human brain? (…) Everlasting layers of ideas, images feelings, have fallen upon your brain softly as light. Each succession has seemed to bury all that went before. And yet, in reality, not one has been extinguished“. Vgl. Aleida ASSMANN, Zur Metaphorik der Erinnerung, in: Kai-Uwe HEMKEN (Hg.), Gedächtnisbilder. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst, Leipzig 1996, S. 16–46; hier S. 25. Das, was bei De Quincy als Metapher für das Individualgedächtnis und die Beschaffenheit des Gehirns fungiert, wird bei Nehru zu einer Metapher für das kulturelle Bewusstsein. Keine Schicht wird gelöscht. 26 Vgl. BHATTI, Grenzziehungen, S. 346–348. 27 Sarvepalli GOPAL (Hg.), Anatomy of a Confrontation. The Babri Masjid-Ramjanambhumi Issue, New Delhi 1991. 28 Jacques DERRIDA, Monolingualism of the Other; or The Prosthesis of Origin (translated by Patrick Mensah), Stanford 1998, S. 9 (franz. Original: 1996). 68 Der Mythos des Unterschieds: Vom Multikulturalismus zur Hybridität Peter Niedermüller Die Ethnologie, die Kultur- und Sozialanthropologie sind jene Wissenschaften – wenigstens in ihrer klassischen Auffassung –, die sich mit der Untersuchung unterschiedlicher Kulturen beschäftigen. Sie haben sich zum Ziel gesetzt, möglichst viele, verschiedene Kulturen und Gesellschaftsentwicklungen zu beschreiben und miteinander zu vergleichen. Dieses Ziel und die damit verbundene Forschungspraxis hat die Ethnologie und die Kulturanthropologie – fast notwendigerweise – zu dem Begriff beziehungsweise zu dem Konzept der kulturellen Differenz geführt, das – eigentlich bis heute – eine zentrale, sogar konstitutive Rolle in der modernen Kulturanthropologie und Ethnologie spielt.1 Die Frage jedoch, wie die moderne Kulturanthropologie über kulturelle Differenzen denkt, wie sie kulturelle Differenzen konzeptualisiert, ist eine schwierige Frage. Einerseits kann man nicht einfach sagen, dass innerhalb dieser Wissenschaftslandschaft eine allgemein akzeptierte Theorie der kulturellen Unterschiede existiert. Die verschiedenen Forschungsrichtungen folgen durchaus unterschiedlichen Erklärungs- und Deutungsmodellen, um kulturelle Differenzen in verschiedenen Zeiträumen und sozialen Kontexten auszulegen. Andererseits gibt es aber auch klare Gemeinsamkeiten zwischen den abweichenden theoretischen Überlegungen. Grundsätzlich gehen ethnologische, kulturanthropologische Theorien davon aus, dass kulturelle Differenzen immer durch Vergleich, durch den vergleichenden Blick entstehen, wahrgenommen und konzipiert werden. Mit Vergleich sind zum einen jene Beobachtungen und Wahrnehmungen gemeint, die die Menschen in ihrem Alltag in Bezug auf unterschiedliche Hautfarbe, Sprache, alltägliche Verhaltensformen, Religion und so weiter machen. Diese Unterschiede werden immer im Vergleich zu den eigenen kulturellen Merkmalen wahrgenommen und festgestellt. Welche Art von Differenzen Menschen im Alltag merken und registrieren, hängt vor allem davon ab, welche Kriteri- 69 en einzelne Gesellschaftsordnungen für kulturelle Differenzen ausgearbeitet und festgelegt haben. Die Merkmale und Kriterien, anhand derer kulturelle Differenzen wahrgenommen werden, können sich zwar in den einzelnen Gesellschaftsordnungen voneinander unterscheiden, sie sind jedoch immer politisch und kognitiv festgelegt.2 Unterschiede werden aber nicht nur im Alltag durch alltägliche Interaktionen produziert. Die Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften, die Ethnologie, Kultur- und Sozialanthropologie spielen hier eine besondere Rolle. Diese haben durch ihre vergleichenden Untersuchungen wesentlich zur Herausbildung und Etablierung des modernen Konzepts von kultureller Differenz beigetragen.3 Wenn man jetzt die Ethnologie und Kulturanthropologie fokussiert, dann kann man innerhalb dieser Theorielandschaft ganz grob zwei Denkrichtungen festhalten. Die eine Richtung geht davon aus, dass kulturelle Differenz zwischen zwei voneinander getrennt existierenden, autonomen und homogenen Einheiten – Gruppen, Gesellschaften, Völkern, Kulturen – existiert beziehungsweise konzipiert werden kann, die entweder als Ganze verschiedenartig dargestellt werden oder in bestimmten, zentralen Bereichen des kulturellen oder sozialen Lebens voneinander abweichende Merkmale und Eigenschaften aufweisen. Es handelt sich dabei um jene klassische theoretische Tradition der Sozial- und Kulturanthropologie, die die verschiedenen Kulturen als lokale Ausformungen kultureller Differenz deutet, oder anders gesagt, kulturelle Differenzen verräumlicht. Kultur wird in dieser Denktradition als innerlich gleichartige, nach außen aber – auch im räumlichen Sinne – getrennte und begrenzte Entität verstanden.4 Diese Auffassung kann dann schnell dazu führen, essenzialistisch zu argumentieren und kulturelle Unterschiede als gegebene und unveränderliche historische Konstanz zu sehen und zu repräsentieren.5 Es gibt aber auch eine andere – konstruktivistisch genannte – Denkrichtung, die kulturelle Differenz als Produkt kultureller und symbolischer Konstruktionsprozesse und dementsprechend als relationale, relative und prozessuale Kategorie versteht, die kontext- und situationsgebunden, also grundsätzlich verhandelbar und variabel ist und die Machtverhältnisse innerhalb einer Gesellschaft widerspiegelt. Kulturelle Differenz konstituiert sich hier im Spannungsfeld zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Die Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden kann jedoch eine durchaus fließende Trennung darstellen, die die Vorstellung, dass Dinge – Kulturen, Gesellschaften, Gruppen – voneinander klar und eindeutig getrennt und unterschieden werden können, dass es eindeutige Zugehörigkeiten und Zuordnungen gibt, durchaus herausfordern und fraglich machen kann.6 70 Die konstruktivistischen Theorien haben deutlich gemacht, dass die Problematik der kulturellen Differenz nicht nur eine Frage der kognitiven Wahrnehmung ist, sondern dass dieses Problemfeld – wenigstens in den modernen Gesellschaften – in erster Linie politische und gesellschaftliche Deutungsprozesse repräsentiert. Anders gesagt, werden in der modernen Gesellschaftsordnung kulturelle Unterschiede immer politisch und gesellschaftlich gedeutet. Etwas zugespitzt formuliert könnte man sagen, dass kulturelle Differenzen nur insoweit existieren, als sie mit bestimmten, diskursiv produzierten politischen, sozialen und kulturellen Bedeutungen aufgeladen sind. Das moderne Konzept der kulturellen Differenz dient also nicht dazu, ethnographisch erfassbare Unterschiede der Alltagskultur zu beschreiben, sondern dazu, die politische und soziale Welt durch kulturell definierte Unterschiede zu deuten. In diesem Sinne funktioniert die Kategorie der kulturellen Differenz in der Moderne als kognitiver und sozialer Deutungsmechanismus, der die soziokulturelle Welt, den sozialen Raum ordnet, erklärt und interpretiert. Dementsprechend macht es keinen Sinn darüber nachzudenken, was kulturelle Unterschiede sind, sondern es gilt vielmehr der Frage nachzugehen, wie kulturelle Differenzen in unterschiedlichen politischen und sozialhistorischen Situationen konzipiert, interpretiert und gedeutet werden.7 In den modernen europäischen Gesellschaften kann man dazu zwei zentrale Diskursräume feststellen, in denen kulturelle Differenzen produziert, repräsentiert und gedeutet werden. Der eine funktioniert im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne, während der andere im Rahmen des Nationalstaates zustande kommt und sich auf die oben schon kurz angeschnittenen Konzepte des Eigenen und des Fremden richtet. Dass kulturelle Unterschiede immer wieder im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne konzipiert beziehungsweise festgestellt worden sind, bedeutet gerade für die Ethnologie und Kulturanthropologie eine bestimmte theoretische Trivialität.8 Hier gibt es eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Begriffen – wie etwa die der „Naturvölker“, der „vormodernen Gesellschaften“, der „Stammesgesellschaften“ –, welche die kulturellen Unterschiede der untersuchten, nichteuropäischen Kulturen im Vergleich zu den modernen westlichen Gesellschaften konzipieren. Neulich hat jedoch Michael Herzfeld nachdrücklich darauf hingewiesen, wie problematisch die Dichotomisierung der Welt in traditionelle versus moderne Gesellschaften für die Kulturanthropologie ist.9 Mit seiner Kritik weist Herzfeld darauf hin, dass das Konzept der Modernisierung in der Politik, in den Wissenschaften und in den Medien mit der 71 westlichen Zivilisation gleichgesetzt wurde und wird, und dadurch werden regionale oder alternative Formen der Moderne kaum noch berücksichtigt. Genau in diesem Sinne haben kulturanthropologische Studien in den letzten Jahren immer wieder kritisch nachgefragt, inwieweit man überhaupt – und gerade in der heutigen globalen Welt – noch von der Moderne reden kann, was man mit diesem homogenen westlich geprägten Modernitätsbegriff eigentlich beschreiben und erklären kann, ob es nicht schon längst notwendig wäre von Modernen im Plural zu sprechen.10 Noch problematischer ist es aber, dass mit „traditionell“ immer „zurückgeblieben“ und mit „modern“ immer „fortschrittlich“ assoziiert wird. Dementsprechend werden auch kulturelle Unterschiede in diesem Kontext des modernen, fortgeschrittenen Zentrums und der traditionellen, zurückgebliebenen Peripherie gedeutet. Wie dieser Vergleich funktionierte, wie kulturelle Unterschiede in diesem Kontext ausgelegt worden sind, kann man jedoch nicht nur im Vergleich zwischen europäischen und nicht-europäischen Gesellschaften, sondern auch innerhalb der europäischen Moderne genau beobachten. Hier kann man eine ganze Reihe verschiedener Beispiele auflisten: die regionalen Modernitätsunterschiede in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, der mediterrane Raum, der Balkan oder Osteuropa sind jene – hier aber nur beliebig ausgewählten – klassischen Beispiele, die ganz genau zeigen, wie sich dieses Konzept von kulturellen Differenzen innerhalb der europäischen Geschichte herauskristallisierte und historisch funktionierte. Es wäre jedoch ein Irrtum zu meinen, dass dieser Diskursraum heute nicht mehr existiert. Es gibt ja auch eine Reihe aktueller Beispiele, die beweisen, dass kulturelle Unterschiede immer noch, auch in den spätmodernen Gesellschaften im Spannungsfeld von Tradition und Moderne konzipiert werden – wie etwa die europaweite Diskussion über die Integrationsfähigkeit nicht europäischer oder osteuropäischer Zuwanderer oder aber die in den letzten Zeiten besonders leidenschaftlich geführte Auseinandersetzung über Modernitätsdefizite beziehungsweise über die „kulturelle Rückständigkeit“ des Islams. Der andere Diskursraum, in dem kulturelle Differenzen produziert und gedeutet worden sind, hat sich im Rahmen des modernen Nationalstaates im reflexiven Zusammenhang mit dem Eigenen und dem Fremden entwickelt. Zwar sind die modernen Nationalstaaten in den verschiedenen europäischen Regionen unterschiedlichen Entwicklungspfaden gefolgt, sie weisen in Bezug auf die Art und Weise, wie kulturelle Differenzen politisch, diskursiv und symbolisch hergestellt beziehungsweise interpretiert werden, jedoch prinzipielle Gemeinsamkeiten auf.11 Die konstitutive Logik des Nationalstaates 72 gründet sich nämlich generell auf die Idee von Exklusion und Inklusion. Bei Exklusion und Inklusion handelt es sich nicht um zwei sich ausschließende Ideen, sondern um ein gemeinsames Prinzip, da diese Kategorien beziehungsweise die hinter diesen Kategorien verborgenen Prozesse nur in Bezug aufeinander einen (politischen und/oder sozialen) Sinn haben.12 Der Nationalstaat definiert – zwar in unterschiedlichen Formen, jedoch immer konsequent und eindeutig – die Kriterien der Zugehörigkeit. Anhand dieser Kriterien werden nationale Bürger – kulturell und symbolisch – produziert, beziehungsweise wird die Zugehörigkeit in Form der Staatsbürgerschaft institutionalisiert. In diesem kulturellen und politischen Prozess spielen kulturelle Differenzen eine fundamentale Rolle, da sie das symbolische Mittel darstellen, welches die Zugehörigkeit beziehungsweise die Nicht-Zugehörigkeit sichtbar macht und gleichzeitig begründet. Sprache, Religion, Rituale, Symbole, Verhaltensformen und so weiter sind jene Bereiche, innerhalb derer kulturelle Unterschiede auch im Alltag wahrnehmbar sind, die Nicht-Zugehörigkeit einzelner Individuen oder Gruppen als „natürliche“ Tatsache offenbaren und die damit verbundene politische und gesellschaftliche Exklusion rechtfertigen. Einfacher formuliert, markieren kulturelle Differenzen jene Menschen und Gruppen, die kulturell gesehen nicht zu der Nation gehören, weil sie eine andere Kultur, Sprache, Religion und so weiter haben und demzufolge aus dem politischen und sozialen Leben einer Nation ausgegrenzt werden können. In diesem Zusammenhang entstehen dann die kulturell kanonisierten und politisch institutionalisierten Vorstellungen von dem Eigenen und dem Fremden. Das heißt, dass der Nationalstaat nicht einfach nur nationale Bürger, sondern notwendigerweise auch kulturelle Differenzen und Grenzen und dadurch Fremde produziert, weil ohne Fremde, ohne Menschen, die nicht zu der Nation gehören, die Zugehörigkeit, das „WirGefühl“ und die „Wir-Gruppe“ keinen politischen und kulturellen Sinn macht. Kulturelle Differenzen dienen aber in den modernen Nationalstaaten nicht nur dazu, sich von anderen abzugrenzen und die eigene Identität zu entwickeln. In diesem Diskursraum werden auch die binnengesellschaftlichen kulturellen Unterschiede, beziehungsweise die damit verbundenen inneren Machtverhältnisse thematisiert und repräsentiert, wie es etwa die Begriffe „Minderheit“, „Migranten“ oder „ethnische Gruppe“ und deren politische Nutzung zeigen. In diesem Zusammenhang wird auch deutlich, dass das Ziel des modernen Nationalstaates nicht unbedingt die völlige, absolute Ausgrenzung von Fremden, nicht die Negierung und Ignoranz von kulturellen Diffe- 73 renzen, sondern vielmehr deren Einordnung, Kategorisierung und Deutung war, um dadurch kulturelle Herrschaft und politische Macht ausüben zu können. Es handelt sich hier also um ein zutiefst ambivalentes Verhältnis. Der Nationalstaat basiert auf der Idee der Gleichförmigkeit, die jedoch nur dann repräsentiert und vertreten werden kann, wenn anhand der kulturellen Differenzen die „Ungleichen“, die „Anderen“, die „Fremden“ klar und eindeutig ausgemacht werden können. Diese Ordnung des modernen Nationalstaates repräsentiert die Angst von Ambivalenz einerseits und den Traum von sozialer und kultureller Reinheit andererseits. Die grundsätzliche Ambivalenz des modernen Konzeptes von kultureller Differenz wird hier nochmals ganz deutlich. Kulturelle Differenzen dienen dazu, Fremde, die als grundsätzliche Gefahr für den Nationalstaat gesehen werden, sichtbar zu machen, um sie identifizieren zu können. In diesem Sinne hat dann der moderne Nationalstaat politische und symbolische Mechanismen entwickelt – wie etwa die der Assimilation –, um die Gefahr bekämpfen und vernichten zu können.13 Gleichzeitig werden aber Fremde gebraucht, da nur die Fremden, die die Nicht-Zugehörigkeit symbolisieren, die Zugehörigkeit zu einer Nation, das Prinzip der Inklusion politisch und kulturell sinnvoll machen. Die europäische Moderne hat in diesem Sinne die (nationalen) Kulturen als „things with mind“ verstanden,14 und kulturelle Differenzen dazu genutzt, klare Grenzen zwischen verschiedenen Kulturen zu schaffen beziehungsweise diese Grenzen „sichtbar“ zu machen. In den letzten Jahren oder Jahrzehnten ist aber dieses Konzept der kulturellen Unterschiede und damit gleichzeitig fundamentale Prinzipien des Nationalstaates grundsätzlich ins Schwanken geraten. Gegenwärtige politische, soziale und kulturelle Prozesse – wie etwa Migration, Globalisierung, Postkolonialismus – haben deutlich gemacht, dass Kulturen nicht als voneinander klar getrennte homogene Einheiten betrachtet werden können und dass das Grundprinzip der modernen Gesellschaftsordnung, nämlich, dass die soziale und kulturelle Identität eines Menschen beziehungsweise einer Gruppe aus einem Ort, aus einem sozialen und einem kulturellen Milieu herauswächst, auch in der Vergangenheit nicht unbedingt und nicht immer der sozialen Wirklichkeit entsprach. Kulturanthropologische Forschungen und Theorien der letzten Jahrzehnte haben zwei wesentliche Entwicklungen sehr deutlich gemacht. Zum einen, dass die oben bereits kurz erwähnten soziokulturellen Prozesse das Verhältnis von vielen Menschen zu Orten und zu lokalen Formen der Kultur grundsätzlich verändert haben,15 zum anderen hat sich aber auch die Begrifflichkeit, mit der man das sich ändernde Feld der kultu- 74 rellen Differenzen zu beschreiben, zu erklären, zu theoretisieren versuchte, wesentlich geändert. Und genau diese neue Begrifflichkeit sollte kurz unter die Lupe genommen werden, um damit die neue Qualität gegenwärtiger kultureller Differenzen prüfen zu können. Seit den 1970er Jahren haben sich innerhalb der Ethnologie und Kulturanthropologie drei wichtige Theorieentwürfe – die des Multikulturalismus, des Transnationalismus und der hybriden Identitäten16 – entwickelt, die das Konzept der kulturellen Differenz neu thematisiert und diskutiert haben. Zwar handelt es sich dabei um unterschiedliche theoretische Ansätze und Auffassungen von kultureller Differenz, jedoch weisen diese bestimmte Gemeinsamkeiten auf. Zum einen handelt es sich hier nicht nur einfach um neue wissenschaftliche Theorien, sondern um Denkmodelle, die politische, gesellschaftliche Vorstellungen und Überlegungen in Bezug auf Umgang mit kulturellen Differenzen beinhalten. Genauer gesagt, geht es hier um Ansätze, die erstens den öffentlichen, politischen und gesellschaftlichen Diskurs um kulturelle Differenzen und deren vielseitige Konsequenzen und Dimensionen widerspiegeln; zweitens aber politisch und ideologisch gefärbte soziale Imaginationen, das heißt Gesellschaftsentwürfe, repräsentieren; und schließlich ethnologische Theorien über die soziale Praxis gelebter kultureller Differenzen enthalten. Zum anderen machen sie einen neuen postnationalen Mythos des kulturellen Unterschieds deutlich, der dazu führt (oder führen kann), die national geprägte Gesellschaftsordnung der Moderne neu zu überlegen. In diesem Sinne stellen sie ein neues Denkmuster der spätmodernen, postnationalen Gesellschaften und eine spezifische diskursive Form der Wahrnehmung, der Interpretation und der Deutung von kultureller Vielfalt und Differenz dar. Und schließlich gehen alle drei Theorieentwürfe über die Grenzen des Nationalstaates hinaus, in dem Sinne, dass sie kulturelle Differenzen nicht einfach als Unterschiede zwischen Nationalkulturen oder als ethnische Unterschiede innerhalb eines Nationalstaates ausmachen, sondern andere Kontexte und Zusammenhänge suchen. Wo jedoch diese Kontexte zu suchen sind, beziehungsweise in welchen Zusammenhängen kulturelle Unterschiede konzipiert, produziert und gedeutet werden können, darüber sind die hier erwähnten Theorien unterschiedlicher Auffassung. In einer multikulturellen Gesellschaft leben mehrere Kulturen innerhalb desselben staatlichen Territoriums nebeneinander. In diesem Sinne kann man natürlich sagen, dass es sich hier nicht um eine neue Entwicklung handelt, multikulturelle Gesellschaften gab es schon in der Vergangenheit. In den amerikanischen Großstädten haben sich schon in den 1920er Jahren ethni- 75 sche Viertel herausgebildet, in denen europäische Einwanderer verschiedener Nationalitäten nebeneinander lebten. Und in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie – um ein ganz anderes Beispiel zu nennen – lebten auch unterschiedliche ethnische Gruppen und nationale Minderheiten nebeneinander. Rein strukturell gesehen, könnte man diese Staaten tatsächlich multikulturell nennen, da sie eine mosaikartige Gesellschaftsordnung, ein räumliches Nebeneinander verschiedener ethnischer und kultureller Gruppen repräsentieren, die als territorial geschlossen und kulturell homogen galten – genauso wie die gegenwärtigen Vorstellungen vom Multikulturalismus. Nun besteht das Konzept der multikulturellen Gesellschaft nicht nur aus dem Nebeneinanderleben verschiedener ethnischer Gruppen,17 und dementsprechend beschränkt sich die Ethnologie nicht auf die ethnographische Beschreibung tatsächlich existierender kultureller Vielfalt innerhalb einer Gesellschaft. Die ethnologischen Überlegungen zum Multikulturalismus gehen aus ethnographischen Forschungen hervor, die nicht nur kulturelle Differenzen beziehungsweise eine zunehmende kulturelle Differenzierung in den spätmodernen Gesellschaften registrieren, sondern gleichzeitig den Diskurs des Multikulturalismus beziehungsweise die Frage der Repräsentation von kulturellen Differenzen untersuchen.18 Wenn man jedoch diese Untersuchungen genauer anschaut, dann kommt man notwendigerweise zu überlegenswerten Konsequenzen. Vor allem wird die Ambivalenz des Kulturbegriffes deutlich. Die Idee des Multikulturalismus wirbt zwar für kulturelle Vielfalt und für kulturellen Pluralismus, in der Tat arbeitet sie aber mit einem durchaus statischen Kulturkonzept. Die nicht immer offen ausgesprochene Grundüberlegung ist nämlich, dass kulturelle Vielfalt und Differenz beibehalten werden sollen. Die Kultur der verschiedenen ethnischen Gruppen wird als „Tradition“ oder „kulturelles Erbe“ definiert, die man auch in einer „fremden Heimat“ zu bewahren und zu beschützen hat. Dementsprechend werden kulturelle Zugehörigkeit und Identität als natürliche Gegebenheit und nicht als Gegenstand aktiver Konstruktionsprozesse gesehen. In der Philosophie der multikulturellen Gesellschaft kann – und muss sogar – jede ethnische Gruppe das Recht haben, ihre eigene Kultur öffentlich darzustellen. Diese Kultur muss aber „authentisch“ bleiben, um als ethnische Kultur und Tradition repräsentiert zu werden. Dementsprechend sind die ethnischen Gruppen in dieser Philosophie der multikulturellen Gesellschaft symbolisch dazu gezwungen, sich kulturell zu differenzieren und zu repräsentieren beziehungsweise ihre kulturelle Differenz zu reproduzieren.19 Die multikulturelle Gesellschaft ist also grundsätzlich auf die Idee der öffentlichen Repräsentation von kultureller 76 Differenz aufgebaut. Da aber kulturelle Differenz auch in den spätmodernen Gesellschaften zur sozialen Ausgrenzung beitragen kann, führt diese Philosophie – ungewollt, aber doch notwendigerweise – dazu, kulturelle Fremdheit von bestimmten sozialen Gruppen sichtbar zu machen und damit deren politische und soziale Ausgrenzung kulturell zu rechfertigen. Während der Multikulturalismus einen durchaus ambivalenten Diskursund Praxisraum um kulturelle Differenz in den spätmodernen Gesellschaften darstellt, weist der Begriff des Transnationalismus vor allem auf die sozialen Praxen von Migranten und Zuwanderer hin.20 Transnationalismus hat weniger mit kulturellen Differenzen zu tun, stellt aber eine grundsätzliche Herausforderung für den Nationalstaat dar und zeigt in diesem Sinne ein anderes Modell im Umgang mit kulturellem Unterschied. Ganz vereinfacht formuliert, bezeichnet Transnationalismus ein „gleichzeitiges“ Dasein an mehreren Orten und ein dadurch entstandenes neues Identitätsmodell, was als multilokale Zugehörigkeit beschrieben werden kann. Ethnographische Forschungen machen zunehmend deutlich, dass es immer mehr Menschen gibt, die zeitweilig oder langfristig an zwei oder mehr Orten leben. Einerseits gibt es einen konkreten Wohnort, einen Aufenthaltsort, wo man tatsächlich lebt, arbeitet, soziale Netze und Kontakte aufbaut. Gleichzeitig gibt es aber einen anderen Ort, in dem man sozial (familiär, durch andere soziale Netze und Kontakte, und so weiter) und kulturell eingebettet ist. Damit fordern transnationale Lebensformen ein zentrales Prinzip des modernen Nationalstaates heraus, indem der soziale Ort des Alltagslebens von dem Ort der kulturellen Zugehörigkeit und Imaginationen getrennt wird. Zwischen dem „sozialen“ Ort und dem „kulturellen“ Ort entstehen transnationale soziale Räume,21 die die bisherigen politischen, sozialen und kulturellen Grenzen fraglich machen. Dementsprechend können Menschen nicht mehr an einem sozialen und kulturellen Ort lokalisiert werden beziehungsweise kann Kultur nicht mehr mit einem geographisch fixierten Ort verbunden werden. Und das bedeutet, dass man das Konzept der kulturellen Differenzen neu überlegen muss, da kulturelle Differenzen in transnationalen sozialen Räumen nicht so interpretiert werden können, wie im Rahmen des Nationalstaates. Transnationale Lebensformen tragen aber nicht nur zur Herausbildung multilokaler Identitäten und transnationaler sozialer Räume bei, sondern machen es auch deutlich, dass es kein zwingendes Modell der kulturellen Zugehörigkeit, keine „entweder-oder“, keine „single“ Identitäten gibt, dagegen aber immer mehr Menschen, die auch im kulturellen Sinne multiplen Identitätsmodellen folgen. 77 Die Theorien, beziehungsweise die ethnographischen Beobachtungen über multiple Identitäten, haben offensichtlich gemacht, dass sich kulturelle Differenzen in den heutigen Gesellschaften grundsätzlich anders organisieren als in den modernen Nationalstaaten.22 Man kann im Zuge der Globalisierung eine immer stärker zunehmende kulturelle Pluralisierung feststellen, die jedoch in den einzelnen Regionen der Welt in unterschiedlichen Formen stattfindet. Diese kulturelle Pluralisierung führt – unter anderem – dazu, dass man nicht mehr davon sprechen kann, dass kulturelle Differenzen zwischen Gruppen mit eigenen, spezifischen, homogenen oder geschlossenen Kulturen entstehen beziehungsweise konzipiert werden können. Ethnographische Untersuchungen zeigen vielmehr eine globale und sich weiter globalisierende Lage, in der Gesellschaften und Kulturen nicht mehr als geschlossene Einheiten mit mehr oder weniger klaren Grenzen verstanden werden können. Die von Ulf Hannerz analysierte zunehmende kulturelle Komplexität 23 führt zu einer sich immer stärker verbreitenden Situation, was ethnologische Theorien mit den Begriffen „Hybridität“ oder „Kreolisierung“ auszulegen versuchen.24 Beide Kategorien weisen auf zwei wesentliche Entwicklungen hin. Zum einen darauf, dass in der heutigen globalen oder spätmodernen Welt die kulturelle Zugehörigkeit und Identität für immer mehr Menschen nur in pluralen Kategorien zu verstehen und zu praktizieren ist. Da die spätmoderne Gesellschaft für immer mehr Menschen ein Netz von sozialen Kontakten und verschiedenen kulturellen Strömungen ist, in dem man keine feste soziale und kulturelle Bindungen hat beziehungsweise braucht, fühlen sich Menschen nicht zu der einen oder anderen Kultur dazugehörig, sondern identifizieren sich gleichzeitig mit mehreren unterschiedlichen Kulturen. Zum anderen weisen diese Kategorien auch darauf hin, dass kulturelle Zugehörigkeiten und Identitäten sich nicht auf die eine oder andere Kultur beziehen, sondern aus unterschiedlichen Kulturen zusammengebastelt werden. Diese aus mehreren unterschiedlichen Kulturen zusammengebastelten Identitätsmodelle werden heute als hybride Identitäten beschrieben.25 Die unterschiedlichen cultural flows und die unterschiedlichen kulturellen Bedeutungen bringen neue notwendigerweise individuelle, sich situativ ändernde Identitätskonstellationen zustande. Es lässt sich eine klare Tendenz der Individualisierung feststellen, was aber nicht gesellschaftliche Atomisierung oder eine Art Subjektivismus bedeutet, sondern „die Auflösung vorgegebener sozialer Lebensformen“ darstellt.26 In dieser Welt der kreolen oder hybriden Identitäten, in der soziale Akteure aus ganz unterschiedlichen soziokulturellen Welten, mit eigenen Identitäten, Weltanschauungen und 78 Glauben agieren, funktioniert die Idee der vorgegebenen Kollektivität kaum noch; daher müssen Identitäten, Normen und Werte innerhalb eines sozialen Raumes, innerhalb einer Gesellschaft ausgehandelt werden.27 Damit werden aber natürlich auch die Machtverhältnisse innerhalb einer Gesellschaft neu verhandelt und definiert; die Bedeutung von Zentrum und Peripherie wird umgedeutet. Spätestens an diesem Punkt wird deutlich, dass die Frage der kulturellen Differenz untrennbar mit der Frage der politischen und gesellschaftlichen Macht verbunden ist. So war es in der Vergangenheit und so ist es heute noch. Daher scheint es besonders wichtig zu sein, die theoretischen Kategorien der Kulturwissenschaften aus der Perspektive der Politik und gesellschaftlichen Macht in konkreten historischen wie auch ethnographischen Fallstudien immer wieder zu überprüfen. Anmerkungen 1 Man muss natürlich darauf hinweisen, dass die Problemgeschichte der Kulturanthropologie wesentlich komplizierter ist, als ich das hier flüchtig angedeutet habe. Siehe dazu: Marvin HARRIS, The Rise of Anthropological Theory. A History of Theories of Culture, London 1968; vgl. Johannes FABIAN, Time and the Other. How Anthropology Makes Its Object, New York 1983; vgl. Michael HERZFELD, Anthropology. Theoretical Practice in Culture and Society, Oxford 2001. 2 Zu dieser Problematik siehe ausführlicher Stuart HALL, Die Frage der kulturellen Identität, in: DERS., Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften, Bd. 2, Hamburg 1994, S. 180–222; vgl. Ulrich BECK, Wie aus Nachbarn Juden werden. Zur politischen Konstruktion des Fremden in der reflexiven Moderne, in: Max MILLER, Hans-Georg SOEFFNER (Hg.), Modernität und Barbarei. Soziologische Zeitdiagnose am Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1996, S. 318–343. 3 Siehe dazu zusammenfassend: Joachim MATTHES (Hg.), Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs. Soziale Welt, Sonderbd. 8, Göttingen 1992; vgl. Hartmut KAELBLE, Jürgen SCHRIEWER (Hg.), Diskurse und Entwicklungspfade. Der Gesellschaftsvergleich in den Geschichts- und Sozialwissenschaften, Franfurt a. M. 1999. 4 Diese Denkrichtung wird ausführlich vorgestellt durch: Gisela WELZ, Die soziale Organisation kultureller Differenz. Zur Kritik des Ethnosbegriffs in der anglo-amerikanischen Kulturanthropologie, in: Helmut BERDING (Hg.), Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1994, S. 66–81; 79 7 8 9 10 11 12 ^ ^ 13 14 15 80 ^ 6 ^ 5 vgl. Akhil GUPTA, James FERGUSON, Beyond „Culture“. Space, Identity, and the Politics of Difference, in: Cultural Anthropology 7 (1992), S. 6–23. Dieses Problemfeld wirft weitere wesentliche Fragen auf, die ich hier nicht diskutieren kann. Siehe dazu die klassischen Überlegungen von Clifford GEERTZ, After the Revolution. The Fate of Nationalism in the New States, in: DERS., The Interpretation of Cultures, New York 1973, S. 234–254. Die diesbezügliche Literatur ist kaum überschaubar, siehe z. B. Martin FUCHS, Eberhard BERG, Phänomenologie der Differenz. Reflexionsstufen ethnographischer Repräsentation, in: DIES. (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt a. M. 1993, S. 11–108, vgl. James CLIFFORD, Travelling Cultures, in: DERS., Routes. Travel and Translation in the Late Twentieth Century, Cambridge, Massachussetts 1997, S. 17–46. Siehe dazu in einem etwas anderen Zusammenhang Stuart HALL, Was ist „schwarz“ an der popularen schwarzen Kultur, in: DERS., Cultural Studies. Ein politisches Theorieprojekt. Ausgewählte Schriften, Bd. 3, Hamburg 2000, S. 98–112. Das klassische Beispiel hier: Robert REDFIELD, The Primitive World and its Transformations, Ithaca 1953. Siehe HERZFELD, Anthropology, S. 81–84. Damit meine ich nicht nur die allgemein bekannten theoretischen Überlegungen der postcolonial studies, sondern vor allem jene kulturanthropologischen Forschungen, die verschiedene regionale Formen der Moderne untersucht haben. Siehe dazu exemplarisch: Aihwa ONG, Anthropology, China, and Modernities. The Geopolitics of Cultural Knowledge, in: Henrietta MOORE (Hg.), The Future of Anthropological Knowledge, London 1996, S. 60–92; vgl. David SUTTON, „Tradition and Modernity“. Kalymnian Constructions of Identity and Otherness, in: Journal of Modern Greek Studies 12 (1994), S. 239–260. Zu den Differenzen und Gemeinsamkeiten der europäischen Nationsbildungen siehe: Liah GREENFELD, Nationalism. Five Roads to Modernity, Cambridge, Massachussetts 1992. Vgl. Ernesto LACLAU, Inklusion, Exklusion und die Logik der Äquivalenz. Über das Funktionieren ideologischer Schließungen, in: Peter WEIBEL, Slavoj ZIZEK (Hg.), Inklusion : Exklusion. Probleme des Postkolonialismus und der globalen Migration, Wien 1997, S. 45–74; vgl. Chantal MOUFFE, Inklusion/ Exklusion: Das Paradox der Demokratie, in: WEIBEL, ZIZEK (Hg.), Inklusion : Exklusion, S. 75–90. Vgl. Zygmunt BAUMAN, Unbehagen in der Postmoderne, Hamburg 1999, S. 35–65. Vgl. HERZFELD, Anthropology, S. 28. Vgl. Nigel RAPPORT, Andrew DAWSON, Home and Movement. A Polemic, in: DIES. (Hg.), Migrants of Identity. Perceptions of Home in a World of Movement, Oxford 1998, S. 19–38; vgl. Arjun APPADURAI, The Production of Locality, in: DERS., Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis 1996, S. 178–199; vgl. Roland ROBERTSON, Glokalisierung. Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit, in: Ulrich BECK (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a. M. 1998, S. 192–220. 16 Andere Theorien, wie etwa die der Postcolonial Studies oder des Kosmopolitanismus können hier leider nicht diskutiert werden. 17 Und dementsprechend wäre es irreführend, die Österreichisch-Ungarische Monarchie als multikulturell zu bezeichnen. 18 Der Diskurs um die multikulturelle Gesellschaft hat sich natürlich nicht nur auf diese Fragen beschränkt, sondern hat die Menschenrechte, die politische Teilnahme, die Frage der Integration und Assimilation und so weiter thematisiert. Vgl. David BENNETT (Hg.), Multicultural States. Rethinking Difference and Identity, London 1998; vgl. Tariq MODOOD, Pnina WERBNER (Hg.), The Politics of Multiculturalism in the New Europe. Racism, Identity and Community, London 1997. 19 Dabei geht es jedoch um kulturelle, symbolische und ästhetische, nicht aber um politische Repräsentation. Siehe dazu ausführlicher: Peter NIEDERMÜLLER, Urban ethnicity between the global and the local, in: Regina BENDIX, Herman ROODENBURG (Hg.), Managing Ethnicity, Amsterdam 2000, 41–60. 20 Siehe dazu zum Beispiel: Ulf HANNERZ, Transnational Connections, London 1996; vgl. Aihwa ONG, Flexible Citizenship. The Cultural Logic of Transnationality, Durham 1999. 21 Siehe dazu: Ludger PRIES, Transnationale soziale Räume, in: Ulrich BECK (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a. M. 1998, S. 55–86. 22 Das betrifft ganz besonders die sogenannten postkolonialen Gesellschaften. Auf diese Problematik gehe ich jedoch hier nicht ein. Gleichzeitig muss man auch darauf hinweisen, dass kulturelle Pluralisierung auch kulturelle Abgrenzung und Absonderung bedeuten kann. 23 Siehe Ulf HANNERZ, Cultural Complexity. Studies in the Social Organization of Meaning, New York 1992. 24 Siehe zum Beispiel: Ulf HANNERZ, The World in Creolisation, in: Africa 57 (1987), S. 546–559; vgl. Jan Nederveen PIETERSE, Globalisation as Hybridisation, in: International Sociology 9 (1994), S. 161–184. 25 Vgl. Hans-Rudolf WICKER, Flexible Cultures, hybrid Identities and reflexive Capital, in: Anthropological Journal of European Cultures 5 (1996); vgl. Elisabeth BRONFEN, Benjamin MARIUS, Hybride Kulturen. Einleitung zur angloamerikanischen Multikulturalismusdebatte, in: DIES. (Hg.), Hybride Kulturen, Tübingen 1997, S. 1–29. 26 Vgl. Ulrich BECK, Elisabeth BECK-GERNSHEIM, Individualisierung in modernen Gesellschaften – Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie, in: DIES. (Hg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1994, S. 10–39. 27 Vgl. HANNERZ, Cultural Complexity, S. 261–267. 81 Das Eigene und das Andere / Der, die, das Fremde. Zur Begriffsklärung nach Hegel, Levinas, Kristeva, Waldenfels Wolfgang Müller-Funk Denn es kann sein, daß die Zukunft der Welt und damit der Sinn der Gegenwart und die Bedeutung der Vergangenheit letztlich von der heutigen Interpretation der Hegelschen Schriften abhängen. Alexandre Kojeve, 1946 Unsere gesamte Epoche […] trachtet Hegel zu entkommen. Michel Foucault, L’ordre du discours Weshalb kämpfen die Menschen für ihre Knechtschaft, als ginge es um ihr Heil? Gilles Deleuze An Hegel kommt man anscheinend nicht vorbei, ja es ließe sich sogar behaupten, dass Hegel die Themen und die Art des Philosophierens vorgibt, die man unter dem Sammelbegriff des „Postmodernen“ fasst, und sei es auch nur ex negativo. Ich denke dabei an seine Dikta vom Ende der Geschichte und vom Ende der Kunst1 ebenso wie an das wohl berühmteste und dramatischste Kapitel in seiner philosophischen Meistererzählung Phänomenologie des Geistes, die im vorliegenden Fall von wesentlichem Interesse ist.2 Sie verklammert gleichsam zwei zentrale Fragen: jene nach dem Ursprung, der Tragweite und der Zukunft von Herrschaft als einer asymmetrischen Relation zwischen Herr und Knecht und jenen Diskurs, der nach dem Zweiten Weltkrieg so konstitutiv für die französische Philosophie geworden ist: die obsessive theoretische Beschäftigung mit Alterität und Differenz.3 Dieses Kapitel, Teil eines strukturell besehen klassischen Bildungsromanes, der den Weg des In-derWelt-Seins von seinen bescheidenen Anfängen in der sinnlichen Gewissheit bis zum krönenden Abschluss in der Absolutheit des Geistes gleichsam nach- 83 zeichnet und vorgibt, ragt ein Stück aus dem Ganzen des Buches heraus. Zwar schreitet der Geist zu seiner Vollendung im Absoluten fort, löst sich gleichsam von den Bedingungen ab, die ihn möglich machten, aber der Stachel des vermeintlichen, besiegten Anderen, dem er sein Selbstbewusstsein verdankt ist gleichsam im Körper zurück geblieben, von dem er sich im Fortlauf abzuheben trachtet. In die Abgelöstheit des absoluten Geistes ist nämlich der Weltentzug, der Verlust des Konkreten in der aktiven Beschäftigung eingeschrieben. Dies war der dialektische Triumph des Anderen, dass sich seine Niederlage im Kampf in einen Sieg verkehrt durch Weltpartizipation, während das herrliche Bewusstsein abhängig wurde vom knechtischen Tun. Der unterlegene Andere ist somit – auf die Logik von Hegels Werk übertragen – das vergessene alter ego des absoluten Geistes. So meistert der Philosoph das Andere der Vernunft, aber mit seiner eigenen Denkfigur darf angenommen werden, dass er von diesem knechtischen Anderen der Vernunft am Ende selbst heimgesucht wird. Unübersehbar bleibt, dass dieser dialektische Ansatz, der die Denkfigur der Relation ins Spiel bringt, in höchstem Maße zirkulär ist. Dieser Kampf um Alles oder Nichts war in Hegels Denkfigur notwendig für das zu sich kommende, vernünftige In-der-Welt-Sein. Ohne Kampf kein Selbstbewusstsein, denn Selbstbewusstsein bemisst sich nicht an sich selbst, sondern vielmehr am anderen. Umgekehrt setzt das Gedankenspiel in Hegels früherem Werk jenes Selbstbewusstsein immer schon voraus, das doch eigentlich das Ergebnis des Kampfes sein sollte: Denn der Kampf bestimmt sich dadurch, dass zwei einander gegenübertreten, die sich in bewusster Agonalität befinden. Oder soll man an einen Kampf denken, der von den Beteiligten als solcher noch nicht „realisiert“ wird, so dass sie erst im Nachhinein der agonalen Struktur ihres In-der-Welt-Seins inne werden? In jedem Fall ist dieses hochkarätige Stück Philosophie in der Tat von universaler Bedeutung: Die weltgeschichtlich gescheiterte marxistische Befreiungsdialektik verdankt ihm ebensoviel wie der Alteritätsdiskurs. Noch in seinem Spätwerk wird einer der bedeutendsten Philosophen des Anderen, Emanuel Levinas,4 die Bedeutung der Hegelschen Philosophie herausstellen und die Wichtigkeit betonen, die den Herrn zum Knecht des Knechts und den Knecht zum Herrn des Herrn macht. Denn die Alteritätsphilosophie gründet nicht auf dem dialogischen Gegenüber von Subjekten, die sich zuvor wie Münchhausen selbst aus den Niederungen vorsubjektiven Daseins gezogen haben und sodann freundlich miteinander plaudern, sondern ihr Selbst und ihr Anderes sind das Resultat eben dieser Relation, und nur in dieser 84 Relation hat der Terminus „Subjekt“ seine Bedeutung. Parmenides hatte darauf insistiert, dass das Sein ist und das Nichts nicht ist, aber entscheidend ist, dass die Differenz von Sein und Nichts ist. So ersetzt die Fokussierung auf die Differenzrelation die Rede vom substantiellen Subjekt, das ohne diese Relation gedacht ist. Der Verweis auf Hegel ist – trotz Max Weber und Hannah Arendt5 – auch in Hinblick auf die Analyse von Herrschaft produktiv, womöglich ohne die Prämisse der Marxschen Entfremdung und Befreiung. Die vermeintliche Zuspitzung durch Marx, der die Hegelsche Theorie vom Kopf auf die Füße zu stellen beansprucht, erweist sich als Reduktion und Einengung der Hegelschen Denkfigur. Sie identifiziert den unterworfenen Anderen, dessen Unterwerfung ich mein Selbstbewusstsein verdanke und der meine Herrlichkeit schmälert, indem er mich in Abhängigkeit von eben diesem anderen hält, einseitig mit dem Industrieproletariat des 19. Jahrhunderts und interpretiert ihn darüber hinaus als antagonistischen sozialen Konflikt, in dem der Bürger durch die Unterwerfung des Proletariats Bürger wird, während das Proletariat Proletariat wird, indem es durch seine Knechtsdienste das Bürgertum in strukturelle Abhängigkeit verwickelt, die erst mit der sozialistischen Revolution, die jedweder Form von Herrschaft und Unterdrückung ein Ende bereitet, ihren dialektisch-versöhnlichen Abschluss findet. In Wirklichkeit aber sind das Selbe und das Andere weder sozial, noch kulturell, noch geschlechtsmäßig konzipiert: class, race und gender – um die Terminologie der angelsächsischen Cultural Studies zu bemühen – lassen sich vielleicht auf dieser Stufe der Abstraktion als symbolische Ausformungen von Agonalität begreifen, zur Erhellung der Struktur des Konflikts tragen sie selbst nichts bei. Der „Selbe“ und der „Andere“ sind Denkfiguren auf allerhöchster philosophischer Ebene. Verbindet man die Alteritätsfrage mit jener nach der Genese und der Zukunft von Herrschaft, dann erhält man ein so abstraktes Denkmodell, dass die Differenzen der Differenzen – soziale, religiös-weltbezügliche, sprachliche, nationale ethnische, sexuelle – auf dieser Ebene nicht zum Tragen kommen. Wer jenseits von Hegel kulturwissenschaftlich argumentieren will, der wird nicht um eine Phänomenologie der Differenzen von Differenzen herumkommen, und sie könnte zeigen, dass die andere nicht identisch mit dem anderen ist, weder mit dem personalen, noch mit dem „neutralen“, dass „der (kulturelle) Fremde“ und „der Andere“ nicht notwendig zusammenfallen. Mit dem Diskurs über „das Fremde“, „das Andere“, „das Eigene“ und „das Selbe“ befindet man sich sogleich in jenem theoretischen Minenfeld, das durch Begriffe wie „Universalismus“ und „Kultura- 85 lismus“ abgesteckt ist. Eine kulturwissenschaftlich gewendete Phänomenologie wird daher die Unterschiede, Abstufungen und Differenzen, ihre fließenden Übergänge, aber auch ihre kontrastiven Akzente zwischen den verschiedenen Modi des Fremden, etwa – um die in diesem Fall präzisere englische Terminologie zu gebrauchen – zwischen the other, the stranger und the foreigner zu markieren haben. Genau diese Differenzen verwischt das von der Lacanschen Psychoanalyse beeinflusste Werk von Julia Kristeva L’etranger à nous même. Kristeva gebraucht den mittleren, unspezifischen Begriff des „Fremden“. Aber ganz augenscheinlich denkt sie dabei an den Ausländer, den Menschen, der aus einer fremden Kultur kommt, den Immigranten oder Asylanten: Der Fremde, Figur des Hasses und des anderen, ist weder das romantische Opfer unserer heimischen Bequemlichkeit noch der Eindringling, der für alle Übel des Gemeinwesens die Verantwortung trägt. Er ist weder die kommende Offenbarung noch der direkte Gegner, den es auszulöschen gilt, um die Gruppe zu befrieden. Auf befremdliche Weise ist der Fremde in uns selbst.6 Der Fremde ist längst in uns vorhanden, noch ehe er seinen äußeren Auftritt hat. Deshalb kommt es – so Kristeva – darauf an, das Fremde anzuerkennen, nicht nur moralischer und politischer Optionen „sondern um unserer selbst willen“. Daraus leitet Kristeva auch eine Art psychopolitischer Utopie ab: „Können wir innerlich, subjektiv mit den anderen, die anderen erleben? Ohne Ächtung, aber auch ohne Nivellierung?“7 Im Unterschied zum traditionellen und ritualisierten Umgang mit dem Fremden, wie er etwa in der Gastfreundschaft zu Tage tritt,8 geht es nicht mehr um die Aufnahme und die Integration des Fremden, sondern um eine Kohabitation unter und zwischen Fremden. Die Anerkennung des Fremden beinhaltet im Kern das Eingeständnis, dass wir uns selbst Fremde sind: „Nicht mehr die Aufnahme des Fremden in ein System, das ihn auslöscht, sondern nach Zusammenleben dieser Fremden, von dem wir erkennen, daß wir alle es sind.“9 Fremd sind wir uns aber, so die Psychoanalytikerin, weil das Andere das uns „eigene Unbewusste“ ist, das Unheimliche, das Angst auslöst. So ist der/ die Fremde nichts anderes als der/die symbolische stuntman/stuntwoman, der/ die unser unbewusstes anderes Ich verdeckt. Die Angst vor dem Fremden fällt auf uns selbst zurück: auf die eigenen Anteile, die uns fremd sind. Kristevas letztendlich optimistische Botschaft kulminiert im Aufruf zu einer paradoxen Selbsterkenntnis, die das Eingeständnis der Unerkennbar- 86 keit des Fremden mit einschließt: dessen nämlich, was symbolisch nicht eingemeindet und was als Fremdkörper jedweder Kultur verstanden werden kann. Diese psychoanalytisch geweitete und durchgearbeitete Reflexion gestattet es dabei, mit dem äußerlich Fremden sein Auskommen zu finden, jenseits der traditionellen Strategien, ihn entweder (durch Nivellierung und Auslöschung) aus der Welt zu schaffen, suchen oder ihn durch Überhöhung oder Erniedrigung auszugrenzen. Der fremde irritierende Rest, jenes symbolisch nicht Einholbare, das eigentlich a-kultural ist (wie ja die gesamte Psychoanalyse grosso modo das Unbewusste als kulturell unspezifisch ansieht),10 steht in keinem privilegierten Bezug zu jener Fremdheit, die mir mit dem kulturell Fremden entgegentritt. Der konkrete Hintergrund des Buches ist schnell auszumachen: Es ist die seit den 1990er Jahren grassierende Abwehr der europäischen Bevölkerung gegen eine zunehmende Einwanderung von Fremden, insbesondere aus außereuropäischen Ländern. Auffällig changiert Kristeva zwischen dem Begriff eines „exterritorialen Anderen“, das diese Fremden repräsentieren, und jenem Anderen, das unser sogenanntes „Unterbewusstsein“ darstellt. Obschon die psychopolitisch sympathische Annahme stimmen mag, dass Menschen mit dem kulturellen Privileg paradoxaler Selbsterkenntnis, hoher Bildung und ökonomischer Sicherheit nicht in panische Angst vor dem Fremden geraten, so besteht zumindest kein innerer Zusammenhang zwischen den Fremden jenseits unserer kulturellen Vertrautheit und dem „Fremden“, das man als das Andere der Vernunft bezeichnen kann. Die einzige Gemeinsamkeit, die sie beinhalten, ist ihr hypostasierter Status der Unverständlichkeit. Interessant am Fremden ist – darauf hat schon Hermann Broch11 hingewiesen – dass all jene Elemente Angst auslösen, die nicht in den eigenen symbolischen Haushalt zu integrieren sind. Wenn der Mensch mit Broch und Cassirer12 ein Lebewesen ist, das des kulturellen Symbolismus bedarf, um in der Welt zu sein, dann stellt das Fremde in der Tat einen Grenzbegriff dar, nämlich die Grenze des symbolisch Beheimatbaren. Kristevas Konzept des Fremden ist universalistisch, nicht kulturalistisch. Interessant am Fremden ist nicht dessen fremde Kultur, sondern seine Fremdheit als solche, die uns mit der eigenen Fremdheit konfrontiert. „Die Unterschiedlichkeit dieses Gesichts enthüllt schlaglichtartig, was jedes Gesicht dem aufmerksamen Blick offenbaren sollte: die nicht existierende Banalität des Menschen.“13 Was Kristeva postchristlich vorschwebt, ist eine Welt, in der alle gleich sind, weil sie sich selbst und einander fremd sind, Kosmopoliten in einem 87 ganz neuen Sinn, keine katholische, wohl aber eine psychoanalytisch gebildete Weltgemeinde. Unbedacht bleibt die Frage, ob jene Fremden, die unter unserem Blick zu imaginären reizvollen oder bedrohlichen Wesen werden, überhaupt in diesem Zustand der Fremdheit zu sich selbst und das heißt, auch der kulturellen Unbehaustheit zu leben vermöchten. Das gilt natürlich auch von jenen, die sich ein Bild über sie machen, um sich von ihnen abzugrenzen. Der Alteritätsdialog, der von Hegel seinen Ausgangspunkt nahm und hier durch die Konzeption des Freudschen Unheimlichen modifiziert wurde, hat Hegels realistische Frage, ob sich nämlich nicht an Alterität Formen von Herrschaft entzünden, buchstäblich in die Frage meiner eigenen Befindlichkeit aufgelöst. Man muss gewiss über Hegel hinaus gelangen und die Spuren nachzeichnen, die die Verklammerung von Herrschaft und kultureller Differenz bewirkt, aber die Reduktion auf ein innerpsychologisches Phänomen wie auch der Aufruf an eine psychoanalytische Selbsterkenntnis greifen sowohl phänomenologisch als auch politisch entschieden zu kurz. Im Gegensatz zu Kristeva ist das Alteritätsmodell Levinas’ dezidiert und ausdrücklich nicht-psychologisch und an entscheidender Stelle auch gegen die Psychoanalyse gewandt. Levinas Texte14 stehen am Ende eines langen phänomenologischen und existenzialphilosophischen Diskurses, in dem es keineswegs um den kulturell Anderen geht, sondern um die Struktur eines nach-klassischen Subjektes, in das die Vorgängigkeit des Anderen stets schon eingeschrieben ist. Immer hat es – wie das bucklicht Männlein, das Walter Benjamin so bewegt hat,15 bereits den Platz besetzt, den das Selbst für sich beansprucht. Von aller traditionellen Ethik unterscheidet sich Levinas durch eine existenzielle Verankerung des Ethischen. Dieses tritt nicht als ein weiteres Problem hinzu, sondern ist immer schon vorhanden, durch das Gesicht des Anderen, das zugleich ein akustisches Phänomen ist: eine Stimme; auf dieses Gesicht und auf diesen Zuruf des symbolisch nicht kodierten Anderen muss der Mensch reagieren, er entkommt dem Anderen nicht. Liebe und Gewalt bilden die beiden Extrempole im Umgang mit dem Anderen: „Gewiß, das Andere, das sich anzeigt, besitzt dieses Sein nicht so wie das Subjekt es besitzt; sein Ausgreifen auf mein Sein ist geheimnisvoll, nicht unbekannt, sondern unerkennbar, widerständig gegen jedes Licht.“16 Levinas setzt sich bewusst von Hegel ab bzw. lässt dessen Analyse in einem anderen Licht erscheinen. Weder durch Kampf (wie bei Hegel) noch durch Verschmelzung lässt sich dieses doppelgängerische Andere abschütteln, es kommt immer wieder. „Es ist weder ein Kampf noch ein Verschmelzen noch ein Erken- 88 nen.“17 Der Andere ist dadurch charakterisiert, dass er sich – in diese Richtung ging auch bereits die Bestimmung des Fremden bei Broch – entzieht: „Wenn man den anderen besitzen, ergreifen und erkennen könnte, wäre er nicht der andere. Besitzen, Erkennen, Ergreifen sind Synonyme des Könnens.“18 Im frühen Werk von Levinas ist es einzig die Liebe, die die Vorgängigkeit des Anderen angemessen ins Licht rückt: „Was man als Mißlingen der Kommunikation in der Liebe ausgibt, stellt gerade die Positivität des Verhältnisses dar; diese Abwesenheit des anderen ist gerade seine Anwesenheit als des anderen.“19 In diesem Kontext wird das Weibliche zum anderen und damit die heterosexuelle Liebe zum Paradigma von Alterität. Sie repräsentiert das, was Levinas als Dualität des Seienden bezeichnet. Augenfällig ist, dass Levinas die Möglichkeit einer weiblichen Perspektive auf den Anderen gar nicht eigens in Rechnung stellt und an dieser Stelle seine abstrakte existenzielle Analyse zumindest im Ansatz durchbricht. Denn das Alteritätsmodell, das von der Differenz von Mann und Frau ausgeht, ist, auch wenn man den radikalen kulturalistischen Konstruktivismus verwirft, ein zutiefst symbolisch amalgamiertes und ganz spezifisches. Diese Form der Alterität ermöglicht es Levinas indes, die Struktur und das Schicksal des Begehrens zu beschreiben: Die Leidenschaft der Liebe besteht jedoch in einer unüberwindlichen Dualität des Seienden. Es ist ein Verhältnis zu dem, das sich immer entzieht. Das Verhältnis neutralisiert nicht ipso facto die Andersheit, sondern bewahrt sie. Die Leidenschaftlichkeit der Wollust besteht darin zu zweit zu sein. Das andere als anderes ist hier nicht ein Objekt, das das unsrige wird oder das wir wird; es zieht sich im Gegenteil in sein Geheimnis zurück.20 In seinem mystischen Konzept von Liebe wird der Andere als die Instanz erkannt, derer ich zur Entwicklung meines Selbst bedarf und die Liebe ist jenes Moment, das mir ein Selbst beschert, dessen Glück nicht zuletzt darin besteht, dass es allem Anspruch zum Trotz nicht autonom ist, sondern die Andersheit des Anderen, die keine bloß äußere ist, lustvoll anerkennt. Der Andere ist in diesem Konzept keine Aufforderung zum Kampf, keine Herausforderung, der ich mich entgegenstelle, keine Bedrohung, sondern er ist jenes Element, dessen ich als Selbst bedürftig bin: „Der andere ist kein Wesen, dem wir begegnen, das uns bedroht oder das sich unserer bemächtigen will.“21 Der Ausgang von Hegels Geschichte von Herr und Knecht macht für Levinas sinnfällig, dass der Kampf den Anderen verfehlt, aber, so ließe sich 89 mutmaßen, beruht auf dieser Verfehlung des Anderen jede Identität durch Abgrenzung. In späteren Schriften hat Levinas seine Emphase spürbar zurückgenommen, ja sogar revidiert, und zwar nicht aus Gründen, die mit möglichen Gegenargumenten aus den Gender Studies oder den Kulturwissenschaften zusammenhängen, sondern deshalb, weil die Liebe ein Verhaltensmodell ist, das nicht repräsentativ, sondern exklusiv ist, einen Sonderfall darstellt: „Lieben heißt existieren, als wären Liebender und Geliebter allein auf der Welt.“22 Nicht der intime Andere, der uns noch im vertrautesten Augenblick fremd bleibt, sondern der abstrakte Andere ist es, dem der Status des Dritten zukommt, der ein Außen repräsentiert und der seine Ansprüche durchaus prosaisch, etwa in Gestalt des Mediums Geld geltend macht. Nicht der bevorzugte Geliebte, sondern der Unbekannte verkörpert nun jene Instanz des Fremden, der ich nicht entkomme und der ich stets unterliege. Insofern Levinas die Kultur des Geldes und die Zivilgesellschaft zusammendenkt, impliziert seine politische Wende auch eine Wende seiner Existenzialethik zu einer Philosophie, die das Politische mitdenkt. Dabei bleibt das Philosophieren von Levinas einem utopischen Impuls verpflichtet. Gegen die gerade in der westlichen Kultur so perfektionierte Technik der Selbstbeherrschung setzt er auf eine Geste der Gelassenheit: Die Anerkennung von Alterität geht nämlich mit dem Eingeständnis einher, das Andere weder aneignen noch kontrollieren zu können. Das mystische Moment, das insbesondere in seiner Phänomenologie der Liebe zum Austrag kommt, ist genau jene Grenzlinie, an der der Prozess symbolischer Weltaneignung zum Erliegen kommt. Das Unsagbare bildet wie alle „Un-“ einen Grenzwert der Kultur. Die Kehrseite der Philosophie ist ihr Absehen vom Konkreten. Die Urszene, die Hegel beschreibt, ist eine Fiktion. Immer befinden wir uns in einer Welt, in der Herrschaft bereits vorhanden und kulturell ausgeprägt ist. Diese Gestaltetheit der Welt ist es auch, die andere Denkfiguren überlagert. Weder entsteht die Gewalt durch die Urszene eines Kampfes, vor dem es keine Herrschaft und keinen kulturellen Symbolismus gibt, noch ist die kulturalistische Ansicht haltbar, wonach die Gewalt wie die Frau ein Effekt der Sprache und deren Gewalt ist. Liebe und Gewalt, Tausch und Rivalität sind Varianten jenes Verhältnisses, das nie frei von Herrschaft sein kann. Levinas’ Modell ist auf andere Weise abstrakt-universalistisch als jenes von Kristeva. Weder der kulturelle Symbolismus noch die Asymmetrie der Macht sind in dieses Verhältnis einbezogen: „Das Selbe“ und „das Andere“ 90 begegnen sich in einer Urszene, in einem luftleeren Raum. Der kulturell Fremde kommt dabei gar nicht in Betracht. Er ist entweder – wie in der Version des späten Levinas – der „gleichgültige“ Andere, den ich im symbolischen Geld- und Tauschverhältnis als vorgeordnete soziale Instanz anerkenne, oder er ist ein Effekt meines Unterbewusstseins, ein Produkt meines mir selbst unheimlichen kulturell unspezifisch Fremden – denn die Psychoanalyse denkt sich wie auch das Unbewusste nicht kulturspezifisch. Hier erkenne ich mich in dem Fremden nicht, weil ich das mir Fremde nicht kenne. Das Fremde, das etwa zum Opfer von Gewalt und Unterdrückung wird, kann aber auch als ein Produkt des sprachlichen Symbolismus angesehen werden, der den Fremden, die Sprache und die Gewalt erst erzeugt. Judith Butlers auf Foucault gründende Engführung von Sprache und Macht geht letztendlich davon aus, dass es der binäre Code ist, der in seiner Polarisierung etwa im Hinblick auf das geschlechtlich Andere erst die polare Gegenüberstellung von Mann und Frau erzeugt und jedes Dritte ausschließt.23 Bernhard Waldenfels24 folgt diesem radikalen Konstruktivismus nicht, doch auch bei ihm wird die Gewalt, als die mögliche Form der Reaktion auf den Fremden nur durch den begleitenden Diskurs möglich, der die Ausübung von Gewalt legitimiert. Es ist interessant, diesen verschiedenen Konzepten von Alterität im Schatten Hegels bestimmte individuelle und kollektive Strategien in der postmodernen civil society zuzuordnen: Kristevas Konzept der psychotherapeutischen Selbstaufklärung, der radikale Konstruktivismus den Dispositiven politischer und sexueller Korrektheit und der Emphase für den ethnischen und sexuellen „Hybriden“, die Phänomenologie eines Levinas der politischen Utopie einer Bürgergesellschaft als eines Ensembles von Menschen, die gleichermaßen einem Dritten, aber nicht wechselseitig einander unterworfen sind. Ohne die Verdienste solcher Konzepte schmälern zu wollen und entgegen eines radikal konstruktivistischen Verständnisses des cultural turn, wird man davon auszugehen haben, dass Hunger, Tod, Unterdrückung, Demütigung, Vergewaltigung und Versklavung nicht bloß sprachliche Effekte und Gebilde sind. Überdies ist der Kampf, der nicht am Nullpunkt stattfindet, sondern auf Vorgefundenes reagiert, keineswegs sinnlos: Besitz, Karriere, Eigentum, Sicherheit, Reichtum sind nicht rein symbolisch, sie sind im Rahmen einer Gesellschaft konkurrierender Individuen durchaus „real“. Das heißt nicht, dass der kulturelle Symbolismus, ohne den diese Prozesse nicht stattfinden könnten, sekundär wäre. Im Begriff der Anerkennung scheinen sich der reale und der symbolische Aspekt zu überkreuzen. Die Anerkennung des Anderen setzt meine eigene voraus und umgekehrt. 91 Kultur ist nicht bloß ein Instrument, nicht bloß falsches Bewusstsein und nicht bloß das Unbewusste einer Gesellschaft. Das Verhältnis zwischen sozialem Funktionalismus und kulturellem Symbolismus ist weder egal noch analog und auch nicht hierarchisch. Der Symbolismus, weit davon entfernt bloßer Widerschein zu sein, ist Motor und Medium der Differenzsetzung zugleich. Kultur wäre demnach als eine symbolische Maschinerie zu verstehen, die nicht nur Bedeutung, sondern auch Differenz erzeugt. In ihr wird offenbar, was wichtig und unwichtig, bedeutend oder unbedeutend ist. Nur der Symbolismus der Kultur liefert jene Rangfolgen und Abstufungen, die für den realen wie auch den vermeintlichen Platz in der Gesellschaft maßgeblich ist. Er produziert auch eine Stufenleiter des Fremden: Einige sind nämlich kulturell fremder als die anderen. Diese symbolische Hackordnung, die in der Differenz virulent wird, lässt sich binnen- und intrakulturell wenden. Keineswegs ist die kulturelle Wertigkeit der Menschen in ein und derselben Gesellschaft dieselbe, noch die jener Menschen, die als extern symbolisiert werden. Ein moderater kulturell-wissenschaftlicher Paradigmenwechsel verbindet die Anerkennung realer Herrschaftsverhältnisse mit einer Analyse der Differenzen von Differenzen. Die Differenzen von Differenzen variieren die kulturelle Bandbreite und werden negativ offenbar im unterschiedlichen Auftritt der Gewalt: Zwischen Woyczek, dem psychiatrischen Grenzgänger, der seine treulose Geliebte umbringt, und einer Bande, die einen dunkelhäutigen Ausländer mit einer weißen Frau am Arm zu Tode hetzt, zwischen den Gewaltfantasien im Sexualakt und den reihenweisen Vergewaltigungen von Frauen im Krieg, zwischen der Ermordung der Einheimischen im Gefolge des Kolonialismus und der Shoah lassen sich Unterschiede ausmachen. Im Hinblick auf den kulturell Fremden scheint der Auftritt in der Gruppe, der „Hetzmasse“ die Tötungshemmung aufzuheben.25 Die Anwesenheit anderer ist nicht etwa beschämend, sondern ermutigend, weil es die Etablierung eines Einverständnisses erleichtert, dass man den töten darf, der als externer Fremder angesehen wird, nicht als ein ebenbürtiger Anderer. Überhaupt scheinen alle traditionellen Konzepte im Umgang mit dem Fremden darauf hinauszulaufen, ihm genau jenen Status der Alterität vorzuenthalten, der bei Levinas zentral ist und der den Ausgangspunkt bei Hegel bildet: die prinzipielle Ebenbürtigkeit. Diese stellt die Voraussetzung dafür dar, den Vorrang des Anderen anzunehmen beziehungsweise – was in Hegels Denkmodell vorausgesetzt ist – den Anderen als gleichberechtigten Konkurrenten zu akzeptieren. Vornehmlich die gegenkulturelle Gewalt, das heißt die Gewalt gegen den als kulturell extern 92 Markierten ist diskursbedürftig. Die Externalisierung muss im Zweifelsfall sprachlich affirmiert werden. Kulturelle Irrtümer sind dabei nicht auszuschließen, wie ein Detail aus einem Gespräch mit dem Wiener Jugendgerichtspräsident Udo Jesionek veranschaulicht: Auf die Frage, warum sie einen kanadischen Jugendlichen halb tot geschlagen haben, meinten diese: Sie hätten ihn für einen Türken gehalten, wenn sie gewusst hätten, dass er ein Kanadier gewesen wäre, hätten sie das nicht getan. Hier gerät die Fremdheitszuschreibung in der Tat zum potenziellen Todesurteil, jene Fremdzuschreibung, die in einem anderen Fall romantische Bewunderung hervorruft. Der Fremde, der uns „unsere“ Frauen wegnimmt (der Jude, der Schwarze, der Inder und so weiter), ist die eine Seite des kulturell Anderen, die Bewunderung des Anderen, dessen Fremde auf uns einen Reiz ausübt, so wie die Jazzmusik in den 1920er Jahren, die Körperlichkeit des Schwarzen, die jüdische Intelligenz, die indische Mystik. Der „Rassismus“ ist nur der undurchschaute Ausdruck dieser Relation, die stets im Spiel ist, wenn der Andere der kulturell Fremde ist. Es lässt sich vermuten, dass diese Gespanntheit zunimmt, wenn sich die Differenzen verkoppeln: die sexuelle Fremdheit mit der ethnischen und der sozialen. Der Umschlag von der Akzeptanz des Anderen in dessen versuchte Vertilgung hingegen geschieht, anders als das Pogrom oder die Attacke gegen Ausländer, im stummen, klammheimlichen einsamen und zweisamen Vollzug, wie nahezu alle Kriminalstatistiken belegen. Zum Gemeinverständnis gehört, dass sie so alltäglich wie sanktioniert ist. Die alltägliche Gewalt ist beinahe leise und privat, so stumm wie jene in Büchners Woyczek und in Horvaths Letztem Tag. Ihrer dramatischen Kunst gelingt es, dass die Täter in ihrem Ausgeliefertsein fast so Mitleid erregend anmuten wie die weiblichen Opfer. Stumme Hilflosigkeit und Wut kennzeichnen die gewalttätige Entladung gegen das Andere, kollektive Erregtheit der Sprache und persönliche Unbeteiligtheit die Entladung gegen das Fremde: Die postmoderne Xenophobie, ein temperierter Faschismus, bedarf kaum mehr des Hasses als energetischen Antriebs. Deshalb erweist sich eine bestimmte Art von aufgeregter Aufklärungsrhetorik ihm gegenüber als hilflos. Die Grenzen zwischen dem Anderen und dem Fremden sind selbstredend fließend: In einer bestimmten Situation kann uns ein persönlich und kulturell vertrauter Mensch als ein Wesen aus einer fremden Symbolwelt erscheinen, fremd, rätselhaft und unverständlich wie ein Wesen von einem anderen Planeten, und umgekehrt gibt es Situationen, wo der kulturell Fremde uns zum nahen Anderen wird, von dem wir auf die paradoxe Art, wie sie 93 Levinas beschrieben hat, unsere Anerkennung beziehen, und zwar über die symbolische und diplomatische Akzeptanz hinaus, „daß Neger auch Menschen sind“ (wie der humanistische Lehrer in Horvaths Jugend ohne Gott einen rassistisch eingestellten Schüler belehrt).26 In der intimen Begegnung von Menschen aus ethnisch verschiedenen Herkunftswelten überkreuzen sich permanent binnen- und intrakulturelle Alteritäten. Daran aber, dass gerade im kulturwissenschaftlichen Blickwinkel „das Fremde“ und „das Andere“ strukturell nicht homolog und nicht einmal analog sind, ändert dies wenig. Ob der „Hybrid“ jenes nachmoderne globale Subjekt sein könnte, das diese Verwerfungen aufhebt (wie es in manchen Texten der Postcolonial Studies suggeriert wird), ist lebenspraktisch wie theoretisch-politisch eher zweifelhaft. Eine eigentümliche strukturelle Antinomie wird sichtbar: Dem scheinbar kompakten singulären Eigenen steht eine Pluralität fremder Konfigurationen gegenüber. Das Eigene, das sich vom Anderen abzugrenzen trachtet und doch von ihm konstruiert ist, sieht sich in seiner Uneigentlichkeit einem Heer von Alteritäten und Fremdheiten gegenüber, das womöglich seine uneigentliche Eigentlichkeit noch einmal fragmentiert. Es gerät, diesem vielfältig Fremden gegenüber, das sich im klassischen Modell der Alterität nicht wirklich abbilden lässt, unter Symbolisierungs- und Reflexionszwang, den es annehmen oder verwerfen kann. Anders als im luftleeren Raum des philosophischen Diskurses ist Reflexion kulturwissenschaftlich an die Existenz des kulturell Fremden geknüpft: sich mit dessen/deren Augen zu sehen, wird zur Chance und Zumutung einer globalen Welt, die sich zugleich kulturell diversifiziert und regionalisiert. Anmerkungen 1 Vgl. Arthur C . DANTO, Kunst nach dem Ende der Kunst (dt. von Christiane Spelsberg), München 1996, S. 20. 2 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich HEGEL, Phänomenologie des Geistes. Werke in 20 Bänden, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1970, S. 145–155. 3 Vgl. Vincent DESCOMBES, Das Selbe und das Andere, Frankfurt a. M. 1981, S. 17–24. 4 Vgl. Emmanuel LEVINAS, Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen (dt. von Frank Miething), München 1995, S. 167–193. 5 Vgl. Hannah AHRENDT, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 21981, S. 36. 6 Julia KRISTEVA, Fremde sind wir uns selbst (dt. von Xenia Rajewski), Frankfurt a. M. 1991, S. 11. 94 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 Ebenda. Vgl. Hans-Dieter BAHR, Die Sprache des Gastes, Leipzig 1994. KRISTEVA, Fremde, S. 12. Vgl. Mario ERDHEIM, Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozeß, Frankfurt a. M. 1984, S. 220. Vgl. Hermann BROCH, Massenwahntheorie. Kommentierte Werkausgabe, Bd. 12, hg. von Paul M. LÜTZELER, Frankfurt a. M. 1979. Vgl. Ernst CASSIRER, Philosophie der symbolischen Formen (1953), Wiesbaden 101994. KRISTEVA, Fremde, S. 13. Emmanuel LEVINAS, Die Zeit und der Andere (übersetzt und mit einem Nachwort von Ludwig WENZLER), Hamburg 1984, S. 13. Vgl. Walter BENJAMIN, Berliner Kindheit um 1900, hg. von Rolf TIEDEMANN, Frankfurt a. M. 2000, S. 162–164. LEVINAS, Zeit und der Andere, S. 47. Ebenda, S. 59. Ebenda, S. 61. Ebenda, S. 65. Ebenda, S. 57. Ebenda, S. 58. LEVINAS, Zwischen uns, S. 33. Vgl. Judith BUTLER, Das Unbehagen der Geschlechter (dt. von Katharina Menke), Frankfurt a. M. 1991. Vgl. Bernhard Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt a. M. 1998; DERS., Der Stachel des Fremden, Frankfurt a. M. 1991. Vgl. Elias CANETTI, Masse und Macht, Frankfurt a. M. 1995, S. 49–54. Vgl. Ödön von HORVATH, Jugend ohne Gott, Frankfurt a. M. 1999. 95 Mestizaje und hybride Kulturen. Lateinamerika und die Habsburger-Monarchie in der Perspektive der Postcolonial Studies Michael Rössner Die Zusammenstellung Lateinamerika und Österreich-Ungarn mag auf den ersten Blick gewagt erscheinen; ich habe sie freilich schon an anderer Stelle1 unternommen und meine, dass bei allen Gegensätzlichkeiten des kulturellen Geflechts ein produktiver Vergleich zwischen den beiden genannten Kulturen durchaus möglich ist, wie ich hier darzulegen versuchen werde. Aufhänger bei einem solchen Vergleich ist das tertium comparationis, der Gegensatz – nämlich die – ethnisch, religiös, sprachlich – „reinen“ Kulturen, für die im europäischen Kontext wohl vor allem die französische und die englische, mit einer gewissen Verspätung auch die deutsche und italienische stehen können: „Nationalkulturen“ im Sinn des späten 18. und des 19. Jahrhunderts, und – nicht ganz zufällig – auch jene Kulturen, die mit den dominierenden Kolonialmächten der in dieselbe Zeit fallenden Blüte der kolonialen Aufteilung der Welt zusammenfallen. Für die im globalen Sinne „postkoloniale“ Entwicklung des eben zu Ende gegangenen 20. Jahrhunderts war es daher ganz bezeichnend, dass diese fehlende „Reinheit“ zunächst als Makel empfunden und verbal verdrängt (Lateinamerika) oder praktisch (das 20. Jahrhundert als fortgesetzter Prozess der freiwilligen oder erzwungenen „ethnisch-kulturellen Separierung“ – um es euphemistisch zu sagen –) bekämpft wurde. Erst seit den traumatisierenden Erfahrungen der Jahrhundertmitte ist ein Umdenkprozess im Gange, der zu einer Neubewertung der kulturellen „Unreinheit“ geführt hat – im mitteleuropäischen Kontext steht dieser freilich stets zugleich unter „Nostalgieverdacht“, während er im lateinamerikanischen Bereich sich wesentlich ungestörter entfalten konnte, ja zeitweise sogar als politisch „fortschrittlich“ eingestuft wurde. Natürlich ist es nicht möglich, im Rahmen dieses Beitrages auch nur andeutungsweise eine Geschichte dieser Identitätsdebatte zu schreiben. Ein paar Eckdaten müssen genügen: Ein erster Schub in Richtung Anerkennung der Kulturmischung als Reichtum erfolgt im Rahmen des Modernismo der 97 Jahrhundertwende und dann noch stärker nach der mexikanischen Revolution und bei einigen Avantgardegruppen. Allerdings bleibt das stets ein abstrakter und mythisierter Begriff der Rassen- und Kulturmischung (mestizaje), der in utopischen Entwürfen einer „Über-Rasse“ (der raza cósmica von Vasconcelos2) oder einer symbolischen Indio-Eigenschaft wie dem Kannibalismus der brasilianischen Anthropophagos-Gruppe zum Ausdruck kommt, bei dem der Brasilianer die „europäische Kulturtünche“ auffrisst, damit darunter der wahre, nackte, natürliche Mensch zum Vorschein kommen soll.3 Ein späterer, konkreterer Umdenkprozess wurde, wie ich vor rund 15 Jahren in einer umfassenden Studie gezeigt habe,4 in Lateinamerika vor allem durch die exotistischen Tendenzen der europäischen (insbesondere französischen) Avantgarde angeregt. Die in Europa an solchen Gruppen beteiligten Autoren entwickeln unter dem Eindruck des anscheinenden Untergangs europäischer Kulturtradition in der Barbarei des Nazi-Regimes während und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ein neues Selbstbewusstsein, das zum Etikett der neuen lateinamerikanischen Literatur in der Theorie des „Wunderbar Wirklichen“ oder des „Magischen Realismus“ wird und in einigen Ländern (Mexiko) ein geradezu als Staatsdoktrin eingesetztes Konzept des kulturellen „mestizaje“ ausbildet, also der Rassenmischung, von der natürlich im Alltag in kultureller Hinsicht nicht die Rede sein konnte. In keinem lateinamerikanischen Land, so hoch der Anteil indigener und mestizischer Bevölkerung auch sein mag, kann man tatsächlich von einer auch nur annähernd gleichwertigen Berücksichtigung indigener Kulturelemente sprechen, nicht hinsichtlich der Hoch- und nicht einmal hinsichtlich der Populärkultur. Auch im „Magischen Realismus“ und den verwandten Bewegungen bleibt die indigene Perspektive eine artifizielle, die aber immerhin neue ästhetische Effekte ermöglicht und die Wertschätzung des eigenen indigenen Kulturelements verbessert, ohne es tatsächlich zu integrieren. Was aber tatsächlich in Lateinamerika – auch schon vor dem Zweiten Weltkrieg – Realität ist, das ist eine Hybridisierung der Kultur, sowohl im vertikalen Sinn (viel stärkere Überlappung von „Hoch“- und „Populärkultur“) als auch horizontal, hinsichtlich der ethnisch-sprachlichen Elemente derselben, wobei es eben nicht um indigen versus europäisch, sondern um ein viel komplexeres Geflecht aus bereits früh eingetretener Mestizisierung und einer in Europa weithin undenkbaren Mischung verschiedenster Kulturelemente ohne dominante „Leitkultur“ – wenn ich diesen unseligen politisch eingesetzten Begriff hier einmal ohne ideologischen Gehalt verwenden darf – geht. Eine solche Hybridisierung, die in der jüngsten Zeit auch theoretisch von der 98 lateinamerikanischen beziehungsweise lateinamerikanistischen Kulturanthropologie (Néstor García Canclini5, José Joaquín Brunner6, Beatriz Sarlo7, Jesús Martín-Barbero8, Alfonso de Toro)9 genauer untersucht und von Autorengruppen der jüngeren Generation (Crack in Mexiko, McOndo in Chile) geradezu zum Markenzeichen eines neuen kontinentalen Selbstbewusstseins gemacht worden ist, lässt sich wenigstens in einigen Aspekten mit Begriffen beschreiben, die aus dem Theoriegebäude der Postcolonial Studies, insbesondere in der Version Homi Bhabhas, stammen: Hybridization, InBetween oder Third Space und anderes mehr, aber natürlich auch die Interaktion von Zentrum und Peripherie mit den entsprechenden Kommunikationskanälen und den sich daran knüpfenden Problemen – allerdings nur dann, wenn man diese Begriffe in die Mehrzahl setzt und als relative fasst: Es gibt in einer solchen Betrachtungsweise kein absolutes Zentrum und keine absolute Peripherie wie im klassischen Bild der postkolonialen Kultur – und schon gar keine Einbahnstrasse des kulturellen Einflusses, wie sie Edward Said für das Verhältnis Okzident/Orient postuliert, sondern nur relative Zentren und relative Peripherien hinsichtlich bestimmter zwischen einzelnen Räumen, Ethnien, Staaten und Kulturen und in bestimmten Bereichen für eine abgegrenzte historische Phase bestehender Relationen. Wenn man die Sache so betrachtet, dann – so meine ich – lassen sich einige Parallelen zu der kulturellen Situation im alten Österreich ausmachen, die eben auch von einer größeren „Unsauberkeit“, einer im Vergleich zu anderen Kulturen wesentlich höheren Durchlässigkeit zwischen verschiedenen kulturellen Schichten im vertikalen und horizontalen Bereich geprägt gewesen ist – was zum Teil Gott sei Dank trotz aller ethnischen und kulturellen „Säuberungen“ immer noch fortwirkt. In dem Rahmen dieser kurzen Darstellung können wohl nur Perspektiven von Forschungsdesideraten entwickelt, nicht jedoch Ergebnisse geliefert werden, aber auch das scheint nicht ganz unnötig zu sein, wenn man einerseits in Rechnung stellt, dass eine solche Verbindung bislang kaum jemals auch nur angedacht worden ist und andererseits, dass gerade in der jüngsten Vergangenheit in Lateinamerika das alte Österreich sozusagen „in Mode“ gekommen ist: In Argentinien und in Mexiko sind mehrere Publikationen über das Wien der Jahrhundertwende erschienen, und die Vertreter einer der beiden prominenten jüngeren Autorengenerationen, die mexikanischen Literaten der „Crack“-Gruppe, nennen plötzlich als ihre Vorbilder nicht nur die Borges-Lektüren Kafka und Mauthner und die Cortázar-Vorbilder Hofmannsthal und Robert Musil, sondern auch mitteleuropäische Autoren, de- 99 ren Kenntnis man in Mexiko nicht vermutet hätte: Von Hermann Broch ist da die Rede, von Max Brod und von Joseph Roth, um nur einige wenige zu nennen. Das zeigt wohl, dass es angebracht wäre, über Gemeinsamkeiten, aber auch über Differenzen nachzudenken, und einen ersten Versuch, ein Programm für eine solche Reflexion zu entwickeln, sollen die folgenden Ausführungen darstellen. Lateinamerika: „Periphere Modernität“ und/oder „Postkoloniale Postmoderne avant la lettre“? Freilich ist an unserem Ausgangs-Dreieck Lateinamerika – Postcolonial Approach – Habsburgermonarchie nicht nur die Verbindung zwischen Lateinamerika und dem alten Österreich ungesichert. Ursprünglich sind die Postcolonial Studies ja ausschließlich für ein bestimmtes Kolonialreich, nämlich das britische, entwickelt worden. Homi Bhabha selbst sagte im Herbst 2002 bei unserem Graduiertenkolleg in München, er sei immer wieder beeindruckt, für welch vielfältige Anwendungen man die von ihm und seinen Kollegen für einen ganz konkreten, eng umgrenzten Bereich entwickelten Ansätze fruchtbar mache – und er sagte es mit der typisch britischen Mischung aus Bewunderung und leicht ironischer Verwunderung. Aber ein bisschen Koketterie ist da natürlich auch dabei. Die Postcolonial Studies sind, in semikolonialer Weise von den USA aus verbreitet, mittlerweile allerorten zu einer wesentlichen neuen Theoriegrundlage im Bereich der Kulturwissenschaften geworden, und dabei wird nur allzu oft – es ist in den Beiträgen zu diesem Symposium mehrfach deutlich geworden – Unvergleichbares über einen Leisten geschoren. Gerade in Lateinamerika und unter Lateinamerikanisten wird die Debatte über die Legitimität des Begriffes „postkolonial“ aber sehr engagiert geführt. Im vereinfachenden Extrem wird der Begriff schon deshalb abgelehnt, weil in Lateinamerika nie eine Entkolonialisierung im eigentlichen Sinne stattgefunden habe. Die Unabhängigkeit wurde letztlich von den Kreolen, also den im Land geborenen Nachkommen europäischer Einwanderer erkämpft – im übrigen oft eben mit dem Ziel, sich von allzu indiofreundlichen Gesetzen zu befreien –, nicht aber von den „kolonisierten“ Ureinwohnern, die daher in den lateinamerikanischen Gesellschaften (sofern sie nicht ausgerottet sind) ebenso wie die afroamerikanischen Bevölkerungsgruppen eine „Peripherie der Peripherie“10 bilden. Jorge Klor de Alva formuliert deshalb unmissverständlich: 100 […] Where there was no decolonization there could be no postcolonialism, and where in a post-independance society no postcolonialism can be found, the presence of a preexisting colonialism should be put in question.11 Zweifellos ist diese These in mehrfacher Hinsicht zutreffend: Auf die Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten – sie ist im übrigen wie die staatliche Eigenständigkeit Österreichs außerhalb des Heiligen Römischen Reichs eine Frucht der napoleonischen Kriege – folgt ja eine Phase, in der an die Stelle einer offiziellen Kolonialmacht wenigstens zwei, wenn nicht drei heimliche treten: auf kulturellem Gebiet ist es Frankreich, dessen Hauptstadt Paris für jeden intellektuellen Lateinamerikaner der Angelpunkt der Welt ist; in wirtschaftlich-technischer und in so manch anderer Hinsicht ist es Großbritannien, das auch noch militärisch am stärksten präsent ist, mit Ausnahme der an die USA angrenzenden Bereiche Mexiko und Mittelamerika, wo als dritte „heimliche Kolonialmacht“ die USA auftreten und bis heute ihren Einfluss nicht abgebaut, sondern ausgedehnt haben. Auch hinsichtlich des Selbstbewusstseins der lateinamerikanischen Gesellschaften und ihrem Verhältnis zum indigenen Erbe beziehungsweise zum Aufbau einer eigenen neuen nationalen Identität kann man sehr lange nicht von einer Überwindung des kolonialen Verhältnisses zu Europa sprechen, wie selbst die Geschichte der lateinamerikanischen Literatur in unserem Jahrhundert zeigt. Der guatemaltekische Literaturnobelpreisträger Miguel Angel Asturias, selbst Mestize, ist ein überzeugendes Beispiel dafür. Zunächst verdammt er, selbst linker Studentenvertreter und Mitarbeiter des Kulturministers der mexikanischen Revolutionsregierung, in seiner Dissertation die Indios „wie jede degenerierte Rasse“ zu einer „massiven Kreuzung“ mit gesunden Rassen wie Bayern, Holländern oder Tirolern und warnt davor, sie in ihrer eigenen Sprache zu akkulturieren; dann entdeckt er an der Sorbonne und in Surrealistencafés das europäische Interesse am exotischen indianischen Denken, beginnt sich unter der Führung des Pariser Altamerikanisten Georges Raynaud in die Denkweise und die Sprache der alten Mayakultur einzufühlen, macht diese Perspektive in Legenden aus Guatemala und dem Roman Maismenschen literarisch fruchtbar und präsentiert sich nach 1945 bei europäischen Verlagspräsentationen als „Große Zunge der Mayas und Sprecher meines Stammes“, obwohl er nie eine Indiosprache erlernt hat; dennoch ist es ihm – freilich sozusagen unter europäischer Anleitung – gelungen, ein Sprachkunstwerk im Geist der „Heiligen Bücher“ (Popol Vuh) der MayaQuiché zu schaffen (Maismenschen, 1949), das zu einem der zentralen Bezugspunkte der neueren lateinamerikanischen Literatur werden sollte.12 Erst die 101 Infragestellung der Boom-Rezepte mit dem neuen historischen Roman der 1980er und 1990er Jahre und den jungen Generationen der Jahrhundertwende löst sich wenigstens von der beinahe servilen Europa-Orientierung, auch wenn die USA weiterhin eine dominante Rolle spielen. Auf der anderen Seite lässt sich jedoch auch behaupten, dass ein Denken von „postkolonialen Kategorien“ im lateinamerikanischen Kontext schon wesentlich früher stattgefunden hat. Sara Castro-Klarén13 datiert es bis auf den Inca Garcilaso de la Vega zurück, den Sohn eines spanischen adeligen Konquistadoren und einer Inkaprinzessin, der in seinen Comentarios reales zu Beginn des 17. Jahrhunderts einerseits die für die Theoretiker der modernen Postcolonial Studies charakteristische Diaspora realisiert (er schreibt im spanischen Córdoba und für spanische Leser in einem untadeligen petrarkistischen Stil der europäischen Humanisten-Internationale), andererseits die Begriffe von Zentrum und Peripherie in Frage stellt, wenn er sich als „Bürger von Cuzco, das ist das andere Rom in jenem Kontinent“ definiert. So erfülle er, laut Castro-Klarén, die Definition, die Bhabha vom „postcolonial intellectual“ gibt, und sei daher ein Beweis dafür, dass Lateinamerika nicht nur „post-colonial avant la lettre“14, sondern auch „post-colonial before the ,post‘“ sei.15 Tatsächlich muss man wohl anerkennen, dass man mit dem Inka Garcilaso zu einem Zeitpunkt einen Vertreter einer „travelling culture“ vor sich hat, zu dem selbst der Kolonialismus für die eigentlichen Kolonialländer noch in ferner Zukunft liegt. Natürlich ist der Inka in Sprache und Denkweise vom europäischen Kontext geprägt, in dem er schließlich auch lebt und schreibt (er hat seit seiner Übersiedlung nach Spanien mit knapp über 20 Jahren seine Heimat Peru nicht wiedergesehen), aber eben deshalb entwirft er sozusagen eine Zwei-Welten-Theorie: Neben dem ersten Rom in Europa, von dem die translatio imperii ausgeht, existiert ein zweites Rom, und damit ein zweiter Nabel der Weltgeschichte, in der Neuen Welt, und durch Verbindungen wie die seiner Eltern werden die beiden Weltgeschichten zusammengefügt, die sich zueinander in etwa so verhalten wie Altes und Neues Testament: Die Inkas haben sich als Zivilisatoren der „wilden“ Indios in etwa so verhalten wie die Spanier später ihnen gegenüber; sie hatten zwar noch nicht das Licht, aber doch den „Schimmer“ oder „Widerschein“ desselben geahnt und zu den Naturvölkern gebracht, also wie Johannes der Täufer Christus, den die Spanier brachten, den Weg bereitet, wodurch natürlich bereits die Inkas als „Kolonisatoren“, nämlich „Prä-Kolonisatoren“ auftreten, deren Werk dann die Spanier vollenden. 102 Erwartungsgemäß sind diese Thesen des Inka Garcilaso im kolonialen Amerika auf heftigen Widerspruch gestoßen, und zwar sowohl bei Spaniern, die die Indios insgesamt verachteten wie der bolivianische Petrarkist Diego Dávalos y Figueroa, der eine andere Facette post-kolonialer Haltung verwirklicht, die ich das „Überholen“ des Zentrums nennen würde, indem er sich vom bolivianischen Altiplano aus unter Umgehung der „Zwischenzentren“ Lima, Mexiko-Stadt und Madrid in die Diskussion über die italienische Literatursprache unter den toskanischen Humanisten einzuschalten versucht, als auch bei manchen Indios wie Waman Puma de Ayala, der wiederum die Inkas als Unterdrücker brandmarkt und für eine Rückkehr zu (ebenfalls nach dem Vorbild der ständischen europäischen Gesellschaft zwischen Spätmittelalter und Renaissance konzipierten) präinkaischen Verhältnissen und eine strikte apartheid-ähnliche Trennung zwischen Weißen und Indios eintritt. Aber auch bei ihnen zeigt sich so etwas wie ein „dritter Raum“ zwischen indigener und/oder zumindest außereuropäischer Kultur und dem europäischen Zentrum, im konkreten Fall des 16. Jahrhunderts eben Italien, es zeigt sich aber auch – was mir auf die Situation des alten Österreich am ehesten übertragbar erscheint – eine verwirrende Konfusion zwischen Zentren und Peripherien: Was in einem Verhältnis Zentrum ist (zum Beispiel Madrid für die Vizekönigreiche) ist in einem anderen Peripherie, über die man sich durchaus hinwegsetzen kann, um direkt mit dem „Ober-Zentrum“ in Dialog zu treten, wie der Fall Dávalos’ ebenso zeigt, wie der halb in Bildern, halb in radebrechendem Spanisch unternommene Versuch Waman Pumas, eine neue Weltordnung auf teils indianischer und teils spanischer Kulturgrundlage zu errichten und diese direkt dem Kaiser zu unterbreiten. Und wenn dieser kühne Versuch der Verknüpfung von europäischen und amerikanischen Diskursformen nur das Werk eines marginalisierten Außenseiters war, so hat die hispanische/hispanoamerikanische Welt doch – immer noch nach CastroKlarén – mit Bartolomé de Las Casas den ersten und einzigen „post-kolonialen Europäer“ hervorgebracht, der die Rationalität der „Anderen“ und die Notwendigkeit des Dialogs betont habe. Las Casas jedoch war alles andere als ein Außenseiter: Er setzte sich bekanntlich in der berühmten Disputation über die „Menschenrechte“ der indigenen Bevölkerung Mitte des 16. Jahrhunderts gegen Ginés de Sepúlveda durch und erreichte damit die Einführung der die Rechte der indigenen Bevölkerung verankernden Leyes de Indias, die freilich nie in vollem Umfang angewendet wurden. Man könnte nun in der Geschichte weiterschreiten und Ansätze dieser Infragestellung der Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie in der 103 Unabhängigkeitsliteratur, im Modernismo und in der Avantgarde, in der Boom-Literatur und schließlich bei den „Post-Modernen“ suchen – letztlich läuft das Ergebnis wohl stets auf den Satz hinaus, den der junge Jorge Luis Borges schon 1932 formulierte (in El escritor argentino y la tradición16): Dass nämlich die Lateinamerikaner wie die Juden das Recht hätten, nicht über eine isolierte nationale Kulturtradition, sondern über die gesamte europäische Kultur zu verfügen – womit sie gleichzeitig die Möglichkeit zu einer Hybridisierung besitzen, die den an die eigene Tradition gebundenen europäischen Autoren nicht ohne weiteres offen steht – und die vielleicht im Zeitalter der sich tatsächlich vollziehenden politischen Einigung des Kontinents eine nicht zu unterschätzende Bedeutung als Leistung der Peripherie für das einstige Zentrum darstellen könnte. Lateinamerikanische Theorie: „Postkolonialität“, Dezentrierung und Dialogizität Schließlich ist noch die lateinamerikanische Theorietradition selbst zu berücksichtigen, die mit der ausschließlichen Orientierung an der „heiligen Dreifaltigkeit“ der Postcolonial Studies (Said-Bhabha-Spivak) keineswegs zufrieden ist; so fordert vor allem die Richtung der Latin-American Area Studies in den USA (zum Beispiel Walter Mignolo)17, die Priorität lateinamerikanischer Denker wie O’Gorman und Angel Rama18 anzuerkennen, die schon vor Said & Co. auf den Spuren Heideggers die Gültigkeit westlicher Logik in Frage gestellt hätten. Walter Mignolo prägt zudem einen Begriff, der gegen das Konzept des „Postkolonialen“ ausgespielt wird: den „Postokzidentalismus“. Unter diesen Auspizien kann dann ein Autor, der auf der Basis des europäischen Wissens und Denkens koloniale Perspektiven in Frage stellt wie Carlos Fuentes als „post-colonialista“ gegen einen Autor, der einfach in der Schreibpraxis die Hegemonie des eurozentrischen Denkens überwindet wie Juan Rulfo, ausgespielt werden (so bei Alcántara Mejía19). Bei der Frage, wie eine solche postokzidentale Schreibpraxis zu benennen wäre, sind wir schließlich bei den originellen Ansätzen der lateinamerikanischen Theorie, die dann von Alfonso de Toro für eine „Postkolonialität“ reklamiert werden, und von denen hier drei kurz erwähnt seien: 1) Das Konzept der „Heterogeneität“ der lateinamerikanischen Kultur des chilenischen Kultursoziologen José Joaquín Brunner: Brunner wendet sich gegen den Mythos von der verlorenen „ursprünglichen Identität und Rein- 104 heit“ und stellt die lateinamerikanische Kultur mit dem Bild des „gesprungenen/zerbrochenen Spiegels“ vor, der ein Durcheinander verschiedenster Facetten populärer und hoher, Massen- und Folklorekultur reflektiert, die durch keine „Ordnung“ mehr auf irgend einen Fortschritt, ein Ziel oder eine Richtung fokussiert werden. 2) Das Konzept des spanisch-kolumbianischen Kommunikationstheoretikers Jesús Martín-Barbero: Dieser sieht in ähnlicher Weise eine Identitätsbildung durch „Ent-Totalisierung“ vor; bei ihm tritt an die Stelle der Suche nach nationaler oder kontinentaler „Identität“ ein ungelöstes Spannungsverhältnis von Historischem und Gegenwärtigem in einem „dritten Raum“, einem „Dazwischen“, das für eine „Entterritorialisierung“ des VolkstümlichUrsprünglichen der Peripherie und seine „Reterritorialisierung“ im Zentrum sorgen soll; und 3) Das Konzept der „Hybridisierung“ des argentinisch-mexikanischen Kultursoziologen Néstor García Canclini: Dieses Konzept sieht eine dynamische Interaktion zwischen „Massen-, Volks- und Hochkultur“, zwischen „Lokalem und Kosmopolitischem“ vor. Im deutschen akademischen Umfeld hat Alfonso de Toro versucht, diese Konzepte mit poststrukturalistischen Theoremen von Lacan bis Derrida und Deleuze-Guattari zu verbinden: Er sieht in diesen lateinamerikanischen Ansätzen (die er ausdrücklich als postkolonial bezeichnet) „rhizomatisches“ Denken, für das er in Anlehnung an Derridas „différance“ den Begriff „altaridad“ – statt „alteridad“ (Alterität) – von Mark Taylor20 übernimmt. Wie immer man zu diesen Begriffen stehen will: Richtungsweisend scheint mir de Toros Ansatz, damit eine Bipolarität Zentrum/Peripherie, Hegemonie/Dependenz zu überwinden und zu einer „wechselseitigen Dependenz und Kontamination“ von Peripherie und Zentrum, zu einer „Dezentrierung und Vervielfachung des Zentrums“ zu gelangen. So definiert de Toro, der Lateinamerikas Position als die einer „peripheren postkolonialen Postmoderne“ sieht, die „Postkolonialität“ (im Unterschied zum Postkolonialismus) als „Diskurs, der nach einem Raum der Dialogizität sucht, der als Potentialität existiert“, und für den die „Globalisierung neue Chancen bietet“. Ob man diese Schlussfolgerung annehmen will, wird zu diskutieren sein. Die Relativierung der Beziehung Zentrum/Peripherie im Sinne einer „Metaphorisierung“ erscheint mir jedenfalls als ein weiter zu verfolgender Ansatz, der zwar aus der spezifischen lateinamerikanischen Situation resultiert, aber wohl auch – als wesentliches Korrektiv einer zu einfachen bipolaren postkolonialen Sehweise – auf andere Kulturen übertragbar wäre. 105 Eine solche Definition scheint mir nämlich durchaus die Chance zu bieten, in adaptierter Form (unter Umständen sogar unter Streichung des weitgehend ausgedünnten Dachbegriffs „Post-Kolonial“) diese Fragestellungen und Begriffe auf die kulturellen und politischen Relationen im alten Österreich anzuwenden. Mögliche Ansätze für zukünftige Forschungen Auf dieser Grundlage ließen sich, meine ich, aus dem ganz anders gelagerten und doch ähnlichen Beispiel der lateinamerikanischen Kulturen einige Ansätze auf die Erforschung der Kulturen der ehemaligen Habsburgermonarchie übertragen: 1) Die Überlappungsbereiche zwischen verschiedenen hierarchischen Schichten der Kultur (Hoch- und Populärkultur, Kunst und Kleinkunst). Wir haben vor einigen Jahren mit einem Band zur Kaffeehausliteratur in achtzehn Städten, in dem sowohl Mitteleuropa als auch Lateinamerika vertreten waren, einen ersten Schritt gesetzt. Aber es scheint mir, dass einige andere Bereiche – zum Beispiel die Musik und das Musiktheater (Strauss und EMusik), das populäre Drama (Posse, Boulevard und Komödie) – folgen könnten. Frappierend sind auch hier die Ähnlichkeiten mit einigen lateinamerikanischen Ländern, etwa Argentinien, wo das moderne Theater um 1900 aus dem Zirkus (!) und der musikalischen Revue eine „Wiedergeburt“ erlebt, die es zu einem eigenen Stil des hochliterarischen Theaters („grotesco criollo“) führt und wo der gesungene Tango eine so enge Partnerschaft mit der Literatur eingeht, dass nach Urteilen mancher Kritiker die wichtigsten TangoDichter (etwa Enrique Santos Discépolo) zugleich zu den bedeutendsten Lyrikern des 20. Jahrhunderts zählen. 2) Die Dezentrierung oder der Polyzentrismus, der, wie wir gesehen haben, schon die frühe lateinamerikanische Literatur charakterisiert und in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, verschärft durch die sprachliche Vielfalt, wiederkehrt. Für alle nicht nur in Österreich-Ungarn vertretenen Völker gibt es notwendigerweise literarische Zentren mit Vorbildwirkung außerhalb (Berlin, Florenz, Venedig, Rom, und so weiter), aber auch für die anderen ist nicht ausschließlich Wien, Budapest oder Prag beziehungsweise (dem Panslawismus entsprechend) St. Petersburg als Zentrum maßgeblich, sondern zum Beispiel in der Literatur und Malerei auch Paris (so pilgert, um nur ein Beispiel zu nennen, der 22jährige Lajos Kassák 1909 106 zu Fuß nach Paris, um danach 1915 mit dem ungarischen „Aktivismus“ die erste echte Avantgardegruppe auf österreichischem Boden zu begründen, und für die tschechischen und südslawischen Avantgarden gilt eine ähnliche Ausrichtung). Und andererseits zeigt sich innerhalb der österreichischungarischen Länder eine ähnlich verwirrend abgestufte Zentrum/PeripherieRolle der einzelnen Kulturzentren wie in Lateinamerika: Ist Buenos Aires für Paris Peripherie, so ist es für Paraguays Hauptstadt Asunción Zentrum, und Asunción ist seinerseits Zentrum für die paraguayische Provinz; analog ließen sich noch viel kompliziertere Beziehungen zwischen Wien und Prag, Wien und Brünn, Wien und Czernowitz herstellen. Dafür sind die Kanäle kultureller Kommunikation und die Dominanz zu untersuchen, aber auch die fruchtbare Wirkung des „Rauschens“ und der „Verschmutzung“ sowie des nie ganz auszuschließenden „Feed-backs“, durch das jede Peripherie auf „ihr“ Zentrum zurückwirkt. Eine bis ins Detail exakte Karte dieser Einflüsse wird sich allerdings wohl nie zeichnen lassen, wohl aber vielleicht eine „Karte“ in der Art, wie Deleuze und Guattari21 diesen Begriff verstehen, also eine Art bewegliche Annäherung an das kreative Potential, das durch diese Konstellation entstanden ist und noch immer fortwirkt. Conclusio Es will also scheinen, als ließe sich auf dem Wege einer Flexibilisierung, wie sie im lateinamerikanischen Umfeld bereits erfolgt ist, so mancher Ansatz der Postcolonial Studies für die Darstellung der Kulturen der ehemaligen Habsburgermonarchie durchaus fruchtbar machen. Das findet im weiteren, politisch-wirtschaftlichen Kontext durchaus seine Entsprechung. Über die gegenseitige Relativierung von „relativen Zentren“ wie Wien und Budapest etwa im Verhältnis zu den Kroaten im politischen Bereich ist an anderer Stelle in diesem Band die Rede. Noch komplizierter – aber auch faszinierender – wird es wohl, wenn wir diese Perspektive in beide Richtungen hin erweitern – einmal durch die Orientierung an kulturellen und/oder wirtschaftlich/technologischen Zentren außerhalb der Monarchie (Berlin, Paris, London), die durchaus auch für die „nichtdeutschsprachigen“ Bevölkerungsteile in manchen Bereichen Vorbildfunktion hatten. So wären, wie oben dargestellt, die tschechische und die ungarische Avantgarde ohne die Kontakte zu Paris nicht denkbar gewesen. Und in der anderen Richtung durch das hier als „Mikrokolonialismus“ bezeichnete Phänomen, bei dem die periphere Stadt 107 zum Zentrum für das Umland, die „historische“ Nation zum „Kolonisator“ für die „nicht-historische“ wird und anderes mehr. Das hinter uns liegende 20. Jahrhundert hat bis zum letzten Moment eine solche „Dezentrierung und Vervielfachung des Zentrums“ (de Toro) zu verwischen versucht, zu überschreiben, zu tilgen. Auch die „spät gekommenen“ Nationen, die zu Ende dieses Jahrhunderts ihre Eigenstaatlichkeit erlangt haben – nur um sofort in die Europäische Union zu streben – wollten noch ihr „kulturelles Erbe“ in den Bildern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, als „reine“ Nationalkultur gestalten. Natürlich ist es für die lateinamerikanischen Nationen, die alle (mit Ausnahme Brasiliens) dieselbe Sprache sprechen und in unmittelbarer Nähe des neuen Zentrums der Globalisierung, der USA, leben, leichter anzuerkennen, dass ihre Identität vielleicht eben in dieser Hybridität liegt, in diesem Sich-Überkreuzen der Diskurse in einer von US-amerikanischer Alltagskultur geprägten und doch „lokal verschmutzten“ Realität. Es wäre für das zusammenwachsende Europa vermutlich aber ein wesentlicher und positiver Impuls, den Schritt vom Europa der Nationen zu einem Europa zu tun, das in seinem Erbe wenigstens ebenso viel an „unreinen“ wie an „reinen“ Kulturen besitzt, und zu dessen Geschichte besonders in Mitteleuropa, immer schon ein „Raum der Dialogizität, der als Potentialität existiert“, gehört hat. Anmerkungen 1 Vgl. Michael RÖSSNER, Skepsis und religionsfreie Mystik im zentraleuropäischen Raum, in: Moritz CSÁKY, Klaus ZEYRINGER (Hg.), Pluralitäten, Religionen und kulturelle Codes, Innsbruck–Wien–München 2001, S. 49–67. 2 José VASCONCELOS, La raza cósmica, Barcelona 1927. 3 Vgl. Michael RÖSSNER, Spuren der europäischen Avantgarde im „modernistischen Jahrzehnt“ in Brasilien, in: Harald WETZLAFF-EGGEBERT (Hg.), Europäische Avantgarde im lateinamerikanischen Kontext, Frankfurt a. M. 1991, S. 31–50. 4 Vgl. Michael RÖSSNER, Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Zum mythischen Bewusstsein in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1988. 5 Vgl. Néstor GARCÍA CANCLINI, Culturas híbridas. Estrategias para entrar y salir de la modernidad, Mexico 1990. 6 José Joaquín BRUNNER, Tradicionalismo y modernidad en la cultura latinoamericana, Santiago de Chile 1992. 7 Vgl. Beatriz SARLO, Una modernidad periférica. Buenos Aires 1920 y 1930, Buenos Aires 1988. 108 8 Vgl. Jesús MARTÍN-BARBERO, Communication, Culture and Hegemony. From the Media to Mediations, London–Newbury Park–New Delhi 1993. 9 Vgl. auch Hermann HERLINGHAUS, Utz RIESE (Hg.), Sprünge im Spiegel. Postkoloniale Aporien der Moderne in beiden Amerikas, Bonn 1997; vgl. Hermann HERLINGHAUS, Monika WALTER (Hg.), Postmodernidad en la periferia. Enfoques latinoamericanos de la nueva teoría cultural, Berlin 1994; vgl. Carlos RINCÓN, La no simultaneidad de lo simultáneo. Postmodernidad, globalización y culturas en Latinoamérica, Bogotá 1995; vgl. Birgit SCHARLAU (Hg.), Lateinamerika denken. Kulturtheoretische Grenzgänge zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen 1994. 10 Vgl. Alfonso DE TORO, Fernando DE TORO (Hg.), El debate de la postcolonialidad en Latinoamérica. Una postmodernidad periférica o cambio de paradigma en el pensamiento latinoamericano. Frankfurt a. M.–Madrid 1999 (vgl. den Beitrag von Martin LIENHARD, Periferias internas: la antropología cubana y las voces del otro, S. 289–303). 11 Jorge KLOR DE ALVA, Colonialism and Postcolonialism as (Latin) American Mirages, in: Colonial Latin American Review 1, 1–2 (1992), S. 3–23, hier S. 4. 12 Vgl. RÖSSNER, Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies, S. 200–207; vgl. die von Claude Couffon wieder zugänglich gemachte Dissertation Asturias’: Miguel Angel ASTURIAS, El problema social del indio (y otros textos), hg. v. Claude COUFFON, Paris 1971. 13 Vgl. Sara CASTRO-KLARÉN, Mimicry revisited: Latin America, post-colonial theory and the location of knowledge, in: Alfonso DE TORO, Fernando DE TORO (Hg.), El debate de la postcolonialidad en Latinoamérica, S. 137–164. 14 Vgl. Nicolás CASULLO, El debate modernidad-postmodernidad, Buenos Aires 1991. 15 Sara CASTRO-KLARÉN, Mimicry revisited, S. 146. 16 Jorge Luis BORGES, El escritor argentino y la tradición, in: DERS., Discusión [1932], heute in: DERS., Prosa completa, Barcelona (Bruguera) 1980, S. 215–223. 17 Vgl. Walter MIGNOLO, The Darker Side of Renaissance. Literacy, Territoriality & Colonization, Ann Arbor 1995 und DERS., La razón postcolonial: herencias colonials y teorías postcoloniales, in: Alfonso DE TORO (Hg.), Postmodernidad y postcolonialidad. Breves reflexiones sobre Latinoamérica, Frankfurt a. M. 1997, S. 51–70. 18 Vgl. Ángel RAMA, La ciudad letrada, Hannover 1984. 19 Vgl. José Ramón Alcántara MEJÍA, La transferencia de lo colonial: el mestizaje y el control del discurso literario en México, in: Alfonso DE TORO, Fernando DE TORO (Hg.), El debate de la postcolonialidad en Latinoamérica, Frankfurt a. M. 1999, S. 305–316. 20 Vgl. Mark TAYLOR, Altarity, Chicago–London 1987. 21 Vgl. Gilles DELEUZE, Félix GUATTARI, Anti-Oedipe, Paris 1972 (dt. AntiÖdipus, Frankfurt a. M. 1974); vgl. DIES., Rhizome. Introduction, Paris 1976 (dt. Rhizom, Berlin 1977). 109 K.u.k. Kolonialismus als Befund, Befindlichkeit und Metapher: Versuch einer weiteren Klärung Clemens Ruthner „Kolonisation ist [...] ein Phänomen von kolossaler Uneindeutigkeit“1, schrieb Jürgen Osterhammel noch 1995. Die in den Jahren um die Jahrtausendwende aufgekommene kulturwissenschaftliche Diskussion, inwieweit nun die Theoriebildung der so genannten Post/Colonial Studies auch auf innereuropäische Verhältnisse anwendbar wäre, zeitigt indes immer neue Ergebnisse.2 Dies hat auch den Verfasser des vorliegenden Beitrags – der am Zustandekommen eben jener Diskussion nicht ganz unschuldig war – dazu gebracht, seine eigenen Positionen, die erst eher programmatisch als mit dem Anspruch auf Vollständigkeit geäußert wurden, neu zu überdenken. In Ergänzung zu früheren Texten3 erscheint es ihm angebracht, die verschiedenen Anwendungen zu differenzieren, in denen das Paradigma „Kolonialismus“ in Hinblick auf „Kakanien“ operationalisiert wird. Im Wesentlichen dürfte es sich dabei um folgende Fälle handeln: 1. Österreich-Ungarn wird historisch-sozialwissenschaftlich als PseudoKolonialmacht angesehen, die sich anderssprachiger Territorien imperialistisch bemächtigt hat, um sie zu beherrschen und ökonomisch auszubeuten (innerkontinentaler Kolonialismus). 2. Es wird eingeräumt, dass die k.u.k. Monarchie zwar keine Kolonialmacht im engeren Sinne war, dass aber ihre spezifischen symbolischen Formen ethnisch differenzierender Herrschaft – das heißt ihre kulturellen Bilderwelten – Ähnlichkeiten zu jenen überseeischer Kolonialreiche aufweisen (Imagologie und Identitätspolitik). 3. Wie in Fall 1 wird der späten Habsburgermonarchie unterstellt, eine Kolonialmacht zu sein, jedoch geschieht dies in rhetorischer Form im Rahmen eines jeweils zeitspezifischen Diskurses (als Metapher). Im Weiteren soll versucht werden, diese drei Positionen noch einmal darzustellen und einen präliminaren Beitrag zu ihrer Diskussion zu leisten. 111 Kolonialismus als Befund – der sozialwissenschaftliche Diskurs Hier lohnt es sich, zunächst eine sozialwissenschaftliche Definition von Kolonie beziehungsweise Kolonialismus heranzuziehen, wie sie in gängigen Handbüchern und Fach-Enzyklopädien vorgetragen wird. Gleichermaßen empfiehlt sich eine gewisse Vorsicht im Hinblick auf ältere Werke dieses Genres, die häufig auf Grund ihrer zeitlichen und sogar geistigen Nachbarschaft zur Endphase des europäischen Kolonialismus in der Nachkriegszeit wenig brauchbar scheinen.4 Dennoch liegt bereits mit Rupert Emersons Definition in der International Encyclopedia of the Social Sciences (1968) eine praktikable Arbeitshypothese vor: Colonialism is the establishment and maintenance, for an extended time, of rule over an alien people that is separate from and subordinate to the ruling power. It is no longer closely associated with the term „colonization“, which involves the settlement abroad of people from a mother country as in the case of the ancient Greek colonies or the Americas. Colonialism has now come to be identified with rule over peoples of different race inhabiting lands separated by salt water from the imperial center. [...] Some further features of the „colonial situation“ are: domination of an alien minority, asserting racial and cultural superiority over a materially inferior native majority; contact between a machine-oriented civilization with Christian origins, a powerful economy, and a rapid rhythm of life and a non-Christian civilization that lacks machines and is marked by a backward economy and a slow rhythm of life; and the imposition of the first civilization upon the second.5 Dies entspricht im Wesentlichen auch den Ansätzen, die mehr als drei Jahrzehnte später zur Blütezeit der Post/Colonial Studies vorgetragen werden.6 Wesentlich ist dabei, dass der aus den antiken Kolonien sich herleitende Siedlungsgedanke zu Gunsten der Fokussierung auf eine externe, kulturell fremde Herrschaft revidiert worden ist: „Modern colonialism was not characterized by settlements but by external control“ (Hodder-Williams).7 Dies hat auch dazu geführt, dass die meisten Theoriebeiträge die Begriffe „Kolonisierung“/„Kolonisation“ und „Kolonialismus“ von einander abzuheben trachten.8 Der deutsche Historiker Wolfgang Reinhard schreibt in seinem Beitrag, „Kolonisierung“ habe zwar prinzipiell mit „Migration“ zu tun; der Begriff verliere jedoch seine relativ neutrale Bedeutung („Siedlungswesen“) im Lauf des 19. Jahrhunderts, was – so wäre hinzuzufügen – seiner breiten Anwendung und metaphorischen Aufladung im Rahmen eines gesamteuropäischen Kolonialismus Vorschub leistet: 112 We have no choice but to accept the change of meaning that colonialism has undergone, though we can try to neutralize political emotions. In this sense, colonialism can be defined as the control of one people by another, culturally different one, an unequal relationship which exploits differences of economic, political, and ideological development between the two.9 Kolonialismus lässt sich somit im Kern als Praxis jener Fremdherrschaft bestimmen, die kulturelle Differenz als Rechtfertigungsstrategie für politische und sozioökonomische Ungleichheit operationalisiert. Mehrere Autoren haben darauf hingewiesen, wie schwierig es hier ist, das (marxistisch konnotierte) Paradigma Imperialismus und das Konzept des Kolonialismus von einander abzugrenzen, indem man etwa Letzteren als konkrete Ausprägung des Ersteren begreift, wie dies unter anderem Hannah Arendt getan hat.10 Neben den genannten kulturellen, (geo)politischen – und wirtschaftlichen11 – Parametern sind jedoch auch rechtliche Aspekte von Belang,12 wenn etwa das Handwörterbuch der Sozialwissenschaften (1959) „Kolonien“ definiert als Gebietsteile, denen [...] ein bestimmter, vom Regime des Hauptlandes verschiedener rechtlicher Sonderstatus zugewiesen worden ist. [...] Das rechtliche Sonderregime typischer Kolonialländer besteht in aller Regel darin, dass die Bevölkerung eines Kolonialgebiets nicht, oder jedenfalls nicht gleichberechtigt, am politischen Leben des Mutterlandes teilnimmt und dass sie ihrerseits auch in Bezug auf das Kolonialgebiet keine oder keine volle Selbstregierung besitzt.13 Fast alle erwähnten Werke schlagen nun zusätzlich zu diesen Definitionen einen Katalog von verschiedenen Kolonietypen14 vor (auf den hier aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden kann); im Extremfall führt dies zur Skepsis, ob sich die disparaten Ausprägungen des Kolonialismus von der Antike bis zur Gegenwart überhaupt „durch eine Theorie in eine systematisch geordnete Gesamtheit verwandeln“ lassen oder ob sie lediglich von Fall zu Fall historisch beschreibbar sind. Für unsere Themenstellung interessant ist indes die mehrfach versuchte Ausweitung des Kolonie/sierungs/begriffs; in keinem der im Folgenden genannten Fälle wird freilich auf das daraus resultierende Konzept beziehungsweise dessen Konsequenzen näher eingegangen. Emerson etwa verweist auf belgische Bestrebungen in der Frühzeit der Vereinten Nationen „to broaden the concept of colonialism to include all ethnically distinct minorities discriminated in their home countries“ – ein Vorstoß, der von der UNO abgelehnt worden sei.15 Reinhard führt den Terminus semicolonies für China und das Osmanische Reich um 1900 an.16 Hodder-Williams wiederum versucht, den Begriff internal colonialism zu beschreiben als „broadly 113 similar processes at work within a single state. Thus, particular groups, through their dominance of political and economic power, ensured that other groups are kept in long-term subservience“; als Beispiel dafür wird unter anderem Südafrika angeführt.17 Schon der Beitrag im Handwörterbuch der Sozialwissenschaften hatte darauf hingewiesen, dass es durchaus vorkomme, „dass Gebiete, welche soziologisch Kolonialland sind, ohne rechtliche Sonderregelung als Bestandteil des Hauptlandes regiert werden, so etwa Sibirien als Teil Rußlands oder die Mandschurei als Provinz Chinas.“18 Ansätze in Richtung einer inneren Kolonisierung schlagen auch Arendt19 und Said20 vor; der viel diskutierte21 Begriff wird aber in der Folge aufgrund seiner zunehmenden Polyvalenz immer ungenauer (wenn er etwa bei einigen Forscher/inne/n psychologisiert und ins Individuum hinein verlegt wird22). Bereits aus dieser kurzen Darstellung der sozialwissenschaftlichen Begrifflichkeit von Kolonie beziehungsweise Kolonialismus geht nun hervor, dass Österreich-Ungarn um 1900 kein Kolonialreich im engeren Sinn gewesen sein beziehungsweise gehabt haben kann:23 Weder das Moment großer (überseeischer) Entfernung noch jenes großer kultureller Differenz kann für seine multiethnischen Herrschaftsverhältnisse geltend gemacht werden – es sei denn, man besteht darauf, dass es sich hier lediglich um quantitative beziehungsweise graduelle Unterschiede handelt. (Hiermit liefe man allerdings Gefahr, durch Nivellierung der Betrachtungsweise die großen Verbrechen des zeitgenössischen Kolonialismus in Afrika und Asien – wie etwa den Genozid in Belgisch-Kongo24 – zu verharmlosen.) Auch die Dichotomie von Zentrum versus Peripherie/n 25 ist hier nicht von uneingeschränkter Gültigkeit, gibt es doch in der späten Habsburgermonarchie einerseits neben „armen“ Randgebieten (wie zum Beispiel Galizien) auch solche wie Böhmen, die wirtschaftlich entwickelter sind als das österreichische Kernland und andererseits auch mehrere Metropolen (Wien, Budapest, Prag).26 Den einzig möglichen Anwendungsfall für eine Kolonialismusdebatte im engeren Sinn könnte Bosnien-Herzegowina darstellen, dessen militärische Besetzung (1878), Verwaltung und Annexion (1908) gewisse (semi)koloniale Züge aufweisen, wie dies zum Beispiel der belgische Historiker Raymond Detrez im Anschluss an ein denkwürdiges Buch der bulgarischen Forscherin Maria Todorova behauptet hat.27 Im Falle dieser letzten Expansion der Habsburgermonarchie gäbe es durchaus auch rechtlich-sozialwissenschaftliche Kriterien, die die Verwendung des polemischen Kolonialismus-Terms rechtfertigen würden: so etwa die Tatsache, dass die Bosnier/innen vorderhand 114 über kein politisches Mitbestimmungsrecht innerhalb der Monarchie verfügten wie deren anderen „Völker“; ein bosnischer Landtag wurde erst nach der Annexion28 eingerichtet. Hier ist freilich seitens österreichischer und bosnischer Forscher/innen eine noch eingehendere sozial-, wirtschaftswissenschaftliche sowie (rechts)historische Klärung der Zustände zwischen 1878 und 1918 von Nöten, um ein endgültiges Urteil fällen zu können.29 Kolonialismus als Befindlichkeit – der kulturwissenschaftliche Diskurs Kolonialismus ist eine Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven, bei welcher die fundamentalen Entscheidungen über die Lebensführung der Kolonisierten durch eine kulturell andersartige und kaum anpassungswillige Minderheit von Kolonialherren unter vorrangiger Berücksichtigung externer Interessen getroffen [...] werden. Damit verbinden sich in der Neuzeit sendungsideologische Rechtfertigungsdoktrinen, die auf der Überzeugung der Kolonialherren von ihrer eigenen kulturellen Höherwertigkeit beruhen.30 Diese kulturalistische Definition Osterhammels, die das Moment „überseeischer Distanz“ aufgibt, öffnet gleichsam wieder die innerkontinentalen Räume für eine Kolonialismus-Debatte. Erhellend ist auch die Zusatzbemerkung des Autors, Kolonialismus sei nicht nur ein „strukturgeschichtlich beschreibbares Herrschaftsverhältnis, sondern zugleich auch eine besondere Interpretation dieses Verhältnisses“;31 diese basiere im Wesentlichen auf drei diskursiven Strategien: auf der „Konstruktion von inferiorer ,Andersartigkeit‘“, auf „Sendungsglaube[n] und Vormundschaftspflicht“ (der Kolonisatoren) sowie auf der „Utopie der Nicht-Politik“ (das heißt eines „politikfreien Verwaltens“).32 Osterhammel muss hier einräumen, dass es derartige Herrschaftsverhältnisse ebenso zwischen Zentren und Peripherien „innerhalb von Nationalstaaten oder territorial zusammenhängenden Landimperien“ gebe.33 Diese diskursanalytische Aufzählung von Herrschaftsdoktrinen trifft sich freilich auch mit einer Bemerkung des Triestiner Germanisten Claudio Magris. In seiner folgenreichen Studie zum „habsburgischen Mythos“ (gemeint ist das monarchie-nostalgische Konstrukt eines utopisch multikulturellen „Vielvölkerstaats“ als Gegenentwurf zum „Völkerkerker“-Narrativ diverser zentrifugaler Nationalismen) sieht er diesen durchaus funktional bestimmt in der „kulturelle[n] Kolonisation Osteuropas“.34 (Auch Wolfgang Reinhard schreibt, dass von „Mitteleuropa“ eine „Ostkolonisation“ ausgegangen sei – ohne dabei an die Habsburgermonarchie zu denken; gemeint ist das Zarenreich.35) 115 Unter historischen Zeitzeugen der k.u.k. Monarchie hat es indes nicht an – auch unverdächtigen – Aussagen gemangelt, die Österreich-Ungarn als „Kolonialreich“ beschreiben beziehungsweise als solches denunzieren. Belege dafür finden sich etwa in der Autobiographie der jüdischen Österreicherin Hilde Zaloscer,36 geboren 1903 in Banja Luka, 1918 nach Wien geflüchtet und 1938 weiter nach Alexandria; Beobachtungen der Autorin im semi- bis postkolonialen Milieu Ägyptens werden hier als prinzipiell kritisches Narrativ auf ihre Kindheit in Bosnien zurückgespiegelt.37 Quasi auf der anderen Seite steht der deutsche Reisejournalist Heinrich Renner, der sich 1896 im Sinn des Zivilisations-Narrativs zum Apologeten einer kolonialen Pax Austriaca in Bosnien machte: Dem grossen Publikum blieben [...] diese Gefilde gänzlich unbekannt; das bosnische Dornröschen schlief noch den jahrhundertelangen Zauberschlaf und fand seine Auferstehung erst, als die kaiserlichen Truppen die Grenzen überschritten und die neue Aera einleiteten. Jetzt wurde das Dickicht, das um Dornröschens Schloss wucherte, gelichtet und nach rastloser und schwerer Arbeit von nicht zwei Jahrzehnten steht Bosnien bekannt und geachtet vor der Welt. Was in diesem Lande geleistet wurde, ist fast beispiellos in der Kolonialgeschichte [!] aller Völker und Zeiten [...].38 Auch den in Europa jetzt so zahlreichen Kolonialpolitikern ist ein Besuch zu empfehlen; in Bosnien wird praktische Kolonialpolitik [!] getrieben und was geleistet wurde, stellt den leitenden Personen und Oesterreich-Ungarn im Allgemeinen das höchste Ehrenzeugniss aus. Einst gänzlich zurückgeblieben, reiht sich heute die bosnische Schwester europäischen Ländern als würdige Genossin an.39 An dieser Stelle könnte man den kulturalistischen Faden Osterhammels aufgreifen und – ganz im Stil der Post/Colonial Studies unserer Gegenwart – argumentieren, dass es sich hier weniger um sozial- und politikwissenschaftliche Befunde, sondern um kulturelle Befindlichkeiten handelt. Es ginge also nicht darum, ob Österreich-Ungarn tatsächlich eine Kolonialmacht sensu stricto gewesen ist und damit den westeuropäischen Großmächten ähnlicher als angenommen; interessanter wäre die Frage nach dem kulturellen Ausdruck beziehungsweise Niederschlag von Dominanzverhältnissen zwischen Herrschaftszentren und beherrschten, andersethnischen Peripherien – insbesondere, als der Kultur ja in der Definition Osterhammels eine zentrale Rolle bei der Formulierung, Vermittlung und Interpretation solcher Herrschaftsverhältnisse zukommt.40 Als eines von vielen Beispielen für österreichisch-ungarische Formen der Identitätspolitik, das heißt der strategischen Erzeugung kultureller Differenz, soll hier ein besonders anschaulicher Textbeleg wiederholt41 werden; es han- 116 delt sich um ein ethnographisches Werk aus und über Siebenbürgen (Transsylvanien), das eine ethnische Hierarchie insinuiert und dabei den Siebenbürger Sachsen die „goldene (bürgerliche) Mitte“ zuweist gegenüber den „unzivilisierten“ rumänischen Bauern und der latent „verschwenderischen“ ungarischen Gentry: Ziehen wir neben diesem Kastenunterschied [!], der sich auch auf die Jugend erstreckt, noch einen gewissen Hang zum beschaulichen Leben, womöglich ohne Arbeit und Mühe, in Betracht, so dürfen wir uns nicht im geringsten darüber wundern, daß der transsilvanische Rumäne sich selten über die allerprimitivsten Lebensverhältnisse emporschwingt; denn wahr bleibt es immerhin, daß ihm der Wahlspruch gilt: Sitzen sei besser als Gehen, Liegen besser als Sitzen, Schlafen besser als Wachen, das Beste von allem aber ist das Essen! Auf diesen unleugbaren Umstand ist daher zurückzuführen die traurige Bemerkung mancher Philoromanen, daß der rumänische Bauer, trotz aller Gleichheit vor dem Gesetze, noch immer in einer ärmlichen Hütte, der magyarische Herr und der sächsische Bürger aber in einer bequemen Stadt- oder Landwohnung lebt. Dieser Hang zu einem beschaulichen Leben muß auch auf seine Intelligenz übertragen werden; er ist begriffstutzig [sic] und verhält sich abwehrend gegen jede neue Idee, die man ihm beibringen will.42 Formen dieser Rhetorik einer stur primitiven „Faulheit“, die der zivilisierten „Anleitung“ bedarf, finden sich nahezu weltweit, ob es sich nun um Afrikaner, „Orientalen“ oder um Finnen unter zaristischer Herrschaft handelt. Will man sich nun in Bezug auf die k.u.k. Monarchie auf die oben skizzierte Sichtweise der kulturellen Imagination und Vermittlung einlassen, so wären dann vor allem Bilder des Eigenen und Fremden in den diversen Medien (Gebrauchstexte, Literatur, Bildmedien et cetera) der habsburgischen Kultur/en im großen Rahmen – oder zumindest in stringenten Stichproben – zu untersuchen;43 es handelt sich dabei meist um Formen der Konstruktion von „Identität“ beziehungsweise „Gemeinschaft/en“44 – seien diese nun Ethnien, Nationen oder die Staatsnation (das „Reich“) Österreich(-Ungarn) selbst – die der Folie eines jeweils „Anderen“ bedürfen. Hier könnte sich die These als sehr fruchtbar erweisen, dass sich die Imagination von Auto- und Heterostereotypen45 unter Bedingungen der Fremdherrschaft in innerkontinentalen Vielvölkerstaaten und in transkontinentalen Kolonialreichen durchaus ähneln können,46 wie zum Beispiel in den zitierten pathetischen Inszenierungen eines „Zivilisationsgefälles“: Allerdings funktionieren innerhalb des Machtgefüges Europa nicht alle diskursiven Oppositionen [...] auf dieselbe Weise. Während die Paare Metropole vs. Peripherie und Zivilisation vs. Barbarei/Archaik in beiden Fällen analog figuriert sind, 117 sind bei der Frage der Ethnie und der Konfession andere, innereuropäische „Maßstäbe“ relevant. 47 Diese „postkolonialen“ Frageperspektiven, welche die Wiener Romanistin Birgit Wagner exemplarisch in Bezug auf Sardinien entwickelt hat, könnten durchaus auch im zentral- und (süd)osteuropäischen Kontext als Anregung dienen. Genauso aber ließen sich hier folgende Phänomene beschreiben: „Erosion und Neu-Erfindung von Identität, sprachliche und kulturelle Hybridisierungsprozesse, Re-Lokalisierungen.“48 Abgesehen von diesen meist positiv konnotierten Ausprägungen multiethnischen Zusammenlebens ist freilich – wie schon die anzitierten Textquellen suggerieren – auch im zentraleuropäischen Kontext zu beachten, dass eine hegemoniale Kultur so etwas wie Definitionsmacht ausübt. Dies hat zum produktiven Missverständnis des Wiener Slawisten Stefan Simonek geführt, der monierte, man wolle bei derartigen Habsburg-Forschungsprojekten49 lediglich mit deutschsprachigen Quellen arbeiten und etwa die subalternen südslawischen Kulturen „nur als stummes Objekt [des hegemonialen Diskurses, CR], nicht aber als selbst sprechendes Subjekt zur Kenntnis“ nehmen.50 Dem ist keineswegs so: Ein komparatistisches Herangehen an den Untersuchungsgegenstand in Form von (kontrastiven) Lektüren kultureller Texte „gegen den Strich“ – Edward Saids „contrapuntal reading“51 – versteht sich von selbst. Wohl aber gilt es auch zu berücksichtigen, dass die deutsch-österreichische und die ungarische Kultur über Machtprivilegien verfügen, um ihre Bilder und Sichtweise(n) durchzusetzen; am extremsten zeigt sich das in einem Polizeitext der k.u.k. Militärverwaltung in Montenegro aus dem Ersten Weltkrieg, wo der Geruch (und damit ein Hygiene-Diskurs) zum selektiven Merkmal sozialer wie ethnischer Differenz für die sanktionierende Behörde wird: Der Tischler riecht nach Firnis, der Maschinist nach Schmieröl, der Krankenwärter nach Karbol, der Pferdeknecht hat den bekannten Stallgeruch, die Zigeuner den lange in einem geschlossenen Raum wahrnehmbaren Zigeunergeruch etc. Schließlich wird auf den ganz eigenartigen Geruch serbischer Soldaten (Gefangener) aufmerksam gemacht.52 Ein anderes denkwürdiges Phänomen ist, dass nicht-hegemoniale Kulturen nicht nur dazu tendieren, diese aufoktroyierten und vielfach entwürdigenden Bilder zu verweigern, sondern sie ebenso durch Habitualisierung53 zu verinnerlichen: Herrschaft funktioniert nicht nur mit Gewaltmitteln und 118 ökonomischem Druck, sondern auch durch eine gewisse kulturelle Akzeptanz der Betroffenen den an sie herangetragenen Fremdbildern gegenüber.54 Damit ist jedoch nicht gesagt, dass es innerhalb von „beherrschten“ Kulturen keine opponierenden, subversiven oder hybridisierenden Perspektiven gäbe (will man nicht eines der wesentlichen Existenzprinzipien von künstlerischem Schaffen überhaupt in Frage stellen): „If culture means the critique of empires, it also means the construction of them. [...] The national unity which is sealed by Culture is shattered by culture“ (Terry Eagleton).55 Dies alles ließe sich etwa an einem satirischen Text des ukrainischen Autors Ivan Franko zeigen, der 1901 in Form einer Galizischen Schöpfungsgeschichte die ethnische als soziale Differenz von ruthenischen Bauern und polnischen Gutsherren – ohne sie explizit zu nennen – am Produktimage von Schnaps und Wein festmacht und gleichzeitig sozialkritisch konterkariert: Im Anfang war der Schnaps. Er war zuerst chaotisch. Ein jeder durfte ihn brennen, verkaufen oder auch höchsteigen trinken. Da kam aber der Ungarwein ins Land. Und der war theuer. Und so schied Gott die Schnapstrinkenden von den Weintrinkenden und gab den letzteren eine Gewalt über die ersteren. Und so kam es, daß die einen nur den Schnaps brennen und trinken mußten, aber brennen für die anderen und trinken für ihr gutes Geld – die anderen aber bekamen den fertigen Schnaps und verkauften ihn für ihre Rechnung, um sich mit Ungarnwein volltrinken zu können.56 So werden die k.u.k. Kulturen auch zu Medien eines ethnisch kodierten „Kampfes um Bedeutung“. Wie die österreichische Historikerin Heidemarie Uhl zu Recht eingeworfen hat, sollte aber eine „postkoloniale“ Sichtweise des habsburgischen Zentraleuropa „nicht dazu führen, die Vielschichtigkeit von ethnisch-nationalen Konfliktlagen und die Entwicklung von Konsenskonzepten auf das dichotome Muster einer hierarchischen Differenz zwischen hegemonialer Elitenkultur und ,kolonisierten‘ [...] Nationalitäten zu reduzieren“ und so „die Vorstellung eines homogenen ,Anderen‘ zu generieren“57 – wie wohl auch aus den zitierten Textbeispielen hervorgegangen ist. „Kolonialismus“ als (heuristische) Metapher und Anstoß Man kann nun freilich in der Hypothese einer Binnenkolonisierung in Österreich-Ungarn auch nichts Anderes als eine – mitunter polemische – Metapher sehen. Damit ist vielfach die Problematik verbunden, dass jener Kolonialismusvorwurf gegen eine Zentralmacht häufig schon im Rahmen nationalis- 119 tischer Diskurse seit dem 19. Jahrhundert selbst so weit instrumentalisiert wurde, dass er im 21. Jahrhundert eine unbeabsichtigte Parteinahme, ja Desavouierung des externen wissenschaftlichen Beobachters bedeuten könnte. Diesem Vorwurf ist leicht zu opponieren, waren doch die Post/Colonial Studies seit den Arbeiten von Edward Said58 bestrebt, den nur schwer abreißenden Gewaltzyklus zu beschreiben, wo die Vorherrschaft bestimmter ethnischer Gruppen, die sich meist hinter dem pathetischen Unionismus der Großreiche verbirgt, und die nationalistische Gegengewalt der Dekolonisation einander bedingen, also beide nicht zu einem wie auch immer gearteten politischen remedium taugen (im Wechselspiel zwischen Vielvölkerstaaten und ihren internen Nationalismen wird letztlich immer „Teufel mit Beelzebub ausgetrieben“ – wenn man den politischen Problemkern polemisch fassen möchte). Trotzdem wäre noch weiter zu fragen, was eine „postkoloniale“ Zugangsweise konkret in einem (zentral)europäischen Kontext leisten kann,59 will sie mehr sein als eine politisch korrekte Trauerarbeit, die pikanterweise häufig in den ehemaligen Herrschaftszentren ihren Ausgang genommen hat. Der in Hongkong lehrende österreichische Kulturwissenschaftler Markus Reisenleitner hat ebenso wie Heidemarie Uhl darauf aufmerksam gemacht, dass das vorgeschlagene postkoloniale Modell vor allem eine Lesart sei („an interdisciplinary set of reading practices“), die dem „habsburgischen Mythos“ opponiert: „a desire to make a political intervention against appropriations of the idea of Central Europe as an essentialized space with a common heritage and a common culture for contemporary political claims of hegemony and nostalgia through glorified imaginings of the Habsburg past.“60 Es geht hier also auch um so etwas wie eine Reevaluation der habsburgischen Vergangenheit, ja um ein „Reinventing Central Europe“,61 hinter dem nicht selten (partei-)politische Perspektiven stehen – verstehen sich doch etwa die österreichischen Konservativen bis zum heutigen Tag vielfach als Bewahrer des habsburgischen Erbes und dessen „multikultureller Tradition“ in „Mitteleuropa“. „Postkoloniale“ Zugangsweisen dienen nun häufig der Hinterfragung gerade jenes naiven Verständnisses von „Multikulturalismus“. Die Kritik Reisenleitners läuft darauf hinaus, dass postkoloniale Theorien von den „neuen Kakanier/innen“ als „Werkzeugkasten“ („a tool set“) betrachtet werde, den man ohne Rücksicht auf die konkrete Machtsituation der amerikanischen „academic hegemony“, in der er entstanden sei, auf Österreich-Ungarn übertragen könne. Dieser Transfer-Problematik ist leicht intern zu entgegnen, dass gerade das displacement jener theoretischen Ansätze – die selbstverständlich in sich selbst als divergent anzusehen sind – die beste 120 Gewähr bieten, diese ganz im Sinne postkolonialer Theoriebildung62 aus ihrer Befangenheit beziehungsweise ihrer konkreten und nicht immer klaren politischen und institutionsgeschichtlichen Verortung zu lösen. Nützlicher als diese etwas angestaubt anmutenden prinzipiellen Vorbehalte gegen akademische Aktivitäten als Machtpraktiken – die man besser unterlässt, will man nicht stante pede die eigene Forschungsarbeit beenden müssen63 – sind indes die konkreten Anregungen von Reisenleitners Text: - Did the Habsburg lands have something comparable to the essentializing and morally loaded concept of „Englishness“, so strongly tied to the British empire, its language and its literary canon? This question was raised by Edward Said when he explains why he specifically does not talk about some parts of the world, including the Habsburg monarchy.64 - [The] nexus between nation and narration could usefully be unpacked and unhinged in a critique of hegemonic cultural practices in the Habsburg lands.65 - There can be no doubt that even the most marginalized and oppressed ethnicities in the Habsburg monarchy had access to relatively good printing and publishing resources, but this does not imply that they were not subaltern, or that the concept of subalternity cannot be fruitful in considering the situation there; it does imply, however, that the concept of voice has to be even more refined than it has already been in the context of India and the Subaltern Studies Group.66 - How can it be avoided that such a movement promotes, intentionally or unintentionally, the same recentralization and hegemony of knowledge production that it sets out to criticize?67 (Diese Problematik stand etwa beim erwähnten Forschungsprojekt FWF 14727 im Mittelpunkt – die Lösung liegt in der Errichtung eines möglichst dezentralen Netzwerks an Mitarbeiter/innen, das ebenso in der Lage ist, die Sünden der Nationalgeschichtsschreibung und -philologie in einem Kaleidoskop aufzulösen.) Reisenleitner träumt durchaus im Sinn dieser geplanten Projekte von a serious engagement with postcolonial theory not so much in terms of an „application“ but rather as a project of juxtaposition that re-shuffles the deck and thus provides a platform for tangential and guerilla readings that do not fall prey to oversimplifications and remain stuck in legitimizing binaries of dominance and oppression. Engaging with the terms and reading practices of postcolonial theory could very well help to displace the terms of opposition in which the question of „applicability“ is couched (e.g. center and periphery, dominant vs. suppressed ethnicities, but also the concept of a Leitkultur).68 Diese Vision teilen wahrscheinlich die meisten in derartige Forschungsprojekte Involvierten. In diesem Kontext wäre die Postkolonialismus-Debatte dann nichts Anderes als eine heuristische Metapher, die die Aufmerksamkeit auf 121 die Modellierung kollektiver Identitäten (oder Identifikationen) unter den Herrschafts- und Kulturbedingungen des k.u.k. Vielvölkerstaats lenkt – in jener Zeitumgebung, da die EU drauf und dran ist, ein neues, besseres Staatengebilde schaffen zu müssen. Gerade unter diesen Vorzeichen – so schreibt Heidemarie Uhl unter Berufung auf Moritz Csáky – werde das späthabsburgische „Spannungsfeld zwischen der Anerkennung von Differenz und den subtilen Mechanismen kultureller Hegemonie [...] zu einem ,Laboratorium gegenwärtiger Problemlagen‘“69 (Literaturkenner/innen mögen hier freilich das Kraus’sche Wort von Österreich-Ungarn als der „Versuchsstation des Weltuntergangs“ durchhören.) Allein schon deshalb sollte es nie so weit kommen, wie der österreichische Diplomat und Historiker Emil Brix selbstkritisch und pro domo auf einer Budapester Tagung im November 2002 meinte: Eine „post/koloniale“ Zugangsweise zu den Kulturen der k.u.k. Monarchie und ihrer Nachfolgestaaten, die als Gegenmodell zum Habsburgischen Mythos gedacht sei, laufe nolens volens Gefahr, dessen letztes historisches rescue team zu werden. Anmerkungen 1 Jürgen OSTERHAMMEL, Kolonialismus. Geschichte – Formen – Folgen, München 32001, S. 8. 2 Vgl. etwa die laufende Diskussion auf der wissenschaftlichen Internetplattform www.kakanien.ac.at; weiters den Sammelband: Wolfgang MÜLLER– FUNK, Peter PLENER, Clemens RUTHNER (Hg.), Kakanien revisited. Das Fremde und das Eigene (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie, Tübingen–Basel 2002 (Kultur – Herrschaft – Differenz 1); darin exemplarisch: Wolfgang MÜLLER-FUNK, Kakanien revisited. Über das Verhältnis von Herrschaft und Kultur, ebenda, S. 14–32. 3 Vgl. Clemens RUTHNER, „K.u.k. (post-)colonial“? Prolegomena zu einer neuen Sichtweise Österreich-Ungarns in den Kulturwissenschaften, in: newsletter Moderne 1, 4 (2001), S. 5–8; erw. Fassung in: Kakanien revisited, S. 93–103. Internetabdruck unter: www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/CRuthner1.pdf [2001]; vgl. DERS., Kulturelle Imagines und innere Kolonisierung. Ethnisch kodierte Selbst- und Fremdbilder in der k.u.k. Monarchie – eine Projektskizze, in: Klaus ZEYRINGER, Moritz CSÁKY (Hg.), Paradigma Zentraleuropa III, Innsbruck–München 2002, S. 30–53. 4 Vgl. die Lemmata „Kolonien (I und II)“, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, hg. von Erwin v. BECKERATH u. a., Stuttgart 1956–68, Bd. 6, S. 57–74. Eine Theoriebildung deutscher Provenienz in Sachen (Post-)Kolonialismus wäre freilich ein interessantes Objekt für eine eigene Untersuchung. Bei den erwähnten Handwörterbuch-Artikeln etwa fällt auf, wie sie einerseits verhalten 122 5 6 7 8 9 10 11 12 13 kolonialismuskritisch auftreten, andererseits eine Fundgrube nicht nur für rousseauistische, sondern auch für rassistische Klischees (nach 1945!) darstellen, zum Beispiel, wenn von der „Rassenmischung“ in den Kolonien die Rede ist: „Die Verbindung zwischen Individuen verschiedener Rassen bringt im allgemeinen Individuen hervor, die durchschnittlich hochwertiger sind als die Vorfahren. [...] Natürlich gibt es auch Vermischungen, bei denen die Nachkommen minderwertiger [...] sind, so die Mischlinge von Weißen und Negern, die Mulatten“; (ebenda, hier S. 60). Von „Hybridität“ kann hier also noch keine Rede sein. Rupert EMERSON, Colonialism [Lexikonartikel], in: International Encyclopaedia of the Social Sciences, hg. von David L. SILLS, New York–London 1968, Bd. 3, S. 1–5, hier S. 1. Vgl. International Encyclopaedia of the Social & Behavioural Sciences, hg. von Neil J. SMELSER und Paul B. BALTES, Amsterdam u. a. 2001, Bd. 4, S. 2237– 2245; vgl. OSTERHAMMEL, Kolonialismus, S. 21. Richard HODDER-WILLIAMS, Colonialism: Political Aspects, in: International Encyclopaedia of the Social & Behavioural Sciences, S. 2237–2240, hier S. 2238; vgl. OSTERHAMMEL, Kolonialismus, S. 19; vgl. Wolfgang REINHARD, Kleine Geschichte des Kolonialismus, Stuttgart 1996, S. 1. Ähnliche Bedingungen für den kolonialen Status eines Gebiets nennt schon das deutsche Handwörterbuch der Sozialwissenschaften von 1958: „daß die Entstehung des Staates der Gründung der Kolonie vorhergegangen war“ (S. 57) und „daß die Kolonie in einem Abhängigkeits- oder Inferioritätsverhältnis zum Mutterland steht, sei es wegen ihrer weiten Entfernung [...], sei es, weil ihre einheimische Bevölkerung als rassisch minderwertig [!] gilt“ (ebenda). Vgl. etwa OSTERHAMMEL, Kolonialismus, S. 7–22. Wolfgang REINHARD, History of Colonization and Colonialism, in: International Encyclopaedia of the Social & Behavioural Sciences, Bd. 4, S. 2240– 2245, hier S. 2240; vgl. REINHARD, Kleine Geschichte des Kolonialismus, S. 1. Vgl. HODDER-WILLIAMS, Colonialism, S. 2237; vgl. Hannah ARENDT, Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, Frankfurt a. M. 1955, insbesondere S. 309 ff.; vgl. Edward SAID, Culture and Imperialism, London u. a. 1994; vgl. OSTERHAMMEL, Kolonialismus, S. 26 ff.; vgl. REINHARD, Kleine Geschichte des Kolonialismus, S. 1; vgl. auch Michael HARDT, Antonio NEGRI, Empire, Cambridge (Mass.)–London 2000. Vgl. OSTERHAMMEL, Kolonialismus, S. 78–88. Hier werden folgende features kolonialer Wirtschaft genannt: „Beutewirtschaft“ der Kolonisatoren (wie beispielsweise Bodenschätze), „Übernahme der Steuerhoheit sowie der Kontrolle über Außenhandel und Währung durch Fremde“ (S. 79), Festschreibung der Kolonialökonomie auf Landwirtschaft (Bauernhaushalte beziehungsweise Plantagen, S. 81–86), während eine Industrialisierung weitgehend unterbleibt (S. 87–88). Eine Diskussion militärischer Aspekte – und inwieweit diese Prätextcharakter für die Politik haben – muss hier aus Platzgründen leider unterbleiben. Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 6, S. 69. Im Weiteren wird auf 123 14 15 16 17 18 19 20 21 „die größten Verschiedenheiten in Bezug auf die staatsrechtliche Stellung der Eingeborenen“ (S. 72) in den jeweiligen Kolonien der europäischen Mächte hingewiesen: Es gäbe dort meist keine Gleichheit vor dem Gesetz, aber etwa teilweise das Fortbestehen alter Partikularprivilegien (S. 72), die parallele Existenz zweier Rechtssysteme („Europäerrecht“ versus „Eingeborenenrecht“, S. 72–73), spezielle Eigentumsrechte in Bezug auf Grundbesitz und unegalitäre Sozialrechte (S. 73). Wesentlich ist in jedem Fall der Status rechtlicher Ungleichheit zwischen den Kolonisatoren und den Kolonisierten. Vgl. auch die abstraktere Kolonie-Definition bei OSTERHAMMEL, Kolonialismus, S. 16. Das Handwörterbuch der Sozialwissenschaften unterscheidet etwa zwischen Gebieten, die Kolonien „im juristischen Sinne“ sind, von solchen, die „nur in sozialer Hinsicht kolonialen Status haben“ (USA, Neuseeland historisch gesehen) (S. 57). Typologisch wird weiters zwischen Siedlungskolonien („die den Bevölkerungsüberschuss des Mutterlandes aufnehmen“ – zum Beispiel die USA, Australien, Neuseeland), Ausbeutungskolonien (z.B. die iberischen Kolonien in Lateinamerika), Handelskolonien (z.B. die Besitzungen der venezianischen Republik am Mittelmeer), strategischen Kolonien (zum Beispiel Hongkong, Gibraltar) und Kolonien für besondere Zwecke (Strafkolonien, Wetterstationen und Ähnliches) differenziert (S. 58); was die Beziehungen zwischen Mutterland und Kolonie betrifft, macht das Handwörterbuch Unterschiede zwischen Niederlassungen, Eroberungskolonien, Assoziationskolonien, Assimilationskolonien und autonomen Kolonien (ebenda). Vgl. dazu REINHARD, History of Colonization and Colonialism, S. 2242–2243 sowie DERS., Kleine Geschichte des Kolonialismus, S. 2–3, wo nur zwischen Herrschafts-, Stützpunkt- und Siedlungskolonien unterschieden wird (wie auch bei OSTERHAMMEL, Kolonialismus, S. 17–18). EMERSON, Colonialism, S. 1. Vgl. REINHARD, History of Colonization and Colonialism, S. 2240–2241. HODDER-WILLIAMS, Colonialism: Political Aspects, S. 2239; vgl. OSTERHAMMEL, Kolonialismus, S. 22. Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 6, S. 69. Vgl. ARENDT, Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, S. 359 ff., wo zwischen „überseeischem“ und „kontinentalem Imperialismus“ unterschieden wird beziehungsweise Zusammenhänge sichtbar gemacht werden. Dies erinnert an den Gegensatz von „Meerschäumern“ und „Landtretern“ bei Carl SCHMITT, Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung [1942], Köln 1981; vgl. ARENDT, Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, S. 361. Arendt macht beispielsweise „eine Art von Konkurrenzneid auf England“ hinter den innereuropäischen Expansionsbestrebungen Deutschlands, ÖsterreichUngarns und Russland geltend (ebenda.). Bei SAID, Culture and Imperialism, ist etwa auf S. xvi und S. 8 von einem „white colonialism“ die Rede, mit dem etwa die britische Herrschaft über Irland gemeint ist. Vgl. Robert J. HIND, The Internal Colonial Concept, in: Comparative Studies in Society and History 26 (1984), S. 543–568; vgl. Hans-Heinrich NOLTE (Hg.), Internal Peripheries in European History, Göttingen 1991. 124 22 „Der Begriff der ,Inneren Kolonisierung‘ umfasst Prozesse, die sich innerhalb eines Subjekts ereignen, das sich – wie ein Territorium – als entdeckt, erforscht und kolonisiert beschreibt. Die Darstellung der ,inneren Kolonisierung‘ geht von Bildern der äußeren Kolonisierung aus. Territoriale Eroberungen und Besetzung geographischer Gebiete schreiben sich bis zu Breitengraden eines Ich fort, das historisch kolonisiert ist oder sich in Beziehung zu historisch Kolonisierten setzt.“ (Andrea ALLERKAMP, Die innere Kolonisierung. Bilder und Darstellungen des/der Anderen in deutschsprachigen, französischen und afrikanischen Literaturen des 20. Jahrhunderts, Köln–Wien–Weimar 1991, S. 1). 23 Kein einziger der konsultierten Texte zum Thema „Kolonialismus“ erwähnt die Habsburgermonarchie, wohl aber Russland. Vgl. auch Walter SAUER (Hg.), k.u.k. kolonial. Habsburgermonarchie und europäische Herrschaft in Afrika, Wien–Köln–Weimar 2002, S. 7–8. 24 Vgl. Adam HOCHSCHILD, Schatten über dem Kongo. Die Geschichte eines der großen, fast vergessenen Menschheitsverbrechen (übers. von Ulrich ENDERWITZ u. a.), Stuttgart 2000. 25 Vgl. etwa Stein ROKKAN, Centre periphery structures in Europe. An ISSC Workbook in Comparative Analysis, Frankfurt a. M. 1987. 26 Ein gegenwärtig in Planung befindliches FWF-Projekt unter der Leitung von Wolfgang MÜLLER-FUNK (Zentren und Peripherien. Kulturen und Herrschaftsverhältnisse Österreich-Ungarns 1867–1918) wird sich der Erforschung dieser Problematik widmen. 27 Vgl. Raymond DETREZ, Colonialism in the Balkans. Historic realities and contemporary perceptions, in: www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/RDetrez1.pdf [2002]; vgl. Maria TODOROVA, Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil (aus dem Engl. von Uli Twelker), Darmstadt 1999, S. 35–36. 28 Auf Grund des Landesstatuts von 1910 in Form eines Kurienwahlsystems, geteilt nach Konfessionen. Dadurch, dass Bosnien und die Herzegowina gleichsam als Corpus separatum gemeinsam von Cisleithanien und dem Königreich verwaltet wurden, waren bosnische Abgeordnete weder im Reichsrat noch im ungarischen Parlament vertreten. (Diese Information verdanke ich dem Grazer Historiker Christian Promitzer, vgl. auch seinen Beitrag im vorliegenden Sammelband.) 29 Der Verfasser des vorliegenden Beitrages arbeitet an einem größeren kulturwissenschaftlichen (Habilitations-)Projekt zum Thema Konstruktionen des Fremden in der österreichischen Literatur und Kultur: Bosnien-Herzegowina 1878–1918. 30 OSTERHAMMEL, Kolonialismus, S. 21 [im Original kursiv]. 31 Ebenda, S. 20 [im Original kursiv]. 32 Ebenda, S. 113–116 [im Original kursiv]. 33 Ebenda, S. 22. 34 Claudio MAGRIS, Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur [ital. Erstausgabe 1966], Wien ³2000, S. 26. 35 REINHARD, Kleine Geschichte des Kolonialismus, S. 7. Auch hier wäre meiner Einschätzung nach streng genommen zwischen „Kolonisation“ im Sinne von Besiedlungspolitik und „innerem Kolonialismus“ in einem globaleren Sinn terminologisch zu unterscheiden. 125 36 Hilde ZALOSCER, Eine Heimkehr gibt es nicht. Ein österreichisches curriculum vitae, Wien 1988, S. 14, S. 24, S. 32, S. 129. 37 Vgl. dazu RUTHNER, „K.(u.)k. postcolonial“?, S. 93–94, S. 96–97. 38 Durch Bosnien und die Hercegovina kreuz und quer. Wanderungen von Heinrich RENNER, Berlin 1896, S. V [Rechtschreibung wie im Orig.]. 39 Ebenda, S. 480. 40 Vgl. dazu die Beiträge in: SAUER, k.u.k. kolonial, 2002 (zur Stellung ÖsterreichUngarns in der europäischen Kolonialpolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert) beziehungsweise in: MÜLLER-FUNK u. a., Kakanien revisited (zum kulturellen und vor allem literarischen Niederschlag binnenkolonialer Verhältnisse). 41 Vgl. RUTHNER, „K.(u.)k. postcolonial“?; vgl. DERS., Kulturelle Imagines und innere Kolonisierung. 42 Heinrich von WLISLOCKI, Aus dem Leben der Siebenbürger Rumänen, in: Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge, hg. v. Rudolf VIRCHOW und Wilhelm WATTENBACH, Hamburg 1889/90, S. 579–619, hier S. 603. 43 Dies geschieht gegenwärtig im Rahmen des FWF-Projekts 14727 unter dem Titel Herrschaft, ethnische Differenzierung und Differenz in Österreich-Ungarn 1867– 1918; Informationen dazu und erste Ergebnisse auf der Internet-Plattform www.kakanien.ac.at. 44 Grundlegend dazu: Benedict ANDERSON, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts ( übers. von Benedikt Burkard und Christoph Münz), Berlin 1998; vgl. Jürgen LINK, Wulf WÜLFING (Hg.), Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität, Stuttgart 1991; vgl. Moritz CSÁKY, Elena MANNOVÁ (Hg.), Collective Identities in Central Europe in Modern Times, Bratislava 1999. 45 Vgl. Hugo DYSERINCK, Karl Ulrich SYNDRAM (Hg.), Europa und das nationale Selbstverständnis. Imagologische Probleme in der Literatur, Kunst und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts, Bonn 1988; vgl. Michael PICKERING, Stereotyping. The Politics of Representation, Basingstoke–New York 2001. 46 Eine andere Frage ist, ob die zeitgenössische Völkerpsychologie, der Kolonialismus sowie das ethnische Gefüge in Vielvölkerstaaten um 1900 nicht allesamt konkrete Ausprägungen eines übergreifenden modernen Konzepts von Identität und Alterität im Spannungsfeld von Macht(begehren) sind, die dann wohl globaler – etwa mit anthropologischen Methoden – zu beschreiben wären. 47 Vgl. Birgit WAGNER, Postcolonial Studies für den europäischen Raum. Einige Prämissen und ein Fallbeispiel, in: Christina LUTTER, Lutz MUSNER (Hg.), Kulturstudien in Österreich, Wien 2002, sowie in: www.kakanien.ac.at/beitr/ theorie/BWagner1.pdf [2002], S. 1. 48 Ebenda, S. 2. Analysen zu Hybridisierung und Mehrsprachigkeit bei slawischen Autoren der Monarchie unter anderem bei Stefan SIMONEK, FehlLektüren der Wiener Moderne. Tadeusz Rittner versus Josef Svatopluk Machar, in: www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/SSimonek1.pdf. 49 Erwähnt sei hier neben dem FWF-Projekt 14727 auch das Vorhaben von Diana 126 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 Reynolds zu Bosnien in Ikonografie und Kunstgewerbe um 1900; vgl. ihren Beitrag im vorliegenden Sammelband. Vgl. Stefan SIMONEK, Mit Clemens Ruthner unterwegs im Wilden Osten, in: newsletter Moderne 2, 4 (2001), S. 30–31 und in: www.kakanien.ac.at/rez/ SSimonek1.pdf [2002], S. 1 [im Original]. Zu den Leistungen dieses Textes gehört, auf Modelle der sowjetischen Kultursemiotik (Jurij Lotman) als heuristisch interessante Parallelaktion zu postkolonialen Herangehensweisen aufmerksam gemacht zu haben. SAID, Culture and Imperialism, S. 78. K.u.k. Militär-Gouvernement in Montenegro: Gesichtspunkte für den kriminellen Ausforschungsdienst, Cetinje 1916, S. 5. Zur aktuellen Fassung der Habitustheorie vgl. Pierre BOURDIEU, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft (übers. von Achim RUSSER u. a.), Frankfurt a. M. 2001, S. 165 ff. Wie zum Beispiel das Narrativ von der nicht-europäischen, „asiatischen“ Herkunft der Ungarn, das in deutschnationaler Polemik zum Motiv des Ausschlusses, in ungarischen Texten aber zur Identitätsstiftung instrumentalisiert wird (vgl. Cornelia GROSSER u. a., Genug von Europa. Ein Reisejournal aus Österreich-Ungarn, Wien 1999, S. 124 ff.). Terry EAGLETON, The Idea of Culture, Oxford 2000, S. 44 und S. 62. Ivan FRANKO, Die galizische Schöpfungsgeschichte, in: Die Zeit XXVII/341 von 13.4.1901, S. 18. Interessant sind hier auch folgende Hybridisierungsprozesse beziehungsweise Allianzen, die der Text suggeriert: ethnische Kodierungen der Herrschaft („polnisch“ und „ungarisch“) werden hier quasi synonym; andererseits erscheint dieser sozialkritische Text eines ukrainischen Autors in der Hegemonialsprache Cisleithaniens (Deutsch) in einem Periodikum des Herrschaftszentrums Wien. Zum Hybriditätsdiskurs vgl. Endre HARS, Hybridität als Denkfigur. Homi K. Bhabhas theoretisches Engagement, in: www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/EHars1.pdf; vgl. Jan NEDERVEEN PIETERSE, Der Melange-Effekt. Globalisierung im Plural, in: Ulrich BECK (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a. M. 1998, S. 87–124. Zu Ivan Franko vgl. den Beitrag Stefan Simoneks in diesem Band. Heidemarie UHL, Zwischen „Habsburgischem Mythos“ und (Post-)Kolonialismus. Zentraleuropa als Paradigma für Identitätskonstruktionen in der (Post-)Moderne, in: newsletter Moderne 1, 5 (2002), S. 2–5 und in: www.kakanien.ac.at/ beitr/theorie/HUhl1.pdf [2002], S. 3. Vgl. dazu die aktuelle Auseinandersetzung bei Ursula REBER, Kolonialismus im „Osten“? Imperialismus, Orientalismus und das „Reale“ bei Edward Said, in: www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/UReber1.pdf [2002]. Vgl. auch die bereits erwähnten Vorschläge bei WAGNER, Postcolonial Studies für den europäischen Raum, 2002. Markus REISENLEITNER, Central European Studies in Search for a Theory, or: The Lure of „Post/colonial Studies“, in: Spaces of Identity 2, 2 (August 2002), siehe: www.spacesofidentity.net/. Vgl. UHL, Zwischen „Habsburgischem Mythos“ und (Post-)Kolonialismus, S. 1–2. 127 61 Steven BELLER, Reinventing Central Europe. Working Paper 92-95, Minneapolis 1991; vgl. Jacques LE RIDER, Mitteleuropa. Zusatz auf den Spuren eines Begriffes. Essay (aus d. Franz. von Robert Fleck), Wien 1994; vgl. Vladislav MARJANOVIC, Die Mitteleuropa-Idee und die Mitteleuropa-Politik Österreichs 1945–1995, Frankfurt a. M. u. a. 1998. 62 Vgl. dazu Homi K. BHABHA, The Location of Culture, London–New York 1994. 63 Da es nun einmal keine privilegienlosen und machtfreien Räume gibt, von denen aus Wissenschaft „glaubwürdiger“ sprechen könnte als im zugegebenermaßen prekären Rahmen von Universitäten, akademischen Verlagen und Kanons. 64 Vgl. SAID, Culture and Imperialism, S. xxii. 65 REISENLEITNER, Central European Studies in Search for a Theory. 66 Ebenda. 67 Ebenda. 68 Ebenda. 69 UHL, Zwischen „Habsburgischem Mythos“ und (Post-)Kolonialismus, S. 3. 128 Möglichkeiten und Grenzen postkolonialistischer Literaturtheorie aus slawistischer Sicht Stefan Simonek Konservativ und konventionell ausgerichtete slawistische Zeitgenossen tun sich wahrscheinlich schwer mit den bisher vorliegenden Versuchen, Ansätze der in erster Linie von Homi Bhabha geprägten postcolonial studies für die slawischen Kulturen der Donaumonarchie nutzbar zu machen – da wurde etwa im Rahmen einer Tagung, die im Sommer 2002 in Klosterneuburg stattfand, Marie von Ebner-Eschenbach aus postkolonialistischer Perspektive ein verzerrtes Bild der Tschechen in ihren Texten vorgehalten, gleichzeitig sprach die Referentin aber unter souveräner Außerachtlassung der tschechischen Orthoepik konsequent von einem Roman namens Bouèena (statt korrekt Bozena); wer sich im Besitze der postkolonialistischen Wahrheit befindet, ist offenbar jeglicher weiterer Annäherung an seinen Untersuchungsgegenstand enthoben. Ein analoges Beispiel scheint auch Endre Hárs’ vor kurzem vorgelegter Versuch darzustellen, Bhabhas Theoreme auf eine Erzählung des Tschechen Richard Weiner zu applizieren.1 Ohne hier die Resultate dieses Unternehmens selbst bewerten zu wollen, springt der Umstand ins Auge, dass der Verfasser lediglich mit der deutschen Übersetzung des Textes und unter völliger Ausblendung des entsprechenden Forschungsstandes in der Bohemistik gearbeitet hat. Auch in Bhabhas nicht gerade einfach zu lesender Studie mag dem Slawisten manches auffallen; so etwa Bhabhas extrem verkürzte, von seinem postkolonialistischen Anliegen deformierte Ansicht, Goethes kulturelles Konzept von Weltliteratur reiche nur bis nach England und Frankreich2 (zwei klassische Kolonialmächte), die den mannigfachen Verbindungen Goethes zur slawischen Welt keine Beachtung schenkt. Auch bei jenem Autor, den Bhabha zu einem der Hauptzeugen seines theoretischen Engagements macht, nämlich Joseph Conrad, springt ins Auge, dass dieser bei Bhabha einzig als Apologet des britischen Empire firmiert, ohne dass auf die Züge des Hybriden, ^ 129 zwischen den Kulturen Positionierten hingewiesen wird, für die sich die literarische Karriere des als Teodor Józef Konrad Korzeniowski in der heutigen Ukraine geborenen Autors doch in besonderem Maße anbieten würde. Conrads von Bhabha immer wieder zitierter Text Heart of Darkness mag auch den Ausgangspunkt meiner Überlegungen bilden, die zunächst um die Frage kreisen, in welcher Weise die slawischen Kulturen im Verbund der Donaumonarchie nicht nur als besprochene Objekte, sondern auch als ihrerseits sprechende Subjekte im Rahmen postkolonialer Theoriebildung positioniert werden können. Slawische Kulturen sollten aus der Position jenes rudimentären und defizitären Sprechens gelöst werden, das in Conrads Text der afrikanischen Bevölkerung konzediert wird und das der nigerianische Schriftsteller Chinua Achebe wie folgt kritisiert: „In the entire novel Conrad allows two sentences in broken English to Africans: the cannibal who says ,Catch ’im, eat ’im‘, and the half-caste who announces ,Mistah Kurtz – he dead‘.“3 Das Beharren darauf, slawischen Kulturen mehr an Artikulationsfähigkeit zuzugestehen als „Mistah Kurtz – he dead“, würde auch verhindern, dass diese sich in Form des hypostasierten totalen „Anderen“ plötzlich als Oppositionspaar in einer erneut konfigurierten binaristischen Gegenüberstellung wiederfinden; diese würde nämlich in der Annahme, slawische Kulturen könnten im Rahmen der Donaumonarchie einzig als sprachloses Objekt einer Kolonialisierung präsent sein, in wohlmeinender, aber nichtsdestotrotz paternalistischer Weise zu einer ungewollten Duplizierung des kolonialistischen Diskurses führen. Es wäre an dieser Stelle Bhabhas Postulat zu erwähnen, wonach (in der Formulierung von Elisabeth Bronfen) „die intersubjektiven Erzählungen, die ein Subjekt in seiner kulturellen Verortung wiederzugeben versuchen, von einer Situation ausgehen sollten, die eher durch Ambivalenz, Differenz sowie einer doppelten, wenn nicht sogar multiplen Sichtweise geprägt ist.“4 Umgelegt auf die konkrete literaturwissenschaftliche Arbeit könnte dies etwa bedeuten, dass das Bild, das deutschsprachige Reiseberichte, Briefe oder Autobiographien von den slawischen Kulturen der Monarchie im Sinne der Alterität zeichnen, in Rekurs auf die zuvor erwähnte doppelte Sichtweise mit entsprechenden slawischen Quellen gegengelesen werden sollte, so dass sich objektbezogenes Fremdbild und subjektbezogenes Selbstbild ergänzen und einander kommentieren. Ein heuristischer Ansatz, der generalisierend von einem flächendeckenden Kulturkolonialismus innerhalb der Monarchie ausgeht, greift meines Erachtens nach insofern zu kurz, als er ein einseitig vektoriales Bild zeichnet, in dem der kolonialisierende Impuls alleine von deutsch-österreichischer und ungarischer Seite ausgeht, 130 das aber in seiner Verallgemeinerung die hinter beziehungsweise unter dieser generellen Stoßrichtung verlaufenden, vielleicht als Mikro- oder Binnenkolonialismen zu bezeichnenden Prozesse übersieht. Als Beispiel für eine auf diese Weise revidierte Sicht könnte man etwa die Situation in Galizien heranziehen, die aus der Sicht des Zentrums wohl pseudokoloniale Züge aufweisen mag, wie Clemens Ruthner vermerkt, die sich aber doch etwas anders präsentiert, wenn man polnische und vor allem ukrainische Quellen heranzieht.5 Gerade in der ukrainisch-galizischen Belletristik der Jahrhundertwende wird die Auseinandersetzung mit dem politischen und kulturellen Zentrum Wien oft mit der Abwehr der als weit bedrohlicher und repressiver sowie viel unmittelbarer empfundenen Dominanz von polnischer Seite her verbunden beziehungsweise von dieser sogar überlagert. So bietet zum Beispiel das umfangreiche Werk von Ivan Franko mit der auf ukrainisch verfassten, aber mit einem deutschen Titel versehenen Erzählung Schönschreiben (1884) ein Paradebeispiel für den von Bhabha erwähnten „Triumph der öffiziösen [sic] Schrift der kolonialistischen Macht“6 in Hinblick auf die von Franko geschilderte Kalligraphiestunde in der Schule; daneben steht freilich Frankos im Jahre 1903 veröffentlichte Erzählung Otec’-humoryst [Ein Pater mit Humor], in der das Deutsche als mit Hilfe von Grammatikübungen eingesetztes Disziplinierungsmittel wiederum in der Schule mit dem Polnischen in analoger Funktion gegengeschnitten wird: Ó÷åíèê, ùî ñèä³â îá³ê ìåíå, âèêëèêàíèé ç í³ìåöüêî ãî , ìàâ ïåðåêëàñòè ðå÷åííÿ: Im Sommer herrscht grosse Hitze. ³í ïåðåêëàâ ïî-ïîëüñüêè: W lecie panuje wielkie gor¹co. Äàë³ éøëî ðå÷åííÿ: In der Hitze spazieren ist schädlich. Ó÷åíèê çàöóêàâñÿ. – W go... w gora... – Hy, ùo? ßê æå áóäå: In der Hitze? – W gor¹cem! – ßê-ÿê? – W gor¹cu. – Ãa-ra-ra! ßê-ÿê? – W go... go... gor¹coœci, – ï ð î áóëüêî ò³â çáèòèé ç ïàíòåëèêó xëoïeöü.7 [Der Schüler, der neben mir saß, wurde in Deutsch aufgerufen und mußte den Satz „Im Sommer herrscht große Hitze“ übersetzen. Er übersetzte auf polnisch: „W lecie panuje wielkie gor¹co“. Dann kam der Satz: „In der Hitze spazieren ist schädlich.“ Der Schüler verhaspelte sich. – W go... w gora... – Nun, also? Was heißt: „In der Hitze?“ – W gor¹cem! – Wie? 131 – W gor¹cu. – Ha-ha-ha! Wie? – W go... go... gor¹coœci, – stammelte der aus dem Konzept gebrachte Junge.] Aus Sicht der Ukrainer lässt sich der kolonialistische Impetus neben der österreichischen also auch der polnischen Seite zuschreiben. In polnischen Texten nun wird sich wohl auf der einen Seite Kritik an der österreichischen kolonialisierenden Herrschaft, auf der anderen aber auch ein nun seinerseits kolonialisierender Blick auf die Ukrainer finden lassen. Schon aus diesen Beispielen sollte klar geworden sein, dass sich eine eindimensionale, vektorial ausgerichtete Konzeption von Kolonialismus innerhalb der Monarchie aus slawistischer Sicht nicht halten lässt. Das zuvor skizzierte Bild lässt sich nämlich möglicherweise noch stärker in sich ausdifferenzieren, wenn man etwa die Darstellung der Huzulen in der ukrainischen Literatur über die Zuschreibung des Anderen, Exotischen und Ursprünglichen als binnenkolonialistischen Blick innerhalb einer Literatur beziehungsweise einer Ethnie bezeichnen möchte. So mag – um ein konkretes Beispiel aus der wissenschaftlichen Praxis zu bieten – eine Untersuchung des Huzulenbildes im Werk von Karl Emil Franzos durchaus Elemente eines kolonialistischen Blickes zu Tage fördern; die Gültigkeit dieses Befundes lässt sich jedoch nur dann auf die Ebene der Monarchie insgesamt transferieren, wenn als entsprechende Gegenprobe auch polnische und ukrainische Texte ihre Berücksichtigung finden.8 Eine analoge, in sich selbst gegliederte Konstellation könnte sich auch bei einer Untersuchung der Triestiner Kultur unter slawistischer Perspektive ergeben; analog zu den Ukrainern in Galizien dürften sich – so zumindest meine Hypothese – die kulturellen und politischen Emanzipationsbestrebungen des slowenischen Bevölkerungsanteils in Triest wohl weniger gegen kolonialisierende Tendenzen des Zentrums als vielmehr gegen die italienische Dominanz in der Stadt gerichtet haben, die ihrerseits teilweise antihabsburgisch eingestellt war. Ein ähnliches Bild könnten auch die Relationen im westslawischen Raum ergeben; auch hier wäre zu fragen, ob sich eine vereinheitlichende, an Wien und Budapest gebundene kolonialistische Konzeption nicht noch weiter in sich ausdifferenzieren ließe, etwa im kolonialisierenden deutsch-österreichischen Blick auf die Tschechen, der seinerseits wiederum im tschechischen Phantasma einer der Slowakei zugeschriebenen Authentizität und Ursprünglichkeit sein Pendant findet.9 Eine weitere Anregung, die man aus slawistischer Sicht auch dann aus Bhabhas Studie ziehen kann, wenn man mit dessen unausgesetztem Herumhantieren mit dem Lacanschen Begehren und der Derridaschen différance 132 weniger anzufangen vermag, ist die Konzeption der Hybridität. Auch muss dabei freilich im Auge behalten werden, dass Bhabha seine Studie wohl ganz bewusst nicht als kohärentes und ohne weitere Probleme verallgemeinerbares Theoriegebäude verstanden, sondern ganz im Gegenteil jene Spuren zusammenhängender Argumentation, die eine solche Verwendung problemlos erlauben würden, strategisch verwischt hat. Die Übernahme des Hybriditätskonzeptes kann deshalb nur in sehr vermittelter und axiomatisch umstrukturierter Weise erfolgen. Kapituliert man nun vor Bhabhas enigmatischer Stilistik und orientiert sich stattdessen an den von ihm als Beispiele für Hybridität angeführten Schriftstellern, so zeigt sich, dass er mit V. S. Naipaul, Derek Walcott, Salman Rushdie und Toni Morrison eine schmale Schicht kosmopolitischer, privilegierter Intellektueller berücksichtigt, die wohl weder für die von Bhabha immer wieder angeführten Diskurse des Marginalisierten und Minoritären einzustehen vermögen, noch sich so recht als destabilisierende Faktoren des eurozentristischen literarischen Kanons eignen, in den sie spätestens seit der Verleihung des Nobelpreises an drei von ihnen ohnehin längst integriert sind. Von diesen Schriftstellern führt wahrscheinlich ebenso wenig ein Weg in die Donaumonarchie wie von der positiven Axiomatik, mit der Bhabha sein Konzept der Hybridität als Negieren eines essentialistischen Denkens in Gegensätzen versieht. Was sich aber abseits dieser Punkte für die kulturelle Konstellation der Monarchie als fruchtbar erweisen könnte, ist der destabilisierende Impetus, der vom Ansatz der Hybridität und der „DissemiNation“ in bezug auf Vorstellungen einer in sich geschlossenen Nationalliteratur mit klar gezogenen Grenzen ausgeht. So gab es in der Monarchie im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert eine ganze Reihe wichtiger zweisprachiger Schriftsteller, deren Zweisprachigkeit sich nur schwer mit der teilweisen Funktionalisierung als „Nationaldichter“ beziehungsweise dem durch Herder inspirierten Streben nach einer eigenen nationalkulturellen Tradition in Übereinstimmung bringen lässt. Die Zweisprachigkeit von so zentralen Autoren wie den Romantikern France Prešeren und Petar Preradoviæ beziehungsweise den Vertretern der Moderne Tadeusz Rittner und Ivan Cankar oder die Dreisprachigkeit Ivan Frankos (ukrainisch-polnisch-deutsch) wurde zwar in der Fachliteratur schon mehrfach konstatiert und untersucht,10 die implizite Herausforderung, die diese Bi- beziehungsweise Multilingualität an die Konzeption einer kohärenten Nationalliteratur richtet, scheint meines Erachtens nach aber bis dato nicht ausreichend wahrgenommen worden zu sein.11 Bezeichnenderweise wurde etwa Frankos literarische Polyphonie bei der Erstellung der fünfzig- 133 bändigen Werkausgabe 1976–1986 weitestgehend getilgt, indem man die deutschen und einen Großteil der polnischen Texte ins Ukrainische rückübersetzte, wodurch eine sprachliche Homogenität suggeriert wird, die in dieser Form niemals existiert hat. Das Moment des Hybriden reicht bei Franko aber über das rein Sprachliche auch in die Struktur seiner Texte hinein, die gerade im Zeichen des kolonialisierenden Blickes ganz verschiedene, bisweilen auch widersprüchliche Positionen einnehmen. So kann man den deutschsprachigen Gendarmen im 1887 veröffentlichten Poem Pans’ki zarty [Scherze eines Gutsherren] über seine Funktion als Vertreter der staatlichen Ordnungsmacht, der lediglich ein fehlerhaftes Ukrainisch spricht und in seiner Rede vor den rebellierenden ukrainischen Bauern auf das Wohlwollen des Kaisers verweist,12 durchaus als Objekt einer postkolonialistisch angelegten Analyse ins Auge fassen. Daneben steht freilich Frankos auf deutsch geschriebener und 1905 in Wien herausgegebener Bericht Eine ethnologische Expedition in das Bojkenland, in dem postkolonialistisch sensibilisierte Zeitgenossen durchaus den kolonialisierenden Blick des Verfassers ausmachen könnten, der an der Alltagskultur der westlich der Huzulen in den Karpaten siedelnden Ethnie das Altertümliche und Primitive betont.13 An der von Franko gebrachten Anekdote, wonach die Bojken, deren Öfen den Rauch direkt in die Wohnstube entließen, auf Anordnung des Bezirkshauptmannes Rauchfänge auf ihre Dächer setzten, die aber reine Attrappen waren und keinerlei Verbindung zu den Öfen darunter aufwiesen, hätte (im Zeichen einer dekonstruierenden Mimikry seitens der kolonialisierten Bevölkerung) wohl auch Bhabha seine Freude.14 Auch der zuvor erwähnte Tadeusz Rittner, der den Großteil seines Lebens in Wien verbrachte und hier mit einigen Autoren der Wiener Moderne (wie etwa mit Arthur Schnitzler15 oder Peter Altenberg) persönlich verbunden war, ließe sich wohl im Zeichen von Bhabhas Hybridität betrachten,16 war er doch ein Paradebeispiel für einen zweisprachigen Autor. Seine Dramen wurden in der deutschen Fassung oft an Wiener Bühnen uraufgeführt, die polnischen Parallelversionen (die eigenständige Texte und keine bloßen Selbstübersetzungen darstellen) hingegen an polnischen Theatern. Gerade an Rittner (wie auch an Franko) ließe sich jedoch auch die axiomatische Differenz zwischen Bhabhas Position und der Konstellation innerhalb der Monarchie aufweisen: Für Bhabha stellt Hybridität im Zeichen der Ambivalenz und des Dazwischen ein lustvolles Movens beim Aufbrechen binärer, essentialistischer Oppositionen dar, für Rittner hingegen hat sich seine Position zwischen polnischer und österreichischer Literatur letztlich nicht ausgezahlt, konnte ^ 134 er doch weder in der einen noch in der anderen richtig Fuß fassen. In der kulturpolitischen Situation der geteilten polnischen Nation, in der die Literatur als Einigungs- und Stabilisierungsfaktor eine über das rein Ästhetische hinausreichende Funktion innehatte, scheint Rittners geographische wie auch geistige Exterritorialität nicht akzeptabel gewesen zu sein. Umgekehrt wiederum zählte ihn Hans Heinz Hahnl 1984 zu den vergessenen österreichischen Schriftstellern,17 was insofern besonders bemerkenswert ist, als sich die Wiener Moderne (der Rittner über sein deutschsprachiges Werk wohl zuzurechen ist) seit Jahren ungebrochener Aufmerksamkeit seitens einer breiteren Öffentlichkeit erfreut. Das, was bei Bhabha als subversive Strategie einer privilegierten Elite firmiert, war für Rittner eine prekäre und letztlich unbedankte Gratwanderung zwischen den Kulturen, die er 1917 auch selbst in der Zeitschrift Das literarische Echo entsprechend thematisiert hat: Ich stehe zwischen Deutsch und Polnisch. Das heißt: ich kenne und empfinde beides. Meiner Abstammung, meinen innersten Neigungen nach bin ich Pole. Und oft fällt es mir leichter, in dieser als in jener Sprache zu denken. Aber zuweilen verhält es sich umgekehrt. Von so manchem, das ich geschrieben habe, sagen die Deutschen, es sei Polnisch [sic], und die Polen, es sei deutsch. Man behandelt mich vielfach auf beiden Seiten als Gast. Und ich sehe so vieles hier und dort, mit dem unbefangenen Blick eines Fremden. Dies sei künstlerisch von Vorteil, meinen einige. Rein menschlich genommen ist es eine Art Gebrechen. Es ist wie eine Last, die ich tanzend zu tragen habe; die anderen Seiltänzer haben es leichter.18 Worauf abschließend noch zu verweisen wäre, ist die bemerkenswerte Prä-/ Post-Umkehrung, die sich ergibt, wenn man versucht, Bhabhas postkolonialistische Theoreme für die Epoche der Donaumonarchie nutzbar zu machen: Postkolonialistisch würde in diesem Kontext ja eigentlich bedeuten, sich mit den Literaturen der neugegründeten Nachfolgestaaten der Monarchie (als untergegangenem Kolonialreich) zu befassen; diese scheinen aber, soweit es die slawischen Literaturen betrifft, gerade unter diesem Aspekt nur von bedingtem Interesse zu sein. Das kulturelle Erbe der Monarchie wurde hier zumeist in den weiter gefassten Innovationstendenzen der historischen Avantgarde der 1920er und 1930er Jahre rasch entsorgt, und Kaiser Franz Joseph, wie in der Erzählung Wiosna [Frühling] von Bruno Schulz 1937 zu lesen ist, pars pro toto für die Monarchie insgesamt auf die Größe einer Briefmarke reduziert.19 Im Gegensatz dazu aber lassen sich jene Phänomene, wie eben zum Beispiel Hybridität, in bezug auf die Donaumonarchie weniger als postkolonialistische denn als kolonialistische Phänomene interpretieren (es sein denn, man geht für die Endphase der Monarchie bereits von einem internen 135 postkolonialistischen Zustand aus): Gerade die kulturpolitische Konstellation der Jahrhundertwende scheint für Autoren wie Franko oder Rittner einen Freiraum des Da-zwischen eröffnet zu haben, jenes „inter“ also, das laut Bhabha den Hauptanteil kultureller Bedeutung in sich trägt.20 Offenbar existierte damals die Möglichkeit eines „tertium datur“ (vielleicht auch eines dritten Raumes im Sinne Bhabhas21) abseits binaristischer Gegensätze zwischen Nationalkulturen – ein „tertium datur“, das sich nach dem Verschwinden der Monarchie in der Verknüpfung von Nationalliteratur und Nationalstaat zu einem „tertium non datur“ verengte. In diesem Sinne ließen sich auch die Todesdaten von Franko, Cankar und Rittner, also die Jahre 1916, 1918 und 1921 gewissermaßen als literarische Fakten interpretieren; es scheint so, als ob diese Autoren außerhalb des Rahmens der Monarchie keine literarische Existenzmöglichkeit mehr gehabt hätten. Auch wenn man Bhabhas methodologischem Eklektizismus und seiner Argumentationsweise kritisch gegenüberstehen mag, so kann sein Beharren auf dem prekären Zustand des Da-zwischen gerade bei der Beschäftigung mit der Donaumonarchie den Blick für das Ambivalente und Ununterscheidbare, für das zeitlich wie räumlich jeweils nur bedingt Gültige schärfen. Und so lässt sich in einer paradoxen Volte vielleicht gerade gemeinsam mit Homi Bhabha ein strategisches Zweckbündnis gegen jene Bestrebungen schließen, die seine Theoreme allzu vorschnell und in einem zu verallgemeinerten Anspruch auf Kultur und Politik der Monarchie insgesamt richten wollen. In jedem Falle aber sollte dieses Bündnis dazu führen, die slawischen Kulturen in die Position des Sprechenden zu bringen. Eine so zentrale Figur wie Vuk Karadziæ als „Vuk Kardic“ zu präsentieren, wie dies in der deutschen Übersetzung von Jean-François Lyotards Postmodernem Wissen geschieht,22 legt nämlich abgesehen von der damit einhergehenden Lächerlichkeit den impliziten Schluss nahe, dass die Slawen (wiederum im Rückgriff auf Joseph Conrad) nicht viel mehr zu sagen haben als „Mistah Kurtz – he dead“. ^ Anmerkungen 1 Vgl. Endre HÁRS, Hybridität als Denk- und Auslegungsfigur. Homi K. Bhabhas theoretisches Engagement, in: www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/ EHars1.pdf (21.1.2002). 2 Vgl. Homi K. BHABHA, Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen. (Deutsche Übersetzung von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl), Tübingen 2000, S. 17. 136 3 Chinua ACHEBE, Why Afro-European dialogue fails, in: West Africa, 25. Feb. 1980, S. 343. 4 Elisabeth BRONFEN, Vorwort, in: BHABHA, Verortung der Kultur, S. X. 5 „Was das Habsburger Reich allgemein anbelangt, so erschiene es freilich adäquater, von einem k.u.k. Kulturkolonialismus [Kursivsetzung v. C. R.] oder -imperialismus zu sprechen, als dessen Reaktionspartner beziehungsweise Widerpart eben der Nationalismus der betroffenen Sprachkulturen auftritt.“ Clemens RUTHNER, Imaginäre Gemeinsamkeit als Identitätskonstruktion. Eine kritisch ,kakanische‘ Re-Lektüre von Benedict Andersons Imagined Communities, in: kakanien revisited. http://www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/ CRuhtner2.pdf (27.5.2002). Das angeführte Zitat befindet sich auf S. 6. Auch Ursula Rebers Position, wonach in der Donaumonarchie zwei Nationen einen gemeinsamen Imperialismus über Nachbar-„kolonien“ ausüben, scheint aus diesem Blickwinkel heraus als zu apodiktisch formuliert. Ursula REBER, Kolonialismus im „Osten“? Imperialismus, Orientalismus und ,das Reale‘ bei Edward W. Said, in: kakanien revisited. http://www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/UReber1.pdf (8.5.2002). Das angeführte Zitat befindet sich auf S. 15. 6 BHABHA, Verortung der Kultur, S. 158. 7 Ivan FRANKO, Zibrannja tvoriv u 50-y tomach, tom 21, Kyjiv 1979, S. 293. 8 Zur Darstellung der Huzulen bei Franzos vgl. Alexander MALYCKY, The Influence of Karl Emil Franzos on the German Image of the Hutsuls, in: Wiener Slavistisches Jahrbuch 10 (1963), S. 109–119; eine komparatistische Gegenüberstellung deutschsprachiger, polnischer und ukrainischer Quellen bietet Alois WOLDAN, Die Huzulen in der Literatur, in: Galizien. Ethnographische Erkundung bei den Bojken und Huzulen in den Karpaten. Begleitbuch zur Jahresausstellung ’98 im Ethnographischen Museum Schloss Kittsee vom 6. Juni bis 2. November 1998, Kittsee 1998, S. 151–166. 9 Vgl. dazu etwa Gertraude ZAND, Jakub Deml und die Slowakei, in: Wiener Slavistisches Jahrbuch 47 (2001), S. 185–194. 10 Zu zweisprachigen Autoren der Donaumonarchie allgemein vgl. Günther WYTRZENS, Sprachkontakte in der Dichtung. Zweisprachige Autoren im Alten Österreich, in: Die slawischen Sprachen 4 (1983), S. 143–151; zu Rittner vgl. Oskar Jan TAUSCHINSKI, Kakanischer Balanceakt. Versuch einer Information über Thaddäus Rittner, in: Österreichische Osthefte 16 (1974), S. 414–429 beziehungsweise Ulrich STELTNER, Grenzgänger zwischen der deutschen und der polnischen Literatur. Tadeusz Rittner und Stanis³aw Przybyszewski, in: DERS. (Hg.), Auf der Suche nach einer größeren Heimat... Sprachwechsel / Kulturwechsel in der slawischen Welt. Literaturwissenschaftliches Kolloquium anlässlich der Verleihung des Andreas-Gryphius-Preises an Milo Dor und Ludvík Kundera, Jena 1999, S. 105–115; vgl. zu Franko: Leonid RUDNYC’KYJ, Tr’oma movamy dlja tr’och kul’tur, in: Slovo i èas 1996/10, S. 70–74. 11 Vgl. dazu Stefan SIMONEK, Ivan Frankos deutschsprachiges Werk als Problem (nicht nur) der Ukrainistik – eine Skizze, in: IV miznarodnyj konhres ukrajinistiv. Odesa, 26-29 serpnja 1999. Literaturoznavstvo, Knyha 1, Kyjiv 2000, S. 466–471. ^ 137 12 Vgl. aus der Rede des Gendarmen: „Vam cisar panšèynu taruje. / Tanyn ne putete pljatyv. / Naj koštyj sam sopi pracjuje!“ [Der Kaiser erlässt euch den Frondienst. / Ihr werdet keine Abgaben mehr zu entrichten haben. / Jeder soll für sich selbst arbeiten!] FRANKO, Zibrannja tvoriv, tom 2, S. 88. Der Gendarm ist nicht in der Lage, stimmhafte Konsonanten auszusprechen („taruje“ statt korrekt „daruje“, „tanyn“ statt „danyn“, „putete“ statt „budete“, „koštyj“ statt „kozdyj“ beziehungsweise „sopi“ statt „sobi“). 13 Vgl. als entsprechende Beispiele etwa: „da dieses Dorf in mancher Hinsicht exzeptionell günstig situiert ist, eben was die Aufbewahrung altertümlicher Züge in der Kultur und Lebensart betrifft“; „Höchstens werden den aufmerksamen Ethnologen jene in Tälern und auf Bergabhängen ziemlich dicht gesäeten primitiven Heuschober interessieren“; „ist dieses Bojkenbrot für die Talbewohner der Inbegriff einer elenden Kost“; „Die bojkische Wohnstube macht einen nichts weniger als gemütlichen Eindruck“; „Diese Ohrgehänge aus Lavoène verdienen wegen ihrer ausgesprochen prähistorischen Form eine besondere Aufmerksamkeit“; „Wegen ihrer Primitivität, wegen Mangels an künstlerischem Instinkt und Geschmack, wie er die huzulischen Produkte auszeichnet, sind diese bojkischen Sachen auf die engste Verbrauchssphäre beschränkt“. Ivan FRANKO, Eine ethnologische Expedition in das Bojkenland, Wien 1905, S. 18, S. 23, S. 33, S. 35, S. 42 beziehungsweise S. 45. 14 Vgl. ebenda, S. 35. 15 Zur Wahrnehmung Rittners in den Tagebüchern Arthur Schnitzlers vgl. Stefan SIMONEK, Distanzierte Nähe. Die slawische Moderne der Donaumonarchie und die Wiener Moderne, Bern u. a. 2002, S. 33 ff. 16 „Dieser zwischenräumliche Übergang zwischen festen Identifikationen eröffnet die Möglichkeit einer kulturellen Hybridität, in der es einen Platz für Differenz ohne eine übernommene oder verordnete Hierarchie gibt“. BHABHA, Verortung der Kultur, S. 5. 17 Vgl. Hans Heinz HAHNL, Vergessene Literaten. Fünfzig österreichische Lebensschicksale, Wien 1984, S. 119–122. 18 Zit. nach STELTNER, Grenzgänger, S. 111. Steltner spricht in bezug auf Rittner und Przybyszewski von einer „künstlerischen Heimatlosigkeit“ sowie von dem „existenziellen Desaster, als Schriftsteller über keine der beiden Sprachen wirklich zu verfügen“ (Ebenda, S. 110). 19 Vgl. im Original: „Œwiat by³ naówczas ograniczony Franciszkiem Józefem I. Na ka¿dej marce pocztowej, na ka¿dej monecie i na ka¿dym stemplu stwierdza³ jego wizerunek niezmiennoœæ œwiata [...]“. [Die Welt war zu dieser Zeit von Franz Joseph I. begrenzt. Auf jeder Briefmarke, jeder Münze und auf jedem Stempel bestätigte sein Bildnis die Unveränderlichkeit der Welt.] Bruno SCHULZ, Opowiadania. Wybór esejów i listów. Opracowa³ Jerzy JARZÊBSKI, Wroc³aw u. a. 1989, S. 144. Vgl. in diesem Zusammenhang Jolanta KRZYSZTOFORSKADOSCHEK, Das Bild Kaiser Franz Josephs in der Erzählung Wiosna von Bruno Schulz, in: Leopold R. G. DECLOEDT (Hg.), An meine Völker. Die Literarisierung Franz Joseph I., Bern 1998, S. 185–193; Witold KOŒNY, „Bo czym ¿e jest wiosna, jeœli nie zmartwychwstaniem historyj“. Zu Bruno Schulz’ Erzählung ^ 138 Wiosna, in: Zeitschrift für Slavische Philologie 55 (1995/96), S. 313-322; in einem weiter gefassten Kontext vgl. Alois WOLDAN, Franz Joseph I. in der polnischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Der Kaiser als mythische Größe, in: DECLOEDT, An meine Völker, S. 167–184. 20 „Dabei sollten wir immer daran denken, dass es das ,inter‘ – das Entscheidende am Übersetzen und Verhandeln, am Raum da-zwischen [Kursivsetzung von H. K. B.] – ist, das den Hauptanteil kultureller Bedeutung in sich trägt“. BHABHA, Verortung der Kultur, S. 58. 21 Vgl. ebenda, S. 55 ff. 22 Jean-François LYOTARD, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Aus dem Französischen von Otto PFERSMANN, Wien 41999, S. 66. – Im französischen Original ist ebenfalls fehlerhaft von „Vuk Karadic“ die Rede. Jean-François LYOTARD, La Condition Postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris 1979, S. 37. 139 Bevormundung oder Selbstunterwerfung? Sprache, Literatur und Religion der galizischen Ruthenen als Ausdruck einer österreichischen Identität? Alois Woldan Analysiert man die kulturelle Situation der ukrainischen Bevölkerung Galiziens – der Ruthenen im Sprachgebrauch der Habsburgermonarchie – zu Beginn des 19. Jahrhunderts, so drängt sich der Vergleich mit einer Situation 200 Jahre vorher auf, mit einer kulturgeschichtlichen Periode, die Mychajlo Hruševs’kyj als die Erste ukrainische Wiedergeburt1 bezeichnete, während die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts generell als ukrainische Wiedergeburt apostrophiert werden. Gleich ist auch der Ort, an dem diese beiden Prozesse stattfanden – Leopolis, L’viv beziehungsweise Lemberg. Beide Wiedergeburten können als wesentlich emanzipatorische Bewegungen aufgefasst werden, die auf eine zumindest kulturelle Befreiung aus einer Hegemonie, die im Rahmen eines Imperiums besteht, zielen (schon von daher scheint der Ansatz der Postkolonialen Studien eine gewisse Berechtigung zu haben). In beiden Fällen lässt sich diese emanzipatorische Bewegung hin zu einer eigenen, partikulären und periphären Kultur an den Parametern Sprache, Literatur und Religion ablesen, die in einer sowohl an der Wende vom 16. zum 17. wie auch an der vom 18. zum 19. Jahrhundert nicht säkularen Situation auf das engste miteinander verknüpft sind. Um 1600 richtete sich die ukrainische emanzipatorische Bewegung gegen die Dominanz der polnisch-lateinisch-katholischen Kultur in demjenigen Staat, in dem um diese Zeit der größere Teil der ukrainischen Bevölkerung lebte – der polnisch-litauischen Adelsrepublik, in deren Namen Rzecz Pospolita (von lat. Res Publica) ein gemeinsames Interesse, eine Art Commonwealth nicht nur der beiden Titularnationen angesprochen ist. Seit den beiden Unionen, der staatlichen von Lublin 1569, die das Königreich Polen mit dem Großfürstentum Litauen in Personalunion verband, und der nicht minder wichtigen kirchlichen von Brest 1596, die, von zwei Ausnahmen abgesehen, alle orthodoxen Diözesen auf dem Gebiet dieses Staates unter die Jurisdiktion des römischen Papstes brachte,2 erhob das erwähnte polnisch-lateinisch-katholische 141 Paradigma einen bislang nicht zur Schau gestellten Totalitätsanspruch und gebärdete sich expansiv – nach Osten, wo ein ukrainisch-griechisch-orthodoxes Paradigma damit unter Druck geriet. Aus dieser Situation existentieller Bedrohung entstand die große Leistung der Ersten ukrainischen Wiedergeburt: der lingua franca im Imperium, dem Polnischen, stellte man eine eigene, an der Volkssprache orientierte Schriftsprache gegenüber, die deshalb auch prosta mova (einfache Sprache)3 hieß und in der man nun zum ersten Mal auch druckte; der Autorität des Lateinischen gegenüber pochte man auf die griechischen Ursprünge des Christentums und den Kampf gegen einen militanten Katholizismus nahmen auf ukrainischer Seite zunächst engagierte Laien auf, die Mitglieder der berühmten Bruderschaften, von denen die in Lemberg wohl die wichtigste war – sie unterhielt eine Schule, eine Druckerei, finanzierte den Bau einer eigenen Kirche ebenso wie die Herausgabe apologetischer Schriften und anderes mehr. Es ist hier nicht der Ort, auf diese Phänomene ausführlicher einzugehen, es sei aber doch angemerkt, dass auch diese „Gegenkultur“ – ganz im Sinn von Edward Said – keine reine, nur ukrainische, sondern vielmehr eine hybride war:4 Latinismen und Polonismen auf allen Ebenen der prosta mova, antike und barocke Gattungen in der literarischen Produktion und schließlich die systematische Übernahme des spätscholastischen Lehrbetriebs an der Kiewer Akademie – um den bislang überlegenen Lateinern auch in der Apologetik gewachsen zu sein – zeugen von der notwendigen Verflechtung zweier konkurrierender kultureller Paradigmata, die im Rahmen eines Imperiums aufeinander stießen. Zurück zur Situation um 1800. Seit 1772 ist ein großer Teil der von Ukrainern bewohnten Gebiete der Rzecz Pospolita bei Österreich, ist Teil des Königreichs Galizien und Lodomerien (auch diese künstliche, latinisierende Bezeichnung verdiente es, unter dem Aspekt der Legitimation von Herrschaft betrachtet zu werden). Die politische Hegemonie der polnischen Krone ist damit weggefallen und hat einer solchen des österreichischen Kaiserreichs Platz gemacht, die kulturelle des polnisch-lateinisch-katholischen Paradigmas ist mit dem Verfall der staatlichen Macht geschwächt; es ist im neuen Staatsverband zudem von der Mitte an den Rand – auch im Sinne seiner hegemonialen Ansprüche – abgedrängt worden: aus der Mitte des neuen Imperiums, aus Wien, kommt eine kulturelle Formation, die zunächst deutsch ist (neue Amts- und Verwaltungssprache), das Latein aber ebenso kennt wie den Katholizismus, wenngleich nicht mehr in der ursprünglichen Ausschließlichkeit (Toleranzedikt Josephs II.). Der alte Gegner im kulturpolitischen Sinn ist weggefallen, die neue Macht im Zentrum tritt nicht mehr als Gegner 142 in Erscheinung, sondern als Protektor, der bei entsprechend loyalem Verhalten Schutz gegen Vereinnahmung durch neue kulturelle Hegemonialmächte – das zaristische Russland – gewähren kann. Im Diskurs mit der dominanten Kultur des neuen Imperiums gilt es einmal mehr, sich der eigenen Identität zu versichern, was nun nicht so sehr ein kontradiktorisches, als ein komplementäres Anliegen scheint. Einmal mehr wird die Sprache in ihrer Bedeutung für die Identität der ruthenischen Bevölkerung erkannt, nicht nur vor dem Hintergrund der geistigen Situation der Zeit, die im Anschluss an Herders Ideen den Geist eines Volkes in dessen Sprache und Literatur zum Ausdruck kommen lässt, sondern auch, um sich gegen Vereinnahmungen durch Stärkere zur Wehr zu setzen: ist das Ukrainische eine eigene Sprache – und nicht nur ein Dialekt des Polnischen oder Russischen –, so sind auch die Ruthenen ein eigenständiges Volk, dem im Vielvölkerstaat Österreich gleiche Rechte gebühren wie anderen Nationalitäten. Den Beweis dafür aber hat die Philologie zu erbringen, indem sie die Eigenständigkeit des ruthenischen Idioms nachweist, zu einem Zeitpunkt, da es noch keine kodifizierte Schriftsprache, keine verbindliche Grammatik und kein Lexikon, ja nicht einmal eine graphische Norm gibt. In dieser schwierigen Situation bot das Zentrum seine Hilfe an, die, wie die Postkolonialen Studien zeigen, allerdings nie ganz uneigennützig kommt. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Bartholomäus (Jernej) Kopitar, Zensor für slawische Bücher an der Kaiserlichen Hofbibliothek in Wien, die unumschränkte Autorität in allen slawischen Fragen, an den sich die damals fast ausschließlich dem geistlichen Stand angehörenden Ruthenen in Wien wandten, in der zweiten Hälfte ein anderer Slowene, Franz Miklosich, erster Inhaber des Wiener Lehrstuhls für Slawistik, bei dem eine ganze Reihe ukrainischer Philologen studierte. Beide Gelehrte vertraten in bezug auf das Ukrainische richtige und zukunftsweisende Ansichten, Kopitar, der auf der lebendigen Volkssprache als Basis für die zu schaffende Schriftsprache insistierte,5 und Miklosich, der mit Nachdruck die Eigenständigkeit des Ukrainischen vertrat.6 Umgekehrt waren aber beide der Ansicht, das Ukrainische solle mit lateinischen Buchstaben geschrieben werden, weil die Ruthenen ja katholisch seien (Kopitar) beziehungsweise „ein entsprechend vermehrtes lateinisches Alphabet zur Bezeichnung der Laute beider Sprachen [des Ukrainischen und des Bulgarischen – A.W.] angemessener ist als das cyrillische“ (Miklosich7). Wenn der Streit um das Alphabet,8 der „Alphabet-Krieg“, wie Ivan Franko das ironisch nannte, letztlich nicht im Sinn der Wiener Po- 143 sition gelöst wurde, so zeigen die angeführten Einflussnahmen doch deutlich, wie nahe Hilfestellung und Bevormundung, Entwicklungshilfe und Machtanspruch liegen.9 Und auch der wissenschaftliche Diskurs war für diesen Sachverhalt in der Regel nicht sehr sensibel, wie eine Wiener Dissertation aus 1923 zeigt, deren Verfasser, Johann Welyhorskyj, über Kopitars Einfluss enthusiastisch schreibt: „Als Katholik und österreichischer Patriot wollte Kopitar, dass die Ukrainer eine selbständige Kultur entwickeln, das lateinische Alphabet in ihre Literatur einführen, warnte unentschlossene Ukrainer vor Gravitation nach Russland (Zubryckyj) – und wollte alle Slaven unter Österreichs Szepter sehen!“10 Als 1837 drei aufmüpfige Seminaristen aus dem Lemberger GriechischKatholischen Generalseminar einen kleinen Band von Volksliedern und eigenen poetischen Versuchen, Rusalka Dnistrova (Die Nixe vom Dnester) erstellten und mit viel Mühe in Budapest drucken ließen, der genau diesen Postulaten entsprach – in der Volkssprache geschrieben und mit modernen kyrillischen Lettern gedruckt –, veranstaltete die österreichische Polizei im Einvernehmen mit den Spitzen der griechisch-katholischen Kirche eine gigantische Hetzjagd auf dieses Büchlein, so dass von den gedruckten 1000 Exemplaren nur noch wenige nach Galizien und an den Leser kamen. Das sollte nicht der erste und nicht der letzte Fall sein, dass sich das ruthenische Establishment im Konflikt mit unliebsamen Kräften aus den eigenen Reihen des Arms der österreichischen Behörden bediente und damit die koloniale Ordnungsmacht selbst anforderte. Die Auseinandersetzung um die Schriftsprache, deren dialektale Basis, Orthographie und Alphabet ziehen sich bis in die 1860er Jahre hin. Sie nehmen in der Zeit der Reaktion nach 1848 eine neue interessante Wendung. Hatte sich der Ruthenische Hauptrat als das führende Organ der Autonomiebewegung von 184811 für das moderne Projekt einer Literatursprache auf Basis der Volkssprache – wie schon die Romantiker zwei Jahrzehnte zuvor – ausgesprochen, so verfiel man gleich nach 1850, wohl unter dem Eindruck der Reaktion, auf ein gegenteiliges Konzept: Man schuf ein künstliches Idiom, Jazyèyje genannt, eine sonderbare Mischung aus Kirchenslawisch, ukrainischer Volkssprache und Russisch, die zum einen den Verzicht auf die revolutionären Forderungen von 1848, zum anderen eine ebenso künstlich konstruierte nationale Identität der galizischen Ruthenen zum Ausdruck bringen sollte. Jazyèyje will weder polnisch noch russisch, aber auch nicht das Idiom eines einfachen Volkes sein, sondern es suggeriert die Vorstellung von Gebildetheit, alt-ehrwürdigem Charakter und kirchlicher Legitimation. Eine 144 besondere Bedeutung kam in diesem Fall dem Graphem zu – man griff auf alte kirchenslawische Lettern zurück, die nur mehr bei liturgischen Texten in Verwendung waren. Betrachtet man die Inhalte der so gesetzten Texte, so zeigt sich, dass der archaische Code eine ebenso anachronistische wie künstliche Message unterstreicht, ja selbst Teil dieser Message wird: eine extreme Loyalität der galizischen Ruthenen zum Haus Habsburg wird hier in Gattungen beschworen, die an die Panegyrik der Barockzeit erinnern.12 Die Gefahren, die eine solche künstliche und anachronistische Definition der nationalen Identität über die Sprache in sich birgt, wird schon ab 1860 sichtbar, als man den Anteil der Russizismen in dem Jazyèyje-Gemisch so weit steigert, dass dieses sich kaum mehr vom Russischen unterscheidet und damit den Beweis erbracht hat, dass dieses nun als kleinrussisch bezeichnete Idiom nichts anders als eine bescheidene Variante des Großrussischen ist, die Ruthenen demzufolge sich auch nicht wesentlich von den Russen unterscheiden. So wird Jazyèyje in den 1860er und 1870er Jahren zum Idiom und Argument der moskophilen Kreise in Galizien, während es diese Funktion zuvor für die austrophilen Altruthenen gehabt hatte.13 Auf jeden Fall aber spricht eine derartige Konstruktion des Eigenen für eine Selbstunterwerfung unter die hegemoniale Kultur des Zentrums als eine Form der Verflechtung von Kolonisierten und Kolonisten.14 So wie um 1600 ist auch nach 1800 die literarische Produktion der nun österreichischen Ruthenen ein Gradmesser für kulturelle Eigenständigkeit beziehungsweise Abhängigkeit von einem Zentrum, das auch diesbezüglich Maßstäbe vorgibt. Dazu einige Beispiele. Der bereits erwähnte Sammelband von 1837, Dusalka Dnistrova, gilt im Kontext der Wiedergeburt als erstes Werk einer neuen ukrainischen Literatur in Galizien, seine drei Verfasser, die Theologiestudenten Markijan Šaškevyè, Ivan Vahylevyè und Jakiv Holovac’kyj als deren Wegbereiter. Um die Existenz einer eigenständigen ukrainischen Literatur und Kultur zu beweisen, greifen die Autoren auf die Folklore zurück, die im Geist der slawischen Romantik zur vollwertigen Quelle literarischen Schaffens aufgewertet wird. Sowohl die Komposition dieses Bandes als auch die zitierten Quellen – etwa serbische Volkslieder aus der Sammlung von Vuk Stefan Karadziæ (1787-1864) – weisen darauf hin, dass dieser Versuch einer Definition nationaler Identität nicht unabhängig von ähnlichen Unternehmungen bei anderen slawischen Nationalitäten Österreichs geschieht. So eignet sich auch Jan Kollárs in Wien entwickelte Idee einer Literarischen Wechselseitigkeit der Slawen (als Buch 1837 in Pest erschienen) als Formel für die Konstruktion eigener nationaler Identität. Die Drehscheibe für die Bezie^ 145 hungen zwischen den prominenten Vertretern einer tschechischen und slowakischen, serbischen und kroatischen, polnischen und ukrainischen nationalen und literarischen Wiedergeburt war Wien,15 wo auch die maßgeblichen theoretischen Konzepte entwickelt und nach der Peripherie vermittelt wurden. Die kulturelle Eigenständigkeit der Ruthenen – so könnte man überspitzt formulieren – definiert sich damit als Funktion einer multilateralen Wechselseitigkeit im Rahmen eines Beziehungsgeflechts zwischen Zentrum und Peripherie des Imperiums. Eine für die Literatur der galizischen Ruthenen gegen Ende des 19. Jahrhunderts typische Erscheinung ist die ukrainisch-deutsche Zweisprachigkeit (im Unterschied zu einer ukrainisch-polnischen in der ersten Hälfte), die bis heute von der Wissenschaft nicht im gebührenden Maß berücksichtigt wurde; auch sie lässt sich mit den Kategorien der Postkolonialen Studien beschreiben und damit in Analogie zum englischsprachigen Schrifttum indischer und karibischer oder dem französischsprachigen afrikanischer Autoren setzen. Die deutsch-ukrainische Zweisprachigkeit in Galizien und vor allem der Bukowina ist nicht bloß auf die multinationale Zusammensetzung der jeweiligen Bevölkerungen zurückzuführen, sondern vielmehr auf den Einfluss eines zentralen Bildungssystems, das zwar im Grundschulbereich mehrsprachig war – es gab ruthenische und polnische Elementarschulen –, das aber trotzdem eine Vorrangstellung des Deutschen mit einschloss. Vor allem war das Deutsche der Schlüssel zur höheren Bildung – Standardtexte aus den Bereichen Wissenschaft und Kunst waren den gebildeten Ruthenen in der Regel nur im deutschen Original oder auch der deutschen Übersetzung zugängig, und entsprechend wurden die wissenschaftlichen Arbeiten ruthenischer Gelehrter in der Regel auf Deutsch verfasst. Auch die Literaten bedienten sich des Deutschen aus unterschiedlichen Gründen und mit unterschiedlichen Absichten. Jurij Osyp Fed’kovyè (1834– 1888), der wohl wichtigste Lyriker der Bukowina in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wäre von seiner Herkunft – sein Vater war polnischer Gutsverwalter, seine Mutter stammte von den Bauern der Bukowina ab – für die ukrainisch-polnische Zweisprachigkeit prädestiniert gewesen (einige seiner Briefe sind auch auf Polnisch verfasst), er wandte sich aber – unter dem Einfluss des regen deutschsprachigen literarischen Lebens in Czernowitz – dem Deutschen als alternativen Medium seiner literarischen Tätigkeit zu, das er aus dem österreichischen Gymnasium und noch besser aus der österreichischen Armee, in der er ein Jahrzehnt lang als Offizier gedient hatte, bestens kannte. Mit seinen deutschen Gedichten, die in den verschiedensten Zeit- 146 schriften der Monarchie erschienen, erreichte Fed’kovyè einen unvergleichlich größeren Leserkreis als mit seinen parallel dazu verfassten ukrainischen Texten. Hand in Hand damit geht aber eine frappierende Verschiebung seiner Themen: Schildert Fed’kovyè in seinen ukrainischen Texten die Leiden der huzulischen Bauern seiner Umgebung, die mit der Einberufung zum österreichischen Militär ihren Höhepunkt erreichen, so ist von diesem kritischen Potential in seinen deutschen Texten nichts zu spüren:16 Es sind Genrebilder aus den exotischen Bergwäldern seiner Heimat, bevölkert von kühnen Jägern und Flussnixen, spätromantische Versatzstücke, die auch hinsichtlich ihrer literarischen Qualität weit hinter den ukrainischen Texten zurückstehen. Hat Fed’kovyè mit dem Übergang in einen anderen Code auch die Message geändert? War es eine Art von political correctness, die ihn, den ehemaligen Offizier, dazu bewog, seine Heimat zwar als Ort einer fremden Schönheit, aber ohne deren konkrete Nöte und Mängel darzustellen? Ließ er sich bei seiner Message von der Peripherie ins Zentrum des Imperiums von vorgegebenen ästhetischen Standards und Konventionen leiten? Ähnlich und doch anders liegen die Dinge bei Ol’ha Kobyljans’ka (1863– 1942), die gut 20 Jahre später mit deutsch verfassten Erzählungen debütierte, die deshalb auf Deutsch geschrieben wurden, weil das die schriftliche Norm war, welche die Autorin (auch sie stammte aus einer gemischten, ukrainisch-polnischen Familie) am besten beherrschte, und das nach nur vier Jahren deutscher Grundschule. Kobyljans’ka musste das Ukrainische – dessen schriftliche Norm – erst perfektionieren, bevor sie später nur mehr ukrainisch schrieb. Noch im Alter von 28 Jahren schreibt die Autorin 1891 an den Herausgeber der ukrainischen Zeitschrift Narod, Mychajlo Pavlyk, in Lemberg einen deutschen Brief, in dem sie ihre erste mit Müh und Not ins Ukrainische übersetzte Novelle anbietet: Mit heutigem nehme ich mir die Freiheit an Ihr geschätztes Blatt meine Novelette „Lorelei“ (Inhalt: Frauenfrage) einzusenden [...] Bevor ich aber weiter rede, will ich Sie bitten, mich nicht im vorhinein zu verurteilen, daß ich als Ruthenin deutsch schreibe. Ich drücke mich im Deutschen ungleich rascher und leichter aus und weil ich jetzt mit verschiedenster Arbeit überhäuft bin und mir für meine Interessen so gut wie gar keine Zeit zur Verfügung steht, so nehme ich, um Zeit zu gewinnen, wieder einmal Zuflucht zum Deutschen.17 Auch Kobyljans’ka machte aus der Not eine Tugend; schon vor 1900 veröffentlichte sie in den großen deutschen Zeitschriften in Wien und Berlin, die sie zuvor im heimatlichen Czernowitz abonniert hatte, ihre ersten eigenen 147 Beiträge,18 und 1901 erschien in Minden/Westfalen ihr erstes Buch: Kleinrussische Novellen mit vier deutsch verfassten Erzählungen, die von der Verfasserin später alle ins Ukrainische übertragen wurden. Bald aber ist diese diachrone Zweisprachigkeit zu Ende, Kobyljans’ka verzichtet offenbar auf den deutschsprachigen Leser, weil sie im ukrainischen Publikum, das erst allmählich zu einem lesenden erzogen werden muss, ihren eigentlichen Adressaten und ihre Hauptaufgabe sieht. Ganz und gar nicht auf den deutschsprachigen Leser beziehungsweise den größeren Adressatenkreis verzichten wollte Ivan Franko (1856-1916), der wohl bedeutendste Autor der Westukraine, der schon aufgrund seiner Biographie eng mit dem Zentrum Wien verbunden war. Kurz vor und nach 1900 verfasste Franko, der übrigens in vier Sprachen schrieb (ukrainisch, polnisch, deutsch19 und russisch), eine Reihe von journalistischen und literarischen Arbeiten für führende Wiener Blätter, allen voran Die Zeit, die 1894 von Hermann Bahr, Heinrich Kanner und Josef Singer begründet worden war. Franko hatte in der Zeit so etwas wie ein Monopol auf die Berichterstattung aus Galizien, das er nach Kräften nutzte, um die dortigen Missstände auch in Wien und im ganzen deutschen Sprachraum anzuprangern. 20 Als leidenschaftlicher Verfechter der Interessen seiner nationalen Gruppe, der Ruthenen, kämpfte Franko gegen deren Unterdrückung durch die polnische Oberschicht in Galizien, die im Rahmen der Habsburgermonarchie vor allem seit der sogenannten Galizischen Autonomie von 1867 ein Faktum darstellte, wenngleich sie laut den Gesetzen dieses Staates nicht bestehen hätte dürften. Dabei bezieht Franko eine von Edward Said im Rahmen des Verhältnisses von Kolonialisten und Kolonisierten beschriebene typische Position:21 Er kritisiert die vom Zentrum sanktionierten Machtverhältnisse, hält aber sehr wohl an den vom Zentrum auf die Peripherie ausgedehnten Institutionen fest. Nicht der österreichische Parlamentarismus ist schuld an der Unterrepräsentiertheit der Ruthenen in der Verwaltung Galiziens, sondern die Manipulationen bei den Wahlen, die von den regionalen, polnischen Behörden immer wieder vorgenommen werden. So ist Franko – ungeachtet seiner Kritik an den herrschenden Verhältnissen – dennoch ein echtes Kind der k.u.k. Monarchie, aufgewachsen in deren Bildungssystem, vertraut mit deren Sprachen und überzeugt von den dort gültigen Werten und Normen, die sich auch in seinen Werken als eine „Struktur der Einstellung und Referenz“22 aufweisen lassen. Wie weit lässt sich von einer kolonialisierenden Wirkung der Habsburgermonarchie im Bereich von Religion und Kirche sprechen? Auch hier gilt es 148 mehr als bisher geläufige Meinungen zu hinterfragen, diverse Texte gegen den Strich zu lesen und auf das hin zu befragen, was sie nicht explizit sagen. Auch hier ist der Rückblick auf die Situation der Ersten Wiedergeburt hilfreich. Gerade die Diözese Lemberg hatte sich in der ganzen Metropolie von Kiew am längsten gegen die Union gesträubt und diese erst um 1700, auf massives Drängen der polnischen Krone, angenommen. Im 19. Jahrhundert aber wird genau diese aufgedrängte Konfession zum ukrainischen Bekenntnis schlechthin, und sowohl im 19. wie auch im 20. Jahrhundert gilt die griechisch-katholische Kirche auch als die Größe, die die ukrainische Identität bewahrt hat.23 Ein solcher fundamentaler Wandel in der Einstellung zur Union ist im Wesentlichen auf knapp 150 Jahre habsburgische Herrschaft in Galizien zurückzuführen. Die zahlreichen Vergünstigungen, die schon unter Maria Theresia und Joseph II. der griechisch-katholischen Kirche – auch diese Bezeichnung, die eine Gleichwertigkeit mit der römisch-katholischen nahelegt, stammt aus der österreichischen Zeit – zuteil wurden, sind bekannt:24 Die Errichtung des Seminars bei der Barbara-Kirche 1774 in Wien und dessen Verlegung nach Lemberg zehn Jahre später sollten eine solide Ausbildung des Klerus gewährleisten, die Wiedererrichtung der Metropolie von Halyè im Jahr 1808 machte den Erzbischof von Lemberg, der bisher den Titel eines Metropoliten von Kiew trug, auch zum Metropoliten im eigenen Land; eine Besoldung der Kleriker führte zu deren sozialer Absicherung. Dass diese Maßnahmen von der Kirchenspitze, vor allem den Metropoliten auf dem Georgs-Hügel, mit absoluter Loyalität und Dankbarkeit erwidert wurden, ist verständlich. Dass man umgekehrt die Auswahl dieser Kirchenfürsten in Wien traf – bis ins späte 19. Jahrhundert gab es keinen Metropoliten, der nicht auch in Wien studiert hatte25 – entsprach nicht den Traditionen der ukrainischen Kirche, dafür aber dem Geist des Josephinismus. Die höchste Autorität, die der Metropolit beim Volk genoss – es gab keine Fürsten mehr und auch so gut wie keinen ukrainischen Adel – war auf diese Weise immer auch Garant für die Treue des einfachen Volkes dem Haus Habsburg gegenüber. Betrachtet man heute die Porträts dieser Metropoliten an den Säulen der Georgskathedrale in Lemberg, so fällt auf, dass ein jeder dieser Herren über seinem Ornat auch einen hohen österreichischen Orden trägt – die Verdienste der geistlichen Führer der Ruthenen standen also auch für Wien außer Zweifel. Das Jahr 1848 zeigte einmal mehr, wie sehr die oberste Kirchenführung auch die Führung der Nation übernahm. Der Bischof Hryhorij Jachymovyè stand an der Spitze des Ruthenischen Hauptrates26, jenes Gremiums, das sich 149 als oberste Vertretung der Ruthenen in Lemberg konstituierte und das sehr gemäßigte Forderungen in Form einer Petition an den Kaiser Ferdinand formulierte. Ist es Zufall, dass eben jener Jachymovyè zehn Jahre später zum neuen Metropoliten bestimmt wurde? Die allzu große Österreich-Nähe der griechisch-katholischen Kirche, die auch in Rom nicht immer auf Verständnis stieß, führte zu einer ernsten Krise im Jahr 1882, als eine einfache Gemeinde in Galizien offiziell darum bat, von der griechisch-katholischen zur russisch-orthodoxen Kirche übertreten zu dürfen, weil dort die genuin byzantinischen Traditionen besser erhalten seien27 – österreichischer und römischer Einfluss hätte in der Landeskirche das Wesentliche verdrängt. Das musste wie ein Blitz aus heiterem Himmel gewirkt haben, und wenn man darauf auch mit großen personalen Veränderungen in der Hierarchie reagierte, konnte das dennoch nicht über einen großen Autoritätsverlust hinweg täuschen. Die griechisch-katholische Kirche genoss nicht mehr das Vertrauen der nationalen Bewegung der Jungruthenen, sie hatte den Einfluss auf die nationale Intelligenz verloren, die neu gegründeten politischen Parteien standen ihr feindlich gegenüber. Es bedurfte wohl einer Persönlichkeit wie der des Metropoliten Andrij Graf Šeptyc’kyj (1865–1944)28, um diese Verluste im 20. Jahrhundert wieder gutzumachen. Auch diese wenigen Daten aus der Geschichte der griechisch-katholischen Kirche zeigen, wie Loyalität auf der einen und Bevormundung auf der anderen Seite miteinander korrelieren, wobei der Abhängige – in Saids Terminologie der „Kolonisierte“ – Einstellungen, Denkweisen und Wertvorstellungen der Schutzmacht übernimmt, die dadurch auch Züge einer kolonialen Macht annimmt. Anmerkungen 1 Mychajlo HRUŠEVS’KYJ, Istorija ukrajins’koji literatury, Bd. 5, 2, Kyjiv 1995, Untertitel. 2 Vgl. Oskar WAGNER, Reformation und Orthodoxie in Ostmitteleuropa im 16. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Ostforschung 35 (1986), S. 18–61, insbesondere S. 49–51. 3 Vgl. Michael MOSER, Kleine Sprachgeschichte des Ukrainischen der mittleren Periode, in: Juliane BESTERS-DILGER, Michael MOSER, Stefan SIMONEK (Hg.), Sprache und Literatur der Ukraine zwischen Ost und West, Bern u. a. 2000, S. 127–144, insbesondere S. 135–138. 150 4 Vgl. Edward SAID, Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht, Frankfurt a. M. 1994 (engl. Original: 1993), S. 30, S. 51. 5 Vgl. Johann WELYHORSKYJ, Die Anfänge der ukrainischen Literatur in Galizien mit besonderer Berücksichtigung der literarischen Tätigkeit des Markijan Šaškevyè, Dissertation Universität Wien 1923, S. 81–88. 6 Vgl. Katja STURM-SCHNABL, Franz Miklosich als Wegbereiter bei der Entstehung der ukrainischen Schriftsprache, in: Juliane BESTERS-DILGER, Michael MOSER, Stefan SIMONEK (Hg.), Sprache und Literatur der Ukraine zwischen Ost und West, Bern u. a. 2000, S. 195–209. 7 Zit. nach ebenda, S. 197. 8 Vgl. Hermann BIEDER, Ukrainistische Sprachwissenschaft im österreichischen Galizien (1848–1918), in: Juliane BESTERS-DILGER, Michael MOSER, Stefan SIMONEK (Hg.), Sprache und Literatur der Ukraine zwischen Ost und West, Bern u. a. 2000, S. 177–193, vor allem S. 185–186. 9 Vgl. Paul R. MAGOCSI, The Language Question in Nineteen-Century Galicia, in: Riccardo PICCHIO, Harvey GOLDBLATT (Hg.), Aspects of the Slavic Language Question, Volume 2, New Haven 1984, S. 49–64, insbesondere S. 54–55. 10 WELYHORSKYJ, Die Anfänge der ukrainischen Literatur, S. 82–83. 11 Vgl. Stefan BARAN, Die erste ukrainische politische Organisation, in: Ukraine in Vergangenheit und Gegenwart 1, 2 (1954), S. 80–84. 12 Vgl. dazu das Huldigungsgedicht auf Franz Joseph anlässlich seines Besuches in Lemberg 1855, in: Zorja Halycka 8 (1855), Nr. 25 vom 22. Juni. 13 Vgl. Oleh TURIJ, Halyc’ki rusyny miz moskofil’stvom i ukrajinstvom (do pytannja pro tak zvane „starorusynstvo“), in: Tretij miznarodnyj kongres ukrajinistiv. Istorija èastyna I, Charkiv 1996, S. 108–112. 14 Vgl. SAID, Kultur und Imperialismus, S. 268–275. 15 Vgl. Zoran KONSTANTINOVIÆ, Wien als Schnittpunkt slawischer Sprachbesinnung, in: Ingeborg OHNHEISER (Hg.), Wechselbeziehungen zwischen slawischen Sprachen, Literaturen und Kulturen in Vergangenheit und Gegenwart, Innsbruck 1996, S. 17–25. 16 Eine vollständige Ausgabe aller deutschen FEDKOVYÈ-Gedichte findet sich in: Poezyji Osypa Jurija Fed’kovyèa. Perše povne i krytyène vydanje, Bd. 1, L’viv 1902, S. 711–783. 17 Ol’ha KOBYLJANS’KA, Do Mychajla Pavlyka, in: DIES., Tvory v p’jaty tomach, Bd. 5, Kyjiv 1962–63, Lysty, S. 249. 18 Vgl. Alois WOLDAN, Zur Rezeption der ukrainischen Literatur im deutschen Sprachraum, in: Peter JORDAN, Andreas KAPPELER, Walter LUKAN, Josef VOGL (Hg.), Ukraine. Geographie – Ethnische Struktur – Geschichte – Sprache und Literatur – Kultur – Politik – Bildung – Wirtschaft – Recht, Wien u. a. 2001 (Österreichische Osthefte Sonderband 15), S. 609–628, insbesondere S. 615–616. 19 Vgl. Günther WYTRZENS, Zum literarischen Schaffen Frankos in deutscher Sprache, in: Wiener Slavistisches Jahrbuch 37 (1991), S. 103–112. 20 Der Großteil dieser Beiträge findet sich in: Eduard WINTER, Peter KIRCHNER (Hg.), Ivan Franko. Beiträge zur Geschichte und Kultur der Ukraine. ^ ^ 151 21 22 23 24 25 26 27 28 Ausgewählte deutsche Schriften des revolutionären Demokraten (1882–1905), Ost-Berlin 1963. Vgl. SAID, Kultur und Imperialismus, S. 275. Ebenda, S. 107. Vgl. Oleh TURIJ, Griechisch-Katholiken, Lateiner und Orthodoxe in der Ukraine: gegeneinander, nebeneinander oder miteinander? Druckfassung eines Vortrags vom IV. Kongress Renovabis, Freising, 15.09.2000. Vgl. Alexander OSTHEIM-DZEROWYCZ, Österreich und die Ukraine. Ein Beitrag zur Kulturpolitik, in: Viribus Unitis. Österreichs Wissenschaft und Kultur im Ausland. Impulse und Wechselbeziehungen. Festschrift für Bernhard STILLFRIED aus Anlass seines 70. Geburtstags, Bern u. a. 1996, S. 313–320. Vgl. John-Paul HIMKA, The Greek Catholic Church in Nineteenth-Century Galicia, in: Geoffrey HOSKING (Hg.), Church, Nation and State in Russia and Ukraine, London 1991, S. 52–64. Vgl. G. PROKOPTSCHUK, Lemberg – Mittelpunkt des kirchlichen Lebens, in: Ukraine in Vergangenheit und Gegenwart 1, 2 (1954), S. 56–71, insbesondere S. 64. Vgl. HIMKA, The Greek Catholic Church, S. 59. Vgl. PROKOPTSCHUK, Lemberg – Mittelpunkt, S. 64–71. 152 Zum Problem der Kolonisierung Galiziens. Aus den Debatten des Ministerrates und des Reichsrates in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Hans-Christian Maner Vor dem Ersten Weltkrieg stellte der Reichsratsabgeordnete Ignaz Rosner fest, dass Galizien „nicht das ‚befriedigte‘ und österreichische Land gewesen sei, das man gerne gehabt hätte.“1 Diese Aussage charakterisiert treffend die Periode der österreichischen Herrschaft über Galizien, die zumindest eines verdeutlichen will: das Scheitern der Politik Wiens gegenüber dem nordöstlichen Kronland. Entgegen dieser Entwicklung waren die Habsburger nach dem Erwerb Galiziens nach der ersten Teilung Polens im Jahr 1772 zunächst darum bemüht, „mit umsichtiger Sorgfalt“ das neue Gebiet der Monarchie einzugliedern. Dazu dienten umfangreiche staatliche Maßnahmen – wie das Stichwort „Einrichtungswerk Galizien“ verdeutlicht –, die die Abschaffung des polnischen Ständestaates, die Bildung einer in allen Ländern der Monarchie ähnlichen Zentralverwaltung, letztendlich den Ausbau Galiziens zum Musterland der neuen Staatsordnung zum Ziel hatten. Die Schlagworte waren Modernisierung, Vereinheitlichung und Modellisierung. Die Grundvoraussetzung für diese Vorgehensweise, nämlich der historische Anspruch auf den Besitz von Galizien, wurde ebenfalls planstabsmäßig geschaffen. So konnte es in einer Denkschrift dann auch heißen, dass sich die Rechte Österreichs „also von älteren Zeiten her begründen, als die Pacta Conventa und Nobilitar-Privilegien der Pohlnischen Nation sind“, daher „sind […] wir also ohne mindesten Anstand berechtigt […], alle diejenigen Veränderungen in diesem Antheil zu treffen, welche Uns billig denen Umständen angemessen und Nutzbahr und Räthlich scheinen.“2 Doch trotz dieser Bemühungen tauchten bereits bei der Inbesitznahme Galiziens in Wien jene ambivalenten Positionen hinsichtlich der Funktion des neuen Gebietes auf, die auch während des 19. Jahrhunderts immer wieder zum Vorschein kamen. In den Vorstellungen Maria Theresias und Josephs II. sollten die besetzten polnischen Gebiete „als Aushilfe und Unterstützung der 153 übrigen Erbländer“ dienen.3 Zugleich offenbarte Joseph II. aber auch eine unstete und widerspruchsvolle Haltung. Der Kaiser strebte zwar einerseits den Aufbau der Provinz an, doch war für ihn andererseits die Angliederung der neuen Gebiete an die Monarchie nur eine vorübergehende Maßnahme. Dieser Zustand hielt an: „Die Wiener Zentralbehörden hatten sich bis in die 1880er Jahre noch immer nicht endgültig entschieden, ob Galizien als dauernder oder nur als ein vorübergehender Besitz des Habsburger Reiches anzusehen sei.“4 Im Folgenden soll es nun darum gehen, der Herrschaftspolitik Wiens in Galizien im Spiegel der Debatten des Minister- und des Reichsrates an zwei konkreten Beispielen nachzugehen, am Januaraufstand von 1863 mit seinen Implikationen für Galizien als Teil der Habsburgermonarchie sowie am Beispiel der polnischen Autonomiebestrebungen für Galizien nach 1868. Diese Ereignisse beschäftigten nicht nur die beiden Wiener Foren ausführlich, sie legten auch Grenzen und Möglichkeiten einer Politik der Kolonisierung offen. Die zweideutige Haltung Wiens gegenüber Galizien hielt sich hartnäckig und kam während eines zentralen Ereignisses des 19. Jahrhunderts für die Region, des polnischen Aufstandes von 1863, erneut zum Vorschein. Die Ausbreitung des Aufstandes im russisch besetzten Teil Polens bis hin nach Litauen ging mit steigenden politischen Spannungen in Galizien einher, die insbesondere durch den Zuzug von Aufständischen aus verschiedenen Ländern sowie aus Russisch-Polen genährt wurden.5 Durch die beinahe offene Werbung der Polen in Galizien für den Aufstand sah sich Österreich mit dem Vorwurf Russlands konfrontiert, die aufständische Bewegung würde aus Galizien weitere Impulse erhalten. Nicht nur diese Anschuldigung, die Wien bemüht war zu widerlegen, begünstigte die Agitation und verunsicherte die Bevölkerung und insbesondere die Bauern in Galizien. Der Minister Joseph Lasser Ritter von Zollheim betonte in diesem Zusammenhang in der Sitzung des Ministerrates am 10. März 1863, dass „man durch unzeitige und allzu eifrig betriebene Widerlegungen von Fragen, zum Beispiel Wiederherstellung Polens, Abtretung Galiziens und dergleichen, die ja als gar keiner Frage unterliegend gelten sollten, die Irrtümer erst auf dem flachen Land recht verbreite.“6 Diese Aussagen bestätigte der Statthalter von Galizien, Graf MensdorffPouilly, in einem Bericht an General Graf Degenfeld-Schonburg. Es herrschte demnach die Meinung vor, dass die Monarchie geneigt sei, Galizien gegen eine Entschädigung im Süden abzutreten, um so die Wiederherstellung Polens zu ermöglichen.7 Wien bemühte sich zwar, solche Vermutungen und 154 Stimmungen gezielt durch Zeitungsartikel zu zerstreuen, und auch der Kaiser ließ in einem Beschluss vom 10. März verlauten, dass er „am Besitz von Galizien festhalten“ wolle,8 doch konnten die Unsicherheiten nicht endgültig ausgeräumt werden. Die labile Position Galiziens wurde auch während der Verhandlungen der Großmächte bezüglich der Abhaltung eines Kongresses über die polnische Frage erneut sichtbar. Inmitten des diplomatischen Austausches über den polnischen Aufstand – am 17. April 1863 hatten Frankreich und England sehr ähnliche Noten und die Österreicher eine etwas mildere Note an Russland übergeben, in denen die Einhaltung der 1815 von Russland gegenüber Polen übernommenen Verpflichtungen gefordert wurde – beriet der Ministerrat über das künftige Vorgehen. Kurz vor dieser Beratung hatte Österreich von Frankreich die Aufforderung erhalten, seine Position entschiedener zu formulieren, und auf jeden Fall sollte sich Österreich auch der Forderung nach einem Waffenstillstand in Polen anschließen.9 Der Außenminister wehrte sich gegen Frankreich, das die Sachlage zu verdrehen bemüht sei. Österreich gehe es einzig und allein um den Frieden, den es für seine innere Entwicklung benötige. Gegen die Forderung Frankreichs sagte der Minister, dass sich Russland den Waffenstillstand mit der Revolution nicht vorschreiben lassen könne, dies würde eher eine Anstachelung zum Krieg sein. Österreich wolle auch keine Politik verfolgen, die das Übergewicht Frankreichs auf dem Kontinent fördere.10 Als Folge dieser Machtausdehnung fürchtete Österreich um seinen inneren Frieden nicht nur in Ungarn, Siebenbürgen, den südslawischen und italienischen Ländern, sondern auch und insbesondere in Galizien.11 Der Staatsminister wies darauf hin, dass das eigentliche Ziel der napoleonischen und auch der englischen Politik „die Restauration eines unabhängigen Polenreiches“ sei. Damit würde auch der Verlust Galiziens einhergehen. Diese Politik der Restauration lehnte Österreich nicht nur deswegen ab. Mit der Erstehung Polens als souveränem Staat würde an den Grenzen ein Herd der Revolution geschaffen, wobei der Funke leicht auch nach Ungarn und Siebenbürgen überspringen könnte. Zwar sei Russland kein „guter Nachbar“, „aber was kann man von einem durch die Revolution geschaffenen und durch zügellose Parteien abwechselnd beherrschten Polen erst erwarten“.12 Zugleich würde auch das Opfer Galizien nicht dazu führen, in Frankreich einen treuen Freund und eine Garantie für den Besitz in Italien zu gewinnen. Ein Zusammengehen mit den Westmächten bedeute lediglich den Verlust einer „schöne[n] Provinz“ „ohne irgendeine Kompensation“. Doch Ös- 155 terreich fürchtete nicht nur Frankreich, sondern auch Russland, die beide Unruhe in die Kronländer bringen würden. „Bei solchen Aussichten erscheint es klüger und würdiger, dass Österreich bei der Wahl seiner Politik in der polnischen Frage nur seine eigenen Interessen zu Rate ziehe und sein gutes Recht auf Galizien zu schützen bedacht sei.“13 Leitender Grundsatz der künftigen österreichischen Politik bezüglich des polnischen Aufstandes war neben der Wahrung der inneren Ruhe und Sicherheit das Festhalten an der Neutralität nach außen hin. Ähnlich wie zehn Jahre zuvor während des Krimkrieges war Wien darum bemüht, auf Zeit zu spielen, um von einer neutralen Position aus den inneren Frieden zu wahren. Dabei sollte sowohl ein Bruch mit Russland als auch ein Konflikt mit den Westmächten vermieden werden. Außerdem sollten keine Konzessionen an Russland befürwortet werden, zumal man in Wien fürchtete, dass neben Ungarn und Venetien auch Galizien gegenüber solche Begehren angestellt werden könnten.14 Die Antwortnote aus St. Petersburg auf das Vorgehen der Westmächte war zwar in einem versöhnlichen Ton gehalten, doch lehnte Russland einen Waffenstillstand ab, da er vom praktischen Standpunkt aus unmöglich sei. Zugleich verwarf St. Petersburg den Konferenzvorschlag. Nach russischen Vorstellungen sollte die polnische Frage zunächst von den Territorialmächten Österreich, Preußen und Russland vertraulich besprochen werden. Das Ergebnis sollte dann der Konferenz der acht Mächte zur Ratifizierung vorgelegt werden. Auf diesen Vorschlag konnte Österreich unter gar keinen Umständen eingehen, weil dadurch Galizien in die Verhandlungen hineingezogen worden wäre, und das sollte um jeden Preis vermieden werden. Die russische Reaktion rief in Wien Sorgen hervor, da man im Westen, wo die Konferenz und der Waffenstillstand als Hauptpunkte angesehen worden waren, nun Schritte unternehmen könnte, die nicht mehr gutzumachen wären. Außenminister Graf Rechberg empfahl daher, dass Österreich die Initiative zu ergreifen habe: Es sollte die russischen Vorschläge zwar ablehnen, aber gleichzeitig neue unterbreiten. Letztere sollten in folgende Richtung gehen: Statt der Dreierkonferenz sollte eine Vorkonferenz zwischen Österreich, Frankreich, England und Russland abgehalten werden; das Resultat sollte der Konferenz der acht Mächte (England, Frankreich, Österreich, Portugal, Preußen, Russland, Schweden, Spanien) zur Ratifizierung unterbreitet werden.15 Die diplomatische Lage Österreichs schien sich durch die polnische Frage gerade im Hinblick auf Galizien zu verschlechtern. In der Sitzung des 156 Ministerrates vom 1. November 1863 sah der Außenminister einen Frieden noch in weiter Ferne. Daher skizzierte er die Position Österreichs gegenüber einem möglichen bevorstehenden Krieg:16 1. Der Abschluss eines Bündnisses mit Russland würde den Angriff Frankreichs, Piemonts sowie Revolutionen an den südlichen Landesgrenzen zur Folge haben. Außerdem wäre in diesem Fall eine Kooperation mit Preußen notwendig. 2. Der Anschluss Österreichs an die Westmächte gegen Russland würde zur Wiederherstellung Polens führen, doch benötige Wien Garantien für den Fortbesitz Galiziens. 3. Die vollkommene Neutralität wäre für Österreich die beste Lösung, doch sei sie nicht möglich. Ein vereintes Deutschland als starken Partner, das die Neutralität ermöglichen könnte, gebe es nicht. So wäre man dann allein Frankreich oder möglicherweise den Verbündeten Frankreich und Russland ausgesetzt. Nachdem auch Metternich diesem Szenario des Außenministers zugestimmt hatte, folgerte der Staatsminister daraus, dass der einzig gangbare Weg eine Allianz mit den Westmächten sei, das heißt, man müsse, wenn es die Umstände erforderten, „mit den Wölfen heulen“. Man wäre also für die Erfüllung der Forderungen. Einzig und allein einer Wiederherstellung Polens mit dem Verlust Galiziens könne nicht zugestimmt werden. „Es wäre politischer Selbstmord, den Damm zu zerstören, der das zerwühlte Kongresspolen von Ungarn scheidet, und keine Eroberungen an der unteren Donau oder sonst wo könnten uns für den Verlust der treugesinnten galizischen Landbewohner entschädigen. Daher verschaffe man sich über diesen Besitz die positivsten Garantien!“17 Im Fall einer Allianz mit den Westmächten müssten Wien ganz klare Garantien für den Erhalt Galiziens gegeben werden. Während Fürst Metternich solche Garantien von Seiten Frankreichs nicht für unmöglich erachtete, warnte der Kriegsminister davor, Paris zu weitreichende Zusicherungen zu geben. Der Finanzminister brachte einen weiteren Aspekt in die Überlegungen ein. Wegen der laufenden Darlehensverhandlungen dürfe es zu keinem Krieg kommen, Napoleon sollte hingehalten werden, und bezüglich der sechs Punkte betreffend Polen sollte man ihm möglichst weit entgegenkommen. Zeit könnte man außerdem gewinnen, indem man die Einführung von restriktiven Maßnahmen in Galizien verkünden würde. Aus den Beratungen schlussfolgerte der Kaiser:18 Erstens werde Galizien nicht aufgegeben, zweitens werde man sich zu keiner abenteuerlichen Politik hinreißen lassen, sondern die bisherige politische Richtung verfolgen. Drittens sollte im Einvernehmen 157 mit England auf die Fortsetzung des Friedens hingearbeitet werden. Sollte es viertens im Frühjahr zu einem Krieg kommen, in dem Österreich nicht neutral bleiben könne, müsse man von den Westmächten „kategorische Erklärungen über die Garantie des Besitzes von Galizien begehren, da die Wiederherstellung eines selbständigen Gesamtpolenreiches nicht zugegeben werden könne.“ Der Außenminister ergänzte dazu, dass der Fortbestand Galiziens neben einem unabhängigen Polen „nicht haltbar sein werde.“ Das Vorgehen Russlands gegen die Aufständischen führte schließlich zu einem Erlahmen der Aktionen in Kongress-Polen. Damit schwand auch die Gefahr einer kriegerischen Auseinandersetzung der Großmächte zusehends. Im Gegensatz zur außenpolitischen Beruhigung war jedoch die Lage im Inneren noch sehr gespannt. Der Zuzug von flüchtenden Aufständischen nach Galizien sowie der absehbare Zusammenbruch des Aufstandes spitzten die Lage zu. Die Probleme aus Kongress-Polen schienen sich nach Galizien zu verlagern, in Krakau gewannen die politischen Aktivitäten für die Polen immer größere Bedeutung. Es tauchten sogar Gerüchte über einen möglichen Aufstand in der Monarchie auf.19 Wien reagierte mit Sondermaßnahmen und der Kaiser genehmigte wegen der Lage in Galizien die folgenden außerordentlichen Bestimmungen:20 erstens die Überweisung der Untersuchungen über Mord und Hochverrat an die Militärgerichte; zweitens die Außerkraftsetzung des Gesetzes über die persönliche Freiheit; drittens die Einräumung einer „diskretionären Gewalt“ für den galizischen Statthalter, ähnlich jener, wie sie die Statthalter von der Lombardei und von Venetien erhalten haben; viertens die Erlassung eines Manifests an die Bewohner Galiziens, in dem die Gründe für die obengenannten Punkte eins bis drei erläutert würden. Dass der Kaiser dann im Manifest seinen Willen explizit ausdrückte, „die Verbindung Galiziens mit der Gesamtmonarchie aufrechtzuerhalten“, zeigt, dass Bedenken über die Sicherheit des Besitzes von Galizien nach wie vor vorhanden waren. Zugleich machten auch die Stellungnahmen der Minister deutlich, dass der Belagerungszustand eine labile Situation festigen sollte, zumal sich Galizien „in einer Art von politischer und administrativer Dekomposition“ befinde.21 Beobachtungen der Sicherheitsdienste bestätigten diese Haltung. Durch die steigende Zahl von Revolutionären aus den verschiedensten Ländern innerhalb der Monarchie stieg die Furcht vor einem Aufstand „dies- und jenseits der Grenze“22. Wien sah den Bestand von Galizien gefährdet, zumal die Rebellion die Grenze außer Kraft zu setzen drohte. Der Januaraufstand hatte neben den außenpolitischen Auswirkungen und Einwirkungen auf Galizien auch innenpolitisch weitreichende Folgen. Mit 158 seinem Ende setzte die Phase des pragmatischen Realismus ein – „praca organiczna“ (organische Aufbauarbeit). Das heißt, die polnische adelige Führungsschicht änderte ihr politisches Ziel: Statt Unabhängigkeitskampf verfolgte sie nun die Landesautonomie.23 Die Loyalität zum Gesamtstaat sollte die möglichst freie Entfaltung des Landes und der nationalen Kultur ermöglichen.24 Galizien drohte nun nicht mehr, Wien durch außenpolitische Konstellationen und zentrifugale Kräfte verloren zu gehen. Mittels einer neuen Konzeption sollte das Kronland nun innerhalb der Monarchie neu platziert werden. Nach dem polnischen Aufstand änderte Wien seine Politik gegenüber Galizien. Die außenpolitischen Erfahrungen sowie insbesondere die innenpolitischen Zwänge, wie der Ausgleich mit Ungarn, führten dazu, dass Wien die direkte Einwirkung auf Galizien den lokalen Politikern im Kronland selbst überließ und somit die Polonisierung förderte. Dieser eingeschlagene Weg bot Wien jedoch keineswegs eine Garantie für den weiteren Bestand des Gebietes innerhalb der Monarchie. In den Debatten des Abgeordneten- und Herrenhauses forderten Vertreter des Polenklubs selbstbewusst immer mehr nationale Selbstverwaltungsrechte. In ihren Begründungen scheuten sie sich auch nicht, Österreich die historische Legitimation für den Besitz von Galizien abzusprechen: Es sei „ohne Vertrag“ an Österreich gekommen. Statthalter Go³uchowski bezeichnete Galizien öffentlich als einen „Teil Polens“ und er sah, dass die autonomen Bestrebungen die Wiederentstehung Polens und damit das Ausscheiden Galiziens aus der Monarchie beabsichtigten.25 Diese Debatte führte zwar zur Demission des Ministerpräsidenten Graf Carl Auersperg am 24. Oktober 1868 und zur Entlassung von Graf Go³uchowski als Statthalter, doch die Entwicklung konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden. Symptomatisch war daher die Äußerung des Abgeordneten des Polenklubs Jaworski, der sich im Februar 1890 beschwerte, die österreichischen Beamten würden Galizien wie ein besetztes Land behandeln: Als Galizien nach der ersten Teilung Polens an Österreich fiel, war es während der französischen Kriege der Spielball der Politik. Je nach den Ereignissen auf dem Kriegsschauplatze fiel bald dieser, bald jener Teil des Landes Österreich zu oder ab. Man glaubte in Wien nicht an den festen Besitz dieses Landes und war bestrebt so viel als möglich Geld- und Menschenmaterial herauszupressen. Als sich nach dem Kriege von 1815 die Zustände in Europa konsolidiert hatten und Galizien mit dem Reiche verbunden wurde, ging man nicht daran, die Wunden, die der Krieg geschlagen hatte, zu heilen, nicht daran, das Land in kultureller und ökonomischer Hinsicht zu heben, nein, Galizien war das gelobte Land einer von allen Gegenden hergelaufenen Bureaukratie, der es nur darum zu tun war, Karriere zu machen und sich zu bereichern.26 159 Diese Äußerung blieb nicht unwidersprochen, Minister Zaleski entschuldigte sich sogar für seinen Klubkollegen. Langfristig zeichneten die Argumente aber dennoch den Weg, der zum Ausscheiden Galiziens aus der Monarchie führen sollte. Die Ablösung der Germanisierungs- durch eine Polonisierungspolitik hatte noch weitere Auswirkungen zur Folge. Insbesondere die „galizische Resolution“ von 1868, die die nationalen Forderungen der Polen beinhaltete, rief den Protest der Ruthenen hervor. Diese beharrten nun ihrerseits auf einer administrativen Abtrennung Ostgaliziens und der Einführung der ruthenischen Sprache in Ämtern und Schulen in diesem Gebiet.27 Die Haltung der Ruthenen gegenüber dem kolonisatorischen Vorgehen der Polen in Galizien wird in dem Schreiben des Metropoliten Sembratowicz an den Kaiser von 1870 deutlich, in dem er sich gegen die vom galizischen Landtag verabschiedete Resolution wehrte: Denn sie nimmt dem ruthenischen Volk seine politische Stellung, macht die ruthenische Frage zu einer inneren Angelegenheit Galiziens und überlässt die Ruthenen der Willkür der unnatürlichen polnischen Mehrheit des Landtages, die von der Gleichberechtigung der Ruthenen mit den Polen nichts wissen will. Die Resolution ist nicht der Ausdruck der Mehrheit der Bevölkerung Galiziens.28 Im Reichsrat war der Konflikt zwischen Polen und Ruthenen in Galizien durch die regelmäßigen Beschwerden ruthenischer Abgeordneter über den sich wiederholenden Wahlmissbrauch der Polen präsent.29 Zugleich kristallisierte sich in den während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eskalierenden Auseinandersetzungen zwischen Polen und Ruthenen immer deutlicher auch eine Spaltung des Gebietes in West- und Ostgalizien heraus. So protestierten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Ruthenen gegen den Gedanken der Einbeziehung Ostgaliziens in einen künftigen polnischen Staat.30 In diesem Zusammenhang gab es unter den Ruthenen unterschiedliche Vorstellungen, die auch im Reichsrat bekannt wurden. Während eine Fraktion den großrussischen Standpunkt vertrat und eine Vereinigung mit Russland anstrebte, forderten die so genannten Kleinrussen eine Vereinigung aller ruthenischen Gebiete zu einem Sonderstaat. Beide Gruppierungen traten aber gegen eine polnische Vorherrschaft in Galizien auf.31 Besondere Sorge bereiteten Wien jedoch die russophilen Ruthenen, die sich hilfesuchend an Russland wandten und zugleich auch die Abtrennung von Ostgalizien vorantrieben.32 160 * Der Januaraufstand von 1863 legte die labile Lage Galiziens innerhalb der Habsburgermonarchie offen, dadurch geriet eine erfolgreiche Weiterführung der Kolonisierung von Wien aus ins Stocken. Zugleich deckten die Ereignisse der 1860er Jahre, wie sie aus den Debatten des Ministerrates in Wien hervorgingen, die Bedingungen und Grenzen der Kolonisierung im Falle Galiziens auf. Die Umstände, unter denen das Gebiet an Österreich kam, forderten von Wien immer wiederkehrende Legitimitätsdiskurse zur Rechtfertigung seines Besitzes. Erschwerend kam hierfür die uneinheitliche und zweideutige Position Wiens bezüglich der Funktion und Position des nordöstlichen Erwerbs hinzu. Schließlich war die Kolonisierungspolitik Wiens sehr stark von Galizien als Grenzregion geprägt und unterlag der labilen außenpolitischen Konstellation in besonderem Maße. Die im Zusammenhang mit der Entfaltung der Autonomie in Galizien einsetzende Binnenkolonisierung kann sozusagen gemäß den Debatten im Reichsrate als eine logische Folge der Ereignisse um den Januaraufstand verstanden werden. Die von den Polen ausgehende Aktion hatte ihrerseits mit Problemen der Abgrenzung und Legitimation zu kämpfen, die schließlich nicht in einer Vereinheitlichung und Homogenisierung, sondern in einer Differenzierung mündeten. Anmerkungen 1 Dieser Beitrag entstand im Rahmen des von der VW-Stiftung geförderten Forschungsprojekts „Grenzräume und ihre Funktionen an den Rändern Europas: Galizien und die Bukowina im Kalkül der Donaumonarchie im 19. Jahrhundert“. Zitiert nach Ursula PRUTSCH, Die Polen- und Ruthenenpolitik der k.u.k. Monarchie 1911–1918 aus der Sicht Leopold von Adrians, in: Wolfgang MÜLLER-FUNK, Peter PLENER, Clemens RUTHNER (Hg.), Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie, Tübingen–Basel 2002, S. 279. 2 Zitiert nach Horst GLASSL, Das österreichische Einrichtungswerk in Galizien (1772–1790), Wiesbaden 1975, S. 100; dazu auch Leo J. HACZYNSKI, Two Contributions to the Problem of Galicia, in: East European Quarterly IV/1 (1970), S. 94 f. 3 Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Wien, Hofkanzlei, Kart. 229. Pro Nota des Grafen Pergen v. 30. August 1772; hier zitiert nach GLASSL, Das österreichische Einrichtungswerk, S. 35. 161 4 Vgl. ebenda, S. 91. Vgl. Stanis³aw GRODZISKI, Historia ustroju spo³ecznopolitycznego Galicji 1772–1848. Wroc³aw u. a. 1971, S. 128–144; vgl. Roman ROSDOLSKY, Untertan und Staat in Galizien. Die Reformen unter Maria Theresia und Joseph II., Mainz 1992, S. 249–255. 5 Aus der Fülle der Literatur zum Aufstand siehe Stefan KIENIEWICZ, Powstanie styczniowe, Warszawa 1972; vgl. Hans-Werner RAUTENBERG, Der polnische Aufstand von 1863 und die europäische Politik im Spiegel der deutschen Diplomatie und der öffentlichen Meinung, Wiesbaden 1979; zu Galizien vgl. außerdem den Dokumentenband von Stefan KIENIEWICZ, I. MILLER (Hg.), Powstanie Styczniowe. Materia³y i dokumenty. Galicja w powstaniu styczniowym, Wroc³aw 1980. 6 Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848–1867. V. Abt., Bd. 5: 3. November 1862–30. April 1863. Bearb. v. Stefan MALFÈR, Wien 1989, Nr. 328, S. 284; vgl. Hanns SCHLITTER, Die Frage der Wiederherstellung Polens im österreichischen Ministerrat 1863, in: Österreichische Rundschau 58 (1919), S. 63–69; vgl. Richard B. ELROD, Austria and the Polish Insurrection of 1863. Documents from the Austrian State Archives, in: International History Review 8 (1986), S. 416–437. 7 Sitzung des Ministerrates vom 13. März 1863, in: Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848–1867. V. Abt., Bd. 5, Nr. 330, S. 293–294. 8 Ebenda. ´ 9 St. von KOZMIAN, Das Jahr 1863. Polen und die europäische Diplomatie. Wien 1896, S. 288–292, S. 303. 10 Sitzung des Ministerrates vom 19. Mai 1863, in: Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848–1867. V. Abt., Bd. 6: 4. Mai 1863–12. Oktober 1863. Bearbeitet v. Thomas KLETEÈKA, Klaus KOCH, Wien 1989, Nr. 355, S. 39. 11 Ebenda, S. 40. 12 Ebenda, S. 41. 13 Ebenda, S. 41; vgl. Francis Roy BRIDGE, Österreich (-Ungarn) unter den Großmächten, in: Adam WANDRUSZKA, Peter URBANITSCH (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Bd. VI/1: Die Habsburgermonarchie im System der internationalen Beziehungen, Wien 1989, S. 225–226. 14 Sitzung des Ministerrates vom 19. Mai 1863, in: Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848–1867. V. Abt., Bd. 6: 4. Mai 1863–12. Oktober 1863. Bearbeitet v. Thomas KLETEÈKA, Klaus KOCH, Wien 1989, Nr. 355, S. 98. 15 Sitzung vom 22. Juli 1863, in: Ebenda, Nr. 377, S. 204. 16 Sitzung vom 1. November 1863, in: Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848–1867. V. Abt., Bd. 7: 15. Oktober 1863–23. Mai 1864. Bearbeitet v. Thomas KLETEÈKA, Klaus KOCH, Wien 1992, Nr. 420, S. 52–53. 17 Ebenda, S. 54. 18 Ebenda, S. 55. 19 Emil KNORR, Die polnischen Aufstände seit 1830 in ihrem Zusammenhang mit den internationalen Umsturzbewegungen, Berlin 1880, S. 242; vgl. Henryk WERESZYCKI, Austrja a powstanie styczniowe. Lwów 1930, S. 288–290. 20 Vgl. Sitzung vom 5. November 1863, in: Die Protokolle des Österreichischen 162 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 Ministerrates 1848–1867. V. Abt., Bd. 7: 15. Oktober 1863–23. Mai 1864. Bearbeitet v. Thomas KLETEÈKA, Klaus KOCH, Wien 1992, Nr. 412, S. 67–68. Sitzung vom 6. November 1863, in: ebenda, Nr. 413, S. 72. Sitzung vom 18. Februar 1864, in: ebenda, Nr. 445, S. 245–246; vgl. Gustav KOLMER, Parlament und Verfassung in Österreich. Bd. 1: 1848–1869, Graz 1972, S. 149, S. 161. Christoph Freiherr Marschall von BIEBERSTEIN, Freiheit in der Unfreiheit. Die nationale Autonomie der Polen in Galizien nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867. Ein konservativer Aufbruch im mitteleuropäischen Vergleich, Wiesbaden 1993; vgl. Jozef BUSZKO, Galicja 1859–1914. Polski Piemont? Warszawa 1989; vgl. Konstanty GRZYBOWSKI, Galicja 1848– 1914. Historia ustroju politycznego na tle historii ustroju austrii, Kraków et. al. 1959. Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848–1867. V. Abt., Bd. 5: 3. November 1862–30. April 1863. Bearbeitet v. Stefan MALFÈR, Wien 1989, S. XLVI; vgl. Henryk BATOWSKI, Die Polen, in: Adam WANDRUSZKA, Peter URBANITSCH (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 3,1: Die Völker des Reiches, Wien 1980, S. 529–554; vgl. Piotr WANDYCZ, The Poles in the Habsburg Monarchy, in: Andrei S. MARKOVITS , Frank E. SYSYN (Hg.), Nationbuilding and the Politics of Nationalism, Cambridge, Massachusetts 1982, S. 68–93; vgl. James SHEDEL, Austria and its Polish Subjects, 1866– 1914: A Relationship of Interests, in: Austrian History Yearbook 19/20, (1983– 84), S. 23–41. KOLMER, Parlament und Verfassung in Österreich, Bd. 1, S. 354. Ebenda, Bd. 4: 1885–1891, Graz 1978, S. 281. Ebenda, Bd. 1, S. 397–398; vgl. Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Ministerratspräsidium, Nr. 369; vgl. PRUTSCH, Die Polen- und Ruthenenpolitik, S. 276–281; vgl. Wolfdieter BIHL, Die Ruthenen, in: Adam WANDRUSZKA, Peter URBANITSCH (Hg.), Die Habsburgermonarchie, Bd. 3,1, S. 555–584; vgl. Ivan L. RUDNYTSKY, The Ukrainians in Galicia under Austrian Rule, in: Andrei S. MARKOVITS, Frank E. SYSYN, Nationbuilding, S. 23–67; vgl. Jan KOZIK, The Ukrainian National Movement in Galicia 1815–1849, Edmonton 1986. KOLMER, Parlament und Verfassung in Österreich, Bd. 2: 1869–1879, Graz 1972, S. 69. Ebenda, Bd. 6: 1895–1898, Graz 1978, S. 193–194. Ebenda, Bd. 8: 1900–1914, Graz 1980, S. 246, S. 562; vgl. ebenda, Bd. 4: 1885– 1891, Graz 1978, S. 372. Ebenda, Bd. 2: 1869–1879, S. 163; vgl. ebenda, Bd. 3: 1879–1885, Graz 1972, S. 205. Ebenda; vgl. Anna Veronika WENDLAND, Die Russophilen in Galizien. Ukrainische Konservative zwischen Österreich und Russland, 1848–1915, Wien 2001; vgl. DIES., Die Rückkehr der Russophilen in die ukrainische Geschichte: Neue Aspekte der ukrainischen Nationsbildung in Galizien, 1848–1914, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 49, 2 (2001), S. 195. 163 Machtansprüche und kulturelle Muster nichtperipherer Regionen: Die Kernlande Böhmen, Mähren und Schlesien in der späten Habsburgermonarchie Robert Luft Die Tschechoslowakei (ÈSR, Èeskoslovenská republika) war in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts einer der wichtigsten Industriestaaten Europas, ja der Welt. Die neugegründete Republik war der einzige europäische Staat östlich und südöstlich von Deutschland, in dem die Produktion von Investitionsgütern schneller wuchs als diejenige der Konsumgüter.1 Als Exportland gehörte die ÈSR zu den zehn stärksten Volkswirtschaften der Welt und übertraf alte Industrie- und Handelsstaaten wie Belgien und die Niederlande, insbesondere jedoch Österreich und alle anderen Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie. Im globalen Maßstab nahm die ÈSR in der allgemeinen Bewertung, vor allem hinsichtlich des Bruttosozialprodukts pro Einwohner und des Anteils am Welthandel einen Platz zwischen der 12. und 18. Stelle ein.2 Trotzdem hätte die Tschechoslowakei aus politischen und wirtschaftlichen Gründen gute Chancen gehabt, Mitglied eines politischen Zusammenschlusses der zehn wichtigsten Wirtschaftsmächte der Welt – vergleichbar der heutigen G-7-Gruppe des Weltwirtschaftsgipfels – zu werden, wenn es dazu vor der Weltwirtschaftskrise von 1929 gekommen wäre. Österreich mit Wien als altem Herrschaftszentrum der böhmischen Länder oder Ungarn hätten diesem Gremium jedoch keinesfalls angehört. Entscheidend war dabei, dass sich die Wirtschaftskraft der Tschechoslowakei in ihrer westlichen Staatshälfte konzentrierte. Betrachtet man allein diese Teilregion der Tschechoslowakei, die mit den alten habsburgischen Kronländern Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien identisch war, so wird deren ökonomische Überlegenheit gegenüber anderen Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie noch deutlicher. Im Rahmen der europäischen Politik gehörte die Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit zu den international einflussreichen Staaten. Auch im Völkerbund übertraf ihr Gewicht dasjenige Österreichs oder Ungarns. Zudem war die Tschechoslowakei das einzige Land Mittel- und Osteuropas, das in 165 der Zwischenkriegszeit bis Anfang 1938 eine hohe soziale, ethnische und politische Stabilität aufwies. Anders als Österreich und Ungarn überwand die ÈSR in den 1920er Jahren alle politischen und sozialen Krisen und Umsturzversuche von links wie von rechts ohne größere Verwerfungen und ohne Etablierung eines autoritären oder gar totalitären Herrschaftssystems. Obwohl national deutlich weniger homogen als die Rumpfstaaten DeutschÖsterreich oder Trianon-Ungarn war die ÈSR als multinationaler und multikonfessioneller Nationalstaat bis Mitte der 1930er Jahre politisch stabiler als alle anderen Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie.3 Kulturell gehört die ÈSR seit den 1920er Jahren ebenfalls zur europäischen Avantgarde. Künstlerisch waren Prag, Brünn (Brno) und Bratislava (Preßburg) dem damaligen kulturellen Weltzentrum Paris in jeder Hinsicht näher als Wien oder Budapest. Funktionalistische Architektur, Tonfilm und Design mögen an dieser Stelle als Stichworte für die Bedeutung der Tschechoslowakei in der künstlerischen und technischen Moderne genügen.4 Nicht die krisenhafte Moderne Wiens, sondern die nahezu bruchlos verlaufende, optimistische, erfolgreiche Moderne charakterisierte die böhmischen Länder.5 Es handelt sich somit bei der Tschechoslowakei, genauer: bei den böhmischen Ländern, um den seltenen Fall, dass nach einer Sezession eine Nebenlandschaft, eine nicht den alten Herrschaftsmittelpunkt enthaltende Region sich rasch etabliert und den Staat, der das vormalige imperiale Zentrum enthält und der völkerrechtlich und materiell den untergegangenen Staat beerbt, in nahezu allen Bereichen auf den zweiten Platz verweist. Nicht Österreich mit dem alten Reichsmittelpunkt Wien, auch nicht Ungarn mit der zweiten Hauptstadt Budapest, sondern die Tschechoslowakei wurde zur neuen dominierenden Kraft. Inwieweit eine Vergleichbarkeit mit der Entwicklung von Finnland nach dem Zerfall des Russischen Reiches 1917, von Slowenien nach dem Zerfall Jugoslawiens 1991 oder von Katalonien im heutigen spanischen Staatsverband gegeben ist, muss anderen Untersuchungen überlassen bleiben. Dieser Befund erlaubt den Schluss, dass für die ÈSR und insbesondere für die böhmischen Länder somit nach 1918 eine ganze Reihe von Voraussetzungen gegeben war, die sich in kolonisierten Gesellschaften meist nicht entwickeln können. In den böhmischen Ländern war schon im Rahmen der Habsburgermonarchie ein ausreichendes politisches, ökonomisches, gesellschaftliches und kulturelles Potential vorhanden. Es hatten sich bereits eigene Traditionen und Erfahrungen, ein beachtliches Selbstbewusstsein und 166 eine große Entwicklungsdynamik gebildet. Allein dies erlaubt es auszuschließen, dass es sich um ein Territorium und eine Gesellschaft handelte, die sich in einem kolonialistischen Abhängigkeits- und Nachrangigkeitsverhältnis zu einem hegemonialen Machtzentrum befanden. Die Situation nach 1918 ist ein starkes Argument dafür, dass schon vor 1914 die Differenzen zwischen den böhmischen Ländern und dem Herrschaftsmittelpunkt nicht das Ausmaß hatten, das imperialistische und kolonialistische Machtstrukturen sowie Denkund Wahrnehmungsmuster üblicherweise bestimmt. Schließlich bedingt nicht jede regionale Nachrangigkeit oder Abhängigkeit und nicht jedes Herauslösen aus lang anhaltenden Macht- und Herrschaftszusammenhängen eine kolonialistisch-postkolonial hybride Identität. Meine These lautet daher: für die drei böhmischen Länder – und im engeren Sinne damit auch für die tschechische Gesellschaft und ihre Kultur – kann für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht von einer Binnenkolonisierung durch das Zentrum Wien und das deutschsprachige Innerösterreich gesprochen werden. Die besondere Gunstlage und Geschichte der böhmischen Länder schützte diese vor einer inneren Kolonisierung. Auch wenn es innerhalb der böhmischen Länder einzelne Orte innerer Kolonisierung gegeben haben mag, so können Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien als Ganzes nicht als ein Ort österreichischer Kolonisierung interpretiert werden. Die ökonomische, politische und kulturelle Entwicklung und die Stabilität dieses Raumes deuten eher auf das Potenzial für imperiale Ambitionen hin. Die Entwicklung der böhmischen Länder nach 1918 ist beweiskräftig genug. Diese deduktive Beweisführung soll im Folgenden durch acht Teilanalysen ergänzt werden. Dabei werden für verschiedene Sphären die Bedeutung und das Ausmaß der Differenz zwischen dem kaiserlichen Zentrum Wien und den böhmischen Ländern untersucht.6 1. Die Geographie Edward W. Said und andere Vertreter postkolonialer Theorien gehen von einer „Praxis der kulturellen Vorherrschaft eines metropolitanen Zentrums über weit entfernte Territorien“ aus. Für die Habsburgermonarchie oder möglicherweise auch das Osmanische Reich gilt dies nicht. Daher sind diese Ansätze durch das Konzept der Binnenkolonisierung von Nachbargebieten und Nachbarvölkern konkretisiert worden.7 Doch ähnlich wie bei der Theorie der „inneren Peripherien“, die ebenfalls nicht für die böhmischen Län- 167 der greift,8 muss die Relativität der Entfernungen beachtet werden. Peripherien und „imaginierte Regionen“ binnenkolonialistischen Denkens stehen nicht nur dem Zentrum gegenüber, sondern unterscheiden sich auch von semiperipheren Räumen und von Zentrallandschaften zweiten Grades.9 Die böhmischen Länder waren für die Habsburgermonarchie Kernlandschaften. Sie befanden sich sowohl bezogen auf die tatsächlichen Entfernungen und auch auf Erreichbarkeit als auch hinsichtlich der Vorstellungs- und Erfahrungswelt der Zeitgenossen dem Zentrum nahe. Im Zeitalter der Eisenbahnen und des Telegraphen schrumpfte diese Distanz noch. In Altösterreich führten sowohl einige der ersten wie auch die am stärksten frequentierten Bahnlinien von Wien nach Mähren und Schlesien und nach Böhmen. Die böhmischen Länder waren der Reichshauptstadt in jeder Hinsicht näher als periphere Gebiete wie Dalmatien, Siebenbürgen, die Bukowina oder Ostgalizien, teilweise sogar näher als österreichische Kernlandschaften wie Kärnten oder Tirol. Die geographische und die imaginierte räumliche Differenz zum Zentrum war vergleichsweise gering. 2. Herrschaft, Macht und Recht Böhmen, Mähren und Schlesien waren weder eroberte noch gewaltsam annektierte Gebiete. Böhmen gehörte als altes Reichsland und als einziges mittelalterliches Königreich des Heiligen Römischen Reiches seit Jahrhunderten in denselben machtstaatlichen Verband beziehungsweise zur selben dynastischen Territorialunion wie Niederösterreich mit Wien. Der habsburgische Erbanspruch auf diese Gebiete war weder durch die habsburgische Herrschaft nach der „Schlacht am Weißen Berg“ noch durch die josephinische Zentralisierungspolitik am Ende des 18. Jahrhunderts nachdrücklich in Frage gestellt worden. Die Ideologie des „Böhmischen Staatsrechts“, die im 19. Jahrhundert vom Adel und von der tschechischen Politik propagiert wurde, betonte regionale Autonomierechte, stellte aber nicht die habsburgische Dynastie und ihre Herrschaft in Frage. Ohne die böhmischen Länder wären das Herrscherhaus und der sich bildende österreichische Staat nicht zur Dominante im östlichen und südöstlichen Mitteleuropa geworden. Das über Generationen erfolgreich fortgeführte Engagement der Habsburger, diese Gebiete zu beherrschen, völlig zu integrieren und strukturell dem eigenen engeren Machtbereich anzupassen, zeigt, dass es sich nicht um machtpolitisch periphere Regionen handelte. Die Vereinigung der böhmi- 168 schen Hofkanzlei mit derjenigen Innerösterreichs im späten 18. Jahrhundert ist ein Beleg dafür. Dass die Integration weitgehend erfolgreich und nach 1648 auch ohne größere militärische Konflikte – wie sie die polnische oder die ungarische Entwicklung kennzeichneten – verlief, ist ein weiteres Indiz für die breite gesellschaftliche Akzeptanz der zum beiderseitigen Nutzen wirkenden Vereinheitlichungs- und Modernisierungsprozesse. Böhmen, Mähren und Schlesien waren für die Habsburger ein Kernraum ihrer Herrschaft, was auch die zeitweise Residenzfunktion von Prag belegt. So verlegte nicht nur Kaiser Rudolf II. den Reichsmittelpunkt nach Prag, auch Kaiser Ferdinand residierte nach seiner Abdankung auf dem Hradschin. Zudem nahm im Vormärz mit Erzherzog Rudolf von Habsburg ein Mitglied der Herrscherfamilie auch den Stuhl des Erzbistums Olmütz (Olomouc) ein. Mähren war in Krisenzeiten für die Habsburger und ihren Hof neben Innsbruck das wichtigste Rückzugsgebiet. Der beachtliche Anteil von wirtschaftlich ertragreichem Besitz der Herrscherfamilie, insbesondere in Mähren – und der verschwägerten Linie Sachsen-Teschen in ÖsterreichischSchlesien – weist ebenfalls auf die besondere Stellung der böhmischen Länder im Staatsverband hin. Die Länder der böhmischen Krone waren Gebiete mit eigenen Rechtstraditionen und einer alten, durchgehenden, je nach Periode in unterschiedlichem Maße ausgestalteten autonomen Verwaltungsstruktur von der Kommune bis zur Ebene des Kronlandes. Wenn es um Fragen von Abhängigkeiten und Kolonisierungstendenzen geht, sollte der Blick von der politischen Makroebene auch auf andere Herrschaftsebenen gewendet werden. Die Bedeutung stadtrechtlicher Traditionen und der Formen lokaler Selbstverwaltung kann für die Beurteilung von Machtstrukturen und eines landeseigenen Demokratisierungspotenzials kaum überschätzt werden. Regionale Eliten partizipierten in den böhmischen Ländern an der lokalen und regionalen Macht und wurden in der Folge auch immer wieder neu in die Herrschaftssphären des Zentrums integriert. Einen besonderen Aspekt stellt in diesem Zusammenhang die Verrechtlichung der Herrschaftsverhältnisse seit dem Mittelalter dar. Das hohe Niveau der weitgehend regional autonomen Rechtsentwicklung der böhmischen Länder zeigt, dass diese nicht nur nicht nachgeordnet waren, sondern mit anderen Teilen Österreichs auf gleicher Ebene standen. Mehrfach wurden seit der Zeit von Maria Theresia und Joseph II. Reformen des Rechtswesens zuerst in Böhmen oder Mähren durchgeführt, so dass diese Länder dann für Nieder- oder Oberösterreich Vorbildcharakter bekamen. 169 3. Die Ökonomie In wirtschaftlicher Hinsicht war die Differenz zwischen Wien und den böhmischen Ländern gering. Die böhmischen Länder waren, wie oben bereits ausgeführt, ein Gebiet mit einem hohen ökonomischen Niveau, in dem quantitatives Wachstum sich mit qualitativer Entwicklung verband. Die ökonomische Stärke in Stadt und Land baute auf mehreren Faktoren auf. Dazu gehörten der Reichtum an Bodenschätzen und Naturgegebenheiten, die Einbindung in europäische Handelsnetze sowie die Verrechtlichung und Spezialisierung im Handwerk und im selbständigen Bauerntum. Ein wichtiger Faktor war das traditionell hohe organisatorische Niveau in Wirtschaft und Gesellschaft (vom Stadtrecht über die Zünfte bis hin zum Genossenschaftswesen und den Interessenverbänden). Trotz reicher Bodenschätze lag die wirtschaftliche Potenz dieses Raumes weniger in den Rohstoffen (von Silber über Eisen, Uran, Stein- und Braunkohle bis hin zu Leinen, Wolle, Zucker und Holz) als vielmehr in der Weiterverarbeitung (Tuche, Metallwaren, Instrumente und Maschinen, Glas- und Porzellanwaren und Kunstgegenstände). Alle wesentlichen Phasen der Modernisierungen von der Protoindustrialisierung über die Industrialisierung der Textil-, Montan- und Chemie- sowie Elektrobranche bis hin zum Automobilbau erfassten die böhmischen Länder. Neben der Verdichtung war die Differenziertheit der wirtschaftlichen Tätigkeiten ein wesentlicher Grund für die erfolgreiche Entwicklung. Auch wenn die meisten Banken und Firmensitze in Wien angesiedelt waren, kam es nicht zu einem kolonialistischen Kapitalabzug, da im Lande in großem Umfang in technische Modernisierung, Infrastruktur und Bildung investiert wurde. Die Entwicklung eines Prager Bankwesens, insbesondere die Entstehung einer nationaltschechischen Bank, der Zivnostenská banka (Gewerbebank), relativierte nach 1900 schließlich sogar im Finanzbereich die Abhängigkeit von Wien. Auch wenn die ökonomische Orientierung auf die Reichshauptstadt Wien bis zum Kriegsende bestehen blieb, wurden von den damaligen Eliten, insbesondere auch von denen aus Wien, die böhmischen Länder – anders als beispielsweise Galizien mit seinen Ölquellen – niemals als ökonomisch periphere oder abhängige Regionen angesehen. Für die wirtschaftliche Entwicklung bedeutsam war die hohe Wertschätzung der technischen Bildung für Tschechen und Deutsche, eine Gemeinsamkeit, die durch die Fokussierung auf die nationalen Auseinandersetzungen oft übersehen wird. Technik war ein wesentlicher Bestand des kulturellen Selbstverständnisses der böhmischen Länder. Hingewiesen sei nur auf ^ 170 die Rolle von Gewerbevereinen und Industrieausstellungen, die im Vormärz zu den wichtigsten der Monarchie wurden. In keinem anderen Teil der Habsburgermonarchie entstanden um die Mitte des 19. Jahrhunderts so viele Technische Museen wie in den drei böhmischen Ländern. Hoch war auch die Zahl der Anmeldungen aus Böhmen und Mähren im Wiener Patentamt. Damit in Verbindung steht auch das ungewöhnliche Verhältnis von zwei Universitäten zu drei Technischen Hochschulen. Böhmen und Mähren waren die einzigen Kronländer, in denen an Technischen Hochschulen mehr Studenten immatrikuliert waren als an Universitäten. Die entwickelte Wirtschaftsstruktur und ökonomisch-technische Kultur der drei böhmischen Länder verhinderten sowohl im 19. Jahrhundert wie in den Jahrhunderten zuvor, dass es zu einer kolonialistischen Ausbeutung kam. Die Nutzung der Steuerkraft und Wirtschaftsdynamik dieser Region war für Wien und die Habsburgermonarchie bedeutend ertragreicher als eine extensive Ressourcennutzung. 4. Gesellschaft, Eliten und soziale Deklassierungen Böhmen, Mähren und Schlesien wiesen eine über Jahrhunderte gewachsene, sehr differenzierte Sozialschichtung auf. Dazu zählten insbesondere ein landständischer Adel, ein altes Stadtbürgertum, eine starke Bauernschaft und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch eine breite Arbeiterschaft und eine zahlenmäßig nicht kleine Beamtenschaft. Alle Bevölkerungsgruppen waren ohne Diskriminierungen in die entsprechenden sozialen Gruppierungen der Nachbarregionen und in die Schichtungen und Wertesysteme mitteleuropäischer Gesellschaften eingebunden. Ein Elitenaustausch vollzog sich mit dem Wiener Zentrum wie auch mit anderen entwickelten Teilen Europas. Der Adel der böhmischen Länder war durch Konnubium mit dem Adel in allen Teilen Europas, insbesondere im Bereich Mitteleuropas, verbunden. Die Peregrinatio der Studenten und Akademiker trotzte auch den Abschottungstendenzen der Metternich-Zeit. Hochschulen in Deutschland zu besuchen, war für deutsche und tschechische Mittel- und Oberschichten aus den böhmischen Ländern keine Besonderheit. Beamte und Militärs der böhmischen Länder kamen in Ungarn ebenso wie in Österreich und in den südslawischen Kronländern zum Einsatz. Wandernde Handwerker und Arbeitsmigranten erlebten in der Fremde Deutschlands oder Wiens zwar Abgrenzung, bewegten sich aber dabei meist weiterhin in einer vertrauten gesellschaftli- 171 chen Normenwelt. Dass die Migrationen nicht nur als Abwanderung erfolgten, zeigen der Zuzug von Adelsfamilien aus Deutschland und Ungarn oder von österreichischen Universitätslehrern nach Prag, die Ansiedlung von Unternehmern aus Belgien und Großbritannien in Mähren oder die Zuwanderung von Arbeitern aus Galizien. Verwiesen sei auch auf das Beispiel der Familie Thonet, die als Handwerker vom Rheinland kommend nach Wien übersiedelt waren, dann aber als Unternehmer nach Mähren wechselten. Wesentlich für die Entwicklung der böhmischen Länder war es, dass im Rahmen des enormen Wandels im 19. Jahrhundert keine größere soziale Gruppierung als Ganzes neu zuwanderte und dass keine bedeutendere Gesellschaftsschicht eine Deklassierung erlebte. Auch in früheren Jahrhunderten hatte das Herrschaftszentrum Wien die böhmischen Länder nicht mit Landesfremden regiert, sondern stets auch Beamte bis zu den höchsten Positionen aus dem Lande rekrutiert. Vor allem aber fehlte die Gentry, der Kleinadel, eine Schicht, aus der in Ländern wie Polen oder Ungarn in Folge von Verarmung und Funktionsverlusten im 19. Jahrhundert das Potenzial für ausgeprägt zentrumsfeindliche Positionen kam. Die Aristokratie, durch das Incolat regional verfasst und sozial gesichert, wusste in den drei böhmischen Ländern auch nach 1900 die ihr verbleibenden politischen und ökonomischen Vorrechte zu nutzen. Sie blieb in die Erste Wiener Gesellschaft und in das Wiener Machtzentrum integriert, ohne ihre regionale Verwurzelung zu verlieren. Es war eher umgekehrt so, dass die böhmisch-mährische Hocharistokratie – davon viele mediatisierte, also ehemals reichsunmittelbare Familien – einen wesentlichen Bestandteil der Oberschicht der Wiener Metropole ausmachte. Großes Gewicht hatten die böhmisch-mährischen Hochadeligen in Wien bei Hof, in Ministerien, insbesondere in der Außenpolitik, und im Herrenhaus. Im Stadtbild ist ihre Präsenz durch die zahlreichen und aufwendigen Palais bis heute unübersehbar. Das Bürgertum der böhmischen Länder nahm an den Umbrüchen des 19. Jahrhunderts aktiv teil und partizipierte an den Wandlungen materiell und prestigemässig. Der Aufstieg durch Bildung zu Besitz ist ebenso wie die sprachnationale Teilung dieser Schicht ein regionales Charakteristikum. Neben einem Wirtschaftsbürgertum etablierte sich in allen drei Kronländern eine landesbezogene breite Schicht des Bildungsbürgertums. Die Zahl der bürgerlichen Ministerpräsidenten sowie der deutschen und tschechischen Minister der Habsburgermonarchie, die aus diesem Raum stammten, war überproportional groß. 172 An der Technisierung und Industrialisierung der Landwirtschaft nahmen das deutsche wie das tschechische Bauerntum teil. Die ertragreichste Neuerung der Landwirtschaft im 19. Jahrhundert, die Einführung des Zuckerrübenanbaus, ließ aufgrund der Boden- und Klimaverhältnisse Mittelmähren und das böhmische Elbetiefland zu den bevorzugten Anbaugebieten und zu den prosperierendsten Regionen der Habsburgermonarchie werden. Damit verbunden war eine Kapitalisierung und Mechanisierung des Agrarsektors, was weitere Agrarrevolutionen auslöste. Die Herausbildung einer Arbeiterklasse erfolgte in der Habsburgermonarchie einerseits im großstädtischen und urbanen Milieu von Wien, Budapest, Prag, Brünn oder Pilsen (Plzeò), andererseits im protoindustriell geprägten nordwestlichen Böhmen an der Grenze zu Sachsen. Über Sachsen kommend ging von Nordböhmen – nicht von Wien – der Impuls zur Gründung der Arbeiterbewegung aus. Zeitweise hatte die österreichische Gewerkschaftsbewegung ihre Zentrale daher in Nordböhmen, bevor sie nach Wien verlegt wurde. Um die Jahrhundertwende lösten das Ostrau-Karwiner-Kohlenrevier mit den Eisenhütten von Witkowitz (Vítkovice) im mährisch-schlesischen Grenzgebiet Nordböhmen als führende Industrieregion der Habsburgermonarchie ab. Trotz mehrerer schwerer Krisenperioden bedeutete das späte 19. Jahrhundert aber nicht nur einen politischen Aufstieg der Sozialdemokratie in den drei böhmischen Ländern, sondern führte auch zu einer partiellen Teilhabe der Industriearbeiterschaft und anderer Unterschichten am materiellen Wohlstand und an den Bildungschancen. Selbst das Kleinbürgertum, das am ehesten zu den Verlierern des Modernisierungsprozesses zu zählen ist und das gerade in den Städten in eine prekäre Lage kam, blieb sowohl in den urbanen Agglomerationen als auch in den Landstädten der böhmischen Länder von Depravation und sozialem Abstieg weitgehend verschont. Die Möglichkeiten kleingewerblicher Tätigkeiten im Urbanisierungsprozess und die sich neu eröffnenden Perspektiven in der expandierenden Verwaltung nahmen den Wandlungsprozessen die Schärfe. Die Einbeziehung in die Bildungsrevolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts sicherten dieser Schicht Chancen im tertiären Sektor. Selbst die Tendenzen zur Plebejisierung der Landarbeiterschaft und der unteren städtischen Schichten blieben, trotz latifundienartigem Großgrundbesitz und Kapitalismus, im böhmisch-mährischen Raum begrenzt. So war beispielsweise das für Wien typische Phänomen der „Bettgeher“ (des wohnungslosen Arbeiters) in Prag, Pilsen, Brünn und anderen Städten kaum vorhanden. 173 Ohne die sozialen Krisen und Brüche des 19. Jahrhunderts zu bagatellisieren, lässt sich für die böhmischen Länder somit der Trend erkennen, dass ein beachtlicher Teil aller Schichten und Klassen, wenn auch nicht jeder einzelne, an Aufstiegsprozessen und an der wachsenden regionalen Prosperität teilhatte. Damit war, trotz der großen Zahl von böhmischen und mährischen Arbeitsmigranten in Wien, die soziale und materielle Differenz zwischen dem Reichszentrum und den böhmischen Ländern vergleichsweise gering. Ein beachtlicher Teil der Bevölkerung erlebte somit einen sozialen Aufstieg, der offensichtlich eher durch die Folgen des nationalen deutschtschechischen Konkurrenzverhältnisses im Lande als durch Vorgaben oder Beschränkungen des imperialen Machtzentrum begrenzt wurde. 5. Politische Kultur und Identifikationen Die Gesellschaft der böhmischen Länder zeichnete nach 1900 ein hohes Maß an Politisierung aus. Die Dichte des Vereinswesens, des Parteiwesens und eine Beteiligung von mehr als 90 Prozent der Berechtigten bei den allgemeinen Wahlen von 1907 und 1911 sind dafür Indikatoren. Maßgeblich war dafür, dass Böhmen und Mähren ebenso wie Innerösterreich im Rahmen des politischen Systems der Habsburgermonarchie zu den privilegierten Regionen gehörten. Dies galt sowohl für die tschechische wie für die deutsche Bevölkerung, die rechtlich und hinsichtlich ihrer politischen Freiheiten nicht nur einander gleich gestellt waren, sondern – wie alle die Einwohner aller anderen Kronländer – dieselben staatsbürgerlichen Rechte wie die Bewohner des Zentrums hatten. Die gewährten Möglichkeiten zur Partizipation und Repräsentation breiter Schichten der böhmischen Länder bedingten auch eine partielle Integration der politischen Führungsgruppen und ihrer Wähler und Anhänger in die Sphären des Wiener Machtzentrums. Die deutschen Politiker fühlten sich bereits vor 1848 als Teil des Zentrums und dominierten dieses in der liberalen Ära der 1860er und 1870er Jahre nahezu vollständig. Seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts bestimmte aber auch die tschechische Politik nicht mehr der politische Kampf gegen Wien, sondern ein Kampf um die Macht in Wien. „Wir verurteilen ebenso wie unsere lieben deutschen Landsleute die Politik der Regierung, die dazu geführt hat, dass wir in Österreich hinter den übrigen Kulturstaaten zurückgeblieben sind.“10 Dieses aus Passagen von Par- 174 lamentsreden eines tschechischen Politikers komponierte Zitat beschreibt die widersprüchlichen Positionen tschechischer Politik nach 1900. Auffällig sind die verschiedenen identifikatorischen Kategorien. Richtig entschlüsselt würde der Satz lauten: „Wir, die sprach- und national bewussten Tschechen, verurteilen ebenso wie unsere lieben deutschen Landsleute, das heißt wie die Deutschböhmen, die Politik der zisleithanischen Regierung, die dazu geführt hat, dass wir zisleithanische Staatsbürger in Österreich hinter den übrigen Kulturstaaten zurückgeblieben sind.“ Der Wir-Begriff meint dreierlei: die Nation, hier konkret die tschechische, das Kronland mit seiner gesamten Einwohnerschaft ohne nationale Differenz und schließlich den österreichischen Staat als Gemeinschaft aller Staatsbürger. Politik- und Identifikationsebenen waren in Böhmen und Mähren im späten 19. Jahrhundert stets mehrdimensional, nicht immer eindeutig bestimmbar und teilweise sogar austauschbar oder instrumentalisierbar. Ob in diesem Zusammenhang die Verwendung des Begriffs „hybrid“ einen Erkenntnisgewinn verspricht, erscheint fraglich, da im Rahmen des gesamten Demokratisierungs- und politischen Partizipationsprozesses kaum zwischen von oben gesetzten und von unten selbst gewählten Formen und Inhalten zu unterscheiden sein dürfte. Zudem macht der Begriff der Hybridität nur dann einen Sinn, wenn zugleich eine nichthybride politische Kultur nicht nur als Idealtypus beschreibbar ist, sondern tatsächlich als Gegenwelt existierte.11 Zumindest im Bereich des Politischen war aber die Verzahnung zwischen den böhmischen Ländern und Wien untrennbar eng. Eine Untersuchung der Bündniskonstellationen nach 1900 zeigt, dass der politische Gegner auf einer Ebene oder einem Politikfeld häufig ein notwendiger, unverzichtbarer Partner auf einer anderen Ebene oder in einer anderen Konstellation war, wo andere Opponenten im Spiel waren. Dies gilt für alle Beteiligten: für die kaiserliche Regierung ebenso wie für die tschechische Nationalbewegung oder die politischen Fraktionen des Adels, für einzelne tschechische Parteien und Lager ebenso wie für die Sozialdemokratie, die Deutschliberalen, die deutschen Christlichsozialen oder andere deutsche Parteien. Vier Beispiele für verschiedene Bündniskonstellationen seien kurz vorgestellt. 1906 kam ein inoffizielles Interessenbündnis aus nationalen Tschechen, Sozialdemokraten aller Nationalitäten und Kaiser Franz Joseph zustande, das gegen den Widerstand der Deutschliberalen und anderer deutscher Parteien sowie von Polen und der Konservativen des Herrenhauses die Demokratisierung des Wiener Zentralparlaments durchsetzte. Damit wurde reichsweit 175 das allgemeine und gleiche Wahlrecht für Männer verwirklicht. Die kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges durchgeführten Militärreformen und die aufgelegten aufwendigen Rüstungsprogramme, die vom Kaiser und dem Adel gegen den Widerstand von Sozialdemokratie und nationalistisch radikalen Tschechen forciert wurden, fanden sowohl bei tschechischen bürgerlichen, katholischen und agrarischen Parteien als auch bei den deutschen Parteien Unterstützung. Hingegen verhinderte die Allianz von Kaiser, deutschen Parteien und deutscher Sozialdemokratie, dass die Bemühungen um eine Einführung des Tschechischen als innerer Amtssprache für höhere Verwaltungsebenen Erfolg hatten. Auf der Ebene des Landes Mähren war hingegen 1905 eine Reform der politisch verfassten Strukturen, der „Mährische Ausgleich“ nur möglich, weil nach einem Jahrzehnt der Verhandlungen eine Übereinkunft zwischen den Adelsfraktionen sowie deutschen und tschechischen bürgerlich-nationalen Parteien zustande kam, bei der die deutschen und tschechischen Parteien aus Böhmen und Wien, der Wiener Hof und die Sozialdemokratie ausgeschlossen wurden. Die Beispiele zeigen, dass Bündnispartner nicht nur potenziell austauschbar waren, sondern dass generell eine formale Gleichrangigkeit der Akteure gegeben war. Dies gilt insbesondere für das Verhältnis von Parteien aus den böhmischen Ländern zu den politischen Gruppierungen, die im Machtzentrum Wien etabliert waren. Auch hier zeigt sich, in welch beachtlichem Maße deutsche wie tschechische politische Gruppierungen nach 1900 in das österreichische Herrschaftszentrum einbezogen waren. Alle Beteiligten (der Hof, die Zentralverwaltung ebenso wie die Nationalbewegungen oder einzelne Parteien) strebten danach, den eigenbestimmten Bereich, also Sphären autonomer Entscheidungsrechte auszudehnen. Machtpolitik wurde dabei nach gemeinsamen Spielregeln in Handlungsräumen betrieben, die nicht allein vom Zentrum definiert worden waren. Aufgrund der parlamentarischen Aktionsebene war das Verhältnis zwischen dem Zentrum und den Kernlandschaften, trotz erheblicher Kräfteunterschiede, nicht auf eine Polarität von Macht und Ohnmacht reduziert. Wendet man das Konzept der Binnenkolonisierung auf den Bereich der politischen Kultur der späten Habsburgermonarchie an, kommt man zu paradoxen Ergebnissen. Die reichsweite, unterschiedslose und damit homogenisierende Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Männerwahlrechts in allen österreichischen Kronländern (also ohne die ungarische Reichshälfte und ohne das annektierte österreichisch-ungarische Reichsland Bosnien-Herzegowina) könnte formal als kolonialistische Über- 176 formung autochthoner Politikformen und regionaler Wahlrechtstraditionen verstanden werden. Demokratisierung gilt jedoch üblicherweise als ein Element der postkolonialen Entwicklung. Die Rollen waren aber auch in anderer Hinsicht vertauscht. So ging der Impuls zur Demokratisierung nicht vom Zentrum Wien, sondern von Böhmen und Mähren aus. Entschieden wurde diese politische Auseinandersetzung zwar in Wien, doch könnte man den Prozess auch als eine machtpolitische Durchdringung der politischen Kultur des Zentrums durch die Provinz interpretieren. Während das Herrschaftszentrum eher konservierend und beharrend agierte, wurden in nichtperipheren Reichsteilen neue politische Formen und Konzepte entwickelt und schrittweise auch im Zentrum etabliert. Böhmen, Mähren und Schlesien waren somit im Bereich der politischen Kultur nicht nur nicht von einer Binnenkolonisierung betroffen, vielmehr setzten sich die in dieser Region stark gewordenen politischen Ideen und Politikformen dann reichsweit durch. Falls andere Reichsteile wie BosnienHerzegowina von einer inneren Kolonialisierung betroffen waren, so ist sogar davon auszugehen, dass daran deutsche und tschechische politische Führungsgruppen aus den böhmischen Ländern maßgeblichen Anteil hatten. Der Machtanspruch der Provinz konnte somit sowohl ins Zentrum als auch in periphere Regionen reichen. 6. Nationalismus, Homogenisierung und Hegemonie Der Nationalismus, gleich welcher Spielart und für welche Nationalität, enthält ein kolonisatorisches Element, da er alle vor- und nichtnationalen Kulturen, die „indifferenten“ oder „entfremdeten“ nationalkulturell „erwecken“, bekehren und überformen will. Die Homogenisierungsbestrebungen führen zu besonderen Solidarisierungsanforderungen und können bis hin zum rechtlich verankerten Bekenntniszwang im „nationalen Kataster“ reichen, wie er im Falle Mährens 1906 fixiert wurde. Der häufig beschriebene janusköpfige Charakter des Nationalismus zeigt sich auch im Zusammenhang postkolonialer Überlegungen. Einerseits volksnah, integrativ, demokratisch und antiimperial ausgerichtet, sind nationale Ideologien und Konzepte andererseits zugleich auf Homogenisierung angelegt, wenden sich gegen nationalkulturelle Hybridität, gegen Vielfalt und Indifferenz, sind tendenziell zentralistisch und können in Totalitarität gegenüber ko-nationalen und andersnationalen Mitbürgern ausarten. Ob postkoloniale Sichtweisen etwas dazu beitra- 177 gen können, das vielschichtige Phänomen des Nationalismus neu zu dechiffrieren, erscheint fraglich. Vielmehr besteht die Gefahr, dass die Fehler und Irrwege der wissenschaftlichen Nationalismusdiskurse unter neuer Begrifflichkeit noch einmal gemacht werden. Zudem weisen nichtdominante nationale Ideologien, wie sie in der Habsburgermonarchie üblich waren, stets hegemoniale und expansive Elemente auf. Die Nationalismen der Habsburgermonarchie entstanden nicht im Zentrum und nur selten in peripheren Gebieten, sondern gingen in der Regel von Semizentren aus, bevor sie nationale Peripherien durchdringen konnten und auch die „eigene“ Bevölkerung im Zentrum erfassten. So entwickelte sich die tschechische Nationalbewegung in Prag, Innerböhmen und Mittelmähren, bevor sie schrittweise in die gemischtsprachigen Regionen, dann nach Südböhmen, Nordmähren sowie Schlesien und schließlich auch nach Wien vordringen konnte. Mit der Nationalisierung eines Teils der Wiener Tschechen begann die tschechische Nationalbewegung auch direkt auf die gesellschaftliche und politische Entwicklung Wiens Einfluss zu nehmen. Als Modernisierungs- und Emanzipationsideologie waren die nationalen Ideologien der Habsburgermonarchie sowohl gegen das Reichszentrum als auch gegen ältere regionale Formen der Selbstverwaltung und das traditionelle Territorialsystem der Kronländer gerichtet. Hinzu kommt, dass auch der Nationalismus als eine Kultur- und Politikform verstanden werden kann, die von semiperipheren Gebieten ausgehend das Machtzentrum ideologisch eroberte oder kolonisierte. Wien als Herrschaftszentrum, nicht als städtische Gemeinschaft, versuchte lange dem Primat des Nationalen zu widerstehen und andere gesellschaftliche Prinzipien wie ständisch hierarchische, territoriale oder religiöse Ordnungssysteme zu bewahren. Der normierende Anspruch des nationalen Konzepts stand damit im Gegensatz zur imperialen Herrschaft, die aus System, Indifferenz oder Schwäche faktisch eine große politische und gesellschaftliche Pluralität zugelassen und gefördert hatte. Der in den nichtperipheren Regionen erstarkte Nationalismus zeigte damit einen weitreichenden Machtanspruch und vermochte die Machtstrukturen und die Politikformen im Zentrum verändern. So kam es dazu, dass das Austarieren der ethnisch-nationalen Kräfte den bislang vorherrschenden regionalen Proporz der Kronländer ablöste. An die Stelle der regionalen Rechtssubjekte traten allmählich die Nationalitäten als neue Rechtssubjekte. Nach 1878 wusste das Machtzentrum Wien jedoch keine anderen Strategien mehr anzuwenden als ein „divide et impera“. Das Vorgehen Wiens gegenüber dem tschechischen und dem deutschen Nationalismus unterschied sich 178 dabei nur graduell. Regelmäßig beschwerten sich die Vertreter beider nationaler Lager, dass die Anderen bevorzugt würden und dass die eigene Nationalität Ungerechtigkeiten ausgesetzt sei. Aus herrschaftspolitischem Überlebenskalkül wurden vom Machtzentrum häufig schwächere Nationalismen gegenüber stärkeren nationalen Kräften gefördert, um so letztere in ihre Schranken zu weisen. So profitierten die Ruthenen gegenüber den Polen, die Tschechen zeitweise gegenüber den Deutschliberalen, die Polen in Schlesien gegenüber Tschechen und Deutschen. Andererseits musste sich Wien immer wieder mit den großen nationalen Gruppierungen, mit den Deutschen, mit den Tschechen und mit den Polen arrangieren, da allein diese mehrheitsbildend und staatstragend sein konnten. Meist wird übersehen, in welch großem Maße sie alle dies auch waren, die polnischen Parteien aus Galizien ebenso wie die Mehrzahl der tschechischen Parteien. Erstaunen mag in diesem Zusammenhang, dass die habsburgische Politik nach 1890 zumindest in Böhmen und Mähren keinerlei antinationalistische Integrationsideologien mehr förderte. Die übergeordnete patriotische Idee eines österreichischen Nationalstaats französischer Prägung hatte schon lange vor 1867 aufgehört, ein politischer Integrationsfaktor zu sein. So waren seit den 1890er Jahren insbesondere vornationale, anationale oder binationale Gesellschaftsmilieus dem Homogenisierungsanspruch der nationalen Großideologien des Deutschtums und Tschechentums schutzlos preisgegeben. Dies gilt auch für regionalistische Konzeptionen und für ethnographische Sonderfälle wie die polnisch-tschechisch-deutschen Schlonsaken im Teschener Gebiet. Dem deutschen und tschechischen nationalen Absolutheits- und Reinheitsanspruch waren wechselseitig auch die jeweiligen nationalen Minderheiten ausgesetzt. Der expansive Charakter des Nationalismus zeigt sich im Fall der tschechischen Nationalbewegung auch noch in einer anderen Form. Obwohl der tschechische Nationalismus sich an der deutschen Dominanz beständig abarbeitete, gab es nach 1900 Ansätze für einen tschechischen Kolonialismus. Dieser konzentrierte sich regional nicht nur auf die deutsch besiedelten Teile der böhmischen Länder, die polnischen Teile Österreichisch-Schlesiens und das slowakische Oberungarn, sondern orientierte sich vor allem auf den südslawischen Raum innerhalb und außerhalb der Habsburgermonarchie sowie auf andere slawische Regionen in Ost- und Südosteuropa. Tschechische Politiker und Ökonomen sahen in weniger entwickelten slawischen Völkern – insbesondere in Slowenen, Kroaten, Serben – Schutzbefohlene und in deren Siedlungsgebieten vielversprechende Expansionsräume. Unter dem Schlag- 179 wort von der slawischen Wechselseitigkeit, verbunden mit einer Mischung aus missionarischer Verpflichtung und dem Selbstbewusstsein vielfältiger Überlegenheit, wurde eine kulturelle und ökonomische Durchdringung dieser Gebiete durch tschechische Institutionen und Ideen propagiert. Die Zivnostenská banka (Gewerbebank) sah insbesondere Bosnien-Herzegowina als das Erschließungsgebiet an, auf dem sie sich aufgrund postulierter slawischer Gemeinsamkeiten den Wiener Banken überlegen fühlte. Die Gründung einer allslawischen Bank und einer allslawischen Presseagentur waren daher zentrale Punkte der neoslawischen Bewegung, die von tschechischer Seite für kolonialistisch expansive Politik auf dem Balkan genutzt wurden. Daher unterstützten auch die meisten tschechischen Parteien die Expansion Österreich-Ungarns nach Südosten und vor allem die Annexion von Bosnien und Herzegowina im Jahr 1908. ^ 7. Kulturelle Differenz Die kulturelle Differenz zwischen den böhmischen Ländern und Wien war insgesamt gering. Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts – ebenso wie Innerösterreich – erfolgreich rekatholisiert, lag der katholische Bevölkerungsanteil in Böhmen und Mähren nach den Toleranzpatenten bei mehr als 95 Prozent. Auch die Struktur der religiösen Minderheiten von Juden und Protestanten Augsburger und Helvetischer Konfession war ähnlich. Aufbauend auf älteren Bildungstraditionen führten Schulreformen unter Maria Theresia und Joseph II. dazu, dass die Analphabetenquote in Böhmen eine der niedrigsten Europas war und unter der Innerösterreichs lag. Große Teile der Bevölkerung der böhmischen Länder sahen sich selbst uneingeschränkt als Teil der deutschsprachigen Hegemonialkultur Österreichs. Dies galt bis in die siebziger und achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts auch unvermindert für viele tschechischsprachige Bewohner. Adelskultur, Kunstformen, Kunsthandwerk und Kunstgewerbe unterschieden sich nicht von der des Zentrums. Kunstschaffende wie Auftraggeber waren in reichem Maße vorhanden und standen in Wechselbeziehungen mit den europäischen Metropolen. Weder existierte im Vergleich zum Zentrum ein „cultural lag“, noch kann – ausgenommen die mit Sprache und Schrift verbundenen Künste – von einer Hybridität der Kultur in den böhmischen Ländern ausgegangen werden. Kunst und Kultur in den böhmischen Ländern spiegelten im späten 19. Jahrhundert nicht nur alle grundlegenden 180 mitteleuropäischen Strömungen wider, sondern bildeten auch bemerkenswerte regionale Formen aus. Aus dem Bereich der Kunst sei nur auf die kubistische Architektur verwiesen. Unabhängig von dem Grad der Rezeption durch die Wiener Kulturszene bildeten alle diese Kunstströmungen formal wie faktisch einen Teil der österreichischen Hegemonialkultur, die sich, wie die Weltausstellungen zeigen, oft nur als Summe der regionalen und nationalen Kulturen definierte. Integraler Teil der habsburgischen Kultur war auch die tschechische Kultur, selbst wenn diese eigene Rezeptionswege ging und für die böhmischen Länder ebenfalls die kulturelle Hegemonie anstrebte. Die Abgrenzung von Wien ging dabei meist mit einer Distanzierung von der deutschen Kultur im Lande einher. Prag war als Hauptstadt des Königreiches Böhmen kulturell dem Reichszentrum Wien unterlegen. Das „Goldene Prag“, das sich zunehmend slawisch stilisierte und als tschechisches Nationalzentrum wirksam wurde, machte sich seit der Jahrhundertwende bereits auf den Weg von einer Provinzhauptstadt zur internationalen Metropole. Die Beziehungen, die zwischen den Städten Prag und Paris gepflegt wurden, sind ein Symbol dafür. Die künstlerische Rezeption der französischen Moderne erfolgte im direkten Austausch und nicht mehr auf dem Umweg über Wien. So wurde Rodin in Prag deutlich früher rezipiert als in Wien, wie die Prager Rodin-Ausstellung von 1902 belegt. Und das 1911 vollendete Prager Repräsentationshaus (Obecní dùm) wählte als einer der wenigen Bauten der Habsburgermonarchie Formen des französischen und belgischen Jugendstils als Vorlagen. Auffälligerweise wurden gerade in Mähren, und nicht in den Hauptstädten Wien und Prag, neue Kunststile und Ideen ausprobiert, wie mehrere Schlösser, Palais, Wohnhäuser und Gartenanlagen zeigen. Wiener oder Prager Stadtpalais waren traditioneller; in der Provinz wurden die Moden der Zeit architektonisch früher und radikaler angewendet als in den meist eher beharrenden Zentren. Für die Umsetzung avantgardistischer Entwürfe bedurfte es aber eines kulturellen und materiellen Hintergrunds und zudem in der Regel doch der Nähe zum Zentrum: – alles Faktoren, die in Mähren gegeben waren und gerade dort Inseln der Modernisierung entstehen ließen. Gilt diese regionalistische Sicht vor allem für Kunstformen wie Musik, Architektur und die Bildende Künste, so waren die mit Sprache und Schrift verbundenen Künste – also Literatur, Theater, Oper und auch Teile des Kunstgewerbes – stärker von der Nationalisierung und nationalen Separierung betroffen. Daher ist in diesen Bereichen die größte kulturelle Differenz 181 und das größte Abgrenzungsbedürfnis zwischen der tschechischen Nationalkunst und der deutschösterreichischen Hegemonialkunst, einschließlich deren deutschböhmischer und deutschmährischer Seitenlinien, festzustellen. Während die tschechische und die Prager deutsche Literatur des späten 19. Jahrhunderts aber eher urban geprägt und der Moderne offen gegenüberstand, war es gerade die deutschsprachige Literatur der böhmischen Randgebiete, die sich gegen die Großstadtkultur Wiens und Prags wendete. Hinzu kam, dass schon die tschechischen Aufklärer und Gründer des nationalen Kulturkanons im Vormärz die prinzipielle und seit dem Mittelalter gegebene Gleichrangigkeit der tschechischen Kultur mit den großen europäischen Kulturnationen proklamiert hatten. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang auch, dass es im Herrscherhaus wie beim Adel mit Besitz in den tschechischsprachigen Gegenden üblich war, böhmisch, das meint im Verständnis des 19. Jahrhunderts: tschechisch zu lernen. Diese Konstellationen waren – zusammen mit dem aus dem sozialen Aufstieg resultierenden Selbstbewusstsein und den materiellen Möglichkeiten – der Grund dafür, dass die tschechische Kultur im Habsburgerreich der Gefahr einer Selbstkolonisierung entging. Dem widerspricht auch nicht das besondere Interesse, dass die tschechische Nationalgesellschaft an volkskundlichen und volkstümlichen Elementen hatte. Darin lag keine Stilisierung als abhängiges, unterdrücktes oder rückständiges Volk, sondern es war dies ebenso wie in Deutschland und anderen Nationalkulturen eine Suche nach den Ursprüngen und unverfälschten Formen des national Spezifischen. Auch wenn für den Betrachter von außen die Tracht des Sokol, des nationalen Turnverbandes, oder die „Tschechoslawische volkskundliche Ausstellung“ (Národopisná výstava èeskoslovanská) von 1895 in Prag viel Fremdartiges hatte, fehlte ihnen stets das Exotische. All diese ethnographischen Selbstdarstellungen zielten vielmehr auf Nationsbildung und auf Nationalisierung der gesamten Bevölkerung und sollten ebenfalls die Ebenbürtigkeit der Tschechen mit den anderen europäischen Nationen nachweisen. 8. Fremdheiten und ethnische Differenz Fremdheit war im 19. Jahrhundert in den böhmischen Ländern bis weit über das Jahr 1848 hinaus in erster Linie sozial und nicht national, ethnisch oder sprachlich bestimmt. Die Konstruktion des Nationalen schuf erst im 19. Jahrhundert einen Kanon an national differenziertem historischem Wissen und 182 Brauchtum. Eine kleinregionale Vielfalt an Kulturformen wurde von den beiden Sprachnationen überformt und entweder als das Eigene vereinnahmt oder als das Fremde ausgegrenzt. Die nationalen Ideologien und Konstrukte wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts geschichtsmächtig und machten aus tschechisch- und deutschsprachigen Böhmen entweder böhmische und mährische Tschechen oder Deutschböhmen, Deutschmährer und Deutschschlesier. In der Sicht vieler Zeitgenossen reduzierte sich der kulturelle Antagonismus sozialdarwinistisch auf Slawen und Germanen. Da das Konzept der Ethnie in Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien, mit Ausnahme der Roma, kaum anwendbar ist, und die Bevölkerung nur aufgrund von Bildungswegen, sozialem Umfeld und individuellem Bekenntnis national zu identifizieren war, wirkten sich noch im Vormärz ethnische Herkunft und Abstammung als Trennlinien kaum aus. Ethnische Differenzen waren nur über Sprache und Schrift, kaum über Brauchtumstraditionen oder andere lebensweltliche Bezüge erfahrbar. In der Formierungsphase der „deutschen“ und „tschechischen“ Nation, das heißt bis in die fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts, war die individuelle und familiäre Mobilität zwischen den nationalen Gruppierungen hoch, hörte aber auch danach nicht völlig auf. Im Prozess der Differenzierung der Nationalkulturen, der sowohl Geschichte, Mythen, Sprache und Brauchtum prägte, wuchs die Fremdheit zwischen Deutschen und Tschechen auch im lokalen Raum. Fremdheit sollte in Böhmen und Mähren zu einem zentralen Thema des 19. Jahrhunderts werden. Trotz oder möglicherweise gerade wegen der Verdichtung der Kommunikationsbeziehungen und des Zerfalls der ständischen Systeme und Strukturen erhielt die Sprache separierende Qualität, auch für diejenigen, die bilingual waren. Die entscheidende Frage angesichts der Sprachkenntnisse war weniger, wer deutsch konnte. Vielmehr grenzte eine Trennlinie diejenigen, die Tschechisch konnten und die sich dazu bekannten, dass Tschechisch ihre vorrangige Sprache ist, von denen ab, die kein Tschechisch konnten oder die – trotz Zweisprachigkeit – die Kenntnis des Tschechischen nicht zu einem nationalen Bekenntnis machten. Diese Asymmetrie der Sprachkenntnisse bestimmte die ethnische Differenz und die beiden nationalkulturellen Subsysteme in den böhmischen Ländern. Im Bezug zum Zentrum sah es dagegen anders aus. Dessen Sicht auf die böhmischen Länder war differenziert. Der „Stockböhme“12 war stets der tumbe, dörflich-kleinstädtische Migrant, der zwar auch sprachlich, vor allem jedoch kulturell mit den urbanen Lebensformen der Metropole Wien nicht zurecht kam. Der in der Karikatur oftmals bäuerlich, behäbig, fast affenähn- 183 liche Wenzel, als Klischee eines böhmischen Einwohners, bezog sich auf den fremden, den nicht das Deutsche beherrschenden Tschechen. Bemerkenswert ist, dass auch im Münchner Simplicissimus ein koloniales Motiv, nämlich die auf Bäumen sitzenden Affenartigen, zur Kennzeichnung der tschechischsprachigen Bewohner Böhmens und Mährens benutzt wurde. Ein Adeliger aus Böhmen oder Mähren, ein von dort kommender Universitätslehrer, höherer Beamter oder Kaufmann war damit aber nicht gemeint. Auch Deutschsprechende Böhmen, Mährer oder Schlesier wurden mit diesen Klischees nicht identifiziert und auch dann nicht in Wien als Fremde angesehen, wenn es sich um bilinguale Tschechen handelte. Ob jemand auch die andere Landessprache Böhmens oder Mährens sprach, war aus Sicht des Zentrums Wien wenig wichtig, solange sprachliche und kulturelle, schulische Akkulturation eine gemeinsame Kommunikationsebene ermöglichten. Die wechselseitige Wahrnehmung zwischen Wien und den böhmischen Ländern, insbesondere dem nahegelegenen Mähren, sollte erst durch die Grenzziehungen und Grenzschließungen in Folge des Ersten Weltkriegs und der Pariser Friedensverträge zu einer Entfremdung führen. Die imaginierten Räume und Distanzen veränderten sich nach 1918 entscheidend, bei dem Anderen wurde nun das Fremde deutlicher wahrgenommen als Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten. Ausblick: der Dekolonialisierungsmythos Auch wenn nach dem bisher Dargelegten für Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien – trotz der gerne ins Felde geführten gesamtstaatlichen Homogenisierungstendenzen von den Schulbauten bis hin zu Amtssprache und Rechtsprechung – nicht von einem habsburgischen oder Wiener Binnenkolonialismus gesprochen werden kann, so entstand nach 1918 fast schlagartig so etwas wie ein tschechischer Dekolonialisierungsmythos. Nach 1918 wurde in den böhmischen Ländern sehr rasch und massiv eine tschechische Nostrifizierungspolitik betrieben. Das in der damaligen Publizistik auftauchende Schlagwort von der notwendigen „Entösterreicherung“ (odrakouštìní)13 griff auch der Staatspräsident Tomáš Garrigue Masaryk auf, um den neuen Staat zu legitimieren und zu stabilisieren. Für eine Entösterreicherung war es aber zuerst einmal notwendig, die vorhandenen Antipathien, Ohnmachts- und Minderwertigkeitsgefühle und die erfahrenen Benachteiligungen und Unrechtssituationen miteinander zu verschmelzen und zu 184 einem Mythos von Unterdrückung und Unfreiheit während der Habsburgerzeit umzudeuten. Das, was in den Vorkriegsjahren von einem Großteil der tschechischen Bevölkerung und von seinen Führungsgruppen noch aktiv und durchaus auch erfolgreich mitgestaltet worden war, musste dabei entweder zu etwas Neuem und Eigenem (Demokratisierung, Zivilisierung, Rechtstaatlichkeit) werden oder musste als Fremdes und Unvollkommenes (Wienbezug, Kaiserverehrung, kulturelle, soziale und politische Integration) negativ besetzt werden. Dabei musste Eigenes, mussten die eigenen Lebenserfahrungen und die Erfolge der Zeit vor 1914, zu etwas Fremden gemacht werden. Da es keine politische bedeutendere Dekolonialisierungsbewegung, keine Aufstände vor 1914 gegeben hatte, musste sich der Befreiungsmythos auf die Zeit des Weltkrieges beschränken. Der Bogen der Unterdrückungszeit durch die „Fremdherrschaft der Habsburger“ wurde dabei von der kämpferischen Niederlage am Weißen Berg bis zu den tschechischen Legionären auf Seiten der Alliierten im Ersten Weltkrieg geschlagen. Dass die habsburgische Herrschaft schon im frühen 16. Jahrhundert begonnen hatte, spielte dabei ebenso wenig eine Rolle wie der für das 19. Jahrhundert wichtige staatstragende tschechische Austroslawismus Palackýs und anderer. Erst auf diesem retrospektiven Mythos einer Entkolonisierung aufbauend konnte beispielsweise die Figur des Schwejk im Rahmen der tschechischen Kultur zu einer nationalen Identifikationsfigur werden. Doch dieser Nachkriegsdiskurs einer konstruierten Minderwertigkeit widersprach den Erfolgen und einem Grundzug der tschechischen Nationalkultur im 19. Jahrhundert, die in der Habsburgermonarchie nicht nur ein eigenes Bildungswesen samt Universität, eine eigene Akademie und sogar ein eigenes Olympisches Komitee aufgebaut, sondern sich auch als Teil des Fortschritts verstanden hatte. In der Habsburgermonarchie hatte die Metapher von den handwerklich geschickten „Goldenen Händen“ des arbeitsamen „Kleinen Mannes“ das tschechische Selbstbild bestimmt. Dem tschechischen Dekolonialisierungsmythos nach dem Ersten Weltkrieg folgte bis heute keine Suche nach einer „Dritten Natur“, keine These von der tschechischen Kultur als Hybridwesen aus eigenem, vorkolonialem, vorweißenbergischem und kolonialem, unterdrücktem und habsburgischem Erbe. In diesem Sinne zeigt sich auch die Entösterreicherung als eine Veranstaltung einiger Intellektueller, die mit dem politischen und gesellschaftlichen Geschehen nur wenig zu tun hatte, jedoch für das Selbstbild und den Geschichtsmythos eine beachtliche Wirksamkeit entfaltet hat.14 185 Anmerkungen 1 Vgl. Alice TEICHOVÁ, Wirtschaftsgeschichte der Tschechoslowakei 1918–1980, Wien–Köln–Graz 1988, S. 36. 2 Dazu u. a. Eduard KUBÙ, Jaroslav PÁTEK (Hg.), Mýtus a realita hospodáøské vyspìlosti Èeskoslovenska mezi svìtovými válkami [Mythos und Realität des wirtschaftlichen Entwicklungsniveaus der Tschechoslowakei zwischen den Weltkriegen], Praha 2000, S. 289 und die Tabellen auf S. 221, 280, 340. 3 Vgl. Jörg K. HOENSCH, Geschichte der Tschechoslowakei, Stuttgart u. a. 31992. 4 Vgl. dazu u. a.: Dìjiny èeského výtvarného umìní. IV: 1890–1938 [Geschichte der tschechischen bildenden Künste. IV: 1890–1938], 2 Bde., Praha 1998. Vgl. Timothy O. BENSON, Dorothée BRILL (Hg.), Avantgarden in Mitteleuropa 1910–1930. Transformation und Austausch, Ausstellungskatalog Haus der Kunst München, Leipzig 2002. 5 Vgl. zusammenfassend Heidemarie UHL, Zwischen „Habsburgischem Mythos“ und (Post-)Kolonialismus. Zentraleuropa als Paradigma für Identitätskonstruktionen in der (Post-)Moderne, in: newslettter Moderne 5, 1 (2002), S. 2–5. 6 Angesichts der thesenartigen Darstellung wird dabei auf Verweise zur Forschungsliteratur verzichtet. Weiterführend sind neben den üblichen Handbüchern u. a.: Vlastislav LACINA, Hospodáøství èeských zemí 1880–1914 [Die Wirtschaft der böhmischen Länder 1880–1914], Praha 1990. Otto URBAN, Die tschechische Gesellschaft 1848 bis 1918, 2 Bde., Wien–Köln–Weimar 1994 (tschech. Original: 1982). Jiøí KOØALKA, Tschechen im Habsburgerreich und in Europa 1815–1914. Sozialgeschichtliche Zusammenhänge der neuzeitlichen Nationsbildung und der Nationalitätenfrage in den böhmischen Ländern, Wien–München 1991. Robert LUFT, Tschechische Parteien, Vereine und Verbände vor 1914. Besonderheiten und Defizite der politischen Kultur einer modernen Nation in einem Vielvölkerstaat, in: Joseph MARKO, Alfred ABLEITINGER, Alexander BRÖSTL, Pavel HOLLÄNDER (Hg.), Revolution und Recht. Systemtransformation und Verfassungsentwicklung in der Tschechischen und Slowakischen Republik, Frankfurt a. M. u. a. 2000, S. 311–350. DERS., Parlamentarische Führungsgruppen und politische Strukturen in der tschechischen Gesellschaft 1907–1914. Zu Interessen und Organisation von tschechischen Parteien, Abgeordneten und Fraktionen im österreichischen Reichsrat, 2 Bde., Dissertation Universität Mainz, München 2001. Vgl. Gerald STOURZH, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918, Wien 1985. Vgl. Ctibor NEÈAS, Èeská spoleènost a anexe Bosny a Hercegoviny [Die tschechische Gesellschaft und die Annexion Bosniens und der Herzegowina], in: Èasopis Matice Moravské 78 (1959), S. 114– 138. Vgl. DERS., Podníkání èeských bank v cizinì 1898–1918 [Unternehmen tschechischer Banken in der Fremde 1898–1918], Brno 1993. Dìjiny èeského výtvarného umìní. III/1–2: 1780–1890 [Geschichte der tschechischen bildenden Künste. III/1–2: 1780–1890], Praha 2001. 7 Vgl. dazu die Beiträge von Johannes FEICHTINGER und Ursula PRUTSCH in diesem Sammelband und mit zahlreichen Verweisen auch Ursula REBER, 186 8 9 10 11 12 Kolonialismus im „Osten“? Imperialismus, Orientalismus und das ,Reale‘ bei Edward W. Said, in: http://www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/UReber1.pdf (Text vom 08.05.2002). Vgl. dazu vor allem Hans-Heinrich NOLTE (Hg.), Internal Peripheries in European History, Göttingen–Zürich 1991. Vgl. DERS. (Hg.), Europäische Innere Peripherien im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1997. Vgl. DERS. (Hg.), Innere Peripherien in Ost und West, Stuttgart 2001 (Historische Mitteilungen, Beiheft 42). Nolte weist in dem jüngst erschienenen Sammelband das Konzept der „inneren Kolonie“ zurück, zählt aber ohne Begründung Böhmen zu den inneren Peripherien der Habsburgermonarchie. Hans-Heinrich NOLTE, Innere Peripherien. Das Konzept in der Forschung, in: ebenda, S. 7–31, hier S. 12. Vgl. dazu auch Andrea KOMLOSY, Regionale Ungleichheiten in der Habsburgermonarchie: Kohäsionskraft oder Explosionsgefahr für die staatliche Einheit, in: ebenda, S. 97–111. Zum Begriff der Zentrallandschaft zweiten Grades und seiner Anwendung auf Mähren, vgl. Robert LUFT, Politische Kultur und Regionalismus in einer Zentrallandschaft zweiten Grades: das Beispiel Mähren im späten 19. Jahrhundert, in: Werner BRAMKE (Hg.), Politische Kultur in Ostmittel- und Südosteuropa, Leipzig 1999, S. 125–160. Vgl. dazu auch: Ernst HANISCH, Zentrum – Peripherie. Modellüberlegungen am Beispiel des Kronlandes Salzburg, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landesgeschichte 131 (1991), S. 187–199. Zusammengestellt aus Originalzitaten der Reden von František Drtina, Reichsratsabgeordneter der tschechischen (realistischen) Fortschrittspartei (Èeská strana pokroková), in: Stenographische Protokolle des Hauses der Abgeordneten, Wien, 18. Session, 54. Sitzung am 20. Dezember 1907, S. 3758–3770, hier S. 3763 und 3770. Für die Diskussion über die Kategorie „Hybridität“ vgl. auch die Literaturhinweise bei Endre HÁRS, Hybridität als Denk- und Auslegungsfigur. Homi K. Bhabhas theoretisches Engagement, in: http://www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/ Ehars1.pdf (Text vom 21.01.2002). Andreas GOTTSMANN, „Stockböhmen“ oder „Russenknechte“? Das Bild der Tschechen in der deutschsprachigen Presse Österreichs im Revolutionsjahr 1848/49, in: Österreichische Osthefte 34 (1992), S. 284–311. Vgl. Peter BECHER, Jozo DZAMBO (Hg.), Gleiche Bilder, gleiche Worte. Deutsche, Österreicher und Tschechen in der Karikatur 1848–1948, München 1997. Emil BRIX, Die „Entösterreicherung“ Böhmens. Prozesse der Entfremdung von Tschechen, Deutschböhmen und Österreichern, in: Österreichische Osthefte 34, 1 (1992), S. 5–12. Vgl. KOØALKA, Tschechen im Habsburgerreich, S. 36. Zur tschechischen Dekonstruktion nationaler Mythen vgl. u. a. Vladimír MACURA, Znamení zrodu [Das Geburtszeichen], Praha 21995. Vgl. Jiøí RAK, Bývali Èechové ... Èeské historické mýty a stereotypy [Gewesene Tschechen ... Tschechische historische Mythen und Stereotypen], Praha 1994. Vgl. Vít VLNAS, Zdenìk HOJDA, Tschechien: „Gönnt einem jeden die Wahrheit“, in: Monika FLACKE (Hg.), Mythen der Nationalen. Ein europäisches Panorama, Berlin 1998, S. 502–527. ^ 13 14 187 Das kollektive Gedächtnis der Slowaken und die Reflexion der vergangenen Herrschaftsstrukturen Elena Mannová Das Konzept, Modell oder manchmal die Metapher der inneren Kolonisierung taucht in der Geschichtsschreibung und in der Politik öfter, sogar in Wellen auf, wie der im folgenden geschilderte slowakische Fall zeigt. Es geht dabei nicht um die Theorie oder Praxis des Einsatzes von Kontrolle über ein fremdes Territorium,1 um das System politischer Beherrschung und ökonomischer Ausbeutung wenig entwickelter Länder wie beim „klassischen“ Kolonialismus.2 Historische Analysen der modernen Armenfürsorge etwa weisen auf Beispiele der Kontrolle des äußeren und inneren Verhaltens von Klienten auf das Phänomen der inneren Kolonisierung hin, das nicht nur mit Stigmatisierung, Pädagogisierung und Disziplinierung verbunden wird, sondern auch mit einer Standortbestimmung von Sozialarbeit als Grenzgänger zwischen System und Lebenswelt, sowie zwischen herrschender Kultur und Subkultur.3 In anderen Kontexten wurde dieses Konzept von Gramsci in der Diskussion über italienisches Mezzogiorno oder von lateinamerikanischen Soziologen bei Untersuchung der Gesellschaften in indianischen Gebieten benutzt.4 Der amerikanische neomarxistische Soziologe Michael Hechter führte in den 1970er Jahren das Leninsche Konzept der inneren Kolonisierung in die Nationalismusforschung ein.5 Sein Modell wurde als reduktionistisch kritisiert, weil er kulturelle Widersprüche und ethnische Wahrnehmungen mit rein ökonomischen und räumlichen Charakteristiken erklärte.6 Dominanzbeziehungen und kulturelle Hierarchien mit ethnischer Kodierung bilden einen festen Bestandteil der Geschichte der Slowakei und der Slowaken. Kann man die slowakische Geschichte und ihr Bild im kollektiven Gedächtnis der Slowaken mit dem kulturwissenschaftlichen Begriff „Kolonisierung“ kennzeichnen? Historische Diskurse und mentale Selbst- und Fremdbilder,7 Auto- und Heterostereotypen8 in politischen Argumentationen, in 189 der Geschichtsschreibung, in der Folklore, in Lehrbüchern, Kalendern, in der Literatur, im Theater und Film zeigen, dass die Slowaken ihre Vergangenheit im Zeitraum des Ungarischen Königreichs zwar mit Unterdrückung verbanden, aber nie als direkt „kolonial“ bewerteten. Auf der anderen Seite gab es nach 1918 politische Strömungen, die mit dem Bild der Slowakei als einer tschechischen Kolonie argumentierten. Redet man über die Rekonstruktion des historischen Gedächtnisses der Slowaken, darf man nicht vergessen, dass die historiographischen und politischen Konzeptionen, die in der ganzen Geschichte der Slowakei Bestätigung ihres slowakischen Charakters und Beweise einer staatlichen Selbständigkeit suchten, nicht die einzigen oder eindeutig dominierenden Konzeptionen waren oder sind. Konflikte, Rivalitäten und Divergenzen waren auch für die slowakische Geschichtsschreibung und Politik bezeichnend. Die Frage einer gemeinsamen Sprache und eines gemeinsamen historischen Bewusstseins bildeten schon im 18. Jahrhundert einen differenzierenden Faktor bei den sich bildenden nationalen Eliten.9 Die Konstruktion der Theorie über eine gastfreundliche Aufnahme ungarischer Stämme und über den Abschluss eines Vertrags über einen gemeinsamen ungarländischen Staat ermöglichte es, die gleichberechtigte Stellung der Slowaken im ungarischen Königreich zu begründen. Die Legitimität dieses Staates wurde nicht angezweifelt, im Gegenteil, Ungarn wurde als Erbstaat von Magna Moravia konstruiert. Die Loyalität zum ungarischen Staat – auch bei slowakischen Nationaleliten – blieb in Gestalt des ungarländischen Patriotismus de facto bis zum Zerfall der Habsburgermonarchie gültig. Ende des 19. Jahrhunderts, Anfang des 20. Jahrhunderts kristallisierten sich zwei wesentliche Auffassungen der slowakischen Geschichte heraus: die territoriale Geschichte der Slowakei (von Franko Vít’azoslav Sasinek) sowie die andere, nationale Geschichte der Slowaken (von Július Botto).10 Ungarische auf der einen und slowakische Geschichtsschreibungen auf der anderen Seite sowie nationale Mythen, Symbole und Rituale im 19. Jahrhundert begannen die Menschen in zwei sich trennende Gesellschaften aufzuspalten und bauten Grenzen zwischen ihnen auf. Nationalismen erlaubten keine weitere Entfaltung einer allgemein akzeptierten, gemeinsamen ungarländischen Tradition und Kultur. Im Gegenteil, es wurden Feindbilder mit ethnischen Konnotationen verbreitet. Die slowakische nationale Presse bot Stereotype von Magyaren als asiatische Nomaden, eroberungssüchtige heidnische Ankömmlinge, krankhafte Chauvinisten; im besten Fall wurden sie als „unsere Schwager“ im Unterschied zu den slawischen „Brüdern“ gekennzeichnet. Die negativen 190 Heterostereotype, die sich im 19. Jahrhundert herauskristallisierten, sind bis heute wirksam. In der Wahlkampagne im September 2002 benutzten zwei Nationalparteien in der Fernsehwerbung das Bild der magyarischen Bedrohung im Stil des 19. Jahrhunderts, sogar mit dem ungarischen „historischen“ Spottnamen der Slowaken, mit „buta tót“ (dummer Slowake). Die slowakische nationalistische Historiographie fixierte den Mythos der tausendjährigen Unterdrückung, die Vorstellung von langen Jahrhunderten in einem fremden Staat unter der Regierung nichtslowakischer Herrscher, ebenso wie die Konzeption der plebeischen Geschichte – der Geschichte ohne Könige, der Geschichte des gemeinen Volkes. Aber auf der anderen Seite bewiesen dieselben Historiker, die das Nationalgedächtnis als Tradition des Leidens11 mitkonstruierten, gleichzeitig eine eigentümliche, besondere Stellung der Slowakei (Oberungarns) im ungarischen Königreich; sie bewiesen also, dass die Peripherie entwickelter sein konnte als das Zentrum. Sie schilderten die wichtige Rolle der „Slowaken“ und der „Slowakei“ bei der Bildung des ungarischen Staates, die „christliche Slowakei“ als Kern der kirchlichen Organisation Ungarns und die besondere Stellung des Neutraer Teilfürstentums der Árpádischen Dynastie des 10. und 11. Jahrhunderts als einen Überrest der großmährischen Verwaltung. Das Dominium des wiederständischen Feudalherrn Mathias Chak von Trentschin (slow. Èák, ung. Csák) auf dem Gebiet der heutigen Slowakei wird von einigen Autoren als ein „fast unabhängiger Staat“ bezeichnet; die Figur dieses „Herrn von Waag und der Tatra“ existiert bis heute im slowakischen historischen Gedächtnis. Mediävisten betonen die ökonomische Bedeutung der slowakischen Region, vor allem die Gewinnung von Silber ebenso wie die außerordentliche städtische Selbstverwaltung und die Tatsache, dass nach dem Tatareneinfall dieses Gebiet das meist urbanisierte in Ungarn wurde. (Die Rolle der deutschen Kolonisten wird dabei nicht verschwiegen.) Spezielle Aufmerksamkeit wird der historischen Aufgabe der Slowakei in der Türkenzeit geschenkt. Einerseits werden die großen Opfer bei der Verteidigung des christlichen Europa gegen die Türken und die wirtschaftliche Zerstörung des Landes hervorgehoben, andererseits wurde die Slowakei für zwei Jahrhunderte der bedeutsamste Teil Ungarns, wandelte sich also von der Peripherie zum Zentrum, mit Pressburg als Hauptstadt. Im 19. Jahrhundert war das Land schon wieder nur eine Provinz – jedoch die meist industrialisierte Region des Königreichs. Im allgemeinen wurde die Slowakei zwar als eine Provinz Ungarns gesehen, aber als eine sehr wichtige. Durch das Hervorheben des slowakischen „tausendjährigen kulturellen 191 und zivilisatorischen Beitrags“ bekämpfte man das Stereotyp der kulturellen Rückständigkeit der Slowaken. Die erwähnten Merkmale der Geschichte der slowakischen (oberungarischen) Region scheinen auch in den ungarischen sowie in den (karpaten)deutschen Historiographien auf, nur die Optik ist eine andere: Als die sozialen Träger einzelner Prozesse traten nicht die Slowaken, sondern Ungarn oder Deutsche auf. Jeder ethnozentristische Blick vor allem auf das nationalistische 19. Jahrhundert war selektiv. In den Werken vieler slowakischer Autoren wurde die repressive Seite hervorgekehrt (sogar bis zu seltenen extremen Stimmen über den geistigen Genozid an den Slowaken von Seiten der ungarischen Behörden), die zivilisatorische Entwicklung im ungarischen Königreich wurde aber außer Acht gelassen. Eine überdimensionierte Aufmerksamkeit wurde dem Trauma der Magyarisierung gewidmet, die die sozialen Strukturen des slowakischen Volkes deformierte und tief in dessen Lebenswelt eingriff (etwa durch die Dominanz der ungarischen Sprache in Kirchen, in Behörden, in der Schule, durch ungarische Ortsnamen, durch die Magyarisierung von Familiennamen und durch die Diskriminierung nichtmagyarischer Kulturen). Viele slowakische Historiker unterstrichen den Aspekt der „gewaltsamen“ Assimilierung, deren ungarische Kollegen betonten dessen „Natürlichkeit“ im Zusammenhang mit der Industrialisierung und Urbanisierung. Als politisches Programm ungarischer Regierungen funktionierte die Magyarisierung seit dem österreichisch-ungarischen Ausgleich. Durch allmähliche Assimilierung sollten die nichtungarischen Ethnien zur Ausbildung eines Volkes von 20 Millionen Ungarn beitragen, worauf sich die herrschende magyarische Elite im Kampf um Vorrechte innerhalb der Monarchie stützen konnte. Wenn wir alle Nationalismen als innere Kolonisierung betrachten – nicht nur im Verhältnis zu „Anderen“, sondern auch bei der Überzeugung vom „Eigenen“ – dann können die Magyarisierung und die politische Hegemonie ungarischer Eliten und ihre Legitimierung mit dem Argument der kulturellen Überlegenheit im akademischen Diskurs als halbkolonial12 bezeichnet werden. Im kollektiven Gedächtnis gibt es nur Erinnerungen an „Unterdrückung“; die Vorstellung von einer kolonialen Abhängigkeit oder kolonisierter nicht-weißer Bevölkerung würde schwer mit dem Selbstbild eines fleissigen christlichen Volkes übereinstimmen. Oft wird die Aussage des prominenten Politikers Andrej Hlinka aus dem Jahr 1918 zitiert: „Unsere tausendjährige Ehe mit Magyaren ist nicht gelungen. Wir müssen uns trennen.“ Noch beim Zerfall der Monarchie überwog die Vorstellung von der Ehe, der Familie („unsere Schwager“); die Slowakei 192 wurde als integraler Bestandteil des Königreichs gewertet. Es gibt keine Indizien dafür, dass slowakische ebenso wie nichtslowakische Bewohner der Slowakei das ungarische Königreich als ein Kolonialreich wahrgenommen haben. In den 1950er Jahren wurde – unter dem Einfluss der ungarischen marxistischen Historiographie – auch in der Slowakei über die koloniale oder halbkoloniale Stellung Ungarns in der Habsburgermonarchie diskutiert. Häufiger waren aber Anschauungen von der Slowakei als einer Kolonie oder Halbkolonie im Rahmen der Ersten Tschechoslowakischen Republik – und zwar in der Zwischenkriegszeit in der Politik, nach dem Zweiten Weltkrieg auch in der Historiographie.13 Schon in den 1920er Jahren benutzten die Slowakische Volkspartei und die Kommunisten agitatorisch die Metapher von der Slowakei als einer „tschechischen Kolonie“ zur Beschreibung von Unrecht und Nichtgleichberechtigung. Beide stießen dabei auf Probleme. Hlinkas Slowakische Volkspartei konnte schwer mit dem Kolonialismus der Prager Regierung argumentieren, weil sie sich an der Macht beteiligte – in der Kommunalverwaltung, auf Landesebene, in Parlamentsausschüssen und kurz sogar direkt in der Regierung. Ein anderes Hindernis stellte die Tatsache dar, dass es die Volkspartei konsequent ablehnte, die Slowaken unter die nationalen Minderheiten einzureihen. Sie hielt sich für eine Repräsentantin einer der „staatstragenden“ Nationen der Republik; dabei betonte sie vehement den Anteil der Slowaken an der Entstehung des Staates und sah die Trennung von Ungarn als historischen Gewinn.14 Bei den Kommunisten dominierte bis zur Mitte der 1920er Jahre die Idee des Tschechoslowakismus. Danach setzte sich die Anschauung von der Slowakei als eines vom tschechischen Kapital und Imperialismus okkupierten Landes durch: Dies äusserte sich im Manifest „Räumt die Slowakei aus!“ (1926), wie auch in Losungen wie „Heraus mit den tschechischen Okkupanten aus der Slowakei!“ (1933). Autor dieser radikalen Texte war der in der Slowakei tätige tschechische Kommunist Klement Gottwald, von 1929 bis zu seinem Tod 1953 Führer der tschechoslowakischen KP. Als er 1948 Staatspräsident wurde, wurde die Autorenschaft seiner Texte einem Repräsentanten des slowakischen nationalen Kommunismus zugeschrieben.15 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die These über die koloniale Stellung der Slowakei in den Bereich des slowakischen Exils verschoben, der mit der Tiso-Republik (1939–1945) verbunden war und diese glorifizierte. Die „koloniale“ Unterdrückung seitens der Tschechen in der Zwischenkriegszeit sollte den Anspruch auf einen selbständigen Staat legitimieren. 193 Ein Teil der marxistischen Historiographie kehrte nach 1948 zur kommunistischen Wahrnehmung der Slowakei als Kolonie zurück. Man argumentierte ökonomisch; in der politischen Geschichte erwähnte man vorsichtig „halbkoloniale Methoden“. Seit den 1960er Jahren, als Historiker die Zwischenkriegszeit schon ausführlicher und tiefer erforscht hatten, schrieb man nur über eine „nichtgleichberechtigte Stellung“. Nach 1989 kam – neben der ÈSR-Nostalgie – wieder der Begriff „Kolonialismus“ in den tschechoslowakischen politischen Diskurs zurück; einerseits nur als die Wiederkehr eines tabuisierten Themas, andererseits als historisches Argument eines Teils der radikalen Nationalisten gegen die Tschechoslowakei. In der Gegenwart erscheint er bloß in einem schmalen Kreis der neol’udakschen16 politischen historisierenden Publizistik (wie etwa Milan S. Ïuricas Begriff vom „tschechischen Mikroimperialismus“), nicht in der historischen Fachliteratur. Die Restrukturalisierung („Demolierung“) der Industrie in der Slowakei in 1920er Jahren und die Massenankunft tschechischer Staatsangestellter, Beamter und Lehrer17 bilden Grundsteine für die „koloniale Argumentation“. Als Beweise dienen unterschiedliche Zahlen von Emigranten aus Böhmen und aus der Slowakei, Zahlen von Ärzten, Krankenhäusern, Studenten, Angestellten in Industrie, von Durchschnittslöhnen und ähnlichem, also Fakten, die die Verbindung von ökonomisch und kulturell differenzierten Territorien dokumentieren, nicht aber ein koloniales Verhältnis. Man umgeht die Tatsache, dass alle Teile der Republik durch gleiche Gesetze verwaltet wurden – oder mindestens zielte man in den Unifizierungsprozessen darauf hin, dass sie aufgrund des gleichen Wahlrechtes an der Gesetzgebung teilgenommen haben und dass sich die Slowaken an der Exekutivmacht beteiligten. L’ubomír Lipták behauptet, dass der Topos der Kolonisierung verwickelte historische Prozesse der Modernisierung in der Slowakei nur wenig erklärt, sie sogar eher verwischt.18 * Das „neue koloniale Konzept der Habsburgermonarchie“ arbeitet mit dem Bild des Staates, der seine Machtvorstellungen und etwa die Modernisierung und die Nationsbildung vom Zentrum zur Peripherie von oben durchsetzte. Der Staat nivellierte einerseits im Prozess einer internen Kolonisierung systematisch vorhergehende regionale kulturelle Eigenarten, andererseits erzeugte er Differenzen. Man arbeitet im postkolonialen Diskurs vor allem mit quasikolonialen Konstruktionen des Anderen; dabei wird aber außer Acht gelas- 194 sen, dass solche Konstruktionen, Symbole, Stereotype, Fremd- und Selbstbilder auch zeitlich schon vor dem Kolonialismus existierten und vor allem sozial aufgeladen waren; man übersieht dabei, dass diese vielmehr als Produkt sozialer Praktiken und Interaktionen zwischen gesellschaftlichen Gruppen zu untersuchen sind. Aus dieser Sicht ist das Kolonialismus-Paradigma reduktionistisch: Es geht ihm zwar um die differenzierte Erfassung der kulturellen Heterogenität und dynamischen Hybridität, aber die Bipolarität von hegemonialer Elitenkultur versus kolonisierten Ethnien petrifiziert stereotype Hierarchisierungen, generiert die Vorstellung eines homogenen „Anderen“19 und reduziert komplizierte Beziehungen zwischen Zentrum und Provinz oder zwischen Regionen mit unterschiedlichen ökonomischen und kulturellen Niveaus einseitig auf „koloniale Abhängigkeit“. Symbolische Formen der Herrschaft bilden nur eine Ebene dieser Beziehungen. Anmerkungen 1 Vgl. Andrew HEYWOOD, Politics, Houndmills u. a. 1997, S. 116. 2 Clemens Ruthner unterscheidet zwischen Kolonialismus sensu stricto (sozioökonomische Ausbeutung) und Kulturimperialismus (symbolische Ordnungen, d. h. die Modellierung von Imagines und deren politischer Status). Vgl. Clemens RUTHNER, Kulturelle Imagines und innere Kolonisierung. Ethnisch kodierte Selbst- und Fremdbilder der k.u.k. Monarchie – eine Projektskizze, in: Moritz CSÁKY, Klaus ZEYRINGER (Hg.), Inszenierungen des kollektiven Gedächtnisses. Eigenbilder, Fremdbilder, Innsbruck u. a. 2002, S. 30– 53, hier S. 46. 3 Dirk GNEWEKOW, Thomas HERMSEN, Die Geschichte der Heilsarmee. Das Abenteuer der Seelenrettung. Eine sozialgeschichtliche Darstellung, Opladen 1993, S. 133. 4 Vgl. Umut ÖZKIRIMLI, Theories of Nationalism. A Critical Introduction, New York 2000, S. 96 f. 5 Vgl. Michael HECHTER, Internal Colonialism: The Celtic Fringe in British National Development, 1536–1966, London 1975. 6 Vgl. ÖZKIRIMLI, Theories of Nationalism, S. 96–104. 7 Vgl. Eva KREKOVIÈOVÁ, Identitäten und Mythen einer neuen Staatlichkeit nach 1993. Abriss der „slowakischen Mythologie“ an der Jahrtausendwende, in: Hannes STEKL, Elena MANNOVÁ (Hg.), Heroen, Mythen, Identitäten. Die Slowakei und Österreich im Vergleich, Wien (Wiener Vorlesungen Bd. 14), im Druck. 8 Vgl. Dušan ŠKVARNA, Genese und Beharrung von Stereotypen in der slowakischen Kultur, in: Hans Henning HAHN, Elena MANNOVÁ (Hg.), Nationale Wahrnehmung und ihre Stereotypisierung, Frankfurt a. M. (Mitteleuropa – 195 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 Osteuropa. Oldenburger Beiträge zur Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas), im Druck; vgl. Eva KREKOVIÈOVÁ, Autostereotypen und politische Eliten. Am Beispiel der Slowakei, in: ebenda. Vgl. Eva KOWALSKÁ, Slovakia in a Period of Structural Changes 1711–1848, in: Elena MANNOVÁ (Hg.), A Concise History of Slovakia, Bratislava 2000, S. 159–184, insbesondere S. 178–184. Näher Alexander AVENARIUS, The Basic Problems of Slovak History and Historiography, in: MANNOVÁ (Hg.), A Concise History, S. 307–314, insbesondere S. 307–310. Tibor PICHLER, Searching for Lost Memory. On the Politics of Memory in Central Europe, in: Moritz CSÁKY, Elena MANNOVÁ (Hg.), Collective Identities in Central Europe in Modern Times, Bratislava 1999, S. 53–61, hier S. 55. Vgl. mit der semi-kolonialen Geschichte Sardiniens: Birgit WAGNER, Postcolonial Studies für den europäischen Raum. Einige Prämissen und ein Fallbeispiel, in: Christina LUTTER, Lutz MUSNER (Hg.), Kulturstudien in Österreich, Wien 2002, in Vorbereitung; im Internet: www.kakanien.ac.at/beitr/ theorie. Vgl. L’ubomír LIPTÁK, Slovensko ako kolónia. Poznámky [Die Slowakei als eine Kolonie. Bemerkungen], Manuskript 2002. Für seine Hilfe bei der Analyse des Kolonisierungsdiskurses im 20. Jahrhundert bin ich Dr. Lipták sehr dankbar. Vgl. ebenda. Vgl. ebenda. Ludaken (slowakisch ludaci) sind Mitglieder von Ludova strana (= Hlinkas Slowakischer Volkspartei), das heisst slowakische Autonomisten in der Ersten Tschechoslowakischen Republik und die führende Partei der Slowakischen Republik von 1939–1945. Nach 1938 überwogen in dieser katholisch-nationalen Partei antidemokratische und autoritative Risse. Neoludaken verfolgen dieselbe Politik. Näher Hana ZELINOVÁ (Hg.), Èesi na Slovensku [Tschechen in der Slowakei], Martin 2000. Vgl. LIPTÁK, Slovensko ako kolónia. Vgl. Heidemarie UHL, Zwischen „Habsburgischem Mythos“ und (Post-)Kolonialismus. Zentraleuropa als Paradigma für Identitätskonstruktionen, in: newsletter Moderne 5 (2002), Heft 1, S. 2–5, hier S. 4. 196 Die Ambivalenz der Assimilation. Postmoderne oder hybride Identitäten des ungarischen Judentums Éva Kovács Können wir die Geschichte des ungarischen Judentums zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Zweiten Weltkrieg mit Hilfe des neuen postmodernen Instrumentariums der Postcolonial Studies dekonstruieren? Können wir den sogenannten Assimilationsprozess der „Ungarn mosaischen Glaubens“ als Vorgeschichte der neuen jüdischen Hybrididentitäten verstehen? Ist es möglich, für die Habsburgermonarchie des 19. Jahrhunderts eine ethnische Hierarchie zu konstruieren, in der die Mehrheit über eine versteckte, selbstverständliche Ethnizität verfügte, während die Minderheit nur eine untergeordnete Position hatte?1 Und wenn ja, konnte sich diese Minderheit artikulieren, konnte sie Platz und Position im Diskurs finden, um ihre Identität „hörbar“ und damit auch für uns lesbar zu machen?2 Gibt es überhaupt solche Quellen, mit deren Hilfe wir das „Murmeln“ dieser neuen Ethnizitäten verstehen können?3 Können wir überhaupt von Identitäten ausgestorbener Generationen sprechen, oder müssen wir unser Interesse auf Diskurse und Narrative, also kurz auf die Identitätspolitik beschränken?4 Die Sichtweise der Postcolonial Studies könnte uns wahrscheinlich reizvolle Alternativen bieten, um jene Fragen zu beantworten, auf welche wir bis jetzt keine zufriedenstellende Antwort mit Hilfe der üblichen geschichts- und gesellschaftswissenschaftlichen Theorien gefunden haben. Zumindest dürfen wir die Gelegenheit nicht ungenützt verstreichen lassen, unsere unbeantworteten Fragen im Lichte der neuen Theorien neu zu formulieren. Ethnozentrismus, Nationalismus oder Kolonialismus Paradoxerweise muss ich die Geschichte nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie beginnen. Als angehende Soziologin versuchte ich die Prozesse 197 der jüdischen Assimilation nach dem Ersten Weltkrieg in den Nachfolgestaaten, in einer Großstadt der Ersten Tschechoslowakischen Republik und des ehemaligen Oberungarn, in Kaschau/Košice/Kassa zu analysieren.5 Meine zentrale Fragestellung war jene, wie sich dieser Prozess unter den veränderten staatlichen, politischen und sozialen Bedingungen fortgesetzt hat, und was mit den Gemeinschaften, Generationen und auch ihren Identitätsdiskursen nach 1920 geschehen ist. Ich habe die Assimilationstheorien der 1970er und 1980er Jahre übernommen und meinen Forschungsplan nach ihren Kriterien vorbereitet. Noch bevor ich mich mit den nicht unproblematischen Assimilationstheorien auseinander setzte, stellte sich heraus, dass es fast keine Literatur über die Juden in den Nachfolgestaaten gab. Die ungarische sozialgeschichtliche Forschung über das ungarische Judentum beschränkte sich hinsichtlich der Zeit bis 1920 auf das sogenannte „Historische Staatsgebiet“. Für die Periode der Zwischenkriegszeit hingegen wurden nur Prozesse untersucht, die sich auf das im Friedensvertrag von Trianon festgelegte Territorium Ungarns bezogen. Es existierte keine systematische Forschung, die sich mit der Sozialgeschichte der nach dem Ersten Weltkrieg in den Nachfolgestaaten verbliebenen jüdischen Gemeinschaften beschäftigt hatte, während die ungarischen Minderheiten etwa in Rumänien, in der Slowakei und in Österreich schon seit Anfang der 1980er Jahre in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Forschung gerückt wurden. Auch theoretisch hat sich die ungarische Geschichtsschreibung nicht mit den in der Slowakei, in Rumänien sowie im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen lebenden Juden, die früher Staatsbürger des Ungarischen Königreichs gewesen waren, beschäftigt. Es sah so aus, als ob die Geschichtsschreibung selbst eine Gefangene einer absolutistischen, kolonialen Tradition geblieben wäre. Es wurde eine Linearität der nichtlinearen Geschichte so rekonstruiert, dass die schwer erklärbaren Episoden ignoriert und die aktuellen Staatsgrenzen auch als Forschungsgrenzen definiert wurden. Innerhalb der Staatsgrenzen konzentrierte sich die Geschichtsschreibung nur auf das Territorium des ehemaligen Imperiums und die ethnische, beziehungsweise politische Mehrheitsbevölkerung, auf die Magyaren. Nicht unabhängig davon steht auch die Sozialgeschichte wie gelähmt vor diesen Aufgaben: Wie soll sie die Gründe des Zerfalls der Monarchie erklären, wie ihr Forschungsobjekt, die ungarische Gesellschaft, definieren, wie die longue durées, die lokalen und regionalen Gegebenheiten nach 1920 analysieren? 198 Was illustriert diese Tendenzen besser als die ungarische institutionelle Differenzierung der Geschichtswissenschaften oder der Umstand, dass ich meine Forschungen an einem sogenannten Hungarologischen Forschungsinstitut begann, das jetzt unter dem Namen Institut für Mitteleuropäische Studien bekannt ist. Obwohl die jüngsten Forschungen und wissenschaftlichen Kooperationen schon Merkmale einer langsamen Annäherung zeigen, folgt der mainstream der ungarischen Sozialgeschichte der oben skizzierten Tradition. Der Assimilationsdiskurs: Ungarn und Juden als odd couple Man könnte behaupten, dass die zuvor konstatierte Forschungstradition dem mainstream der Geschichtsschreibung in den Nationalstaaten Europas entspreche. Man könnte zudem behaupten, dass es sich hierbei einfach um Ethnozentrismus, ja sogar Nationalismus handle, oder um ein verstecktes und auch zu versteckendes Trauma aufgrund des Zerfalls der Monarchie, im vorliegenden Falle speziell des Zerfalls des Ungarischen Königreichs. Oder doch nicht? Diese Historiker sind keine Nationalisten; und ich bin auch sicher, dass der Zerfall der Monarchie sie keineswegs traumatisierte. Viel wahrscheinlicher erscheint mir, dass die Geschichtsschreibung bis jetzt nicht von der Sprache des ehemaligen Kolonisierungsdiskurses befreit wurde. Die moderne Geschichtsschreibung der 1980er und 1990er Jahre übernahm den alten Sprachgebrauch der Zwischenkriegszeit und simplifizierte ihn gelegentlich auch. Begriffe wie Verbürgerlichung und Assimilation wurden zu Schlüsselbegriffen der Geschichte der ungarischen Modernisierung. Nicht nur die jüdische Identitätsforschung, sondern auch viele Studien zur Sozialgeschichte des Dualismus operieren mit dem Begriff des „assimilatorischen Gesellschaftsvertrags“, der zwischen der politischen Elite der Aristokraten und der wirtschaftlichen Elite der reichen und mächtigen Juden getätigt wurde.6 Dieses Konzept bricht glücklicherweise mit der früheren nationalistischen Denkungsart der ungarischen Modernisierungsdiskussion, ist aber lediglich auf die TeilnehmerInnen des Gesellschaftsvertrags fokussiert. Es ignoriert die lokalen Differenzen und interpretiert alle sozialen Prozesse als Phasen der Assimilation. In diesem Konzept erscheint die Koexistenz zwischen Juden und Nicht-Juden – wie im Buch Orientalism von Edward Said – oft im Zusammenhang mit Metaphern der Sexualität. In dieser Liebe spielt der Ungar die Männerrolle, der Jude die Frauenrolle, und als odd couple leben sie miteinander in einem Verhältnis der „Hassliebe“. So wird die sozio- 199 strukturelle Problematik des Zusammenlebens mit Hilfe des lyrischen Symbolismus der Sezession verdeckt. Meist berufen sich ForscherInnen auf den berühmtesten Essay von Endre Ady mit dem Titel Korrobori: Unsere Väter, die vielleicht noch einfach nur so irgendwie Ungarn sein konnten, vergaßen das Ungarntum zu schaffen. Ungarntum gibt es schon längst keines mehr, was es gibt, ist bloß pars negativa, das sich nur dadurch von den wohl umrissenen Rassen durch das unterscheidet, was diese nicht haben [...]. Welch Feigheit, noch immer nicht zuzugeben, dass wir den „Korrobori“-Tanz pflegen, ihn im Gebiet zwischen Donau und Theiß schon seit Jahrzehnten tanzen? Hier paarten sich zwei rassenlose und zugleich fremde Rassen gemäß den Regeln des „Korrobori“. Mit den kopierten Musikinstrumenten bereits erschaffener Kulturen nimmt das Judentum hier seinen Platz ein, und wir, die wir uns Ungarn nennen, schwingen hassend und begehrend das Tanzbein. Hier produzieren wir uns, mit Liebe erstickend, entweder ein neues Volk, oder aber hinter uns die Sintflut.7 Obwohl das Originalzitat – und dies gilt auch für andere Schriften von Endre Ady – die gemeinsame Kreativität betont, in der Juden und Ungarn gemeinsam ein neues Volk produzieren, wurde diese Metapher des Liebestanzes, ja die zitierte Stelle selbst, später meist als Beweis für die einseitige beziehungsweise erzwungene Neigung der Juden zu den Ungarn ins Feld geführt. Ich würde nicht sagen, dass der ehemalige Diskurs sich selbst nicht auch um Assimilation und Emanzipation drehte. Das ungarische Projekt der Moderne begann jedoch nicht mit der Debatte über den gesellschaftlichen und politischen Status der „Ungarn mosaischen Glaubens“, wie heutzutage Viktor Karády und Ferenc Fejtõ schreiben oder wie Zygmunt Bauman und Shulamit Volkov dies für den Fall der deutschen Juden thematisieren.8 Zumindest bis zur Jahrhundertwende stand die Frage des neuen Mittelstandes im Brennpunkt des ungarischen Diskurses über die Moderne, und daher erstreckte sich das Modernisierungs- und Emanzipationsprogramm auf die gesamte ungarische Gesellschaft. Jene gesellschaftlichen Schichten, Ethnien und Gruppierungen, deren Mitglieder aufgrund der wirtschaftlichen und sozialen Transformationen mobilisiert wurden, erlebten wahrscheinlich eine eben solche „chronische Ambivalenz“, wie sie Bauman ausschließlich den Juden zuschreibt und die er mit Beispielen aus Texten von Kafka, Simmel und Roth zu verifizieren versucht. Alle gesellschaftlichen Schichten, Ethnien und Gruppierungen mussten ihren assimilatorischen Gesellschaftsvertrag schließen. Die entscheidende Differenz, die die Juden wieder in die Position des Fremden par excellence platzierte, wurde im Diskurs und durch den Diskurs konstru- 200 iert, paradoxerweise erst zu einem Zeitpunkt, als das Projekt der rechtlichen Emanzipation mit dem Gesetz über die bürgerliche Ehe im Jahre 1896 schon erfolgreich abgeschlossen war.9 Der selbstzerstörerische Charakter des ungarischen Diskurses der Moderne ist erst ab diesem Zeitpunkt datierbar. Die postmoderne Kritik der Assimilation Die erste postmoderne Kritik an diesem Assimilationsdiskurs kam von Zygmunt Bauman, der in seinem großen Essay das Assimilationsprojekt als sine qua non der Moderne verstand. Laut Bauman stellte das Phänomen der Assimilation weder einen kulturellen Austauschprozess noch eine Diffusion, sondern eine Nationalisierung der individuellen Differenzen dar, ja sogar eine Etatisierung der Nation selbst, die die Ambivalenz als eine neue Identitätsform ins Leben rief und sie als Sozialtechnologie reproduzierte. Shulamit Volkov hat wahrscheinlich Recht gehabt, als sie Baumans Analyse wegen ihres Elitismus kritisierte. Eigenartigerweise stellte Volkov dem postmodernen Papst Bauman aber „eine postmoderne Perspektive“ gegenüber. Aus ihrer Perspektive ist es die Aufgabe der Wissenschaft, anstelle der Genies und Elitegruppen die „erfundenen Minderheiten“ (nach Andersons imagined communities10) zu erforschen, mittels eines vom Nationalismus befreiten Ideals des Nationalstaats. Wie Kemény, Karády und Fejtõ tappt auch Bauman in diese Falle des ehemaligen Diskurses, weil er die jüdische Assimilation als ungleichmäßige Kontroverse zwischen den jüdischen und nicht-jüdischen Eliten diskutiert und den gesamtgesellschaftlichen Kontext – inklusive den jüdischen – außer Acht lässt. Volkovs postmoderne Perspektive zeigt durch ihre Betonung der großen Bedeutung der jüdischen Gemeindeorganisationen und des Triptychons von Konfessionalismus, häuslicher Religiosität und individuellen Integrationsmechanismen des Judentums einen Gegensatz auf. Nichtsdestotrotz führt auch in ihren Überlegungen das „jüdische Projekt der Moderne“ aufgrund der inhärenten Widersprüche der Moderne zum Bankrott, weil die Moderne die Juden trotz ihrer Assimilationskreativität „nicht akzeptabel gemacht hat“11. Volkov erkennt schnell, dass Bauman völlig auf die jüdischen Gemeinden und die vielen nicht-bürgerlichen und nicht-nationalen Gemeinschaftsidentitäten vergisst, jedoch träumt sie von einer solchen Gesellschaft, in der die Hybridität, die ethnische Koexistenz und die neuen communities of assent12 – also die Juden mit hybrider Identität – nicht akzeptabel wären. 201 Bauman operiert mit dem alten Begriff der Wurzellosigkeit, Volkov mit der Fremdheit par excellence, Karády, Kemény und Fejtõ argumentieren mit der übertriebenen Assimilationskreativität (overdid assimilation), ohne diese alten Begriffe zu dekonstruieren. Die drei ungarischen Autoren folgen hier eingestandenermaßen der nationalen Geschichtsschreibung der Moderne, während Bauman und Volkov ihre ähnlichen Thesen von einem postmodernen Standpunkt aus entwickeln. Es hat jedoch den Anschein, als würden sie alle das zu analysierende Objekt durch die Brille des europäischen Nationalstaats betrachten, anstatt das traditionelle Assimilationskonzept der Moderne zumindest für einen Augenblick zu verwerfen. Ich wage zu behaupten, dass nicht nur die traditionellen Versuche der ungarischen Historiker, sondern auch die ersten postmodernen Versuche von Bauman und Volkov zur Dekonstruierung der Assimilation erfolglos geblieben sind. Oder ist es die postmoderne Perspektive selbst, die wenige Möglichkeiten zur Beantwortung meiner Frage bietet? Der Jude als der Fremde par excellence, als Wurzelloser oder als Vorläufer der in-between Identitäten Welche jüdischen Identitäten thematisiere ich, die mit dem Konzept der Assimilation nicht erklärbar sind?13 Wenn uns die Antworten der Assimilationstheorie nicht befriedigen, können wir uns dann vielleicht mit Hilfe der Konstrukte der Hybrididentitäten oder der in-between condition der jüdischen Identitäten annähern? Kehren wir zur ungarischen Geschichte zurück, zu meinen Forschungsobjekten aus dem ehemaligen Oberungarn, der späteren Tschechoslowakei und jetzigen Slowakei. Wir schreiben das Jahr 1921. Aladár Komlós, ein assimilierter Jude, der damals in Prešov/Eperjes lebte, schrieb ein Pamphlet mit den Titel Juden am Scheideweg: Die Wahrheit ist, dass ich nicht nur Ungar und Jude, sondern auch Kosmopolit bin! [...] Aber schaut euch diese assimilierten Juden an: einer ist internationaler als der andere, und alle sind sie Radikale und Sozialisten! [...] Der Wind der Zeit kann nun den dünnen Sand der oberflächlichen ungarischen Gesinnung schnell von uns wegwehen. Tatsächlich kann diese oberflächliche Sandschicht früher oder später bei den jüdischen Ungarn in den neuen Staaten leicht für eine slowakische oder kroatische Sandschicht eingetauscht werden. Obwohl es keinen Grund dafür gibt, warum wir unserem neuen Staat gegenüber keine Loyalität bekunden sollten, wären wir trotzdem Renegaten, wenn wir unseren ungarischen Charakter von heute auf morgen ablegten. Wenn unser ungarischer Charakter unsere Haut darstellt, dann gibt 202 man doch seine Haut so schnell nicht preis, und ein so schneller Vollzug der Häutung ist nicht nur eine moralische, sondern auch eine technische Unmöglichkeit.[...] Und wenn jemand noch daran zweifelt, dass wir eine doppelte Haut besitzen, dann können wir dies demonstrieren: Schlagt den Magyaren und es wird uns schmerzen. [...] Schlagt den Juden, es schmerzt uns noch mehr. Wir können doppelten Schmerz empfinden.14 Das Zitat könnte auch in Baumans Buch stehen, als ein Beispiel für die „chronische Ambivalenz“, oder in Volkovs Buch, als ein Beispiel für die fehlende Akzeptanz der jüdischen Assimilationskreativität. Ebenso könnte es die „übertriebene Assimilation“ in den Studien von Karády oder Fejtõ illustrieren. Oder doch nicht? Komlós war selbstverständlich ein Proponent des ungarischen Assimilationsdiskurses, der sich als assimilierter jüdischer Ungar definierte. In einer Kleinstadt sitzend, galt seine Reflexion aber seinem Kosmopolitismus und dem Radikalismus und Sozialismus der anderen assimilierten jüdischen Ungarn – er problematisierte demzufolge nicht den assimilatorischen Gesellschaftsvertrag, sondern die Morris’schen communities of assent, die gesellschaftlichen Identifikationsgruppen. Die neue Situation nach dem Zerfall der Donaumonarchie erlebte er als einen potentiellen Scheideweg, auf dem er aber nicht zwischen Assimilation und Nicht-Assimilation, sondern zwischen nationalen Loyalitäten hatte wählen müssen. Das heißt, dass die hybride Identität, die Doppel-Perspektive für ihn zu diesem Zeitpunkt schon seit Jahrzehnten ein Faktum war. Seine Frage lautete vielmehr, wie er seine nationale Loyalität bewerten sollte, wie viel ihn die neuen Tripel-Perspektiven „kosten“ könnten, wie viel Schmerz die alte Hybrididentität in der neuen Situation hervorrufen könnte. Seine neue Ambivalenz spiegelt sich im Symbolwechsel wider: Er schreibt über seine nationale Identität zunächst als unempfindliche Sandschicht, später als Haut, die schmerzen könne. Multiple Perspektiven und (Wieder-)Erfindung des Lokalen Was prophezeiten Aladár Komlós und die anderen Juden, die ihr Leben nach dem Zerfall der Monarchie in der Slowakei fortsetzen mussten? 1921 steckten sie noch im nationalen Assimilationsdiskurs der Vorkriegszeiten. Sie prognostizierten, dass sie zwischen den Ergebnissen des früheren ungarischen und den neuen Erwartungen des slowakischen Assimilationsdrucks würden wählen müssen. Die jüdischen Identitäten in der Zwischenkriegszeit 203 waren allerdings in Ungarn in einen völlig anderen Kontext eingebettet als in der Tschechoslowakei. In Ungarn war die Magyarisierungspolitik – trotz des immer stärker werdenden Antisemitismus – die dominante Erwartungshaltung gegenüber dem Judentum geblieben, während in der Tschechoslowakei Assimilation, Dissimilation, lokale und regionale Identität sowie ethnischnationalistische Renaissance gleichermaßen zur Geltung kommen konnten. Die Logik der Assimilation hat sich als Erklärungs- und Beschreibungsmodell der neuen Tendenzen als ungenügend erwiesen, erstens, weil in der Tschechoslowakei dieser Diskurs selbst fehlte. Auch die Juden konnten ihn schnell vergessen. Zweitens eröffnete sich – wie das wichtigste neue Element der jüdischen Identitätspolitik, der Zionismus, zeigte – eine ganz neue Dimension: die Ambivalenz, über die Aladár Komlós 1921 berichtete, die in der Sehnsucht nach einem eigenen, modernen Nationalstaat (auch als imaginäre Gemeinschaft) aufgelöst werden konnte. Drittens wurde in Ungarn die Diskussion über die jüdische Bevölkerungsgruppe weitestgehend als sogenannte „Judenfrage“ thematisiert, während in der Tschechoslowakei eine „Ungarn- und Deutschenfrage“ existierte. Die „Judenfrage“ wurde in Ungarn mit diskriminierenden Gesetzen „beantwortet“, während es in der Tschechoslowakei keine Diskriminierung gegenüber Juden, Ungarn, Deutschen und Ruthenen gab. Zudem muss viertens berücksichtigt werden, dass die Juden in der Zwischenkriegszeit die Hauptrolle in der Reproduktion des Lokalen spielten. Die multiplen Perspektiven existierten immer an bestimmten, eigenen Orten, an denen Individuen und Gruppen ihre Identitätspolitik gestalten konnten. Um diese Loyalitätskonflikte zu lösen und eventuelle Identitätsschwächen zu verstärken, mobilisierten Juden oft ihren Lokalpatriotismus. Fünftens waren die Kaschauer Juden dem tschechoslowakischen Staat gegenüber selbstverständlich loyal – wie früher dem ungarischen Staat gegenüber –, ebenso wie die anderen Minderheiten in der Tschechoslowakei. Nichtsdestotrotz folgten den äußeren Merkmalen der Akzeptanz nur selten innere Elemente der Identifikation. Obwohl der Diskurs der Assimilation in der Tschechoslowakei zu existieren aufhörte, konnten die Positionen des früheren Diskurses der „Kolonisierenden“ beibehalten werden: Die Ungarn und die ungarischen Juden blieben eine der bestimmenden Gruppen des Kaschauer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens. Sechstens sprachen die Kaschauer Juden ungarisch, die offizielle Sprache der israelitischen Gemeinde war Ungarisch geblieben. Die jüdische Presse (wie zum Beispiel die Jüdische Zeitung, das Jüdische Wort und die Jüdischen Nachrichten) wurde auf ungarisch publiziert – sogar in den zionistischen Or- 204 ganisationen und auch in der Jüdischen Partei wurden die Reden in dieser Sprache gehalten. Zu betonen ist, dass sich die lokale ungarische Kultur nur mit Hilfe des Kaschauer Judentums erhalten konnte. Unter den Aktivisten und Führern der Ungarischen Nationalpartei (Magyar Nemzeti Párt) fanden sich viele Juden. Während die sprachliche und kulturelle Bindung des Judentums zur ungarischen Kultur erhalten blieb, wurde die nationale Identität aber gebrochen: Ein Teil der Kaschauer Juden rückte von Ungarn und der Idee des ungarischen Staates ab. Die Ursache dieser Differenzierung liegt einerseits darin, dass das ungarische antidemokratische und antisemitische politische System für die tschechoslowakischen Juden selbstverständlich unbeliebt wurde; anderseits hätte in der Tschechoslowakei die ungarische Minderheit einen neuen „assimilatorischen Gesellschaftsvertrag“ mit dem Judentum schließen müssen. Die ungarische politische und kulturelle Elite hat aber in der Zwischenkriegszeit ihre Attraktivität für die Juden schnell verloren, weil die ungarische Minderheit in der Tschechoslowakei in ihren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Positionen geschwächt wurde. Die Aufsplitterung der ungarischen Minderheit und die antisemitischen Manifestationen der ungarischen Christlich-sozialen Parteien konnten zu einem Desinteresse der Juden an den ungarischen politischen Bestrebungen führen. Die jüdische „Assimilationskreativität zum Ungartum“ (Karády), die sich während der Ersten Tschechoslowakischen Republik trotz allem noch zeigte, kann man als ein „Trägheitsmoment“ der erfolgreichen Assimilation vor dem Ersten Weltkrieg erklären. Der Identitätswandel des Kaschauer Judentums in der Zwischenkriegszeit führt uns die besondere Situation der jüdischen Assimilation in Ungarn vor Augen. Dazu trägt in erster Linie der Umstand bei, dass sich nämlich dieselbe Bevölkerung ohne Assimilationsdruck und in einer demokratischeren und moderneren Umwelt ganz anders repräsentiert. Während sich das Judentum in Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg assimilierte, waren in der Tschechoslowakei sowohl Zionismus, Integration in die slowakische Gesellschaft, Linksorientierung als auch die Bewahrung der ungarischen Sprache und Kultur gleichermaßen möglich. Diese multiple Perspektive führte manchmal – ohne Ambivalenz – zur Entwicklung hybrider Identitätsformen (etwa ungarischsprachige, jüdisch-nationale Sozialdemokraten), oder zur Entstehung einer regionalen, beziehungsweise lokalen Identität (repräsentiert etwa durch einen slowakischen ungarischen Juden, einen Kaschauer Juden). Wohin diese Tendenzen geführt hätten, lässt sich nicht einschätzen. Die Gesetze und Taten der Nationalsozialisten machten keinen Unterschied zwischen assimilierten und nicht-assimilierten, mit oder ohne Ambivalenzen lebenden Personen. 205 Warum blieb die ungarische Geschichtsschreibung in der Falle des Kolonisierungsdiskurses stecken? Diese Forschungsergebnisse sind in den ungarischen Diskurs und in die Geschichtsschreibung des Assimilationskonzeptes schwer integrierbar. Während die besten Experten wie Gábor Gyáni15 die Assimilationstheorie auch empirisch kritisierten, wuchs eine neue Vertretergeneration dieser Denkungsart heran. Damals (in den 1970er und 1980er Jahren) wurden die großen Leistungen der Partner des assimilatorischen Gesellschaftsvertrages betont, heutzutage kritisiert man die Übererfüllung durch die jüdischen Teilnehmer oder diskutiert sogar die Unmöglichkeit der jüdischen Assimilation.16 Deshalb meine ich, dass selbst der Assimilationsdiskurs Teil der Identitätspolitik war und ist – diese Eigenart garantiert seine Unsterblichkeit. Er bietet eine Möglichkeit, ungarische Attraktivität und jüdische Kreativität sowie ungarischen Nationalismus und jüdischen Ethnozentrismus zu leben. Die ethnozentrische, koloniale Position des Assimilationsdiskurses ermöglicht es, die sogenannten Assimilationsprozesse des ungarischen Judentums zu generalisieren, die neuen Prozesse in den Nachfolgestaaten – im Lichte der Assimilationsergebnisse während des Dualismus – als Dissimilation zu evaluieren, als eine Frage der nationalen Treue und des Patriotismus zu problematisieren und die Juden in den Nachfolgestaaten wegen ihrer Untreue abzustempeln. Paradoxerweise kann man mittels dieses Assimilationsdiskurses auch den Vorwurf des Irredentismus und des Antisemitismus abwehren, und zwar durch Einnehmen einer pragmatischen Position. Da man diese Gemeinschaften nach 1920 vergaß, musste man sich einerseits nicht mit den einstigen Traumata dieser Generationen beschäftigen, die von den Grenzveränderungen herrührten. Anderseits verhindert das Bestehen auf dem Assimilationsmodell, dass man die in der jüdischen Identität aufscheinenden Differenzen fälschlicherweise als etwas „Jüdisches“ abstempelt: die Juden werden immer als ungarische Staatsbürger wahrgenommen. Möglicherweise besteht die Forschung auf der Assimilationstheorie, weil sie die schwierigste Frage, die Tragödie des Holocaust, nicht erklären kann. Moderne, aber auch postmoderne Erklärungsmodelle – wie die Respekt abverlangenden Analysen von Volkov17 und Bauman18 –, können „nur“ auf den Assimilationsdiskurs und auf seine assimilierenden Teilnehmer rekurrieren, nicht aber auf die anderen, die hybriden jüdischen Identitäten. Und obwohl wir die Merkmale dieser hybriden Identitäten manchmal in der Forschung 206 erkennen und analysieren können, lässt das neue postmoderne und postkoloniale Modell der Koexistenz noch auf sich warten. Anmerkungen 1 Vgl. Gayarti C . SPIVAK, Can the Subaltern Speak?, in: Wedge 7, 8 (Winter/ Spring 1985), S. 120-130. 2 Vgl. Iain CHAMBERS, Signs of silence, lines of listening, in: Iain CHAMBERS, Lidia CURTI (Hg.), The Post-Colonial Question, London–New York 1996, S. 47–64. 3 Vgl. Homi K. BHABHA, DissemiNation. Time, Narrative, and the Margins of the Modern Nation, in: Homi K. BHABA, The Location of Culture, London– New York 1994, S. 139–170. 4 Vgl. Craig CALHOUN, Social Theory and the Politics of Identity, in: Craig CALHOUN (Hg.), Social Theory and the Politics of Identity, Oxford 1994. Vgl. Manuel CASTELLS, The Power of Identity, Oxford 1997, S. 5 f. Vgl. Clifford GEERTZ, After the Fact, Cambridge, Massachusetts 1995, S. 42–63. Vgl. Clifford GEERTZ, Az identitás politikájáról [Über die Identitätspolitik], in: Magyar Lettre Internationale 31 (1999), S. 25–28. Vortrag im Collegium Budapest. 5 Vgl. Éva KOVÁCS, Electoral Behavior as an Indicator of National Identity at Košice Between the Two World Wars, in: Regio - English Version (1995), S. 56– 84. Vgl. Éva KOVÁCS, Identität oder Loyalität. Die Juden von Košice (Kaschau, Kassa) von der Ziehung der tschechoslowakisch-ungarischen Grenze bis zum Ersten Wiener Schiedsspruch, in: Peter HASLINGER (Hg.), Grenze im Kopf, Frankfurt a. M. u. a. 1999, S. 103–114. 6 Vgl. Viktor KARÁDY, István KEMÉNY, Le juifs dans la structure de classes en Hongrie, in: Actes de la recherche en sciences sociales 22 (1978), S. 25-29. Vgl. Viktor KARÁDY, Egyenlõtlen elmagyarosodás, avagy hogyan vált Magyarország magyar nyelvû országgá? [Ungleiche Magyarisierung, oder wie ist Ungarn ein ungarnsprachiges Land geworden?], in: Századvég 2 (1990), S. 5–37. Vgl. François FEJTÕ, Gyula ZEKE, Hongrois et Juifs – Histoire millénaire d’un couple singulier (1000–1997), Paris 1997. Vgl. François FEJTÖ, Assimilation and Identity, in: The Hungarian Quartery, XLII, 161 (2001), siehe auch http://www.hungary.com/ hungq/no161/087.html. 7 Endre ADY, Korrobori, in: Erzsébet VEZÉR (Hg.), Ady Endre publicisztikai írásai [Publizistik von Endre Ady], Budapest 1987, (Original: 1917), S. 7 f. [Übersetzt von Gerhard Baumgartner]. 8 Vgl. Zygmunt BAUMAN, Moderne und Ambivalenz, Hamburg 1992. Vgl. Shulamit VOLKOV, Das jüdische Projekt der Moderne, Frankfurt a. M. 2001. 9 Vgl. Miklós SZABÓ, Politikai kultúra Magyarországon 1896–1986 [Politische Kultur in Ungarn 1896–1986], Budapest 1989. 10 Vgl. Benedict ANDERSON, Imagined Communities, London 1983. 11 Zit. n. VOLKOV, Das jüdische Projekt der Moderne, S. 190. 207 12 Vgl. Paul MORRIS, Community Beyond Tradition, in: Paul HEELAS, Scott LASH, Paul MORRIS (Hg.), Detraditionalization, Cambridge–Oxford 1996, S. 223–249. 13 Vgl. Éva KOVÁCS, A kassai zsidóság etnikai identitása a két világháború között [Die ethnische Identität der Kaschauer Juden in der Zwischenkriegszeit], Manuscript, Budapest 1991. 14 Zit. n. Álmos KORAL [= Aladár KOMLÓS], Zsidók a válaszúton [Juden am Scheideweg], Eperjes 1921, in: Aladár KOMLÓS, Magyar-zsidó szellemtörténet a reformkortól a Holocaustig I–II [Ungarische-Jüdische Geistesgeschichte vom Reformzeitalter bis zum Holocaust I–II], Budapest 1997, S. 11, S. 22. [Übersetzt von Peter Haslinger].Vgl. Sándor MÁRAI, Bekenntnisse eines Bürgers, München 2000 (Original: 1934). 15 Vgl. Gábor GYÁNI, Polgárosodás mint zsidó idenitás [Verbürgerlichung als jüdische Identität], in: BUKSZ 3, 9 (1997). DERS., Viszontválasz Karády Viktornak [Antwort für Viktor Karády], in: BUKSZ 1, 10 (1998), siehe auch http://www.c3.hu/scripta/index_center.htm. 16 Vgl. János GYURGYÁK, A zsidókérdés Magyarországon [Die Judenfrage in Ungarn], Budapest 2001. 17 Vgl. Shulamit VOLKOV, Antisemitismus als kultureller Code, München 2000 (Original: 1990). 18 Vgl. Zygmunt BAUMAN, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992. 208 Forgetting the diversity of the national past: Contrasting memories of the Hungarian Millennium Gábor Gyáni In his well-known essay What is a nation? (Qu’est-ce qu’une Nation?) Ernest Renan has remarked that oblivion has a beneficial result for the nation, because its essence is that every individual should have many common traits, and at the same time is expected to forget many things: „Forgetting, I even go so far as to say historical error, is a crucial factor in the creation of a nation, which is why progress in historical studies often constitutes a danger for [the principle of] nationality.“1 To this Homi K. Bhabha adds in interpreting Renan’s idea of nation that any remembrance of the nation closely depends upon the obligation of forgetting.2 The dialectic of forgetting and remembering seems to be vital in terms of national identity as compared with other possible forms of collective identities. This dialectic can mainly be discerned by looking at the nascent phase of nationalism. The historical event chosen for the end of recent analysis is the Millennium celebration in the late 19th century Hungary. The conflicting attitudes shown towards that historical anniversary in a country which was simultaneously a nation-state and a multiethnic state provide a deep insight into the process of how nationalisms were constructed on either side. We are ready to adopt the notion of the zigzag pattern of semantic change proposed by Liah Greenfeld to describe the longue durée historical trajectory of the word nation. By the term she means that The successive changes in meaning combine into a pattern which, for the sake of formality, we shall call ,the zigzag pattern of semantic change‘. At each stage of this development, the meaning of the word, which comes with a certain semantic baggage, evolves out of usage in a particular situation. The available conventional concept is applied within new circumstances, to certain aspects of which it corresponds. However, aspects of the new situation, which were absent in the situation in which the conventional concept evolved, become cognitively associated with it, resulting in a duality of meaning. The meaning of the original concept is gradually obscured, 209 and the new one emerges as conventional. When the word is used again in a new situation, it is likely to be used in this new meaning, and so on and so forth.3 Keeping in mind this nature of the concept of nation one might conclude that the late 19th century Central-European nation was made up of the fusion of two elements, the historically continuous state or statehood and the principle of ethnicity, ethnic community. By holding this view, we tend to break away from the well-established historiographical tradition which has usually made an unambiguous distinction between the state-nation and the culture-nation as two divergent European patterns. The state-nation was allegedly characterizing the development of Western Europe (England and France in the first place), while the culture-nation was constantly considered as a characteristic Central and East European paradigm.4 Gellner proposed to transcend that sort of duality by arguing that nationalism seems to have been the most adequate form and manifestation of modernity. At the basis of Gellner’s definition of nations and nationalism lies the idea that the existence of an industrial society always closely depends upon a common culture. „Nationalism“, Gellner writes, „is about entry to, participation in, identification with, a literate high culture which is co-extensive with an entire political unit and its total population, and which must be of this kind if it is to be compatible with the kind of division of labour, the type or mode of production, on which this society is based.“5 In the period covered by this study, the term nation throughout Europe acquired the meaning of a „unique sovereign people“ and referred to particular populations and countries carrying some political, territorial and/or ethnic qualities of their own; qualities which at the same time enabled them to create a nation by fusing the geo-political and ethnic baggage.6 Thus the stress was laid from that time onwards both on the increased internal similarities and on the obvious outward differences, homogeneity on the one hand, distinctiveness on the other hand. The creation of the nation in this sense of the word was always performed by the work of nationalism, a movement which alone could generate a new sort of collective identity, the national one.7 National identity is not something that is simply given, like a feeling of commitment which we possess as a consequence of being born into an ethnic community. National identity is rather a perception stirred up and fuelled by varied forms of nationalism. Accordingly, nationalist discourse is to fulfil the mission of tying together the members of a unique sovereign people who are fully aware of their fundamental similarities and distinctiveness at the same time. This task has primarily been achieved by using the inclusion/exclusion me- 210 chanism. By applying this mechanism in order to create a firm subjective commitment to an „imagined community“ certain narratives and memories have to be excluded to make the overall national narrative and national memory a homogeneous one. That is why nationalism – establishing the national paradigm – is soon to become the canonical discourse being capable „to produce a subjectivity that will take this symbolic structure as the sole criterion for assessing the ,realism‘ of any recommendation to act or think one may and not another.“8 Hungarian versus nationality narratives The actual image of a nation generated by some kind of nationalist discourse is definitely presentist, meaning that it closely follows the norms which regularly derive from the present state of affairs. This can easily be discerned by looking at the way the emblematic panorama The Hungarian Conquest (A magyarok bejövetele) – the exhibition of which was an important event of the Millennium celebration at the end of the 19th century – was envisaged and implemented. Árpád Feszty, the leader of the painters’ group being responsible for the whole undertaking, was incessantly looking for primordial Hungarian faces among his compatriots. However, Feszty and especially Mór Jókai, the great novelist who gave the main spiritual impetus to the picture, completely neglected the research findings of contemporary anthropology and archaeology. These scholars were firmly convinced that the ancestors of the Hungarians bore the physical traits of Asian Mongolian men and women, not to be found at all among the people populating Hungary at that time. Accordingly even the subdued Slav people, whom Feszty portrayed, were modelled after the Slovak labourers employed in Budapest at that time mainly in the building industry. Or, mentioning another striking example, the painters of the panorama preferred to use the Kalotaszeg embroidery – a Transylvanian artefact of folk art so popular in late 19th century Hungary – with the aim to decorate the carriage of the princess.9 The nationalist discourse of the age attributed prime importance to the foundation of the historically continuous state dating back to the Hungarian Conquest in the late 9th century. The preference given to the principle of statehood instead of the notion of pure ethnicity followed both from the tenets of contemporary liberal nationalism as well as from the internal needs of a multiethnic-state ready to transform itself into a nation-state. As regar- 211 ding the former, Hobsbawm pointed to the main paradox of 19th century European nationalism namely, that the creation of a nation directly led to the birth of anti-Nationalism. The spokesmen of the latter had to choose between assimilation or subordination. Contemporary liberalism, however, did not understand the essence of this paradox, and proved not to be able to grasp and tolerate the principle of nationality.10 The obvious insensitivity towards this issue had a lot to do with the rule of the dogma of the „threshold principle“ of full nationhood, which was indispensable to reach successfully the ends of a „nation-building“ project.11 The nationalist discourse aims at excluding every sort of alternative narratives and truths which would contradict its own dogmas and beliefs. In our case, such anti-Narratives could have been those possibly told by the Slavs and other ethnic minorities – the nationalities as they were called in contemporary Hungary, which by resisting the various inducements of 19th century assimilation, started to get again into a similarly subdued position, at least in terms of their ethnic relations.12 The planned Millennium celebrations – reads the declaration of the executive committee of the second nationality congress, published in 1896 in the daily, Narodnie Noviny – is bound to prove to Europe that one thousand years ago a tribe has conquered this native land, and subdued the other nations of our native country, and that the tribe concerned feels himself to have a right even after one thousand years to exclusively embody Hungary’s state idea and that she alone is to invest the Hungarian state with the character of an ethnic unity.13 By raising their voice against the official demands, the authors of the declaration claimed their own right to espouse a historical anti-Narrative. Hence they were bound to say that the account of Hungary’s history advanced by the official Hungary was completely false. „But suppose that the fables of the anonym notary of king Béla include the germ of truth in that Hungarians came here as fighting, knightly conquerors, as heroes, knights and lords, contrary to us, non-Hungarian nations who played the role of the conquered and subjugated, and who due to the Hungarians lost our independence and national existence, and thereby experienced the biggest disaster that might happen to a nation.“14 The text quoted above clearly manifests the demand of the nationalities – represented by the Nationality Congress – to have the right to their own version of a national narrative, one which is not simply a replica of the officially adopted historical image of the country. In their declaration they tended to define themselves as a nation which had already existed in the distant past as 212 opposed to the Hungarians, then a tribe only, who at the same time threatened the very national existence of the peoples living here at that time, who as traditionally constituting nations, were unambiguously linked to the same territory and the same state, which has now been expropriated by the Hungarians. This anti-Narrative briefly reconstructed here was endorsed even by the labourers of Slav and other national origins who were to be found in great numbers in Budapest at that time. The Polish labourers of Kõbánya (a characteristic working-class quarter of Budapest) held several mass-meetings in 1896 where they considered it their duty to discuss and even decide on their own attitude towards the Millennial Celebrations of Hungary. Their final decision announced their earnest loyalty towards the cause of the Hungarian nation. However, the Polish standpoint was only shared by the Germans, but not by the Slovak, Czech, or other Slavic minorities.15 The historical account they preferred was their total exclusion from the „imagined community“ of the Hungarian nation. Therefore, not just a claim to their own national distinctiveness, but the deeply felt need for a close and real integration, a much fuller inclusion, was on the agenda. „We are imbued with the purest patriotism – the text goes on – in objecting against the thousand year celebration. If Hungary would be in general not only the country of a tribe, but the old, honourable Hungary, then we were ready to celebrate the thousand year existence of Hungarian state.“16 A clear-cut difference was made here between the two notions of the Hungarian nation; between the medieval and the modern one. In the Slovak language, but neither in the Hungarian, nor the English, the double meaning of the concept has usually been expressed by two separate words, Uhorsko referring to the historical country and Mad’arsko to its present-day equivalent. The distinction made between the two notions also occurred in the Serb, the Croatian and even the Roumanian languages. One could say that the nationalities of the late 19th century protested against the notion of Mad’arsko, a kind of nation propagated by the current Hungarian nationalist discourse, but were apt to come to compromise with the concept of Uhorsko, applied to a country which would incorporate their own narrative as well. „We protest against [...] the planned celebration which portrays us as subdued and subjugated nations“17 – reads the text unambiguously. These conflicting views on the origins of a postulated nation and the highly diverse narrative constructions basing „the right of the people“ on their own nationhood, culminated in the disputes around the Hungarian Millennium. „The legendary white horse – reads L’ubomír Lipták’s self-criti- 213 cal and ironical remark – rode hard through two centuries of the Hungarian and Slovak historical memory.“18 However, the source of this plurality in narrating the past may even be followed beside the ethnic tensions from the mere advance of professionalization of historical scholarship. Scholarly versus folklore narratives Historians’ expertise as it started to fully manifest itself in the late 19th century gained a primary role both in generating a new canon of and cancelling every other type of historical memory. In order to fulfil this aim the newly legitimized historical scholarship started to wage an open war against the whole range of folklore-like historical traditions. As early as the 1860s, the Századok, a scholarly journal of the Hungarian Historical Association, harshly criticized the extant historical consciousness of the people blaming it with particularism, parochialism and fragmentation. „Peoples’ horizons [a scholar contended] ends right there where the interest of their family ceases, not mentioning the country, the notion of which never comes to their mind.“19 Another eminent historian of the day spoke in the same spirit: „The biggest hardship is the consequence of the ignorance of the general public, the absence of sensitivity and the indifference shown towards the great cultural ideas, or not knowing the past and the elevated duties of the future.“20 In sharp contrast to this, our historian argued some years later, that history is the most important factor, since „the Hungarian nation was to carry out the historical events [...]. She was the leader, thereby pressing her name on and branding it with her own spirit.“21 History and especially the correct account of the past are vital issues as they are completely permeated by and imbued with national spirit. That is the reason why „the great advance of historical scholarship in the first half of the nineteenth century powerfully contributed to the new nationalism of the educated classes. Everywhere the documents of the past were collected and edited; the people began to take a new interest in their own history and drew from it a new pride.“22 So „telling the truth“ about history and the identification with one’s own past became more and more the sole legitimation of the nation. The trained historians prepared to this task are rigorously expected to be guided by a commonly shared scholarly ethos, prescribing them to annihilate the false accounts of the past, which do not fit into the master narrative of the nation. Accordingly, they alone are entitled to elaborate the true national spirit which is deeply embedded in 214 history. These were exactly those expectations the ten volumed Millennium history of the Hungarian nation (A magyar nemzet története) – the concerted product of fin-de-siécle Hungarian historical scholarship – endeavoured to satisfy. The aim of replacing the people’s – orally inherited – historical awareness, which was mainly composed of legends and fables, by the scholarly national history was guiding the historians of the day in their activity. Not just the pure research but also the wide-scale propagation and dissemination of a new sort of knowledge of the past seemed to be required to gain the monopoly in this domain. Flóris Rómer, an eminent historian of the age, addressed that issue in a lengthy study. He found that a whole range of contemporary mass media (theatre, museum, press) had to be applied for that purpose and he went even so far as to propose the artificial revitalization of a long faded ceremonial ritual, the historischer Festzug. One would now say that the conscious and extensive utilization of communicative memory having already been filled with proper contents by professional historians was considered to be the best way for establishing the correct form of national historical consciousness.23 Divergent political discourses of the glorious past of the nation Not all the accessible but only certain events of the past play an important role in the creation of a historically rooted national image. The revolution and war of independence of 1848/49 were clearly such a reference point in the case of Hungary. The reasons are greatly varied, but one of the most fundamental of them could be that this event was the most obvious attempt at establishing a modern Hungarian nation. Apart from the highly contradictory collective memories of 1848/49 kept alive by the particular nationalities living in the Carpathian Basin, there were rival concepts even within the Hungarian community in terms of the possible meaning of this decisive historical moment. The clashing views were finally manifested just before the fiftieth anniversary of the revolution, around the Millennial Celebrations, in 1897. The debate first broke out in Parliament at a time when a bill was proposed by the opposition to sanction the official memory of 1848.24 The discussion centred on the exact date for the official recollection. The government, ready to take into account the sensibility of Francis Joseph, proposed April 11th, the day of the announcement of the so- 215 called April laws in 1848 instead of March 15th, the day when the revolution had actually happened in Pest town. The proposal, however, was an obvious break with the long tradition, since the main argument favouring March 15th always stressed the force of tradition. As Károly Eötvös, a prominent oppositional politician and also a novelist, argued in his speech in the House, it was „the nation itself which for more than thirty, around forty years signed that day, on which we should remember the products of 1848.“25 In the politically overheated debate on the correct interpretation of Hungarian national history, not the voice of the historians but rather the living memory of the politicians had the upper hand in finally settling the issue. And, one might add, this was not wholly accidental since contemporary historians, if depicting at all the story of 1848/49, were also encapsulated in the „communicative memory“26 process at that point. They, like everybody else in the remembering community, drew primarily on the living memory of past events, either as their own experience or plainly as a knowledge based on the family oral histories. It is characteristic that even Mihály Horváth, the first historian of 1848/49 who was also an active participant in the historical events, in his comprehensive historical account of the revolution and the war of independence made mostly use of data gained from the recollections he began to collect from as early as 1850 on.27 A third source for them were the testimonies of the witnesses, primarily those of the outstanding actors of the historical events concerned. This was shown by the fact that these witnesses were often cited to legitimate this or that version of the historical account. Paradoxically, it was not infrequent that the same historical figure, like Ferenc Deák, was simultaneously used as a final proof on either side. Or, rather, the government’s proposal even cited Kossuth, despite the fact that Kossuth, the lethal enemy of the Compromise, had so far been considered on that side to be a persona non grata. The reason why Kossuth could be cited at all was that he did not take an active part in the events of March 15th as he was just on the way from Pressburg to Vienna in order to submit the demands of the estate parliament, the Diéta, to the monarch. The episode sketched above leads us to the third distinct level of an ongoing struggle over the creation of the national canon of history. The mere survival of the popular cult of 1848, which was even further strengthened by the oppositional parliamentary forces, represented by the Independence Party, clashed at that point with a definite political canonization from above. Summing up the whole story, one might argue that the independent concept of the national historical image differed not just from but was even wholly 216 inconsistent with a kind of pro-Habsburg interpretation of Hungary’s past. And this was not the last chapter in the permanent struggle pursued over the definition of the precise meaning of 1848/49 by the proponents of the various national historical discourses. Epilogue The dialectic of forgetting and remembering seems to lie at the core of the process of establishing the national image of history. The image-making has regularly been done in a parallel way on several levels, and only a few of the final products are reckoned to be the master-narrative in the long run. As regards the creation of a specifically Hungarian national image of history, we have identified so far three distinct forms or levels of the process. They, however, did not have the same chance of becoming the master-narrative of Hungary’s national history. The non-Hungarian contribution had unambiguously the least chance of fitting into the national canon, and much the same was the case with the popular, the folklore version of the past, which increasingly was replaced by the scholarly account of professional historians. Finally, each of the politically motivated interpretations, which all remained within the same orbit of a plainly Hungarian and scholarly vision of national historical idiom, could only provisionally dominate the master narrative. The current stage of this unending and multifarious struggle for fixing the canonized form of history may easily be revealed by looking at the actual contents and the underlying principles shaping the narrative of these national histories. Endnotes 1 Ernest RENAN, What is a nation?, in: Homi K. BHABHA (Ed.), Nation and Narration, London–New York 1990, p. 11. 2 See Homi K. BHABHA, DissemiNATION. Time, Narrative and the Margins of the Modern Nation, in: Homi K. BHABHA (Ed.), Nation and Narration, London–New York 1990, p. 310 f. 3 Liah GREENFELD, Nationalism. Five Roads to Modernity, Cambridge– London 1992, p. 5. 4 „Im 19.–20. Jahrhundert wurde das sprachliche Kriterium als das Wesen der ,Nation‘ bezeichnet, die organisch dazugehörende, in der Sprache vererbte historische und kulturelle Tradition mit inbegriffen, während im Westen die 217 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 Sprache höchstens als sekundäres oder überhaupt nicht als Kriterium der Zugehörigkeit zur Staatsnation galt. Dies wird in der Regel hervorgehoben, wenn vom Dualismus der ,Staatsnation‘ und der ,Kulturnation‘ die Rede ist, deren Urtheoriker Rousseau und Herder waren.“ Jenõ SZÛCS, Nation und Geschichte. Studien, Budapest 1981, p. 27 f. Ernest GELLNER, Nations and Nationalism, Oxford 1983, p. 95. See Liah GREENFELD, Nationalism, p. 8. On the special attributes of the national versus other sorts of collective identities see Anthony D. SMITH, National Identity, London 1991, p. 1–18, in particular p. 13 f. See Hayden WHITE, Droysen’s Historik. Historical writing as a bourgeois science, in: Hayden WHITE, The Content of the Form. Narrative Discourse and Historical Representation, Baltimore 1987, p. 88 f. See Ákos KOVÁCS, Két körkép, Budapest 1997, p. 35. See Eric J. HOBSBAWM, The Age of Capital 1848–1875, London 1975, Chapter VII. See Eric J. HOBSBAWM, Nations and Nationalism since 1780. Programme, Myth, Reality, Cambridge 1991, p. 31, p. 36, p. 42. On the clear distinction that the Hungarian social historians usually make between the spontaneous and the forced assimilation of the nationalities in the dualistic period see Gábor GYÁNI, The Concept of assimilation in recent Hungarian social history, in: Dusan KOVAC (Ed.), History and Politics. III. Bratislava Symposium, Bratislava 1993, p. 86–93. See Emil NIEDERHAUSER, Honfoglalás és Millennium, in: Gábor GYÁNI, Gábor PAJKOSSY (Ed.), A pesti polgár. Tanulmányok Vörös Károly emlékére, Debrecen 1999, p. 153. Emil NIEDERHAUSER, Honfoglalás és Millennium, p. 153 f. See Budapest Fõváros Levéltára (Budapest Capital Archives) VI. 1. a. 315/ 1896, 351/1896. Concerning the background of the event see Gábor GYÁNI, Ethnicity and acculturation in Budapest at the turn of the century, in: Susan ZIMMERMANN (Ed.), Urban Space and Identity in the European City 1890– 1930s, Budapest 1995, p. 107–113. Emil NIEDERHAUSER, Honfoglalás és Millennium, p. 157. Ibid. L’ubomír LIPTÁK, Milyen történelemre van szükségünk?, in: L’ubomír LIPTÁK, Száz évnél hosszabb évszázad. A történelemrõl és a történetírásról, Pozsony 2000, p. 69. Frigyes PESTY, A magyar nemzet mostohasága saját maga iránt, in: Századok 2 (1868), p. 18. Arnold IPOLYI, A magyar mûtörténeti emlékek tanulmánya, in: Századok 12 (1878), p. 58. Arnold IPOLYI, A történelem s a magyar történelmi szellem, in: Századok 19 (1885), p. 9. Hans KOHN, Nationalism. Its Meaning and History, Malabar 1965, p. 39. See Flóris RÓMER, A történeti érzék keltése a közönségnél, ünnepi menetek, 218 24 25 26 27 színpadi elõadások, nemzeti képek, történeti kiállítások és múzeumok által, in: Századok 19 (1885), p. 114. On the broader context of the Parallelaktion of 1898 celebrating the double anniversary (that of the revolution and Francis Joseph’s coming to the throne) see Peter HANÁK, Die Parallelaktion von 1898. Fünfzig Jahre ungarische Revolution und fünfzig Jahre Regierungsjubiläum Franz Joseph, in: Peter HANÁK, Der Garten und die Werkstatt. Ein kulturgeschichtlicher Vergleich. Wien und Budapest um 1900, Wien–Köln–Weimar 1992, p. 101–117. Képviselõházi Napló, XIV. kötet, p. 65. On the whole episode see Gábor GYÁNI, Történetírás: a nemzeti emlékezet tudománya?, in: Gábor GYÁNI, Emlékezés, emlékezet és a történelem elbeszélése, Budapest 2000, p. 95–128. See Jan ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992, Part I. Chapter II. Subchapter on Forms of collective memory. See Róbert HERMANN, Mûfajok és tendenciák az 1848–49-es polgári memoárirodalomban, in: Századok 128 (1994), p. 126 f. 219 Politische Erinnerungskulturen der Habsburger-Monarchie in Ungarn: Ein „Goldenes Zeitalter“? Andreas Pribersky Vergangene Herrschaftsformen oder Regierungszeiten werden in der Politik häufig als Metaphern zur Deutung der gegenwärtigen herangezogen: Derartige Rückgriffe auf historische Muster haben aufgrund der zentralen Rolle elektronischer Massenmedien für die zeitgenössische politische Kommunikation sogar an Bedeutung gewonnen, da diese Medien – wie etwa Peter Burke anmerkt – dazu neigen, Ereignisse oder Personen in Form anderer Ereignisse oder Personen darzustellen.1 Dabei werden in der Regel, entsprechend den verschiedenen politischen Weltanschauungen, Parteien, et cetera auch unterschiedliche Erinnerungskulturen durch die Auswahl der historischen Personen und Ereignisse der politischen Repräsentation deutlich, die einer Akzentuierung der jeweiligen politischen Orientierung dienen. Einige dieser historischen Deutungsmuster erhalten darüber hinaus auch die Funktion, zur Etablierung eines gemeinsamen, nationalen oder staatlichen Referenzraumes beizutragen: Epochen oder die sie repräsentierenden Personen werden mythisiert und damit in der darin dargestellten Gemeinschaft außer Streit gestellt – die politische Auseinandersetzung wird in diesem Zusammenhang um deren Aneignung beziehungsweise authentische Repräsentation geführt. Auch diese Funktion politischer Mythen ist mit der dominanten Rolle elektronischer Massenmedien zu einem wesentlichen Moment der politischen Kommunikation geworden: Mythisierungsstrategien dienen – etwa über die Personifizierung politischer Gruppen oder Gemeinschaften in ihren Führungspersönlichkeiten – der Herstellung von Identifikation und damit der Legitimation von deren politischem Handeln oder der Zustimmung zu Entscheidungen und Entwicklungsperspektiven.2 Ein traditionelles Muster zur mythischen Überhöhung politischer Zielvorstellungen ist der Mythos vom Goldenen Zeitalter: Die antike Erzählung von einem glücklichen Ursprung menschlichen Zusammenlebens wurde in der Philosophie der Aufklärung als Gegenbild bestehender Herrschafts- und 221 Knechtschaftsverhältnisse re-interpretiert und dient seither auch im republikanischen Staat als Bild einer „idyllischen“, „Sicherheit“ und „Glück“ verheißenden Epoche. Das Goldene Zeitalter wird seither nicht allein in einem utopischen Gegenbild zu den herrschenden politischen Verhältnissen – in kritischer Absicht – repräsentiert, viel geläufiger erscheint es als quasi konservative, „nostalgische“ Hinwendung zu einer vergangenen Epoche, deren Wiederherstellung oder Bewahrung von der Politik versprochen wird.3 In der politischen Kultur Ungarns der vergangenen Jahrzehnte scheint die Habsburgermonarchie, vor allem die Periode des Fin de Siècle, als nostalgische Metapher eines solchen Goldenen Zeitalters zu dienen. Als Hinweis auf den metaphorischen Vergleich dieser Epoche mit dem Mythos kann hier auf eine offizielle – von ungarischer Seite vom damaligen Bildungsministerium organisierte – Ausstellung zurückgegriffen werden, die diese Verbindung nicht allein in den Titel aufnimmt: Etwa zeitgleich mit dem politischen Systemwechsel, von 1989 bis 1991, präsentierte die Ausstellung A Golden Age. Art and Society in Hungary 1896–1914 die „Geburt des modernen Ungarn“ einem britischen und US-amerikanischen Publikum.4 Die Ausstellung – Teil einer Wiederentdeckung der mitteleuropäischen Kunst und Kultur der Jahrhundertwende durch eine breite, internationale Öffentlichkeit – nutzte im Kontext des Systemwechsels die Darstellung des Beginns der (kunst)historischen Moderne zugleich zur Formulierung einer politischen Botschaft: „[…] Being modern meant more than the adaptation of a new style. It was the affirmation of a better model of existence and of a worldview in which the emphasis shifted to the promise of a better world.“5 Der zitierte, einleitende Essay des Ausstellungskatalogs identifiziert die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie nach dem Ausgleich des Jahres 1867, der Ungarn den Weg zu einem wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung eröffnete, als Voraussetzung dieser „besseren Welt“6. Als Höhepunkt dieser Entwicklung wird die Jahrhundertwende angesehen: Als „besseres Modell der Existenz“ und Grundlage des Aufschwungs werden „Kapitalismus“ und „bürgerlicher Liberalismus“ genannt. Die Ausstellung verband so mit der Präsentation der frühen Moderne in Ungarn die Perspektive einer erneuten erfolgreichen Modernisierung im aktuellen politischen Systemwechsel: „Yet, in the face of frequent setbacks and defeat, the intellectual core of modern Hungary was taking shape.“7 Mit diesem Image einer ein(st)mal(s) erfolgreichen Modernisierung – die um die Jahrhundertwende die „alte feudale Kultur“, die „bürokratischen“ Strukturen der Monarchie und die „ideologischen Ketten der Kirchen“8 zu überwinden hatte – schien das Versprechen verbunden, dieser Erfolg ließe 222 sich auch angesichts der aktuellen bürokratischen und ideologischen Ketten des Einparteienstaates im Rückgriff auf die Jahrhundertwende wiederholen. Dieser Verweis auf die historische Blütezeit Ungarns in der ausgehenden Donaumonarchie in Verbindung mit dem Systemwechsel des Jahres 1989 lässt sich in eine Reihe von Rückgriffen auf die Erfahrungen aus der Habsburgermonarchie als Modell einer gelungenen Verwestlichung Ungarns stellen. Bereits während der Kádár-Ära, in der Ungarn aufgrund der Wirtschaftsreformen, des damit begründeten relativen Wohlstands und einer größeren politischen Toleranz9 als verhältnismäßig „liberale“ Form des Einparteienstaates galt, in der Periode des sogenannten „Gulaschkommunismus“ also, kam es zu einer Neubewertung der Jahrhunderte ungarischer Geschichte in der Habsburgermonarchie. Deren Verdrängung aus der ungarischen Geschichte im politischen Kontext der Durchsetzung eines sozialistischen Systems lässt sich etwa an den Umgestaltungen des Budapester Heldenplatzes illustrieren: Das Millenniumsdenkmal, dessen Errichtung an diesem Ort 1881 begonnen wurde und das als Teil der Ausstellung zum tausendjährigen Jubiläum der sogenannten Landnahme der Ungarn geplant war, war zwar zu Ende des Ersten Weltkrieges noch nicht fertiggestellt, die bereits errichteten Statuen der Habsburgerkönige wurden während der Räterepublik (1919) aber sogleich wieder entfernt – die Statue Franz Josephs von einer zum Abbruch versammelten Menge sogar mit Hämmern zerschlagen. In der darauf folgenden Horthy-Ära – in der sich Ungarn mit diesem als Reichsverweser an der Spitze des Staates als Fortsetzung des Königreichs präsentierte – wurden diese zwar wiederher- und aufgestellt, mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eröffneten die Kriegsschäden am Denkmal aber die Möglichkeit einer erneuten Umgestaltung: Die neue politische Macht – und das verstärkte sich nach der Machtübernahme der Kommunisten 1947/48 – betonte die Diskontinuität der ungarischen Geschichte und wandte sich anderen Akteuren zu, die der Tradition der Unabhängigkeitsbewegungen angehörten. Anstelle der Habsburger wurde eine Galerie bedeutender ungarischer Freiheitshelden aufgestellt, womit die ursprünglich einheitliche Geschichtserzählung des Denkmals in zwei Flügel des Statuenhalbrunds zerbrochen wurde: einen legitimistisch-monarchistischen auf der rechten Seite, und einen linken, der nunmehr die republikanische Geschichtsauffassung repräsentieren sollte.10 Obwohl das Millenniumsdenkmal diese Gestaltung bis heute beibehalten hat, prägte dieses Bild der – durch ihre Abwesenheit repräsentierten – Habsburger als Gegner und Unterdrücker der ungarischen Nation nicht die gesamte Geschichtsauffassung des Einparteienstaates. 223 Bereits in den 1960er Jahren – lange vor der politischen Epochenschwelle des Systemwechsels – beginnt eine Renaissance der positiven Repräsentation der Habsburger in der ungarischen Öffentlichkeit, die bis heute weiterentwickelt wird. Hier sollen deshalb an einigen Beispielen dieser „Renaissance“ Charakteristika eines „Habsburger Mythos“ als positives Modell in der ungarischen Politik skizziert werden. Das hundertjährige Jubiläum des Ausgleichs, das 1967 mit offiziellen Feiern begangen wurde, bietet dem Parteichef Kádár am Höhepunkt seiner unumstrittenen politischen Macht über Partei und Staat die Gelegenheit zu einer Interpretation seiner eigenen politischen Rolle in der ungarischen Geschichte: Der gescheiterten Revolution – 1848/49 als Metapher für 1956 – wird das historische Bild des erfolgreichen Ausgleichs mit der äußeren Regionalmacht als „Werk der weisen, auf Kompromiss und das Wohl der Nation bedachten Politik ungarischer Persönlichkeiten“11 gegenübergestellt. Ein historischer Vergleich, der sich als durchaus populär erweist: Der unmittelbar nach der Niederschlagung der 1956er Revolution begonnene, durchgehend fortgesetzte Ausbau der gutnachbarlichen (Sonder)Beziehungen zum neutralen Österreich etwa findet in der Neuinterpretation der Abkürzung „k.u.k.“ als „Kádár und Kreisky“ einen Niederschlag im halböffentlichen Diskurs der 1970er Jahre in Ungarn.12 Der von Kádár mit dem Ziel der positiven Reinterpretation der eigenen Rolle in der nationalen Geschichte eingeleitete, offizielle Bruch mit dem diskontinuierlichen Geschichtsbild Ungarns – der Freiheitshelden und Revolutionäre einerseits und der fremden, das Land wiederholt beherrschenden (Über)Mächten andrerseits – steht am Beginn einer „Habsburg-Renaissance“ in den verschiedensten Bereichen. Als ein prägnantes Beispiel für die Wiederentdeckung eines positiven Geschichtsbildes Ungarns unter den Habsburgern kann auch die Wiederentdeckung der Geschichte des Herrscherhauses selbst gelten, wie sie etwa in der populärwissenschaftlichen – und populären – Darstellung der Historiker Imre Gonda und Emil Niederhauser in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre „frei von (ideologischen, d. Verf.) Vorurteilen“, so der Klappentext, entworfen wird. Auch diese Darstellung sieht den Dualismus der k.u.k. Donaumonarchie als einen Höhe- (und End)punkt der Geschichte des Herrscherhauses an und interpretiert dessen positive Rolle als integrative Kraft einer mitteleuropäischen Region gegenüber den diese bedrohenden Mächten des Ostens (Osmanisches Reich, Russland)13: Bereits im „sozialistischen“ Einparteienstaat entsteht also jenes Bild einer „Westanbindung“ Ungarns im Rückgriff auf die Habsburgermonarchie, das seit dem Systemwech- 224 sel des Jahres 1989 nicht bloß von der bereits erwähnten Ausstellung wiederaufgenommen wird. Die politische und historiographische Wiederentdeckung der Habsburger – für die der Band von Gonda/Niederhauser nur ein Beispiel unter vielen Publikationen ist – bleibt auch in der Alltagskultur nicht ohne Folgen: Spätestens seit den 1980er Jahren ist eine Wiederentdeckung und positive Neubewertung der ungarischen Kultur der Jahrhundertwende in der Öffentlichkeit nicht mehr zu übersehen, die etwa in der Tourismuswerbung ebenso zum Ausdruck kommt wie zum Beispiel im Wiedererrichten der Statue der – in Ungarn zu Lebzeiten sehr populären – Königin (und österreichischen Kaiserin) Elisabeth am Fuß der nach ihr (rück)benannten Budapester Donaubrücke. Schon im Einparteienstaat herrscht seitdem, über ideologische und politische Grenzen hinweg, zwischen offizieller Darstellung und dissidenter Systemkritik weitgehende Einigkeit über die positiven Auswirkungen der ausgehenden Donaumonarchie auf die politische Kultur Ungarns. Die Wiederentdeckung Mitteleuropas in den ostmitteleuropäischen Einparteienstaaten der 1980er Jahre – außer Ungarn vor allem in Polen – knüpft in mehrfacher Weise an das Bild der Habsburgermonarchie des Fin de Siècle an. Einerseits wird dies in der Gegenüberstellung einer intellektuellen zu der politischen Machtelite deutlich, wie sie einer der wichtigsten Repräsentanten der ungarischen Mitteleuropadebatte dieser Zeit, György Konrád, bereits in der ersten Hälfte der 1980er Jahre formuliert hat: Er zieht Parallelen zwischen der ungarischen bürgerlichen Elite der Jahrhundertwende und der Wiederaufnahme der damals entstandenen, „zivilgesellschaftlichen“ Traditionen durch die intellektuelle Opposition gegen den Staatssozialismus. 14 Andrerseits wird der Rekurs auf die Habsburgermonarchie vor allem in den Forderungen dieser Opposition deutlich, die – ausgehend von der Beständigkeit der politischen Teilung Europas – wiederum auf einen „Ausgleich“ zwischen Staat und Gesellschaft innerhalb der herrschenden politischen Machtverhältnisse, aber – über das Kádársche Modell des Ausgleichs hinausgehend – unter Gewährung der in der k.u.k. Monarchie bereits einmal zugestandenen „bürgerlichen Freiheiten“ gerichtet waren. Für die ungarische demokratische Opposition der 1980er Jahre – wie auch für die technokratische Reformelite der Staatspartei – bildet daher die Perspektive eines erneuten Ausgleichs zwischen dem Einparteienstaat und den Ansätzen einer zivilen Gesellschaft eine zentrale Entwicklungsperspektive, die etwa noch 1987 im damals vieldiskutierten Entwurf eines „Gesellschaftsvertrags“ zum Ausdruck kommt.15 225 Insgesamt hatte sich also, im Lauf der etwa vier Jahrzehnte des Einparteienstaats, das öffentliche Bild der Habsburgermonarchie vom Unterdrücker der nationalen Freiheitsideale zum Vorbild einer konsensualen Modernisierung Ungarns gewandelt, dessen (teilweise) Verklärung zu einem Goldenen Zeitalter der ungarischen Geschichte im Systemwechsel auch in der Erfahrung der Aktualität des politischen Konsenspotenzials des Vorbilds begründet sein mag. Eine positive Deutung der Doppelmonarchie als Vorbild der auf den Systemwechsel folgenden, ebenso als Modernisierung verstandenen Reformen von ökonomischem und politischen System ist vor dem skizzierten Hintergrund wenig überraschend. Festzuhalten ist dennoch, dass in der demokratischen politischen Konkurrenz des derzeitigen Fin de Siècle die öffentliche Identifikation von politischen Parteien oder Programmen mit dem historischen Vorbild ebenfalls über ideologische Differenzen hinweg der Imagekonstruktion dient. Vor allem bei den seit 1990 am politischen Leben Ungarns führend mitwirkenden Parteien im rechten, konservativ-nationalen Lager des Parteienspektrums, in dessen Repräsentation historische Bezugnahmen und „Imageanleihen“ einen bedeutenden Platz einnehmen, sind – trotz der Vielzahl von Rückgriffen auf die verschiedensten Epochen und Persönlichkeiten der ungarischen Geschichte – die Habsburgermonarchie und besonders die Jahrhundertwende prominent vertreten. Im Zentrum des Rückgriffs auf die Jahrhundertwende steht zunächst die Fortführung des – bereits zu Ende des Einparteienstaats entwickelten – Plans einer gemeinsamen, „dualen“ Weltausstellung mit Österreich, die nach dem Ausscheiden Österreichs von der ersten, demokratisch gewählten, konservativen Regierungskoalition unter Premier Antall alleine weiterverfolgt wird und in Teilen des Ausstellungsprogramms (historische und volkskundliche Ausstellungen) wie in der inhaltlichen Ausrichtung als Präsentation und Motor der wirtschaftlichen Modernisierung an die Budapester Millenniumsausstellung des Jahres 1896 anknüpfen sollte;16 von diesen Plänen wird von der, die konservative ablösende, sozial-liberale Koalition (1994–1998) – die aus ökonomischen Gründen von der Weltausstellung zurücktrat – im wesentlichen nur eine historische Ausstellung zur ungarischen Geschichte seit der Landnahme im Budapester Nationalmuseum realisiert. Mit einem umfassenden offiziellen Programm zu den Millenniumsfeiern der Staatsgründung im Jahr 2000 greift die „nationalliberale“ Koalition unter dem Fidesz-Premier Viktor Orbán (1998–2002) jedoch wiederum auch auf die Metapher der erfolgreichen 226 Modernisierung Ungarns in der Habsburgermonarchie zurück. Dieses Bild kommt besonders in einem Aufgreifen der historischen Rolle und Persönlichkeit István Széchenyis zum Ausdruck, der als Leitfigur der technischen und ökonomischen Modernisierung Ungarns nach der gescheiterten 1848er Revolution und damit als Wegbereiter des Ausgleichs angesehen wird. Mit der Einrichtung des nach ihm benannten Széchenyi-Plans – eines staatlichen Fonds zur Unterstützung privater ökonomischer Modernisierungsinitiativen – versucht die Regierung Orbán ihre – im übrigen politisch und unter Wirtschaftsexperten in ihrer Bedeutung umstrittene – Entwicklungspolitik von Ökonomie und Infrastruktur des Landes unmittelbar mit dem historischen Vorbild zu verknüpfen. Mit dieser Repolitisierung des Vorbildes wird auch eine Re-Präsentation von dessen Image als Teil einer Reihe von staatlich in Auftrag gegebenen und finanzierten Spielfilmen zur ungarischen Geschichte verbunden. Als Station in einer Reihe offizieller Selbstdarstellungen der Regierung Orbán mit historischen Bezügen im Wahlkampf des Jahres 2002 hat auch das Filmepos A Hídember (Der Brückenbauer) über das Leben Széchenyis Premiere: die Erstaufführung des – als historisch getreu präsentierten, in seiner Authentizität aber fragwürdigen Historienfilms17 – erfolgt unter Teilnahme der gesamten Führungselite der Koalitionsregierung: in einem, als Nationales Filmtheater neugegründeten, frisch renovierten Budapester Kinosaal der Jahrhundertwende. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts bleibt also der Rückgriff auf das Ende des 19. Jahrhunderts Teil des Versuchs, die „traditionelle Modernität“ des Landes in populären Imagekonstruktionen zu repräsentieren. Der „Brückenbauer“ Széchenyi findet auch im Ungarn-Pavillon der Hannoveraner Weltausstellung 2000 mit einer Darstellung der, auf seine Initiative errichteten Budapester Kettenbrücke – der ersten festen Verbindung über die Donau von Pest und Buda (Ofen) – einen würdigen Platz, der im Katalog unter anderem so beschrieben wird: „Ende des 18. Jahrhunderts befand sich Ungarn bereits auf dem Weg zur bürgerlichen Umgestaltung des Landes.“18 Vielleicht ist es ein Widerschein des Wissens um die Ambivalenz dieser Modernisierung, dass sich unter den in Hannover präsentierten Exponaten – die im wesentlichen historische Beispiele für Fortschrittlichkeit und den Erfindergeist der ungarischen Nation darstellen – auch Gyula Benczúrs bekanntes Portrait der Königin Elisabeth (im schwarzen Kleid vor goldfarbenem Hintergrund) findet. Wer nun meint, mit der Wahlniederlage der Koalition unter Orbán (2002) und der derzeitigen Neuauflage der sozialliberalen Koalition wäre auch ein 227 Zurückdrängen der Bedeutung der „Geschichts-“ beziehungsweise „Erinnerungspolitik“ verbunden, wurde von dieser rasch enttäuscht. Dies kommt unter anderem in der finanziell bedeutendsten, staatlichen institutionellen Neugründung des Jahres 2002 im Wissenschaftsbereich zum Ausdruck: Der Gründung einer – vom Historiker András Gerõ, einem Berater des kleinen Koalitionspartners, des liberalen SZDSZ, geleiteten – Habsburg-Stiftung zur Erforschung der Geschichte der Habsburgermonarchie in Ungarn, von der in einer führenden politisch-ökonomischen Wochenzeitschrift des Landes unter dem Titel „Ausgleich?“ berichtet wurde.19 Es scheint somit, als hätte auch die Nachfolgepartei des zivilgesellschaftlich orientierten Teils der demokratischen Opposition im Einparteienstaat die politische Auseinandersetzung um die „richtige“ Interpretation dieses Teils der ungarischen Geschichte noch nicht „zu den Akten gelegt“. Die Beständigkeit dieser politischen Habsburg-Renaissance – die als kaum umstrittenes Bild eines Goldenen Zeitalters durchaus zu den politischen Mythen gezählt werden kann – über ideologische und Parteigrenzen ebenso wie über historische Brüche wie den Systemwechsel hinweg, scheint tatsächlich zu einer Re-Lektüre der ungarischen Geschichte der Donaumonarchie als einer Voraussetzung der Interpretation der politischen Kultur des Landes zu zwingen. Vielleicht eignet sich der, in den zeitgenössischen Erzählvarianten der ungarischen Darstellung des Habsburgermythos wiederholte Dualismus von Scheitern und Ausgleich als Muster einer großen Erzählung: von der Überwindung der Folgen von Fremdherrschaft und Kolonisation durch den Rollenwechsel vom Kolonisierten zum Mit-Kolonisator? Anmerkungen 1 Vgl. Peter BURKE, Geschichte als soziales Gedächtnis, in: Aleida ASSMANN, Dietrich HARTH (Hg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a. M. 1991, S. 289–304, hier S. 298 f. 2 Vgl. Murray EDELMAN, Politik als Ritual, Frankfurt a. M. 1990, S. 110–120. 3 Vgl. Raoul GIRARDET, Mythes et mythologies politiques, Paris 1986, S. 97–129. 4 Vgl. Gyöngyi ÉRI, Zsuzsa JOBBÁGYI, A Golden Age. Art and Society in Hungary 1896–1914, Budapest–London–Miami o. J. 5 Lajos NÉMETH, Art, Nationalism and the Fin de Siècle, in: ÉRI, JOBBÁGYI, A Golden Age, S. 19–29, hier S. 29. 6 Ebenda, S. 19. 7 Ebenda, S. 29. 8 Ebenda. 228 9 Siehe das Kádár zugeschriebene Zitat „Wer nicht gegen uns ist, ist mit uns“. 10 Vgl. András GERÕ, Der Heldenplatz. Budapest als Spiegel der ungarischen Geschichte, Budapest 1990. 11 Andreas OPLATKA, Nachrufe auf den Ostblock: Zehn Essays, Wien u. a. 1998, S. 68. 12 Vgl. Cornelia GROSSER, Sándor KURTÁN, Karin LIEBHART, Andreas PRIBERSKY, Genug von Europa. Ein Reisejournal aus Ungarn und Österreich. Wien 2000, S. 179. 13 Vgl. Imre GONDA, Emil NIEDERHAUSER, A Habsburgok, Budapest 1978 (dt. Die Habsburger, Wien 1985). 14 Vgl. György KONRÁD, Antipolitik. Mitteleuropäische Meditationen. Frankfurt a. M. 1985, S. 115 ff. 15 Publiziert in Beszélõ 2 (1987). 16 Vgl. GROSSER et al., Genug von Europa, S. 200–224. 17 Die Filmerzählung deutet anstelle des Selbstmordes Széchenyis einen durch Metternich in Auftrag gegebenen Mord an, was von prominenten ungarischen Historikern bereits in der Diskussion der Produktion kritisiert wird; vgl. auch die Wochenzeitschrift Heti Világgazdaság (hvg) vom 6. Oktober 2000, S. 91–92. 18 Katalog Ungarn Expo 2000: Treffpunkt Ungarn, o. J. 19 Hvg vom 20. November 2002, S. 100–101. 229 Periphere Angelegenheiten / Angelegenheiten der Peripherie. Einschreibungen in eine Karte von „Adiáphora“ Ursula Reber Um es gleich vorweg zu nehmen: „Adiáphora“ ist kein existierendes Land, noch nicht einmal ein Irgendwo auf einer Karte, die Wirklichkeit wiederzugeben beansprucht, verzeichnetes Gebiet oder Territorium, sondern ein durch und durch imaginäres Gebiet. Peripherie und „Adiáphora“ bezeichnen dasselbe, einmal im Sinne eines Randbezirkes, der als solcher aufgrund mangelnder, nämlich nicht-zentraler Wichtigkeit nur teilweise sichtbar ist und sich nur konzentrisch erschließt: Die Peripherie ist auf einer Karte dasjenige, in immer helleren Farben rund um ein Zentrum gelagerte Gebiet, das sich farblich vom deutlich dunkleren, dichteren, interessanteren Zentrum abhebt, gar mit weißen Flecken durchsetzt ist, vor allem wenn es per Legende um Zivilisatorisches, Kulturelles und Touristisches geht. Das andere, Adiaphorische, findet sich nur auf einer mentalen Karte und bezeichnet in etwa ein Gebiet „interesselosen Wohlgefallens“ oder vollkommener Gleichordnung von a-zentralen, belanglosen, da weder guten noch bösen [so die eigentliche Bedeutung des griechischen Adjektivs] Einzelheiten. „Adiáphora“ ist eine Ansammlung von Gleich-Gültigkeiten, die infolge dessen eine recht eigenartige Karte ergäben, im Extremfall eine rein weiße Fläche. Angelegenheiten der Peripherie können periphere Angelegenheiten sein; meist sind aber gerade sie von den unterschiedlichsten zentrumsgesteuerten Interessenslinien durchzogen. Die weißen Flecken auf Karten der Peripherie sind mit Bedacht allein dazu gesetzt, ausgefüllt zu werden. Die periphere Geographie ist ein Konstrukt auf Zeit, das sich in dauernder Grenzverschiebung befindet. Wo die Produktion von Grenzen und Differenzen aufhört und durch einen Raum Adiáphora abgelöst wird, ist noch nicht zu ersehen. Für meine eigenen Gebietsabsteckungen des Raum-Zeit-Gefüges habsburgischen und deutschen Territorialinteresses steht mir in Anlehnung an einen bereits publizierten Aufsatz1 Edward Said2 zur Seite. Mit ihm und weiteren VermessungskünstlerInnen suche ich mit drei Reisenden die Pe- 231 ripherie der habsburgischen Peripherie auf: Dalmatien, Bosnien und Montenegro. Landbegeh(r)ung „At some very basic level, imperialism means thinking about, settling on, controlling land that you do not possess, that is distant, that is lived on and owned by others.“3 Das bloße Wissen um entfernte Gebiete übt den von Edward Said beschriebenen, automatischen Reiz begehrenden Nachdenkens aus und veranlasst die Fantasie zu Spaziergängen im Fremden, um mittels Analogiebildungen, Wünschen und Ängsten die erste, private imaginäre Geographie des Fremden zu zeichnen, die durch Verallgemeinerung, Institutionalisierung und Anerziehung zu einer imperialistischen Geographie, der interessensgeleiteten und fantas(ma)tischen Extrahierung eines Gebietes, geführt werden kann. Anscheinend zwangsläufig impliziert das Nachdenken über Territorien, die anderen gehören, die Produktionsmaschinerie von Bildern des Eigenen und des Fremden und damit in Folge von Identität und Differenz in Gang zu setzen. „Territorium“, „Raum“ und „Ort“ sind dabei unter anderem auch „real-irdisch“ gebunden, vor allem aber (symbolisch) kodierte und medial vermittelte Erfahrungs- und Kommunikationsräume, die ohne Weiteres die Ablösung vom „Irdischen“ erlauben.4 Die drei Balkanländer durchlaufen in der Chronologie der Reiseberichte Änderungen von wirtschaftlich und politisch begehrten Peripherien über mythisch-exotische Räume hin zu einem konkreten Kulturraum mit eigener Dynamik. Dalmatien ist zum Zeitpunkt der Abfassung aller drei Berichte ein habsburgisches Kronland und fungiert einerseits lediglich als Link zu den begehrten Ländern und andererseits als „Kulissenland“ eines gewissen „inneren Exotismus“ mit sehr privaten Zügen, wie besonders im touristisch orientierten Reisebuch Kurt Floerickes sichtbar wird. Montenegro, das zwar stets unter politischem, diplomatischem und „kapital(istisch)em“ Einfluss Habsburgs stand, aber durch das Protektorat Russlands bis auf kleine, mühsam zu Gunsten Albaniens und Dalmatiens abgerungene Teile unerreichbar blieb, erhob selbst Anspruch auf Bosnien und die Herzegowina. Sterneck nimmt diesen Anspruch insofern ernst, als er Nord-Montenegro reversiv in seinem geographischen Kommunikationsbericht (1877) dem bosnisch-herzegowinischen Gebiet einverleibt. Dieser Text zeigt unverhüllt den Kontext des Kampfes um das Territorium Bosnien, das 1878 annektiert werden sollte. Das 232 zweite, 1911 erschienene Reisebuch arbeitet mit der Temporalisierung von Raum,5 angefangen mit einer romanesken historischen Einführung in dalmatinische Geschichte und endend in einer gespaltenen Zeitkarte Montenegros, auf der sich die Vorgeschichtlichkeit der Landschaft, Archaisches im Sozialsystem und Relikte der Modernität Europas begegnen. Diese Heterogenität wird einerseits in ein Entwicklungstelos „nach Europa“ umgesetzt, andererseits als Reservat des entzogenen Ursprungs für den europäischen Urlauber als schützenswert erklärt. Der dritte Text (1913) schließlich, obwohl auch er exotisierende Elemente zeigt, zeichnet einen gegenwartsbezogenen und eigenständigen (Kultur-)Raum Montenegros. Ein mögliches Gebiet „Adiáphora“ scheint aufzutauchen. „Ich habe in jenen Gegenden den Hunger und was noch mehr ist, den Durst und das Fieber kennen gelernt“. Balkanlandschaften zwischen Untergang und Verführung Im Auftrag des k.u.k. Reichs-Kriegs-Ministeriums bereiste Heinrich Daublebsky von Sterneck, k.u.k. Hauptmann im Generalstabe, von 1871–756 Bosnien, die Herzegowina und Nord-Montenegro; die Interessen seiner Reisen und der daraus hervorgegangenen Schrift waren „in erster Linie geodätische[r]“ Natur und dienten nur nebenbei noch anderen Zwecken,7 die in drei Karten im Anhang festgehaltenen sind, als vermeintlich unmittelbar zugängliche Repräsentationen seiner Beobachtungen bezüglich Flüssen, Gebirgen, Verkehrswegen, des Reisens, des Eisenbahnbaus und alter Monumente (S. 8), „welchen diese Zeilen nur als erklärender Text beigegeben sind“ (S. 4). Sowohl in der Einleitung (S. 4) als auch im Konzeptabriss (S. 8) betont Sterneck, keine militärische Skizze vornehmen zu wollen, „ebensowenig eine Flugschrift mit politischen Tendenzen“ (S. 4). Die zweimalige Versicherung, dass ein k.u.k. Hauptmann sich ohne militärische Interessen in einem Gebiet bewegt, das wenige Jahre später (1878) unter der Verwaltungsherrschaft des Staates, der ihn entsandt hat, stehen wird – unter der Zusicherung von am gesamten Balkan und dessen repräsentativ-politischer wie wirtschaftlicher Geographie höchst interessierter und involvierter Staaten, dass Österreich-Ungarn „could [...] help herself to Bosnia and Herzegovina“8 –, mutet seltsam an. Als zweite Folie sollte über die Versicherung der dezidiert nicht-militärischen Mission eine spätere Auskunft, im Rahmen von Pro- und Contra-Thesen betreffs des Verlaufs der Eisenbahnnetze, gelegt werden: „Der letzte Theil der Trace endlich ist wegen [...] der Nähe der serbischen Grenze, welche im Falle politischer 233 Verwicklungen eine unausgesetzte Vertheidigung der ganzen Linie bedingt,9 wegen der leichten Verletzbarkeit und der daraus resultirenden Unzuverlässigkeit der Bahn auch in militärischer Beziehung [...] nicht von bedeutendem Werthe[.]“ (S. 43) Es spielt keine Rolle, ob der Verfasser dieser Zeilen persönlich von der Aufrichtigkeit der nicht-militärischen und unpolitischen Absichten seiner Kundschafterdienste überzeugt ist; gemeinsam mit einer weiteren Neutralitätsversicherung, dass „da nicht der Hintergedanke einer Eroberung [liegt], denn die Argumentation bleibt richtig, mögen die Grenzpfähle des Landes was immer für Farben tragen“ (S. 42), zeugt von dem Reichsgedanken, den Said jedem Repräsentanten imperialer Kulturformen zuspricht. Dabei behaupte ich, dass im Falle des Hauptmanns Sterneck im Gegensatz zu der britischen Schriftstellerin Jane Austen, die im „Mutterland“ eines Kolonialreiches geblieben ist, weniger Analysearbeit im Bereich eines „geopolitischen Unbewussten“ zu leisten ist, sondern aufgrund der beruflichen und standesgemäßen Involviertheit in wesentliche Herrschafts- und Verteidigungs-/ Eroberungsapparate im Gegenteil von einem „geopolitischen Bewusstsein“ ausgegangen werden darf.10 Die Fotografien von Ljubinje und Trebinje und andere Bilder aus jenen Gegenden machen den Eindruck der todesstarren Augen eines Verscheidenden; meilenweite Strecken sind ohne Wasser, beinahe ohne Vegetation und unbewohnt. Die vielen verlassenen Wohnsitze zeigen deutlich, dass die Zahl der Bevölkerung in Abnahme begriffen ist, woran wohl nur zum Theile die politischen Verhältnisse Schuld sind, da in dem benachbarten Bosnien unter gleichen politischen Verhältnissen das Gegentheil stattfindet (S. 13). Dalmatien, das hier zur Debatte steht und auf den Seiten zuvor ausführlich in oro- und hydrographischer Hinsicht beschrieben wurde, verschwindet nun vollkommen in dem medialen Eindruck der Fotografie, die dem Verfasser geeignet scheint, seine vorwiegend durch Leiden geprägten Erfahrungen wiederzugeben. Dieses Leiden an der Landschaft wird in einem Akt der Subjektkonstitution und ihrer reproduzierten Vermittelbarkeit in die menschenleere Landschaft zurückverlagert. Das Frei-Sein von Menschen vermittelt außer der Glaubwürdigkeit der eigenen Strapazen die Wahrheit der anthropologischen Geographie: Auch der einheimischen Bevölkerung ist es nicht möglich, in dieser Gegend zu (über)leben. Das einzelne Bild lässt nicht nur auf die trostlose Natur schließen, sondern ist auch geeignet, den erbärmlichen Zustand der Bevölkerung, die wie die Beschaffenheit des Landes „offenbar einer traurigen Perspective und unaufhaltsam dem Verfalle entgegen 234 [geht]“, ja mit ihm „vielleicht einmal ganz zu verschwinden“ (S. 12) droht, zu zeigen. Diese apokalyptischen Perspektiven leiten dazu über, „dass es, vom national-ökonomischen Standpunkte aus beurtheilt, vergebens ist, in diesem Gebiete Häfen oder Bahnen zu bauen“,11 ebenso wie wohl auch eine Änderung der „politischen Verhältnisse“ – die eng mit der verkehrstechnischen Erschließung zusammenhängen – dem etwas entgegenzusetzen hätte. Die Beschreibungsstrategie Sternecks durch Text, Karten und Fotos gibt die mit Andrew Sluyters Äußerungen konkordierende Gespaltenheit von Raum und Landschaft wieder, denn „space is a medium through which the struggle for control takes place, the spatial strategies of domination and resistance [...]. [...] landscape thus is doubly essential, to indicate both conflict over space and conflict through space.“12 Die Wahrnehmung der Landschaft wird mittels sprachlicher („todesstarre Augen eines Verscheidenden“, S. 13) und fotografischer Bilder (im Anhang), mit den imperialistischen Territorialinteressen (im Falle Dalmatiens den Eisenbahnbau nur „auf die Verbindung mit Bosnien hinzielen[d]“ und nicht entlang der Küste, wovon „nicht einmal in politischer oder militärischer [!] Beziehung ein Nutzen erwartet werden darf“ [S. 13]) und dem naturalisierten13, ökonomischen Interessen nicht zweckdienlichen Einheimischen homogenisiert. In der Schilderung bosnischer Landstriche zeichnet sich deutlich das Interesse an der Ausweitung der unmittelbaren Machtsphäre ab: Hier ist im Gegensatz zur Ödnis Dalmatiens von „mitunter prachtvolle[m] Urwald“ die Rede, die Landschaft zeigt „sanftere [] Abfälle“ und bietet sich insgesamt als Kulturlandschaft dar, die mit einer entsprechend „betriebsamere[n] Bevölkerung“ gesegnet, gleichwohl – angezeigt durch Elativ und Komparative – weiterer Kultivierung würdig ist, denn „wenn sie jetzt auf einer niedrigen Culturstufe steht, stellenweise in Stumpfsinn verfällt, so sind hieran [...] Ursachen [schuld], die unter anderen Verhältnissen bei der Bevölkerung der armen und ressourcenlosen Herzegovina und Montenegro’s den Geist der Selbstständigkeit und der Kampflust erzeugen“ (S. 15). Wie schon früher vermeidet Sterneck, die politischen Umstände wie etwa die türkisch-osmanische Herrschaft über den Balkan direkt zu benennen, die vor allem von montenegrinischer Seite mit leidlichem Erfolg bekämpft wurde. Im Verlauf der Argumentation für die bosnische Eisenbahn zeigt sich, dass das imperiale Interesse an nutzbarer Einheit von Territorium (Bosnien ist Hinter- und Durchzugsland für den Handel der östlichen Länder Österreich-Ungarns an die Küste) und heimischen Arbeitskräften der rechtfertigenden Selbstinterpretation bedarf und von Sterneck in „Culturrücksichten“ 235 des Eisenbahnbaus geleistet wird: Sie bestehen in der „Aufklärung“ des Landes und der Ermöglichung der Teilhabe am Wohlstand, wodurch sich „der jetzt lodernde Kampf“ um Unterdrückung, Selbstbestimmung und Milderung der hohen Steuerlasten14 beenden lässt: „Unter den jetzigen Verhältnissen wird ihn die Diplomatie wohl niemals, das Schwert nur nach Hekatomben von Menschenopfern, – eigentlich nur durch die Ausrottung der unterliegenden [bosnischen, Ergänzung der Verfasserin] Race beenden.“ (S. 39). Unter österreichisch-ungarischem Einflussbereich, symbolisiert durch die aufklärende, mit frischen Ansiedlungen und verbesserter Hygiene einhergehende Eisenbahn, sieht Sterneck jedoch geordnete kapitalistische Verhältnisse heraufziehen, unter denen „der Fleissige zu Besitz und damit zur Geltung [kommt] und nur dadurch, dass [...] Fleiss und Intelligenz zur Macht gelangen, auch die Religionsfrage gelöst werden [kann].“ (S. 39). „Hygiene“ erhält eine doppelte Bedeutung: Der Bosnier als geradezu prototypisches Beispiel einer subject-race wird einer Form des Orients, der osmanischen Herrschaft, entrissen, dessen Ansteckungssymptome in „Besitzgier und knechtische[m] Sinn“ (S. 16) sowie in Stumpfsinnigkeit bereits erkennbar sind. Die unhygienischen Zustände, auf die Sterneck auf Seite 40 nur anspielt, in den Anfangsparagraphen aber ausführlichst dargetan hat, sind nur der materialisierte Beweis einer mentalen „orientalischen Krankheit“. Die Würmer, Egel, Insekten, Trübstoffe im Zisternenwasser eine Äußerungsform eines über-üppigen, allzu natürlichen Zeugungsdrangs einer orientalistischen Natur, die Laschheit in Hygienefragen, die auf den von Mattigkeit und Teilnahmslosigkeit gekennzeichneten Reisenden übergreift, eine zweite.15 Kontrastieren die Balkan-Völker schon „in ihrer Lebensweise und Anschauung so sehr mit dem übrigen Europa, dass man sich in einen anderen Welttheil versetzt glaubt“ (S. 7), so wird dies durch die Herrschaft der Muslime noch weiter getrieben. Geographisch und soziologisch parzellierende sowie kulturelle Aufklärung durch das technisierte, christliche Europa leistet in dem scheinbar fremden Weltteil Befreiungs- und Entwicklungsarbeit: (Re-)Christianisierung als Lösung von ethnisch-religiösen Fragen und Kapitalisierung, die in erster Linie – aber im letzten Argument, „dass jetzt Arbeitskraft und der Grund für den Bahnbau sehr billig zu haben wären“ (S. 40) – nicht den Balkanvölkern selbst, sondern dem imperialistischen Reich zu Gute kämen.16 Eine Tatsache, um die Sterneck weiß, da er sich genötigt fühlt, Eroberungsabsichten auszuschließen, humanitäre Beweggründe anzuführen und sogar die Vaterlandsliebe des Dalmatiners ins Spiel zu bringen. Dieser ist zwar nicht sein Adressat, doch als ausgewiesener Kenner von Land 236 und Leuten repräsentiert Sterneck gegenüber dem österreichisch-ungarischen Militär und der Verwaltung dessen Stimme. Sterneck bietet in seinem Bericht zwei Geographien, eine offizielle und eine private. Bemerkenswerterweise fällt die offizielle moderater als die zu weitesten Strecken aus Tagebuchauszügen bestehende private aus. Die Raumwahrnehmung, sobald sie über das rein Geodätische und Fragen des „Terraforming“ hinausgeht, bleibt durchwegs von Fremdheit und Abneigung geprägt, in deren Dienst die Medien der „Authentizitätsvermittlung“, Fotografie und Tagebuch, gestellt sind. Beachtenswert sind die Punkte, an denen die strategisch-offizielle und die privat-expulsive zusammenkommen: in der physischen Geographie des apokalyptischen Dalmatien, dessen Einwohner charakterlich analog zu ihrer Landschaft gestaltet und für den Berichtenden weniger erwähnenswert sind als ihre weit bewunderungswürdigeren Pferde, denn Sterneck sieht es als „Akt schuldiger Dankbarkeit“ an, „wenn ich hier des Verstandes dieser Thiere gedenke.“ (S. 24) Bosnien hingegen ist tatsächlich Eroberungsgebiet und veranlasst diffizilere Strategien, um zwischen dem Schock der Erfahrung und dem Regulierungsauftrag zu lavieren. Der imaginäre Raum Bosnien zerfällt in die Tagebucheintragungen, die von der eigenen Peripheralität gegenüber der osmanischen Macht und von der Gefahr der eigenen Re-Naturalisierung künden, sowie in die auf geologische, verkehrstechnische und soziologisch-kulturelle Karten-Flächen reduzierte Beschreibung eines verheißungsvollen Ausbaugebietes. Beide Bestandteile bedingen, dass der Einheimische nur im Rahmen der imperialistisch-kolonialistischen Identitätsstiftung sichtbar wird, in jener eigentümlichen „negative[n] Dialektik der Anerkennung. Der Kolonisator produziert den Kolonisierten als Negation, doch mittels einer dialektischen Wendung wird diese negative kolonisierte Identität ihrerseits negiert, um das positive Ich des Kolonisators zu begründen.“17 In besonderer Weise werden am Balkan des 19. und 20. Jahrhunderts all diese sattsam bekannten kolonialen Mechanismen der Produktion von Alterität und Identität verdoppelt und gebrochen, dadurch dass die subject-races geographisch Europäer sind, kulturell-kollektiv betrachtet aber Slawen, und dadurch dass sie als bereits vom Orient Unterworfene und über Umwege der kulturellen „Ansteckung“ Orientalisierte erscheinen. Insofern stehen erratisch die gegenläufigen Imaginierungen der „von einstiger Größe arg herabgekommenen“18 „Völker aus einem anderen Welttheile“ und der vom Orient zu befreienden und wieder zu integrierenden Brüder nebeneinander.19 Die Frage, was mit den eigentlichen Landbesitzern zu tun ist, spaltet sich gleichfalls auf, da es deren mindestens zwei gibt: osmanische Besatzer und 237 einheimische Bosnier. Das Arrangement mit den Besatzern, deren Stelle eingenommen werden will, muss durch Alteritätserzeugung, die strategische Orientalisierung der Osmanen20, zum Zweck der positiven Identitätsgewinnung abgelöst werden. Dadurch eröffnet sich für den Einheimischen eine Nische der wohlwollenden (wie etwa zu seinen intelligenten und duldungsfähigen Pferden) bis humanitären (wie zum ungebrochen, stolzen Montenegriner oder zum arbeitsamen Bosnier) Zuneigung. Deren Nutzung kann sich prinzipiell zwischen Peripherie und Adiáphora bewegen. „Blicke ins ,Kulissenland‘“: Touristische Landschaftsinszenierungen Das territoriale Bewusstsein von spaces of leisure oder adventure dürfte eher im engen Sinne geoästhetisch21, denn geopolitisch ausgerichtet sein und somit einer adiaphorischen Geographie näher kommen als die imperialistische Geographie Sternecks. Das „Kulissenland“22 präsentiert allerdings eine Reisestrategie, die auf die Inszenierung einer touristischen Landschaft hinweist. Kurt Floerickes Dalmatien und Montenegro sind Kulissen in mehrfacher Hinsicht: vorderhand Kulissen ihrer Geschichte, die „für die beste Reisevorbereitung“ gehalten wird, und die operettenhaft „unendlich reich“, „dramatisch und wechselvoll“ (S. 7) in diese Kulisse eingeschrieben ist. Das Gedächtnistheater23 setzt mit der stimmungsvollen Erzählung des „prunkliebende[n] orientalische[n] Despoten“ (S. 6) Diocletian ein und spielt anschließend die Tragödie der Kolonisierungsgeschichte (S. 7) Dalmatiens vom „grauen Altertum“ bis in die Gegenwart nach. Das Terrain der Gegend als historisch-kulturelle Kulissengeographie ist damit abgesteckt als Exemplum, „wie es auch die kühnste Phantasie nicht bunter und bewegter ersinnen könnte!“ (S. 7) In dieser Nachzeichnung historischer Eroberungen und Raumnahmen mitsamt der Re-iteration ihrer Raum-Zeit-Ausdrücke essentialisieren diese die Zusammenhänge von Begehren und Landnahme.24 Floerickes dramatische Metaphoriken vermitteln Dalmatien und Montenegro, vorbereitet durch spezialisiertes Wissen aus der Balkanhistorie, als „Orientalisten-Provinz“, als Erkenntnis-Raum eines Spezialisten.25 Der dramatischen Kulisse sind auch die montenegrinischen Statisten angepasst, sowohl optisch als „hochgewachsene [], kriegerische [] Gestalten in ihrer malerischen Nationaltracht“ (S. 153), denen verglichen der Dalmatiner „uns wie ein Schwächling vor[kommt], und der Hezogovce und Bosniake vollends uns diesen Hünengestalten gegenüber geradezu wie der Vertreter 238 einer degenerierten Rasse an[mutet].“ Der Stoff, aus dem die montenegrinische Geschichte gestrickt ist, glänzt durch jahrhundertlange blutige Freiheitskämpfe, die im Verein mit dem Setting schroffer Landschaft und harten Klimas „Gebirgsspartaner mit einem Hauche köstlicher Räuberromantik“ (S. 153) hervorgebracht haben. Die Konstitution des Subjekts äußert sich durchwegs in ästhetischen Kategorien: in bewunderndem Anstarren, im Erzählen abenteuerlicher Geschichten und einer steten Konstruktion von temporal-moralischen Differenzen: Die wichtigsten archaischen Beigaben sind Blutrache und Sittenstrenge. Das Meistern der Moderne wird dadurch symbolisiert, dass Liberalität sich am besten im strengstens patriarchalischen Regiment des Königs verwirklicht. Dagegen gehalten wird die Hauptstadt Cetinje, als „schon etwas von der Zivilisation angekränkelt“ (S. 155). Floerickes Montenegriner schweigt nicht wie der Sterneck’sche Bosnier, er bekommt dramatische Dialoge zugeteilt, die sich vor allem in anmutiger, dem Kulissensetting eingepasster Bewegung äußert. Das Andere des „Orients“, das unentwegt durch das Wissen um seine Geschichte, Nationalität und politische Lage in eine theatralische imaginäre Geographie eingefügt wird, die über ästhetisch-moralische Reinheitsvorstellungen die eigenen Identitätszuschreibungen bestätigt und in moralischer Hinsicht in Richtung Ursprung verrückter Übertragung die belebte Landschaft enthistorisiert, wobei zum Beispiel die Aufstände in Albanien mitsamt montenegrinischer Beteiligung26 zur farblichen Belebung durch die „Harlekinskostüme“ der Albaner ästhetisiert werden, dient allein der Subjektkonstitution des bayerischen Reisenden, zu dessen Ergötzung und Katharsis ein Schauspiel mit schrecklichen Momenten aufgeführt wird. Mehr noch als bei Sterneck liegt hier eine Landschaft des Begehrens und Aneignens vor, da jede einzelne Erzählung der Einheimischen selbst durch eine gezähmte und theatralisierte Version einer typischen christlich-europäischen Nationswerdung ersetzt und ausgelöscht wird. Der Montenegriner ist in diesem Schauspiel allein dafür gut, dass der Betrachter sich mit ihm identifizieren kann. „Dienstmütze und Uniformmantel mußten in Cetinje auffallen, als Exotica den Leuten in die Augen springen“. Annäherungen an eine Karte Adiáphoras Der Schriftsteller Artur Achleitner27 reist als ausgewiesener Experte im Human(itär)en. Die Absicht, Gemeinsamkeit mit den Beschriebenen zu er- 239 zeugen, teilt er mit Floericke. Bereits mit den ersten Zeilen gibt Achleitner sich als Anwalt Montenegros zu erkennen: Hinauf in das meistverleumdete Land Europas! Man kommt leicht hinauf, sehr schwer aber ist es, auf dieser interessanten Fahrt all die Mißgunst und Vorurteile, die gehässigen Beeinflussungsversuche niederzuzwingen, deren sich ein Montenegro-Fahrer kaum erwehren kann, wenn die Absicht des Besuches bekannt geworden ist. In erstaunlicher Vielfältigkeit tritt das Übelwollen gegen Montenegro auf, es wird das interessante und arme Land von Personen verleumdet, denen eine unschöne Handlungsweise gar nicht zuzutrauen wäre. [...] Die ärgsten Verleumder wohnen merkwürdigerweise ziemlich weit vom verlästerten Lande entfernt; in der nächsten Nachbarschaft Mißgunst und Haß anzutreffen, würde begreiflich erscheinen, doch ist dies nicht der Fall! (S. 126) Im Rahmen seines Verteidigungsprogrammes gegen österreichische Missgunst und Hass, die entstanden sind aus österreichisch-montenegrinischen Territorial- und Machtkonflikten, die derzeit vor allem ein weiteres, von beiden begehrtes Territorium: nämlich Scutari in Albanien, betreffen, gestaltet Achleitner seine Reisebeschreibung zum Kreuzverhör österreichischer JournalistInnen. Die Begegnung mit König Nikolas, im Herzstück des Berichts, hat Exempel-Funktion der Verteidigung. Der König als Repräsentant Montenegros, – nicht aber „der/die Subalterne“ als repräsentiertes Volk – erhält innerhalb dieses Fremdtextes eine durch kein Drehbuch festgelegte Stimme. Ohne sie in weiteren Dialogen wiederzugeben, weiß der Autor seine ästhetisch-rhetorischen Fähigkeiten so einzusetzen, dass neben den emotionalen, appellativen Äußerungen des Erzählers Raum für die Stimme des Anderen bleibt. Der Erzähler vergisst nicht, auf die Problematik weder der Landschaft noch seiner Besitzer zu sehen, ob er nun auf die Fragwürdigkeit montenegrinischer Außen- und Bündnispolitik vor allem gegenüber Serbien und Albanien hinweist, ob er auf die Schwierigkeiten der Innenpolitik und die „Heimatlosigkeit“ zahlreicher junger Akademiker eingeht und dabei Verständnis um die Dynamik von Bildung, Arbeitslosigkeit und Armut, Unzufriedenheit und Auflehnung trotz der gegenteiligen eigenen Haltung aufbringt, oder ob er nicht nur den journalistischen Verunglimpfungsattacken, sondern ebenso auch romantisierenden Alteritätsproduktionen zu Leibe rückt und fast kontrapunktisch mit der Tatsächlichkeit und Unfassbarkeit der von Entbehrung gezeichneten Körper kontrastiert (S. 186). Die Karte, die Achleitner von Montenegro zeichnet, dient weder dem Beschreibenden noch dem Beschriebenen als „Space of Identity“ in Abhängigkeit einer „kolonialen“ Alteritätsproduktion. Der Schriftsteller und Ästhet verzichtet auf imperialistisches 240 Reichsbewusstsein, um an der Zeit zu bleiben. Das heißt, dass er den orientalistischen und den anti-orientalistischen Diskurs so wiedergibt, dass der seine Mechanismen offenbart. Die Verkennungen eines „land, owned by others“ innerhalb dieser Diskurse holt der Text wieder herein, durch die Penetranz des ständigen Verweisens auf vor allem ökonomische Macht- und Interessenskonflikte, die Montenegros Geographie durchziehen, durch die Subjektivierung der gegenüber ihrer Landschaft selbständigen Bewohner als zivilisatorische Gemeinschaft und dadurch, dass er selbst sich in die einzige ihm mögliche Rolle fügt, die Humanität ohne Identifizierung erlaubt: Gast zu sein. Eine Rolle, die ihn dazu bewegt, für einen kurzen Moment den Blick der Anderen auf sich selbst zu werfen und so die Stellungen von Europäisch und Exotisch zu tauschen. Es ist wahr: Montenegro hat den Erzähler nicht zu seinem Anwalt bestimmt, er ist bestenfalls Pflichtverteidiger. Auch stimmt, dass er nicht frei von Begehren an die Landschaft ist, von der er sich Erholung von der eigenen Kulturlandschaft, Abenteuer im Grenzverkehr (wenn sie auch zu seiner Enttäuschung versagt bleiben), persönliche Erfahrungsbereicherung und die Anhebung seines eigenen Prestiges im eigenen Kulturraum über die Abwertung der Eigenen (etwa Nikolas’ Übersetzern) und reziproke Aufwertung der montenegrinischen Anderen erhofft. Diese Formen der Identifikation unterscheiden sich allerdings maßgeblich von der gewaltsameren seiner beiden Vorgänger, weil sie nicht von der Gegenübersetzung des Anderen abhängen. Die Karte Montenegros via Achleitner gibt keine adiaphorische Gegend wieder, aber sie kommt einer Geographie der Gleich-Gültigkeiten einen Schritt näher, indem sie die Peripherie als Peripherie würdigt. Anmerkungen 1 Vgl. Ursula REBER, Kolonialismus im „Osten“? Imperialismus, Orientalismus und ,das Reale‘ bei Edward W. Said, in: www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/UReber1. 2 Vgl. Edward W. SAID, Orientalism. Western Conceptions of the Orient, Harmondsworth 21995; vgl. DERS., Culture and Imperialism, London 1994. 3 Edward W. SAID, Culture and Imperialism, S. 5. 4 Vgl. Doreen MASSEY, Philosophy and Politics of Spatiality: Some Considerations, in: DIES., Power-Geometries and the Politics of Space-Time. Hettner Lecture 1998, Heidelberg 1999, S. 27–42, insbesondere S. 36. 5 Vgl. zu Konzeptionen des Zeit-Raumes und von Raum-Zeiten: MASSEY, Philosophy and Politics of Spatiality, S. 27–42. 6 Diese Daten stammen aus: www.dinnes.net/grosse/Mostar/Mostar02.htm. 241 7 Vgl. Geografische Verhältnisse, Communicationen und das Reisen in Bosnien, der Herzegovina und Nord Montenegro. Aus eigener Anschauung geschildert von Heinrich STERNECK, Wien 1877, S. 51. 8 Stevan K. PAVLOWITCH, A History of the Balkans 1904–1945, London–New York 1999, S. 111: inoffizielle Abmachung zwischen Russland und ÖsterreichUngarn. Bedingung ist „an attitude of benevolent neutrality towards Russia“ (ebenda) im Falle eines russisch-türkischen Krieges. 9 Zur administrativen Bekanntheit des „Slawenproblems“ vgl. die Schrift von 1861: Südslavische Pläne. Denkschrift über die gegenwärtige Bewegung in der Herzegowina, Bosnien, Montenegro, nebst Schilderung der historischen, politischen, socialen, religiösen und militärischen Zustände dieser Länder, Wien 1861. 10 Vgl. dazu PAVLOWITCH, History of the Balkans, S. 101. 11 Geografische Verhältnisse, S. 13. 12 Andrew SLUYTER, Colonialism and Landscape. Postcolonial Theory and Applications, Lanham u. a. 2002, S. 9. 13 Vgl. zu diesem Komplex: SLUYTER, Colonialism and Landscape, S. 9; vgl. SAID, Orientalism, S. 38 f., S. 48, S. 57. 14 Vgl. PAVLOWITCH, History of the Balkans, S. 101 ff.; vgl. Count Andrássy to Count Beust, December 30, 1875. (Communicated to the Earl of Derby by Count Beust, January 3), in: www.mtholyoke.edu/acad/intrel/andrassy.htm. 15 Vgl. Michael HARDT, Antonio NEGRI, Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a. M.–New York 2002, S. 147–149. 16 Zum Zusammenhang von Aufklärung, Kapitalismus, Kolonialismus und Sklaverei vgl. HARDT, NEGRI, Empire, S. 134–137; vgl. Frederic JAMESON, Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism, Durham 1990; vgl. SLUYTER, Colonialism and Landscape, S. 14 ff. 17 HARDT, NEGRI, Empire, S. 141. 18 Zit. n. Immanuel KANT, Physische Geographie, Xerokopie verschiedener studentischer Vorlesungsmitschriften, hier auf Griechen und Italiener bezogen. 19 Vgl. SAID, Orientalism, S. 86. 20 Das Osmanische Reich gilt ansonsten als Transgressionsraum zwischen Okzident und Orient. Vgl. Maria TODOROVA, Imagining the Balkans, Oxford 1997. 21 Der Begriff, der vor allem ästhetische Komponenten der Raumwahrnehmung zusammenfasst, stammt aus dem Habilitationsprojekt von Marc Ries. 22 Dalmatien und Montenegro. Blicke ins „Kulissenland“ von Dr. Kurt Floericke, Berlin 1911. 23 Vgl. SAID, Orientalism, S. 71 f. 24 Denis COSGROVE, Mona DOMOSH, Author and Authority. Writing the New Cultural Geography, in: James DUNCAN, David LEY (Hg.), Place/Culture/ Representation, London–New York, S. 25–38, hier S. 30. 25 Vgl. SAID, Orientalism, S. 66–68, S. 86–92. 26 Vgl. zur Geschichte Montenegros John D. TREADWAY, The Falcon & the Eagle. Montenegro and Austria-Hungary, 1908–1914, West Lafayette 1983. 27 Arthur ACHLEITNER, Reisen im slavischen Süden (Dalmatien und Montenegro), Berlin 1913. 242 Kavaliere, Kostüme, Kunstgewerbe: Die Vorstellung Bosniens in Wien 1878–1900 Diana Reynolds Am 21. Jänner 1893 wurde ein neues Ballett mit dem Titel Eine Hochzeit in Bosnien als Theater Paré in der Hofoper in Wien aufgeführt.1 Die Handlung des Balletts in einem Akt war einfach. Eine Gruppe von Touristen aus Wien reist durch ein bosnisches Dorf und erlebt eine Hochzeitsfeier mit dessen Einwohnern. Das Dorf präsentiert sich als ein Musterbild der bosnischen Bevölkerung. Obwohl es sich vermutlich um ein katholisches Brautpaar handelt, wird jede Konfession dargestellt und nimmt an dem Fest teil. Vom „orientalisch-orthodoxen Bosnier“ bis zum „Mohammedaner“, vom Roma bis zum Franziskaner – das Dorf zeigt ein friedliches Zusammenleben der Nationalitäten und der Konfessionen in Bosnien.2 Das Bühnenbild vermittelt nicht nur die bunte Koexistenz der Menschen, sondern auch den Wohlstand der Kleinstadt. [Abb. 1] Neben der weiß getünchten Moschee steht eine katholische Kirche im üblichen historistischen Stil aus braunem Stein. Weitere Minarette sind im Hintergrund zu sehen. Auf dem kleinen Platz befinden sich zwei gut ausgestattete Läden mit bosnischem Kunstgewerbe. Das fantasievolle Design des Bühnenbildes und das Ballett wurden allerdings durch die Berücksichtigung strenger wissenschaftlicher Elemente in den Dienst der Ethnologie gestellt. Anhand der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse der Volkskunde wurde das volkstümliche Element überzeugend einbezogen. „Costüme [sic] und Ausstattung [... wurden] mit exquisitem Verständniss [von Franz Gaul] hergestellt“, der Ballettmeister Josef Bayer komponierte die Musik „mit Benützung nationaler Motive.“3 „Szenen und Bilder aus dem Volksleben“ wurden mit reizvoller Fantasie auf der Bühne der Hofoper gestaltet.4 Als Kunstwerk oder Unterhaltungsstück stellt das Ballett einen Moment der langen, komplizierten und verhängnisvollen Beziehung zwischen der k.u.k. Monarchie und den Besatzungsgebieten dar: Es bietet eine Mischung von Spektakel mit wissenschaftlichem Streben und illustriert das Resultat muster- 243 hafter österreichisch-ungarischer Verwaltung in einem Gebiet mit einer, von ihr als kindlich, pluralistisch und meist friedlich gesehenen Bevölkerung. Im Ballett werden die Touristen, die anfangs den Einwohnern misstrauisch gegenüberstehen, langsam in das Fest mit einbezogen. Sie lernen sogar bosnische Volkstänze zu tanzen. Gegenseitig schließen sich die Einwohner und die Wiener in ihre Herzen und zum Schluss lehren die Wiener den Bosniern den Walzer. Die bosnischen Volkslieder und Volkstänze werden von den Wienern zwar begeistert aufgenommen, aber am Höhepunkt „besiegt“ der Wiener Walzer die Bevölkerung: „Anfangs sehen die bosnischen Mädchen und Burschen erstaunt und verwundert dem neuen Tanze zu; [... aber ...] es dauert nicht lange, so dreht sich die ganze bosnische Hochzeitsgesellschaft mit den fremden Gästen im lustigen Walzer.“5 Nach dem Bericht in der Neuen Freien Presse nach zu schließen, bedeutet das Ballett „[...] die theatralische Occupation Bosniens, dessen moralische Eroberung durch den Wiener Tanz und den Sieg des Walzers an der Bosna.“6 Die Bedeutung des Balletts war den Zuschauern an diesem Abend ganz klar, sogar Kaiser Franz Joseph war begeistert. „Aber als die Bosniaken Walzer zu tanzen begannen, da hörte man plötzlich in der großen Mittelloge lachen. Alles wendete sich überrascht dahin. Der Kaiser lachte herzlich, und alle Erzherzoginnen und Erzherzöge folgten seinem Beispiele.“7 An diesem Abend wurde der Walzer zum Symbol der k.u.k. Ambitionen im Balkangebiet – schon 15 Jahre vor der Annexion Bosniens und der Herzegowina. Dieses Ballett, das noch drei Jahre in der Hofoper gespielt wurde, bietet drei theoretische Ansatzpunkte, die ich bei meiner Arbeit über das Thema der „Inneren Kolonisierung“ sehr hilfreich gefunden habe: 1. die Reform des Kunstgewerbes als Beispiel der Inneren Kolonisierung innerhalb der Habsburgermonarchie; 2. der Exhibitionary Complex, ein theoretischer, von Foucault abgeleiteter Ansatz, der die kolonialen Ansprüche der europäischen Kolonialmächte analysiert. Weil der Begriff sich nur schwer übersetzen ließ, behalte ich die englische Version bei. Durch Netzwerke von Museen, neue Wissenschaftsdisziplinen wie die Ethnologie und die Kunstgeschichte sowie durch Ausstellungen manifestierte sich der Exhibitionary Complex als Beispiel eines sanfteren Machtanspruchs des modernen Staates, der damit auch einen neuen Einfluss auf die Bevölkerung ausübte.8 Das Ballet zeigt nicht nur, wie viel Wissen über die bosnische Architektur, Musik sowie über das Kunstgewerbe um 1893 in Wien schon gesammelt worden war, sondern auch die Dimension seiner Verbreitung durch verschiedene Medien in den 1890er Jahren. 244 3. die Genderperspektive, vor allem die Konstruktion einer Identität Österreich-Ungarns nicht nur als einer weiblichen Großmacht, sondern auch – wie im Falle des Balletts – eines ritterlichen Liebhabers, der um eine schüchterne Frau wirbt. Mit Hilfe dieser drei Kategorien möchte ich die civilizing mission Österreichs behandeln, wobei es sich mehr um Ideen, als um endgültige Resultate handelt. Die kunstgewerbliche Reform So wie der Walzer als Symbol für die österreichisch-ungarische Verwaltung in Bosnien steht, so stellt die Reform des Kunstgewerbes in Bosnien ein konkretes Beispiel für die „wohlwollenden“ Intentionen der Habsburgermonarchie im Besatzungsgebiet dar. Die Reform des Kunstgewerbes in Österreich galt seit der Mitte der 1860er Jahre schon als Zeichen der Großzügigkeit des Staates und einer aufgeklärten bürokratischen Autorität. Die Leitung der kunstgewerblichen Reform in Cisleithanien übernahm das 1864 gegründete k.k. Österreichische Museum für Kunst und Industrie. Mit einem ausgedehnten Netzwerk von Fachschulen (etwa 20 um 1871, cirka 200 um 1900) leistete das Museum zwei kulturpolitische Aufgaben: die Hebung des Geschmacks und die Verbesserung der industriellen Produktion in Österreich.9 Dieses Ziel wurde durch drei Aufgabenbereiche angestrebt. 1. Durch die Sammlung der besten Beispiele angewandter Kunst sollte das Museum dem industriellen Hersteller einen Formenschatz bieten, der die künstlerischen Werte der industriellen Objekte verfeinern sollte. 2. Durch die Gestaltung von Ausstellungen der herausragendsten Stile der Vergangenheit war das Museum eine Bildungsanstalt, nicht nur für das Bürgertum, sondern auch für die Arbeiterklasse.10 3. Durch Schulen, vor allem die Kunstgewerbeschule in Wien, wurden Studenten ausgebildet, die als Hersteller selbst dem Weltmarkt verbesserte Produkte anbieten sollten.11 Langsam entwickelte sich innerhalb Cisleithaniens ein Netzwerk von kunstgewerblichen Fachschulen, die unter der künstlerischen Leitung des Museums standen, das einen Austausch von Schülern und Mustern zwischen den Provinzen und Wien dirigierte. Als die Volkskünste und die Hausindustrie auf dem Land allmählich auch das Interesse der Volkswirtschaft und der Wissenschaft zu erwecken begannen, wurden deren Erzeugnisse als Sammel- 245 objekte nach Wien geschickt. Im Museum für Kunst und Industrie wurden (trotz der wienerischen Neigung zum Historismus) die Volkskünste nicht nur wissenschaftlich klassifiziert und sortiert, sondern auch nach den Prinzipien der Ästhetik und des bürgerlichen Geschmacks verbessert. Diese verfeinerten Muster kamen oft als Vorlagen für künftige Handwerker in die Provinzen zurück.12 Da die kunstgewerbliche Reform eine erzieherische und auch eine assimilatorische Funktion den verschiedenen Nationalitäten gegenüber ausübte, ist diese Rolle sehr deutlich als ein Aspekt der Inneren Kolonisierung zu sehen. Durch die Fachschulen in den Provinzen strebte das Museum nicht nur eine Methode der künstlerischen, sondern auch der politischen Erziehung der Bevölkerung an.13 Als die Volkskünste auch in die Nationalitätenkonflikte einbezogen wurden, wollte das Museum die politische Zersplitterung der Provinzen durch eine aufgeklärte Bürokratie bekämpfen. Am Beginn der 1880er Jahre erkannte der Direktor des Museums, Rudolf von Eitelberger (1818–1885), die politische und ökonomische Bedeutung dieser lokalen Volkskünste: Wer es heutigen Tages unternimmt, die Hausindustrie zu pflegen, muss vor Allem duldsam sein gegen jede nationale Eigenthümlichkeit [...]. Nachdem man jetzt zu der Erkenntniss gekommen ist, dass [...] der Handwerkerstand bedroht ist zu einem bürgerlichen Proletariat herabzusinken, ist es wohl erklärlich, dass die Besten unseres Volkes darüber nachdenken, wie man [...] die Handfertigkeit pflegen könne. Zu jenen Mitteln, welche in Vorschlag gebracht wurden, ist in erster Linie immer die Schule und der Zeichenunterricht genannt worden [...].14 Durch Ausstellungen, kunstgewerbliche Reformen und Lehranstalten versuchten Beamte wie Rudolf von Eitelberger die Herzen der Bewohner des Vielvölkerstaates zu gewinnen. Die kunstgewerbliche Fachschule wurde als Mittel zur politischen Erziehung in den Provinzen angewandt. Das möchte ich mit Hilfe des Exhibitionary Complex verdeutlichen. Der Exhibitionary Complex Die Reform des Kunstgewerbes in Österreich zeigt die neue Art, wie der moderne Staat sich mit Wirtschaftspolitik, Kunsterziehung und Bildung in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts auseinander setzte. Das Kunstgewerbe wurde als wirtschaftlicher Faktor gesehen. Die Gründung des k.k. Museums und die Fachschulen sowie die fast unübersehbare Anzahl der Ausstellungen im Museum und in den Provinzen nach 1871 waren Zeichen des staatlichen 246 Engagements in diesen neuen politischen und wirtschaftlichen Bereichen. Der englische Historiker Tony Bennett hat diesen Prozess als die Entstehung des Exhibitionary Complex bezeichnet. Bennett hat diesen Exhibitionary Complex, welcher nach der großen Londoner Weltausstellung von 1851 entstand, als neue Form einer „sanften“ Staatsgewalt beschrieben. (Bennett bezieht sich hier auf die Theorien von Michel Foucault, vor allem auf den Begriff carceral archipelago – Gefängnisarchipel – im modernen Staat.) Indem er Wissen verbreitete und zur Schau stellte, versuchte der moderne Staat Sympathien bei der Zivilgesellschaft zu erwecken.15 Die zahlreichen Museumsgründungen des späten 19. Jahrhunderts stillten einerseits den Hunger des Publikums nach Ausstellungen und boten andererseits dem Staat die Möglichkeit, eine neue regulative und fördernde Rolle als Vermittler und Anbieter von Wissen einzunehmen. Bennetts Arbeit konzentriert sich auf Entwicklungen im viktorianischen England, wo auch der Kolonialismus eine sehr große Rolle in der Reform des Kunstgewerbes spielte. Schon 1851 wurde Kunstgewerbe aus Indien ein großer Publikumserfolg der Londoner Weltausstellung, wo Kunsthandwerker aus Bengalen in den Pavillons der East India Company mit Elfenbein arbeiteten.16 Einerseits betrachtete der Exhibitionary Complex die Kolonisierten mit einem wissenschaftlichen Blick; andererseits war er eine Methode, mit deren Hilfe der koloniale Staat andere Völker öffentlich zur Schau stellte und dadurch Eindruck auf seine eigene Bevölkerung in der Metropole machen konnte. Dieses Modell kann auch auf die Habsburgermonarchie angewendet werden. In Österreich waren es die ehemaligen Osmanischen Gebiete, Bosnien und die Herzegowina, die nach 1878 einen reichen, orientalischen Formenschatz für die kunstgewerbliche Reform anboten. Die Arbeit eines österreichischen Exhibitionary Complex kann am Beispiel Bosniens analysiert werden. Die Reform des Kunstgewerbes stellte eine wichtige Komponente der mission civilatrice in Bosnien dar. Gleich nach der Besetzung Bosniens hatte Rudolf von Eitelberger die etablierten Modelle der lokalen Fachschulen für Bosnien empfohlen: „Aber trotzdem müsste in Bosnien und der Herzegowina die Hebung der Industrie der neuerworbenen österreichischen Kronländer von der Pflege der Hausindustrie und des Handfertigkeitsunterrichtes ausgehen.“17 Dieser Rat wurde angenommen. Nach 1882 begann der Reichs-Finanzminister Benjamin von Kállay (1839–1903) mit der Reform des Kunstgewerbes in Bosnien, indem drei Institutionen in Sarajevo gegründet wurden: erstens das Bosnisch-Hercegowinische Landesmuseums im Jahr 1884, zweitens Fach- 247 schulen für Kunstgewerbe in Sarajevo, drittens wurde ein Büro zur „Wiedererweckung und Entwicklung des bosnisch-hercegowinischen Kunstgewerbes“ errichtet.18 Alle drei Institutionen bildeten einen Exhibitionary Complex in Wien und Sarajevo. Ähnlich wie Wissenschafter mit ihrer Sammeltätigkeit in Afrika ethnologische Sammlungen in Berlin, Paris und London bereicherten, so diente das Museum in Sarajevo als wissenschaftliche Schöpfung einer Kolonialmacht. Zwischen den Fachschulen (Wien und Sarajevo) pendelten nicht nur Lehrer, sondern auch Muster und Objekte. Das „Büro“ diente als Ausstellungsort und Verkaufsladen für bosnisches Kunstgewerbe in der Wiener Metropole.19 Die Asymmetrie dieses Austausches war deutlich: Büro und Fachschulen standen unter der künstlerischen Leitung des Museums in Wien.20 Die „Wiedererweckung des bosnischen Kunstgewerbes“ war ein Regierungsunternehmen, das sich am bereits bestehenden Modell der kunstgewerblichen Reform in Cisleithanien orientierte.21 Knapp sieben Jahre später (im Jahr 1889) wurde die Aufgabe des Museums in Bezug auf das bosnische Kunstgewerbe so beschrieben: [Es] hat Reichsfinanzminister von Kallay die eines Kulturstaates würdige Aufgabe darin erkannt, […] Werkstätten zu gründen, wo […] ein neues Geschlecht von Schülern heranbilden könnten, und schließlich durch Hofrat [Josef von] Storck [Leiter der Kunstgewerbeschule in Wien] Vorlagen fertigen lassen, die den Geschmack der Einheimischen […] reinigen [...], den überlieferten Stil dem Bedürfnis unserer Zeit anpassen [...] und den bosnischen Erzeugnissen den Absatz, die Verwendung in unseren Häusern sichern. [...] Es ist eben auch hier geschehen, was unser [k.k. österr., Anm. D.R.] Kunstgewerbemuseum, eine Musteranstalt für alle Länder, überhaupt zur Neubelebung und Fortentwicklung des österreichischen Hausgewerbes geleistet hat.22 Dieser Exhibitionary Complex, eine Zusammenarbeit des Museums und der Fachschulen, diente als Erziehungsmittel in Wien und in Sarajevo. In Wien übten die Österreicher ihre Position als Großmacht mit einer Art von künstlerischem Kolonialismus aus. In Sarajevo wurde der neue Bosnier als Zögling der Monarchie (in künstlerischem wie in politischem Sinne) erzogen. Die Harmonie wurde durch kunstgewerbliche Reformen angestrebt. Ich schlage vor, diesen Ansatzpunkt des Exhibitionary Complex als eine gute Methode anzuwenden, um der Frage der Inneren Kolonisierung der Habsburgermonarchie – nicht nur in Bosnien, sondern auch in den anderen Kronländern und Provinzen – näher zu kommen. Die Entstehung zahlloser Vereine und Museen in der Monarchie sowie die Fülle lokaler Ausstellungen sind noch nicht von diesem Standpunkt aus bearbeitet worden. 248 Die Genderperspektive Warum wurde so viel Wert auf Kunstgewerbe gelegt, warum so viel Mühe darauf verwendet, das bosnische Kunstgewerbe zu retten und nach Wien zu bringen? Die Antwort ist zum Teil im dritten Punkt zu finden, den ich thematisieren möchte – im Zusammenhang von Gender, Macht und Imperialismus in Mitteleuropa. Gender ist als soziales Konstrukt auch in der Postcolonial Theory hilfreich. Der Kolonisierte gilt als schwach oder weiblich. Formulierungen über neu entdeckte Landschaften als jungfräuliches Land sind uns als rhetorische Formulierungen aus der Entdeckerliteratur wohl bekannt.23 Ich finde die Kategorie Gender aber auch sehr hilfreich in Bezug auf die österreichische Identität als Großmacht in Europa nach 1871. Die Charakterisierung von Österreich-Ungarn als weibliche Seite der deutschen Macht in Mitteleuropa ist uns vielleicht klar. Bald nach der Entstehung des Deutschen Reiches hat die Habsburgermonarchie begonnen, den Begriff Kulturstaat gegenüber Deutschland als Machtstaat in Mitteleuropa zu verwenden. Wir sehen diesen Begriff auch in dem angegebenen Zitat oben über die Rolle des Kunstgewerbes. Dabei spielte das Gefühl seitens der Österreicher eine Rolle, eine zweitrangige Großmacht zu sein, deren Rang nur durch eine Ostpolitik gesichert werden könne.24 Die Okkupation von Bosnien und der Herzegowina war ein Beweis dafür, dass Österreich eine kulturpolitische Aufgabe in Süd- und Osteuropa zu erfüllen hatte. Im Balkangebiet trat die Habsburgermonarchie als Schöpferin eines „Neuösterreich“ in Bosnien und als legitime Nachfolgerin des Römischen Reiches auf.25 Gegenüber den anderen Großmächten Europas konnte sich Österreich nach 1871 nur als eine „etwas andere“, kulturtragende Großmacht entfalten. Die Reform des Kunstgewerbes in Bosnien war ein Teil des Regierungsplanes für die zweite, die moralische Eroberung des Gebietes. In Cisleithanien war die Reform des Kunstgewerbes schon längst als Mittel zum Zweck einer sittlichen und politischen (habsburgertreuen) Erziehung benutzt worden. Sie war Teil einer österreichischen Identität in Mitteleuropa und sogar Teil des österreichischen Selbstbewusstseins gegenüber Deutschland. Kunst und Kultur waren die Merkmale dieser weiblichen Großmacht. Imperialismus kann auch von einem Gender-Gesichtspunkt aus betrachtet werden: eine Großmacht, die als militärische Macht eine „Kolonie“ erobert hat, kann diese rohe militärische Eroberung auch als eine ritterliche und kavalierhafte Tat maskieren. Benjamin von Kállay beschrieb beispielsweise seine Tätigkeit 1884 folgendermaßen: „Oesterreich hat Bosnien und die Herce- 249 gowina zum zweitenmale erobert, nicht mehr durch die Gewalt der Waffen, sondern durch die Erfolge einer gerechten und weisen Verwaltung.“26 Diese zweite Eroberung künstlerisch darzustellen, war der Sinn des eingangs beschriebenen Balletts. Der Machtanspruch einer männlichen Verwaltung (mit ihrer aufgeklärten Bürokratie) wurde mittels der Darstellung weiblicher Schönheit und Heiterkeit kaschiert. Der entscheidende Moment im Ballet ist jener, als eine Touristin, „um den Bosniaken den richtigen Begriff vom Tanzen beizubringen, ihnen mit einem flotten Partner Walzer vortanzt.“27 Die Besatzungsregierung wollte, dargestellt als Ritter, Kavalier und Liebhaber, um Bosnien werben, die vortanzende Touristin versinnbildlicht den Weg. Diese Form der Machtausübung sollte als bewusster Gegenpol zur deutschen Militärmacht in Mitteleuropa wahrgenommen werden. Gender-relevante Begriffe sind sehr flüssig, aber überall präsent in der Rhetorik des Imperialismus; und es gibt mehrere Möglichkeiten, Österreich-Ungarn anhand dieser Rhetorik als weibliche Großmacht zu betrachten. Dass Gender in mehreren Instanzen mit Konzepten einer Inneren Kolonisierung zusammengefügt werden kann, bezweifle ich nicht. Das Ballett gibt zum größten Teil nur die österreichische Vorstellung von Bosnien wieder. Die Idee „Bosnia“ hat sich in der populären Kultur Wiens mit den üblichen Klischees eingeprägt – mit Bildern des fremden, mysteriösen Orients und eines selbstlosen, wohlwollenden Regierungsapparates.28 Insbesondere waren es die vielen Ausstellungen bosnischen Kunstgewerbes in Wien zwischen 1889 und 1898, die dieses Bild mitbestimmten. Ab 1884 wurde Bosnien als Lieblingskind der Monarchie dargestellt. Zwei Ausstellungen zeigen den künstlerischen Kolonialismus und einige Aspekte des Exhibitionary Complex in Wien. Anhand der 25. Jubiläums-Ausstellung des k.k. österreichischen Museums im Jahr 1889 wurde das bosnische Kunstgewerbe als Prachtstück der Ausstellung präsentiert. Dort wurde die Geschichte der Rettung des bosnischen Kunstgewerbes seitens der Regierung anhand mehrerer bosnischer Teppiche beispielhaft dargestellt. So hat man den alten [bosnischen] Meistern Aufträge ertheilt, andere zu ihren früher geübten Techniken zurückgeführt, weitere andere Angehörige des Landes nach Wien genommen und sie in der Kunstgewerbeschule unterwiesen, auch Frauen kamen hierher um das Weben zu erlernen, und so ist denn in Sarajevo eine Webschule begründet worden. [Diese] Webschule [ist im] [...] Vertrieb der Firma Ph. Haas & Söhne [etabliert worden. ...]. Die Wolle ist bosnischer Herkunft, [… aber] in Wien gefärbt und dann erst wieder zur Verarbeitung hinunter gesandt werden […]. 250 Auch die Zeichnungen und Muster sind alt, von Storcks Künstlerhand [in Wien] glücklich erneut. Die schöne Halle des Museums ist ausschließlich mit jenen bosnischen Arbeiten geschmückt, sie sind das Festkleid des Hauses […].29 Hier wird die Vorspiegelung falscher Tatsachen deutlich. Die genannte Teppichschule in Sarajevo war in Wirklichkeit die Teppichfabrik eines Wiener Herstellers; sie sollte aber als Beispiel für die Hebung des Kunstgewerbes fungieren. Der bosnische Stil wurde in Wien durch die „Künstlerhand“ des Direktors der Kunstgewerbeschule Josef von Storck verfeinert. Aber da sich die Produkte aus Sarajevo dem städtischen Geschmack anpassen sollten, wurde die Wolle auch in Wien gefärbt. Arbeiter in Sarajevo waren, trotz der Rhetorik von Assimilation und Erziehung in einer, mit einem globalisierten Arbeiter heutzutage vergleichbaren Situation. Die Teppiche in der Ausstellung sind als Ornamente, sogar als weibliches Ornament beschrieben. Dieser Text zeigt das Paradox der kunstgewerblichen Reform in Wien, er verdeutlicht die Hegemonie der künstlerischen Form der Metropole (mittels Gestaltung und Farbe, durch den Fabrikbesitzer und die Initiative) gegenüber dem Besatzungsgebiet (mit seinen „rohen“ Entwürfen, schlechten Farben, mit seiner „verdorbenen“ Technik). Zwei Jahre später – im Jahr 1891 – wurde das bosnische Kunstgewerbe wieder mit großem Erfolg in Wien ausgestellt, diesmal im Rahmen der Kostümausstellung im Österreichischen Museum für Kunst und Industrie.30 Diese Ausstellung in Wien zeigte wiederum die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Unterhaltung und Event im Exhibitionary Complex. Hier wurden nicht nur Kostüme, sondern auch Mannequins aus Bosnien vorgeführt, die von Publikum und Kritikern besonders gewürdigt wurden [Abb. 2]. 37 Mannequins stellten die verschiedenen Volksgruppen Bosniens dar.31 Die Kostüme gehörten dem Landesmuseum Sarajevo, wurden aber für die Ausstellung nach Wien geschickt. In der Hauptstadt allerdings wurden die besten Kostüme fotografiert und in einem Sammelband veröffentlicht.32 Die Mannequins und Kostüme dienten drei Jahre später als Vorlagen für die Kostüme des bereits beschriebenen Balletts. Eine Ausstellung im Museum für Kunst und Industrie bildete die wissenschaftliche Grundlage für ein Ballett in der Hofoper. Wie im eingangs zitierten Ballett verstärkten die Originaltreue sowie die Exaktheit des Bildes und der Kostüme das Erlebnis der Zuschauer. Das Ballett in der Hofoper im Jahr 1893 war das Resultat jahrelanger Beschäftigung mit dem bosnischen Kunstgewerbe in der Hauptstadt Wien. 251 Resümee Die Vorstellung von Bosnien und Herzegowina in Wien repräsentierte das politische und künstlerische Wunschbild der Habsburgermonarchie in Mitteleuropa: ein buntes Völkergemisch, einfach, fast kindlich, das friedlich koexistieren kann, weil es von einem toleranten und fairen Kulturstaat verwaltet wird, dessen Kunsttraditionen eine neue Blütezeit erlebten, weil sie von einem wissenschaftlichen Apparat von Museen und Fachschulen unterstützt wurden. Dieses Wunschbild diente als Argument für eine österreichische Rolle in Europa: es präsentierte sich – trotz der Ereignisse von 1866 und 1871 – zwar immer noch als eine Großmacht, aber als eine sanftere Großmacht, deren Machtansprüche durch eine Kulturpolitik maskiert werden konnten. Vergleichbar mit der Entwicklung in den europäischen Kolonialstaaten entstand auch in der Habsburgermonarchie eine Zusammenarbeit von Ausstellungs- und Eventkultur, Museen, Wissenschaft, Schulen, ein sogenannter Exhibitionary Complex, der auch zu einem Mittel der Popularisierung des Kolonialismus und Imperialismus wurde. Die österreichische Art und Weise der Ausübung eines „femininen“ Imperialismus in Mitteleuropa manifestierte sich im Anspruch auf Kunst und Kultur. Der Walzer als Metapher lässt sich anhand der Gender-Perspektive betrachten. Gegenüber Deutschland wurde „das Österreichische“ in Mitteleuropa als das Weibliche gesehen; gegenüber den Nationalitäten in der Doppelmonarchie handelte die Regierung nach dem Modell eines aufgeklärten, „kavalierhaften“ (oder vielleicht manchmal auch mütterlichen) Imperialismus.33 Die Habsburgermonarchie stellte sich im Ballett in der Gestalt von Wiener Touristen, die tolerant, höflich und charmant auftraten, dar. Die moralische Eroberung des Gebietes war das Ziel, der Walzer als Symbol eines Kulturstaates war die Methode des Sieges. Das durch die Postcolonial Theory wieder aufgenommene Konzept der Hybridität, die Wirkung der kolonialisierten Peripherie auf die Bevölkerung der Metropole, ist durchaus am Beispiel der kunstgewerblichen Reform zu dokumentieren. Durch diesen Exhibitionary Complex wurden zahlreiche Beispiele von Volkskunst der Monarchie nach Wien gebracht, wissenschaftlich verarbeitet und zur Schau gestellt. Dieser Prozess, den ich an anderer Stelle als eine österreichische Synthese beschrieben habe, hatte sich längst vor der Besetzung Bosniens und der Herzegowina etabliert.34 Nach 1889 illustrierten die Ausstellungen des bosnischen Kunstgewerbes den künstlerischen Reiz 252 und den orientalischen Formenschatz des Gebietes. Die Sammeltätigkeit des Museums in Wien, die Verbreitung des bosnischen Stils in Ausstellungen und in Unterhaltungsstücken wie dem Ballet und der Formenaustausch in den 1890er Jahren führten nicht nur zur Überwindung des Historismus im Wiener Kunstgewerbe, sondern auch zum reichen, vor allem aber volkstümlichen Formenschatz der Wiener Sezession nach 1898.35 Anmerkungen 1 Vgl. Bosnische Post, 25. Jänner 1893, Nr. 7, S. 4. Die Autorin dankt Walter Sauer, Michael McKinney und Ursula Prutsch für deren sorgfältige Durchsicht dieses Beitrags. 2 Vgl. Eine Hochzeit in Bosnien, in: Österreichisches Theatermuseum. C . Th. 733.042, o. S. 3 Bosnische Post, 25. Jänner 1893, Nr. 7, S. 4. Vgl. Neue Freie Presse, 22. Jänner 1893, S. 7. Die Einfügungen in eckigen Klammern stammen von der Autorin. Franz Xaver Gaul (1837–1906) war von 1879 bis 1900 Vorstand des Ausstattungswesens der Hofoper. Joseph Bayer (1852–1913) war seit 1883 Hofopernkapellmeister, ab 1885 Ballettkapellmeister. Die Autorin dankt Dr. Elisabeth Grossegger (Wien) für diese Information. 4 Das Bühnenbild stammte von Antonio Brioschi (1885–1920). Vgl. Franz HADAMOWSKY, Die Wiener Hoftheater. Teil II, Wien 1975, S. 205. Brioschi war Absolvent der Kunstgewerbeschule des österreichischen Museums für Kunst und Industrie in Wien. Er studierte unter Josef von Storck. Die Autorin dankt Dr. Elisabeth Grossegger für diese Information. 5 Neue Freie Presse, 22. Jänner 1893, S. 7. 6 Ebenda. 7 Ebenda, Hervorhebungen durch die Autorin. 8 Vgl. Tony BENNETT, The Birth of the Museum: History, Theory, Politics, London 1995. 9 Das Standardwerk über die kunstgewerblichen Fachschulen ist die Publikation von Rudolf Freiherr von KLIMBURG, Die Entwicklung des gewerblichen Unterrichtswesens in Österreich, Tübingen 1900. Vgl. Diana REYNOLDS, Die österreichische Synthese: Metropole, Peripherie und die kunstgewerblichen Fachschulen des Museums, in: Peter NOEVER (Hg.), Kunst und Industrie, Wien 2000, S. 203–217. 10 Vgl. Rudolf von EITELBERGER, Die Kunstbestrebungen Österreichs (1871), in: Gesammelte Schriften, Bd. 2, Wien 1879. 11 Für die Geschichte der Kunstgewerbeschule in Wien, vgl. Gottfried FLIEDL, Kunst und Lehre am Beginn der Moderne. Die Wiener Kunstgewerbeschule 1867–1918, Wien–Salzburg 1986. 12 Vgl. Rudolf von EITELBERGER, Die Volkskunst und die Hausindustrie, in: 253 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 Gesammelte Schriften, Bd. 2, Wien 1879, S. 267–275. Zur Diskussion über Entstehung des Begriffs Volkskunst zu dieser Zeit siehe Bernward DENEKE, Europäische Volkskunst, in: Propyläen Kunstgeschichte. Supplementband V, Frankfurt a. M. 1980, S. 11–12. Vgl. Alois RIEGL, Volkskunst, Hausfleiß und Kunstindustrie, Berlin 1893. Riegl war als Kustos der Textilsammlung des Museums (von 1885 bis 1897) ein ausgesprochener Kritiker dieser Praxis im Museum. Vgl. REYNOLDS, Die österreichische Synthese, 2000. Vgl. Armand von DUMREICHER, Über die Aufgaben der Unterrichtspolitik im Industriestaate Österreich, Wien 1881. Rudolf von EITELBERGER, Zur Frage der Hausindustrie, in: Mittheilungen des österreichischen Museums für Kunst und Industrie 19 (1884), S. 28, S. 35. Vgl. Tony BENNETT, Birth of the Museum, 1995. Vgl. Timothy MITCHELL, Orientalism and the Exhibitionary Order, in: Nicholas DIRKS (Hg.), Colonialism and Culture, Ann Arbor 1992, S. 289–317; vgl. Diana REYNOLDS, The Great Exhibition of 1851, in: John FINDLING (Hg.), Events that Changed Great Britain, New York 2001. EITELBERGER, Zur Frage der Hausindustrie, S. 28. Zu Benjamin von Kállay siehe Ferdinand SCHMID, Bosnien und Hercegovina unter der Verwaltung Oesterreich-Ungarns, Leipzig 1914. Zur Geschichte des Landesmuseums, vgl. Wissenschaftliche Mittheilungen aus Bosnien 1 (1893). Zur Geschichte des Büros vgl. Ulrike SCHOLDA, Theorie und Praxis im Wiener Kunstgewerbe des Historismus am Beispiel von Josef Ritter von Storck 1830–1902, Dissertation Universität Salzburg 1991, S. 54–55. Vgl. Das Kunstgewerbe in Bosnien und der Hercegovina auf der deutschen Fächer-Ausstellung, Karlsruhe 1891, S. 4; vgl. Heinrich Graf von ATTEMS, Die Hausindustrie auf der land- und forstwirthschaftlichen Ausstellung Wien 1890, Wien 1890, S. 6. Vgl. Mittheilungen des österreichischen Museums für Kunst und Industrie, N.F. 4 (1893), S. 547. Vgl. Das Kunstgewerbe in Bosnien und der Hercegovina auf der deutschen Fächer-Ausstellung in Karlsruhe, Wien 1891, S. 7. Vgl. Österreichische Monatsschrift für den Orient 19 (1893), S. 91. Neuösterreichs Hausgewerbe, in: Allgemeine Kunst-Chronik XIV (1890), S. 353. Vgl. Walter SAUER, K.u.k. kolonial. Habsburger Monarchie und europäische Herrschaft in Afrika, Wien 2001. Vgl. Oesterreich und die Orientfrage, Wien 1876, S. 46. Vgl. Bosnien als Neuösterreich, Leipzig 1886; vgl. Bosnien unter österreichischungarischer Verwaltung, Leipzig 1886; vgl. Bosniens Gegenwart und nächste Zukunft, Leipzig 1885; vgl. Josef Alexander Freiherr von HELFERT, Bosnisches, Wien 1879. Bosnische Post 1, 22. Juni 1884, S. 1. Neue Freie Presse, 22. Jänner 1893, S. 7. Vgl. Maria TODOROVA, Imagining the Balkans, Oxford 1997. Allgemeine Kunst-Chronik 13 (1889), S. 235; vgl. SCHOLDA, Theorie und Praxis im Wiener Kunstgewerbe, S. 55. 254 30 Vgl. Jacob von FALKE, Führer durch die Costüm-Ausstellung im k.k. österreichischen Museum, Wien 1891; vgl. Wissenschaftliche Mittheilungen aus Bosnien 2 (1894), S. 504–508; vgl. Katalog der bosnisch-herzegovinischen Abtheilung, Costüme-Ausstellung im k.k. österreichischen Museum, Wien 1891. 31 Vgl. Paul GREENHALGH, Human Showcases, in: Ephemeral Vistas, Manchester 1988, S. 82–111. 32 Vgl. Karl MASNER, Führer durch die Costüm-Ausstellung (im) k.k. österr. Museum für Kunst und Industrie. 17. Januar bis 30. März 1891, Wien 1891. 33 Vgl. Neue Freie Presse, 22. Jänner 1893, S. 7. 34 Vgl. REYNOLDS , Die österreichische Synthese, 2000. 35 Vgl. Berta ZUCKERKANDL, Zeitkunst Wien, Wien 1908; vgl. Paul WESTHEIM, Ungarische Volkskunst, in: Textile Kunst und Industrie 1 (1909), S. 493; vgl. Sherwin SIMMONS, Ornament, Gender and Interiority in Viennese Expressionism, in: Modernism/Modernity 8 (2001), S. 249. 255 Abb. 1: Eine Hochzeit in Bosnien. Bühnenbild von Antonio Brioschi, 1893. Die Fotografie wurde dankenswerterweise vom Österreichsichen Theatermuseum zur Verfügung gestellt. 256 Abb. 2: Mohammedaner (Aga) aus Sarajevo im Waffenschmuck, in: Karl MASNER, Die Costümausstellung im k.k. österreichischen Museum, 1891. 257 Der koloniale Blick auf Bosnien-Herzegowina in der ethnographischen Popularliteratur der Habsburgermonarchie Peter Stachel Die ererbten Zustände, welche von den unsrigen so ganz verschieden sind, überraschen uns [...] auf Schritt und Tritt. Das unvermittelte Nebeneinander von urwüchsiger, schier unglaublicher Einfachheit und Hilflosigkeit bei den Eingebornen und hochgesteigerter civilisatorischer Thätigkeit bei den Organen der Verwaltung, [...] nöthigt selbst den genußfrohen Touristen zum Nachdenken und zur Erwägung, wie denn [...] in unsrem Hause (denn Europa ist das Haus der Völkergruppe, der wir angehören) ein großer Raum, an dessen Schwelle wir stehen, so völlig hat verwahrlosen können, daß eine solche Heraklesarbeit nöthig wurde, ihn zu säubern und wohnlich einzurichten.1 Moritz Hoernes, 1889 Die im Bereich der Literaturwissenschaften entwickelte sogenannte „postkoloniale Theorie“ ist in den letzten Jahren zu einem Werkzeugkasten der Analyse politischer, ökonomischer und kultureller Wechselbeziehungen geworden. Ursprünglich aus der Beschäftigung mit Literaturen ehemaliger Kolonialgebiete entstanden, wobei vor allem auch die Analyse der Kultur der Kolonisatoren aus der Sicht der Kolonisierten im Blickpunkt stand, bezeichnet der Begriff „Postcolonial Studies“ heute ein weites und durchaus heterogenes Feld unterschiedlicher theoretischer und methodischer Zugänge, wobei selbst die strikte begriffliche Scheidung von Kolonisatoren und Kolonisierten als klar bestimmbaren sozialen „Einheiten“ mittlerweile als fragwürdig erkannt wurde.2 259 Auf den ersten Blick mag es durchaus widersinnig erscheinen, die Habsburgermonarchie unter postkolonialer Perspektive zu untersuchen, nahm doch dieser Staat, abgesehen von einigen eher halbherzigen Versuchen in der Frühphase der Geschichte des Kolonialismus, nicht am Wettlauf der europäischen Großmächte um außereuropäische Kolonien teil. Verstünde man unter postkolonialer Theorie ein einheitliches Theoriegebäude, so wäre es daher kaum sinnvoll auf die Analyse der Geschichte der Donaumonarchie anwendbar. Durchaus fruchtbringend erscheint es dagegen, dem „Werkzeugkasten“ der postkolonialen Theorien Anregung für neue Sichtweisen und Fragestellungen zu entnehmen, wobei es sich als sinnvoll erweisen kann, diese „Übernahmen“ auch mit theoretischen Ansätzen anderer Provenienz zusammenzuführen. Der versuchte „Beweis“ eines theoretischen Konzepts anhand des empirischen Materials wäre demgegenüber widersinnig, umso mehr, als ein einheitliches theoretisches Konzept gar nicht vorliegt. Definiert man „Kolonisierung“ vorläufig sehr allgemein als ein hegemoniales Konzept der zwangsweisen Vereinheitlichung kultureller Differenzen, so erscheint es durchaus zweckentsprechend, sich mit dieser Konzeption auch der Geschichte der Habsburgermonarchie zu nähern.3 Dieser Staat war ja gerade durch eine Vielfalt der Ethnien und kulturellen Praktiken geprägt, die ihn im Zeitalter der als ethnisch homogen imaginierten Nationalstaaten als ein Relikt älterer, nicht mehr zeitgemäßer politischer Strukturen erscheinen ließ. Die offizielle interne Sicht auf den Vielvölkerstaat operierte dementsprechend mit einem Konzept von „Einheit in der Vielfalt“, also einer programmatischen Anerkennung der ethnisch-kulturellen Heterogenität bei gleichzeitiger Betonung der politischen Einheit: Metaphorisch fand dieses Konzept Ausdruck in der Begrifflichkeit einer „Völkerfamilie“, mit dem Kaiser in Wien als patriarchalischem, doch wohlwollend-mildem Übervater. Eine vollständige kulturelle, vor allem sprachliche Vereinheitlichung war nicht herstellbar, war doch dieser Staat nicht durch die Hinzufügung kleinerer politischer Einheiten zu einem kulturell dominanten Zentrum entstanden, vielmehr waren große, historisch durchaus eigenständige politische Einheiten durch ursprünglich bloße Personalunion an ein eher kleines Kerngebiet habsburgischer Herrschaft, die „Erblande“, angefügt worden.4 Damit ist jedoch keineswegs behauptet, dass die Habsburgermonarchie von jenen Strategien der kulturellen Zwangsassimilation, wie sie für Kolonisierungsprozesse typisch sind, völlig frei gewesen wäre: An die Stelle eines dominanten, zentralistischen und reichsübergreifenden „Kolonisierungsdiskurses“ traten vielmehr vielfach miteinander verschränkte regionale „Mikro- 260 kolonialismen“5. Ersichtlich wird diese Aufsplitterung der Träger der normierenden Definitionsmacht kultureller Hegemonie, wenn man versucht, die für Kolonisierungsprozesse typische Dichotomie von Zentrum und Peripherie auf die Donaumonarchie anzuwenden: Für die Magyaren beispielsweise war Wien bis 1867 in der Tat ein politisches Zentrum, das als gleichsam „äußere Autorität“ bekämpft wurde, für die Kroaten als Untertanen der ungarischen Krone hingegen war Budapest dieses als zwangsweise normierend empfundene Zentrum, demgegenüber Wien ein Gegengewicht darstellte; ähnliches gilt für die Ruthenen (Ukrainer) im polnisch dominierten Galizien. Einen Sonderfall stellte jedoch die letzte „Erwerbung“ des Hauses Österreich, die Länder Bosnien und Herzegowina, dar. Hier kann in der Tat von einem einheitlichen Kolonisierungsdiskurs gesprochen werden, der mit handfesten politischen und strategischen Zielsetzungen verbunden war. Das größere Bosnien und die südwestlich daran angrenzende Herzegowina liegen im Grenzbereich verschiedener Kulturräume und politischer Einflusszonen; dementsprechend inhomogen war die Bevölkerung in ethnischer und konfessioneller Hinsicht. Bis Mitte des 15. Jahrhunderts noch „ein erkennbar eigenständiger, freilich peripherer Bestandteil der Staatenwelt des lateinischen Europa“6 gelangte das Gebiet ab dem Ende des 14. Jahrhunderts schrittweise unter türkische Kontrolle, im Jahr 1463 wurde es schließlich formell dem Osmanischen Reich angegliedert. Mit der sukzessiven Zurückdrängung der osmanischen Herrschaft aus Südosteuropa wurde der gesamte Balkan in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Region, in der ein Wettlauf der europäischen Großmächte um Einflusszonen einsetzte. Im Berliner Kongress von 1878 wurden Bosnien, die Herzegowina und der Sandzak von Novi Pazar7 zum österreichisch-ungarischen Mandatsgebiet erklärt: Formell blieben die Länder zwar (vorläufig) Bestandteil des Osmanischen Reiches, sie wurden aber unter gemeinsame österreichische und ungarische Verwaltung gestellt (Okkupation). Die Durchsetzung der Verwaltungshoheit erfolgte mit militärischen Mitteln, gegen Widerstände vor allem des moslemischen Bevölkerungsteils, der unter dem Kommando von Hadschi Loja einen noch bis 1880 andauernden Partisanenkrieg gegen die k.u.k. Armee führte. In der Folge wanderte ein Teil der moslemischen Bevölkerung in Kerngebiete des osmanischen Reiches ab. Die österreichisch-ungarische Politik zielte wohl von Anfang an auf eine vollständige staatsrechtliche Angliederung (Annexion) Bosniens und der Herzegowina, was nicht zuletzt durch die beträchtlichen Investitionen in die Infrastruktur (Schulen, Krankenhäuser, Straßen, Eisenbahnen) belegt wird.8 ^ 261 Diese zeitigten auch zumindest teilweise die angestrebte Wirkung, die Bevölkerung für die neue „Ordnungsmacht“ zu gewinnen. Das später fallengelassene Projekt der „Sandzak-Bahn“ mit Zielrichtung Thessaloniki lässt aber überdies auf weiterreichende Expansionsabsichten, etwa in Richtung der mehrheitlich katholisch besiedelten Gebiete Albaniens schließen. Die instabile politische Lage auf dem Balkan motivierte Österreich-Ungarn schließlich im Jahr 1908 zur Annexion Bosniens und der Herzegowina, die eine europäische Krise auslöste. Entsprechend der dualistischen Staatsform wurde das Gebiet keiner der beiden Reichshälften angegliedert, sondern erhielt des Status eines eigenen „Reichslandes“, das vom gemeinsamen österreichisch-ungarischen Finanzministerium verwaltet wurde. Die gleichzeitige Preisgabe der Gebietsansprüche auf den Sandzak von Novi Pazar verweist auf die geänderte Strategie, die nun offenkundig nicht mehr auf Expansion, sondern auf Besitzstandswahrung in dieser Krisenregion gerichtet war. Die formelle Annexion heizte jedoch den Widerstand panslawistisch eingestellter serbisch-nationaler Gruppierungen an, die schließlich am 28. Juni 1914 den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und dessen Gattin während ihres Besuchs in Sarajewo ermordeten. „Der militärischen Okkupation von Bosnien und der Herzegowina folgte die touristische und literarische Erschließung dieses interessanten Neulandes“9, heißt es knapp in der bekannten Deutsch-österreichischen Literaturgeschichte von Nagl, Zeidler und Castle, und in der Tat belegt eine beträchtliche Zahl von einschlägigen zeitgenössischen Publikationen ein vom Reiz der Binnenexotik motiviertes, vielfach auch touristisches Interesse am sogenannten „Okkupationsgebiet“. Die neu entstandenen, wie stets betont wurde, „westlichen Standards“ entsprechenden touristischen Einrichtungen10 wurden dabei, so ein zeitgenössischer Kommentar, als ein „schützendes Vordach“ präsentiert, „welches abendländische Cultur [...] für fremde Besucher aufgerichtet“11 habe; von diesem Refugium aus könne ein exotisches, orientalisch geprägtes Land gefahrlos besichtigt werden. Die Beschreibung des Landes als „orientalisch“ geprägt entspricht dabei dem Grundtenor westeuropäischer Imaginationen von der Balkan-Region, wie sie Maria Todorova in ihrer Studie Imagining the Balkans dargestellt und analysiert hat.12 Nach Ansicht der Autorin wurde der Terminus „Balkan“ genau zu jener Zeit, als die westlichen Großmächte sich anschickten, in dieser Region das geschwächte osmanische Reich zu beerben, als ein negativ konnotierter, abgrenzender Begriff konstruiert, dem ein positives Bild des „Westens“, beziehungsweise des „zivilisierten Europa“, gegenübergestellt wurde. Von einer ^ ^ 262 ursprünglich geographischen Bezeichnung für einen Gebirgszug, dann für eine ganze Großregion Europas, sei der Name „Balkan“ schließlich zum Synonym für unübersichtliche und barbarische Zustände geworden, was sich in der Bildung pejorativer Neologismen wie „Balkanisierung“ oder „balkanisch“ niederschlug.13 Geflissentlich übersehen wurde dabei der Umstand, dass das vermeintlich spezifisch „Balkanische“ des Balkan gerade eben aus der Übertragung westlicher politischer Ideale auf die Region resultierte, insbesondere aus der vermeintlich progressiven Überzeugung, dass ein Staat auf einer tragenden „Nation“ und diese auf einer einheitlichen „Nationalsprache“ beruhen müsse. Der als typisch „balkanisch“ imaginierte, die real vorhandene ethnisch-kulturelle Vielfalt verleugnende gewalttätige Kult der Differenz und der „ethnischen Reinheit“ erweist sich aus dieser Perspektive keineswegs als ein der Region autochthon innewohnendes Phänomen, vielmehr als Produkt eines von außen herangetragenen Ordnungsdenkens.14 Im Detail analysiert Todorova in ihrer Studie die diskursiven Strategien dieser „Erfindung“ des Balkans: Die Definition als „orientalisch“, damit als kulturell fremd, die Bewertung als von der zivilisatorischen Norm abweichend und deviant, rückständig und vergangenen Epochen einer kulturevolutionistisch15 verstandenen „Entwicklung“ der Menschheit angehörig, weiters die Punzierung als effeminiert, infantil und unmündig. Auch wenn diese Zuschreibungen im konkreten Detail nicht durchwegs negativ ausfallen müssen – insbesondere die kulturelle „Ursprünglichkeit“ kann in einem gleichsam antimodernen Reflex partiell auch positiv, zumindest aber als pittoresk und exotisch reizvoll aufgefasst werden – signalisieren sie jedenfalls ordnenden Handlungsbedarf von Außen. Gerade diese Programmatik einer homogenisierenden Überwindung historisch entstandener Differenz zum vermeintlich „höheren“ zivilisatorischen Niveau des westlichen Europa durch kulturelle Vereinheitlichung ist jedoch als essentiell „kolonialistisch“ zu definieren. Auch wenn der Terminus „Balkan“ in der ethnographischen Literatur der Habsburgermonarchie im allgemeinen nur als geographische Bezeichnung verwendet wird, lassen sich doch in den Beschreibungen Bosniens und der Herzegowina fast alle der von Todorova angeführten diskursiven Strategien nachweisen.16 Bevor im folgenden einige konkrete Belege dafür vorgebracht werden, muss jedoch kurz in allgemeiner Form auf die politische Funktion der ethnographischen Literatur in der Donaumonarchie eingegangen werden.17 Die Ursprünge der offiziell geförderten und schließlich auch institutionalisierten „volkskundlichen“ Forschung unterschieden sich im österreichischen Teil der Habsburgermonarchie (Cisleithanien) in charakteristischer Weise von den 263 gleichzeitigen Entwicklungen im Deutschen Reich und in anderen, national homogeneren Staaten. Während dort vor allem die Sprache als primäres Zugangsmedium zur Erforschung der sogenannten „Volkskultur“ aufgefasst wurde („Wörter und Sachen“) und mittels gewagter sprachhistorischer Analogieschlüsse und Extrapolationen vor allem ethnische „Kontinuitäten“ über Jahrhunderte hinweg konstruiert wurden, orientierte sich die offiziell geförderte Forschung in Österreich stärker an einem ethnographisch-humangeographischen Zugang, bei dem die „Volksstämme“ – so der gebräuchliche Terminus – als eine Art humanes „Rohmaterial“ imaginiert wurden, das über unterschiedlich beschaffene Landstriche gleichsam ausgestreut und von diesen, das heißt von den klimatischen Bedingungen und den dadurch geprägten Wirtschaftsformen, kulturell geformt wurde.18 Gemäß dieser Konzeption wurden die kulturellen Grenzen zwischen den einzelnen Volksstämmen als im Prinzip durchlässig aufgefasst, was sich in Schlüsselbegriffen wie „volksnachbarliche[r] Wechselseitigkeit“19 oder „Kulturverwandtschaften der österreichischen Völkerstämme“20 ausdrückte. Die Funktion des Staates wurde nicht als homogenisierend im sprachlich-nationalen Sinn aufgefasst, vielmehr wurde ihm die als „Bringschuld“ gegenüber den Volksstämmen dargestellte Aufgabe einer inhaltlich vage bleibenden „kulturellen Verbesserung“ (vorzugsweise auf die Infrastruktur und den Bereich der Bildungseinrichtungen bezogen) zugeordnet. Dieser (national)politisch bewusst neutral gestellte Kulturbegriff hat wenig mit dem in der damaligen deutschen Forschung gebräuchlichen Begriff zu tun, soweit er sich inhaltlich näher bestimmen lässt, wäre er eher allgemein mit „Zivilisierung“ zu übersetzen.21 Die Konzeption der in Wien etablierten zentralen ethnographischen Institutionen – Verein (1894), Zeitschrift (1895) und Museum für österreichische Volkskunde (1895) – entsprach den politischen Vorgaben; in programmatischer Weise sollten alle Nationalitäten der österreichischen Reichshälfte in diesen Institutionen gleichberechtigt behandelt und dargestellt werden. In den Reden und Aufsätzen anlässlich der Gründung dieser Institutionen beziehungsweise zu entsprechenden Jubiläen, wurde denn auch immer wieder auf deren politische Funktion verwiesen, die Völker „besser miteinander bekannt zu machen“ und so zur Überwindung nationaler Differenzen beizutragen.22 Diese Programmatik macht es auch verständlich, dass in den letzten Jahrzehnten der Habsburgermonarchie mehrere teilweise aufwendig gestaltete ethnographische Sammelwerke mit dezidiert populärem Anspruch publiziert wurden. Das bekannteste dieser Werke ist das von Kronprinz Rudolf initiierte, opulente opus magnum Die Oesterreich-ungarische Monarchie in Wort 264 und Bild, besser bekannt als Kronprinzenwerk.23 Dabei handelt es sich jedoch nur um das auffälligste und aufwendigste Beispiel populär gehaltener ethnographischer Literatur in der Habsburgermonarchie; als eine Art Vorläufer kann hier die vom Vorsitzenden der k.k. Geographischen Gesellschaft Friedrich Umlauft herausgegebene Monographienreihe Die Länder Oesterreich-Ungarns in Wort und Bild 24 erwähnt werden. Ähnlich geartet ist auch die, allerdings auf die pittoresken Illustrationen verzichtende, von Karl Prochaska herausgegebene Reihe Die Völker Österreich-Ungarns. Ethnographische und culturhistorische Schilderungen25. Kennzeichnend für diese an breitere Publikumsschichten gerichteten Darstellungen ist der essayistisch-lockere, dabei für den heutigen Leser ermüdend selbstgefällige Erzählstil, sowie die besondere Konzentration auf pittoreske und exotische Elemente; dies bleibt keineswegs auf die Darstellung von Gebieten wie Bosnien-Herzegowina beschränkt, sondern prägt auch die Sicht auf das „gemeine Volk“ in den übrigen, auch in den deutschsprachigen Gebieten der Monarchie. Die programmatisch verfochtene „Einheit in der Vielfalt“ erweist sich bei kritischer Lektüre freilich dennoch als fragile und brüchige Konstruktion, wurde doch gleichsam selbstverständlich eine kulturelle Hierarchie der einzelnen Völker der Monarchie vorausgesetzt, wodurch sich das Bestreben einer möglichst umfassenden Darstellung der ethnischkulturellen Vielfalt als Teil einer politischen Einheit permanent in widersprüchlicher Weise mit Tendenzen eines national-kulturellen Dominanzdenkens vermengte. Was jedoch gerade die ethnographischen Arbeiten über Bosnien und die Herzegowina in spezifischer Weise kennzeichnet, ist eine alle Texte prägende, aus der politischen Situation der Okkupation resultierende Argumentationsweise, die sich in der Tat als kolonialer Diskurs beschreiben lässt: Bosnien-Herzegowina wird als eine durch die Jahrhunderte asiatisch-minderwertiger Fremdherrschaft der Türken hinter dem vermeintlich allgemeinverbindlichen zivilisatorischen Standard „Europas“ (des „Westens“) zurückgebliebene Region präsentiert. Österreich-Ungarn kam demgemäss die Aufgabe zu, für „Cultur und Gesittung“26 zu sorgen, also einerseits die Bevölkerung zu „zivilisieren“ und ihre Lebenssituation ganz allgemein zu „verbessern“, andererseits das Land für Europa „zurückzugewinnen“. Territoriale Interessen des Staates wurden auf diese Weise als kulturelle Aufbauleistung für die Region, aber auch für Europa und die „Zivilisation“ bemäntelt. Dabei ist festzuhalten, dass die österreichische Verwaltung tatsächlich eine moderne Infrastruktur zu errichten begann, was im Laufe der Zeit auch von der ein- 265 heimischen Bevölkerung großteils positiv vermerkt wurde. Ebenso ist zuzugestehen, dass die Schilderungen der zahlreichen Mängel im Bereich der aus osmanischer Zeit vorgefundenen Infrastruktur auf rein deskriptiver Ebene durchaus der Wahrheit entsprochen haben dürften, entscheidend ist jedoch deren durchgängige, gleichsam leitmotivische Wiederholung und ihre Verknüpfung zu einem normativen Argumentationszusammenhang, der ordnenden Handlungsbedarf signalisiert.27 Der Geograph Friedrich Umlauft fügte seinem erstmalig 1876, also vor der Okkupation erschienenen, an die „Leser aller Stände“ gerichteten Geographisch statistischen Handbuch der österreichisch-ungarischen Monarchie für die zweite Auflage einen eigenen Teil über das „Occupationsgebiet“ an, der sich in der Hauptsache auf die Auflistung jener statistischen Daten beschränkte, die in der von der neuen Verwaltungsmacht durchgeführten Volkszählung vom 16. Juni 1879 ermittelt worden waren (Volkszählungen und deren klassifizierende und taxierende Auswertung gehören zu den typischen Maßnahmen kolonialistischer Ordnungspolitik). Allerdings vermerkt der Autor ausdrücklich die rückständige Infra- und Wirtschaftsstruktur und betont, dass sich das Land „infolge der türkischen Verwaltung in trauriger Verkommenheit [befindet]. Die meisten der schönen und fruchtbaren Thäler liegen wüst, der größte Theil des Bodens ist unangebaut.“28 In der von Umlauft in den 1880er Jahren herausgegebenen Monographienreihe Die Länder Oesterreich-Ungarns in Wort und Bild ist Bosnien-Herzegowina bereits ein eigener Band gewidmet. Als Verfasser gewann Umlauft den aus einer angesehenen Wiener Gelehrtenfamilie stammenden, später an der Wiener Universität zum Professor für Prähistorische Archäologie ernannten Moritz Hoernes (1852–1917). Dessen Interesse an Bosnien-Herzegowina war durch die Teilnahme am Okkupationsfeldzug geweckt worden, in der Folge unternahm Hoernes mehrere Studienreisen in die Region, die er in Form von Reiseberichten und schließlich in zahlreichen Einzelstudien in den von ihm gegründeten Mitteilungen aus Bosnien und der Herzegowina veröffentlichte. Gleich in der Einleitung seiner 1889 veröffentlichten Studie hebt Hoernes den „orientalische[n] Culturcharakter“29 des Landes hervor, der aus der langen Beherrschung durch die Türken resultiere. So wird man kaum der Anschauung beipflichten, welche in den Jahrhunderten der Türkenherrschaft auf europäischem Boden ausschließlich einen großen Gedankenstrich in der Entwicklung der Völker erblickt. Unsere Betrachtung dieses auch für Bosnien nun abgeschlossenen Zeitraumes stand aber unter dem Einfluß der fortwährenden Kriege mit dem asiatischen Culturelement, welches in seinem Vor- 266 dringen wie in seinem Zurücksinken allerdings namenloses Wehe über den Südosten unseres Erdtheils gebracht hat. Auch während jene Vermischung slavischer und türkischer Eigenart, als deren interessantes Product sich heute die serbischen Mohammedaner Bosniens darstellen, vor sich gieng, war das Land [...] ein Herd fortwährender feindseliger Ausbrüche gegen die christlichen Nachbarländer.30 Während Hoernes es bei diesen allgemeinen Feststellungen belässt, konzentriert sich das Bosnien-Kapitel im die Serben thematisierenden Band der Reihe Die Völker Österreich-Ungarns beinahe ausschließlich auf die Zeit der türkischen Herrschaft, die in schwärzesten Farben ausgemalt wird: Es habe sich um eine „Schreckensherrschaft“31 gehandelt, in der „es weder Recht noch Gesetz gab, [...] [da] Willkür und Grausamkeit, Raub und Plünderung überall dort auf der Tagesordnung standen, wo der krumme Janitscharensäbel als oberstes und heiligstes Gesetz galt.“32 „Es waren das furchtbare Zustände, welche einer jeden Beschreibung spotten, Zustände, die zu einer förmlichen Verödung und Entvölkerung des Landes führten.“33 Der Autor, der einem ursprünglich in der Batschka beheimateten Adelsgeschlecht entstammende Publizist und zeitweilige Zeitungsherausgeber Theodor Ritter von StefanoviæVilovsky, entwickelt das Szenario eines besetzten und durch die „Fremdherrschaft“ orientalisierten christlichen Landes, in dem nun durch die Habsburgermonarchie gleichsam die legitimen Verhältnisse wiederhergestellt würden. Dies entspräche vollkommen dem Willen der ansässigen (christlichen) Bevölkerung, die sich immer wieder gegen die „Besatzer“ erhoben und wiederholt Österreich als christliche Schutzmacht um Hilfe gebeten hätte.34 Der vor allem aus Generationen zurückliegenden Konversionen zum Islam hervorgegangene moslemische Bevölkerungsanteil wird von Stefanoviæ-Vilovsky weniger als soziokulturelle Realität, denn als Produkt „furchtbare[r] Apostasie, welche ein ewiger Schandfleck für das Land bleiben wird“35 gebrandmarkt. Während Stefanoviæ-Vilovsky mit vermeintlichen historischen Rechten auf konfessioneller Basis argumentiert, wählt Hoernes für seine Apologie der österreichisch-ungarischen Machtübernahme in Bosnien-Herzegowina einen gegenwartsbezogenen, dabei genuin kolonialistischen Zugang. Wer ehedem in Bosnien geherrscht, ist für die Folge rechtlich gleichgiltig. Herrschen wird in Zukunft, wer die im Lande und im Volke schlummernden Kräfte am besten entwickelt und ihren Trägern Frieden, Wohlstand und Gedeihen für die Dauer verbürgen kann. Das hat weder der autonome mittelalterliche noch der neuzeitlich türkische Staat vermocht. Wohl aber verspricht die Administration Österreich-Ungarns nach den in zehnjähriger Herrschaft abgelegten Proben dieser Aufgabe in jeder Hinsicht gerecht zu werden.36 267 In dieser Dekade unter österreichisch-ungarischer Herrschaft, die Hoernes bereits als die dritte Epoche der bosnischen Geschichte verstanden wissen will, „haben die Bosniaken an hundert schwerwiegenden Neuerungen und tausend kleinen Zügen die Superiorität der abendländischen Civilisation aus nächster Nähe kennengelernt.“37 Diese „Superiorität“ gegenüber den in der Region vorherrschenden „primitive[n] Culturzuständen“38 wird durch typisch kolonialistische Argumentationsstrategien untermauert, die die einheimische Bevölkerung zuerst als fremdartig und rückständig, im weiteren als passiv und unproduktiv und schlussendlich als infantil und unmündig darstellen. So ordnet Hoernes die kulturellen Verhältnisse Bosnien-Herzegowinas auf der evolutionär verstandenen Skala kulturellen „Fortschritts“, „dem Mittelalter und noch älteren Zeiträumen“39 zu, die Bosniaken seien ein Glied jener „europäischen Völkergruppe, [welche] durch eigenthümliche Umstände in der Entwicklung zurückgehalten, uns theilweise noch einen lebendigen Einblick in das Leben und Treiben längst entschwundener Epochen gestattet“40. Genau entsprechend wird auch im Bosnien-Band des Kronprinzenwerks argumentiert. In dem vom kroatischen Ethnographen und späteren Direktor des Bosnischen Landesmuseums in Sarajewo, Æiro Truhelka (1865–1942) verfassten Artikel über das Volksleben heißt es etwa: Jahrhunderte hindurch lebte das Volk Bosniens und der Hercegovina im Sinne altererbter Traditionen, welche weder staatliche Einrichtungen, noch eingetretene Culturströmungen besonders tangirten. [...] So kam es, daß das Volk in einzelnen abgelegenen Gegenden bis vor Kurzem genau so lebte und dachte, wie es vor fünf oder sechs Jahrhunderten gelebt und gedacht hatte. Gewisse ursprüngliche Äußerungen der Volksseele konnten sich auf diese Weise in fast ungetrübter Form bis zur Gegenwart erhalten, und der Ethnograph, der die Südslaven studiren will, kann sich kein besseres Forschungsgebiet wünschen, als es sich ihm in Bosnien und der Hercegovina darbietet. Das Volksleben tritt hier allenthalben in reinster Urwüchsigkeit zur Schau.41 Auch in Richard Thurnwalds42 (1869–1954) Text über Gewerbe und Handel wird hervorgehoben, dass sich in Bosnien-Herzegowina „die ältesten gewerblichen Productionsformen infolge jahrhundertelanger Abgeschlossenheit von den culturellen und wirthschaftlichen Bestrebungen des Westens bis auf den heutigen Tag [...] unverändert erhalten haben.“43 Eine derartige Argumentation enthält ansatzweise durchaus auch Elemente einer idealisierenden Entrückung des „Anderen“ in einen „gesunden“, „urwüchsigen“ Zustand44, der aber zugleich als in zivilisatorischer Hinsicht defizitär bewertet wird. Die den 268 Bosniaken zugeschriebene mangelnde soziokulturelle Kontrolle der Emotionen äußert sich nämlich nicht nur in der, wie hervorgehoben wird, überschäumenden Phantasie in Volkskunst und -poesie, sondern auch in „Sitten und Gebräuche[n], welche häufig gewaltthätig und mit den Anforderungen eines modernen Rechtsstaates unvereinbar sind.“45 Die Charakterisierung als „rückständig“, die zugleich eine Inklusion und eine Exklusion darstellt, kennzeichnet eine Strategie der Delegitimierung des Fremden und mündet direkt in das Postulat ordnenden Handlungsbedarf im Sinne der Überwindung historisch entstandener Differenz. Aufgabe der österreichisch-ungarischen Verwaltung sei, so Hoernes, die „materielle[n] und geistige[n] Hebung der beiden Provincen aus dumpfer Barbarei,“46 es gelte das Okkupationsgebiet „aus Nacht und Verwilderung empor[zuziehen].“47 In kennzeichnender Weise wird das Programm homogenisierender Aufhebung von Differenz auch auf die inneren Verhältnisse des Landes bezogen. Die Bevölkerung sei zwar „durch Kräfte der Natur und Cultur [...] merkwürdig zerspalten[e]“, aber eigentlich „doch im Grunde einheitlich[e]“48, es sei eine Folge der Jahrhunderte türkischer Herrschaft, „daß die Bevölkerung Bosniens und der Hercegovina ein so wenig einheitliches Bild gewährt, [...] daß sie ihrer Zusammengehörigkeit so völlig vergessen konnte.“49 Das Band der Nationalität, welches die überwiegende Masse der eingeborenen Bewohner Bosniens und der Hercegovina einigt und sie in unseren Augen als ein Glied der serbo-kroatischen Gruppe [!] der südlichen Slaven darstellt, wird von den Trägern selbst nicht empfunden. Sie sind culturell noch nicht genügend vorgeschritten, um sich der Sprache wegen [...] als ein besonderes Ganzes, als ein Volk zu fühlen. Die Stelle der Sprache als einigendes Band, aber auch als trennende Schranke, vertritt die Confession.50 Die Wortwahl – „vergessen“, „culturell noch nicht genügend vorgeschritten“ – kennzeichnet dabei die beiden Pole von gleichzeitiger Inklusion und Exklusion; zugleich bestätigt diese Argumentation Maria Todorovas Behauptung, dass die Einschätzung des Balkans als einer Region der chaotischen Unübersichtlichkeit einer befangenen, spezifisch „westlichen“ Optik entspringt, die die national homogenisierte politische Formation als progressives Ideal postuliert und alle Abweichungen davon als rückständig bewertet. Darüber hinaus bietet diese argumentative Strategie ein weiteres Beispiel dafür, wie deskriptive Beschreibungen unvermittelt in normative Urteile übergehen; der Befund, dass die „Ansätze zu konfessionsübergreifender bosniakischer Nationalisierung in den Jahrzehnten vor und nach 1878 [...] vergleichsweise 269 schwach“51 waren, wird nämlich durchaus auch von der neueren Forschung untermauert. Zu den typischen Charaktereigenschaften der bosnischen Bevölkerung gehört nach Ansicht der ethnographischen Autoren überdies auch deren mangelnde Fähigkeit zu produktivem Wirtschaften, was auf eine aus der langjährigen türkischen „Unterdrückung“ resultierende spezifische „Apathie“ zurückgeführt wird, durch die, so Hoernes, die positiven, den „Naturkräften des Bodens“ gleichenden „Geisteskräfte“ der Bevölkerung52 gelähmt worden seien. Genau entsprechend heißt es auch bei Truhelka: Wäre das Volk in der Lage gewesen, neben [den] passiven psychischen Eigenschaften auch die activen, namentlich die Energie, zur gleichen Vollendung zu bringen, es hätte gewiß eine unvergleichlich höhere Culturstufe erreicht als jene war, auf welcher es die Occupation von 1878 vorfand. Diese Energie wurde aber durch vier Jahrhunderte gebeugt, das Volk [...], von Natur aus sanftmüthig, vom Schicksale bedrückt, wurde [...] langmüthig.53 In analoger Weise behauptet auch Stefanoviæ-Vilovsky, es sei „kein Wunder, wenn dieses unglückliche Volk [...] förmlich abgestumpft, in gänzliche Apathie verfiel.“54 Gerade in dieser Hinsicht würden sich jedoch bereits die segensreichen Auswirkungen der österreichischen Verwaltung zeigen, wie Hoernes mit Befriedigung konstatiert: „Aus diesem lethargischen oder an Lethargie grenzenden Zustand ist Bosnien gegenwärtig emporgerüttelt“55, und auch Truhelka merkt an: Den „Arbeitstrieb erweckt zu haben, ist ein nicht genug hoch zu schätzendes Verdienst der Occupation.“56 In der produktiven Nutzbarmachung der unter türkischer Herrschaft angeblich vernachlässigten Ressourcen des Landes liegt nach Ansicht der Autoren letztendlich die primäre Rechtfertigung der Okkupation, wobei diese Argumentation auch auf die geistigen Ressourcen ausgedehnt wird. Der tatsächlich intensiv vorangetriebene Ausbau der schulischen Infrastruktur wird denn auch von allen Autoren mit besonderer Emphase hervorgehoben.57 „Alles, was seit 1878 durch Österreich-Ungarn im Lande und für das Land geschehen,“ so Hoernes Resümee, „ist eigentlich eine Schule für das Volk [...] und kann [...] gar nicht hoch genug veranschlagt werden.“58 Mit dieser Betonung der erzieherischen Kulturmission Österreich-Ungarns gegenüber der auf das Niveau von Schulkindern herabgestuften einheimischen Bevölkerung, ist letztlich auch die Infantilisierung59 und diskursive Entmündigung der als „Eingeborene“60 bezeichneten Bewohner des Landes postuliert. Hoernes untermauert diese Sicht mit der Schilderung des offenkundig grenzenlosen Stau- 270 nens, mit dem die Einheimischen vor derartigen technischen Wunderwerken wie den Kriegerdenkmälern der k.u.k. Armee und den „soliden Baracken der ersten stabilen Garnisonen“61 gestanden seien. In Beschreibungen wie diesen ist der kolonialistische Gestus auch ohne theoretische Reflexion nachgerade mit Händen zu greifen. Anmerkungen 1 Moritz HOERNES, Bosnien und die Hercegovina, Wien 1889 (Die Länder Oesterreich-Ungarns in Wort und Bild), S. 8. 2 Vgl. Bill ASHCROFT, Gareth GRIFFITHS, Helen TIFFIN (Hg.), Post-Colonial Studies. The Key Concepts, London–New York 2000. 3 Vgl. Wolfgang MÜLLER-FUNK, Peter PLENER, Clemens RUTHNER (Hg.), Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie, Tübingen–Basel 2002; vgl. auch: Walter SAUER, k.u.k. Kolonial. Habsburgermonarchie und europäische Herrschaft in Afrika, Wien– Köln–Weimar 2002. 4 Vgl. Joseph von EÖTVÖS, Die Garantien der Macht und Einheit Oesterreichs, Leipzig 21859, insbesondere S. 10 f. 5 Dieser Terminus wurde bei der diesem Sammelband zugrunde liegenden Konferenz von Stefan Simonek (Wien) vorgeschlagen. 6 Konrad CLEWING, Bosnien und die Herzegowina, in: Harald ROTH (Hg.), Studienhandbuch Östliches Europa 1: Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas, Köln–Weimar–Wien 1999, S. 126. 7 In einem bilateralen Abkommen zwischen Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich im Jahr 1879 wurde der Sandzak von Novi Pazar in zwei Einflusszonen geteilt. 8 Vgl. Friedrich BISCHOFF, Die Bauthätigkeit in Bosnien und der Herzegowina vom Beginne der Occupation durch die österr. ungar. Monarchie bis in das Jahr 1887, Wien 1888. 9 Johann Willibald NAGL, Jakob ZEIDLER, Eduard CASTLE, Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Dichtung in Österreich-Ungarn, 4. Band: Von 1890 bis 1918, Wien 1937, S. 1478. 10 Auch in der ethnographischen Literatur wird immer wieder und mit auffallendem Nachdruck darauf hingewiesen, dass als Folge der österreichischen Okkupation zahlreiche moderne Hotels nach westlichem Standard entstanden seien. Dies lässt darauf schließen, dass die ökonomische Situation BosnienHerzegovinas durch seine Erschließung für den Tourismus angekurbelt werden sollte. „Während die zwei Decennien Abendland in Sarajevo sofort moderne Hotels und Hunderte von Gasthäusern hervorzauberten, brauchte die türkische Zeit nichts davon.“ Milena PREINDLSBERGER-MRAZOVIÆ, Landschaftliche Schilderung, in: Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Bosnien und Hercegovina, Wien 1901, S. 39–152, hier S. 50. Bemerkens^ 271 11 12 13 14 15 16 17 18 wert ist in diesem Zusammenhang der Umstand, dass die in Sarajewo lebende Journalistin, Schriftstellerin und langjährige Herausgeberin der deutschsprachigen Sarajewoer Tageszeitung Bosnische Post (1886–1896), Milena Preindlsberger von Preindlsberg, geb. Mrazoviæ (1863–1927), in diesem Zusammenhang zu einer Apologie der osmanischen Kultur greift: „Die orientalische Gastfreundschaft bedarf keiner Wirthshäuser.“ S. 51. Auch bei der Schilderung der Therme von Ilidze betont Preindlsberger: „Der Europäer braucht hier, wo noch vor zwei Decennien das Röhricht in den Schwefelwassertümpeln wucherte, auf keine seiner verfeinerten Lebensgewohnheiten zu verzichten.“ S. 58. Analog heißt es in: Richard THURNWALD, Gewerbe und Handel, in: Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Bosnien und Hercegovina, Wien 1901, S. 506 f.: „Die ins Land kommenden Touristen sind überrascht von der vorzüglichen Unterkunft in den ärarischen Hotels“ (vgl. ebenda auch die Ausführungen über die positiven Auswirkungen der touristischen Erschließung für das Land). Ähnliche Aussagen auch bei Moritz Hoernes. Vgl. weiters: Leopold SEILER (Hg.), Hotel-Adressenbuch von Österreich-Ungarn, Bosnien und der Herzegowina, Wien 1897. HOERNES, Bosnien, S. 5. Maria TODOROVA, Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil, Darmstadt 1999, hier z.B. S. 30. Vgl. dazu mit Bezug zur Gegenwart: Dušan I. BJELIÆ, Obrad SAVIÆ (Eds.), Balkan as Metaphor. Between Globalization and Fragmentation, Cambridge/ Mass. 2002. Vgl. dazu weiters: Mark MAZOWER, Der Balkan, Berlin 2002. Unter Kulturevolutionismus wird eine Auffassung verstanden, die von einem einheitlichen und allgemeinmenschlichen Muster soziokultureller Entwicklung ausgeht, und die es daher erlaubt, Kulturen entweder als entwickelter oder als weniger entwickelt in Bezug auf einen allgemein verbindlichen Maßstab zu definieren. Zum Zusammenhang von Ethnographie und Kolonialismus vgl. u. a.: Talal ASAD, Afterword: From the History of Colonial Anthropology to the Anthropology of Western Hegemony, in: George W. STOCKING (Ed.), Colonial Situations. Essays on the Contextualization of Ethnographic Knowledge, Madison/Wisconsin 1991 (History of Anthropology 7), S. 314–324. Vgl. dazu: Peter STACHEL, Die Harmonisierung national-politischer Gegensätze und die Anfänge der Ethnographie in Österreich, in: Karl ACHAM (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften 4: Geschichte und fremde Kulturen, Wien 2002, S. 323–367. Zur Geschichte der ethnographischen Forschung in der Habsburgermonarchie vgl. auch die bisher erschienenen drei Bände der Publikationsreihe Ethnologica Austriaca (hg. v. Justin STAGL), Wien– Köln–Weimar 1995–2002. Damit ist nicht behauptet, dass es in der Habsburgermonarchie keine national orientierten, genuin volkskundlichen Bestrebungen gegeben hätte; diese konnten jedoch aus nachvollziehbaren politischen Gründen kaum mit offizieller staatlicher Unterstützung rechnen. 272 19 Josef Alexander von HELFERT, Volksnachbarliche Wechselseitigkeit. Eine Anregung, in: Zeitschrift für österreichische Volkskunde. Organ des Vereins für österreichische Volkskunde in Wien 2 (1896), S. 5. 20 Michael HABERLANDT, Die nationale Kultur der österreichischen Völkerstämme, Wien 1917 (Österreichische Bücherei. Eine Sammlung aufklärerischer Schriften über Österreich 2), S. 14 (Kapitelüberschrift). 21 Florian Oberhuber hat vorgeschlagen, diesen politisch neutralisierten Kulturbegriff als funktionales Äquivalent zum älteren „Reichsbegriff“ aufzufassen. Vgl. Florian OBERHUBER, Reich und Kultur. Zum neu-josephinischen Kulturbegriff 1848–1918, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 13, 2 (2002), S. 9–33. 22 Ein wichtiges, hier nicht näher zu erläuterndes Medium der Präsentation der ethnischen Vielfalt waren auch – nicht nur in Österreich – die sogenannten „ethnographischen Dörfer“ im Rahmen von Welt- und Landesausstellungen. Vgl. Martin WÖRNER, Vergnügung und Belehrung. Volkskultur auf den Weltausstellungen 1851–1900, München–Berlin 1999. 23 Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, 24 Bde., Wien 1885– 1902. Parallel zur deutschsprachigen Version erschien – entsprechend der dualistischen Staatsform – auch eine eigene ungarische Ausgabe. Das Werk wurde übrigens nicht in geschlossenen Bänden, sondern in Einzellieferungen veröffentlicht. 24 Friedrich UMLAUFT (Hg.), Die Länder Österreich-Ungarns in Wort und Bild, 15 Bde., Wien 1881–1889. 25 Karl PROCHASKA (Hg.), Die Völker Österreich-Ungarns. Ethnographische und culturhistorische Schilderungen, 12 Bde., Wien–Teschen 1881–1885. Als weitere, allerdings vor 1878 veröffentlichte einschlägige Publikationen vgl. Ludwig Ritter von HEUFLER, Österreich. Ein geographischer Versuch, Wien 1854; vgl. Carl von CZOERNIG, Ethnographie der österreichischen Monarchie, 3 Bde., Wien 1855–1857; vgl. Adolf FICKER, Die Volksstämme der österreichisch-ungarischen Monarchie, Wien 1869. 26 HOERNES, Bosnien, S. 72. 27 Wenig überraschend ist der Umstand, dass die militärische Seite der Okkupation und der langanhaltende bewaffnete Widerstand von Teilen der bosnischen Bevölkerung in den ethnographischen Studien allenfalls ganz am Rande angedeutet wird. Hoernes erwähnt beiläufig die Existenz „schlichte[r] Denkmäler, welche das dankbare Vaterland seinen im Kampfe für Cultur und Gesittung gefallenen Kriegern errichtete“; HOERNES, Bosnien, S. 72. Im Kronprinzenwerk wird ebenso beiläufig im Rahmen der Schilderung des Marktes von Sarajewo erläutert, dass „noch im Jahre 1878 [...] das Schließen der Läden das Zeichen zum Aufruhr“ war; PREINDLSBERGER-MRAZOVIÆ, Landschaftliche Schilderung, S. 54. 28 Fried[rich] UMLAUFT, Anhang. Das Occupations-Gebiet: Bosnien und die Hercegovina, in: DERS., Die Österreichisch-Ungarische Monarchie. Geographischstatistisches Handbuch mit besonderer Berücksichtigung auf politische „Culturgeschichte“, für Leser aller Stände, Wien–Pest–Leipzig 1883, S. 927–932, hier S. 929. 273 29 HOERNES, Bosnien, S. 6. 30 Ebenda, S. 38. 31 Theodor Ritter von STEFANOVIÆ VILOVSKY, Die Serben im südlichen Ungarn, in Dalmatien, Bosnien und der Herzegovina, Wien–Teschen 1884 (Die Völker Österreich-Ungarns. Ethnographische und culturhistorische Schilderungen 11), S. 105. 32 Ebenda, S. 102. 33 Ebenda, S. 105. 34 Als Dokument der Ermächtigung zur österreichisch-ungarischen Machtübernahme in Bosnien-Herzegowina präsentiert der Autor ein von Vertretern der bosnischen Christen verfasstes dubioses Memorandum, gerichtet an die europäischen, christlichen, die Pariser Verträge garantierenden Großmächte, über die Leiden der Christen in Bosnien, überreicht am 12. und 13. August 1873, Sr. Majestät dem Kaiser von Österreich und den Vertretern der übrigen europäischen Großmächte, das er über mehrere Druckseiten im Wortlaut wiedergibt. Vgl. STEFANOVIÆ VILOVSKY, Die Serben, S. 115–121. 35 Ebenda, S. 100. 36 HOERNES, Bosnien, S. 9 f. 37 Ebenda, S. 72. 38 Ebenda, S. 58. 39 Ebenda, S. 113. 40 Ebenda. Zur Strategie der ethnologischen Taxierung fremder Kulturen als einer älteren historischen Epoche angehörig, vgl.: Johannes FABIAN, Time and the Other. How Anthropology Makes its Object, New York 1983. 41 Æiro TRUHELKA, Volksleben, in: Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Bosnien und Hercegovina, Wien 1901, S. 290–371, hier S. 290. 42 Vgl. Marion MELK-KOCH, Auf der Suche nach der menschlichen Gesellschaft. Richard Thurnwald, Berlin 1989. 43 THURNWALD, Gewerbe, S. 487. 44 So wird von Hoernes z. B. die hohe Geburtenrate in Bosnien in logisch fragwürdiger Weise mit der „Leichtigkeit Kinder bis zu einem gewissen Alter aufzuziehen und vor den Schädlichkeiten, welche in Ländern mit großen Städten unter den Kindern Verheerungen anrichten, zu bewahren“, in Verbindung gebracht. HOERNES, Bosnien, S. 58. 45 Ebenda, S. 110. 46 Ebenda, S. 74. 47 Ebenda. 48 Ebenda, S. 105. 49 Ebenda, S. 107 f. 50 Ebenda, S. 106. Dieser Befund wird übrigens auch durch die Vermessungen und Taxierung der Physis der Bevölkerung argumentativ gestützt, als deren „Befund“ behauptet wird: „Die Bevölkerung Bosniens und der Hercegovina bildet wohl seit langem, sowohl in ethnischer als geschichtlicher Beziehung ein einheitliches Volk, doch ist dieselbe seit Jahrhunderten bereits confessionell in Gruppen geschieden.“ Leopold GLÜCK, Physische Beschaffenheit der ein- 274 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 heimischen Bevölkerung, in: Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Bosnien und Hercegovina, Wien 1901, S. 277–289, hier S. 284. CLEWING, Bosnien, S. 128. Vgl. HOERNES, Bosnien, S. 74. TRUHELKA, Volksleben, S. 291. STEFANOVIÆ VILOVSKY, Die Serben, S. 106. HOERNES, Bosnien, S. 70. TRUHELKA, Volksleben, S. 291. Vgl. HOERNES, Bosnien, insbesondere S. 72–75; TRUHELKA, Volksleben, S. 290. HOERNES, Bosnien, S. 72. Die, nach Todorova, gleichfalls typische Strategie der Effeminierung – wobei der Balkan als Ausläufer des weiblich konnotierten Orients betrachtet wird – ist in den zitierten ethnographischen Schriften weniger stark ausgeprägt. Als ein Beispiel für die Verbindlichkeit dieser Argumentationsfigur sei aber auf eine anlässlich der Annexion Bosnien-Herzegowinas (1908) veröffentlichte französische Karikatur verwiesen, auf der Kaiser Franz Joseph als greiser Galan mit den beiden Mädchen Bosnien und Herzegowina auf seinen Knien sitzend dargestellt wird. Der Text dazu lautet vieldeutig: „Encore des conquêtes à mon âge“ – „In meinem Alter noch Eroberungen“. Vgl. HOERNES, Bosnien, S. 8. Ebenda, Bosnien, S. 72. 275 Zur Konstruktion bürgerlicher imperialer Identität. Gustav Ratzenhofers Vorträge zur Okkupation Bosniens und der Herzegowina Florian Oberhuber Vor seiner Abreise aus Sarajewo, wo er im Zuge des Okkupationsfeldzuges von 1878 zu Verwaltungstätigkeiten eingesetzt war, schrieb Hauptmann Gustav Ratzenhofer an seine Frau nach Wien: „In meinem Gemüt stieg die erhabene Mission unseres Staates empor diesem herrlichen Land den Frieden und die Blüte zu geben, die es verdient. Ich sah es gleichsam voraus, wie es werden müsse und das Fremdartige verschwand. Es heimelte mich an. Ich war gerührt und fühlte leis von hier scheiden zu müssen.“1 Für das Studium einer gesamtstaatstreuen, also nicht-nationalen, „österreichischen“ Identität ist der Diskurs um Bosnien und die Herzegowina besonders aufschlussreich. Jene Eliten, welche die Okkupation trugen und legitimierten, taten dies mit einem bestimmten Konzept des „Wesens“ und der Aufgabe des Habsburgerreichs, wobei sicherlich geopolitische Überlegungen im Zentrum standen, darüber hinaus aber auch ein gewisses Bild der okkupierten Territorien und ihres kulturellen Verhältnisses zu ÖsterreichUngarn entwickelt wurde. Die juristische Konstruktion des Mandats zur Okkupation sowie dessen militärische Durchführung waren eine Sache, die Integration der neuen Länder in den imaginierten Reichskörper eine andere. Identität wird hier im Sinne Jan Assmanns als Reflexionskategorie verstanden. Es geht also nicht um eine Menge gleicher Eigenschaften einer Bevölkerung oder andere Qualitäten, die von außen ermittelt werden könnten, sondern um die Selbstinterpretation eines Kollektivs von innen: reflexiv gewordene Zugehörigkeit. Identität in diesem Sinn ist gerade nicht das objektiv mit anderen geteilte, das Selbstverständliche, sondern die aufgrund der Erfahrung von Differenz ins Bewusstsein gehobene Besonderheit.2 Eine kollektive Identität annehmen heißt dann, zu lernen, in bestimmter und kohärenter Weise Wir zu sagen und zu fühlen: sich mit Aussagen, Symbolen, Narrativen zu identifizieren. Für den Wissenschafter zugänglich wird Identität in 277 diesem Sinn unter anderem als diskursive Formation. Im folgenden möchte ich eine Reihe von Texten Gustav Ratzenhofers unter diesem Gesichtspunkt der Identitätskonstruktion im Detail untersuchen. Gesamtstaatstreue Positionen Gustav Ratzenhofer, geboren am 4. Juli 1842, war das erste Kind des Uhrmachermeisters Johann Ratzenhofer, der seit 1838 das Wiener Bürgerrecht besaß und ein florierendes Geschäft in der Habsburgergasse führte. Nach der Volksschule besuchte er zwei Jahre lang die St. Anna-Realschule, um dann eine Lehre als Uhrmacher zu beginnen. Der Tod des Vaters am 5. Oktober 1859 zerstörte die Karrierepläne des jungen Mannes. Nachdem das Uhrmachergeschäft aufgrund hoher Schulden verkauft werden musste, rückte Gustav am 22. Oktober des Jahres freiwillig als Kadett-Gemeiner zur Armee ein. Er diente sich in den folgenden Jahren zum Oberleutnant hoch und erreichte im Jahr 1868 die Aufnahme in die Wiener Kriegsschule. Nach deren Abschluss dem Generalstab zugeteilt, begann sich Ratzenhofer als Militärschriftsteller einen Namen zu machen. Im kriegsgeschichtlichen Büro war er seit Oktober 1874 Mitarbeiter am Generalstabswerk zu den Feldzügen des Prinzen Eugen von Savoyen. Nachdem er 1878 für drei Monate in Bosnien eingesetzt gewesen war, übernahm er hier auch die Darstellung eines Teils des Okkupationsfeldzuges.3 Im Kontext dieser Arbeiten verfasste Ratzenhofer drei Vorträge, die im Zentrum der folgenden Untersuchung stehen sollen. Er hatte die Vorträge am 16. Dezember 1878 und am 13. Jänner 1879 im Wiener Wissenschaftlichen Club sowie am 14. Februar 1879 im dortigen Militär-wissenschaftlichen Verein gehalten.4 Das Interesse an diesen Texten gilt nicht ihrer etwaigen Tiefe oder Originalität. Vielmehr ist es gerade ihre Konventionalität, die sie hier zu einem interessanten Gegenstand machen: Als Versammlung einer großen Zahl von idées reçues können sie eine gewisse Repräsentativität beanspruchen. Repräsentativ wofür? Ratzenhofer kann für einen bestimmten, gesamtstaatspatriotischen Diskurs stehen, der mit den Adjektiven fortschrittlich, bürgerlich, deutsch beschrieben werden könnte. Es handelte sich hier um eine Stimme unter vielen, denn ein politischer Grundkonsens und mithin eine unumstrittene Identität fehlte bekanntlich in der franzisko-josephinischen Ära.5 Die Monarchie zerfiel alsbald nicht nur in einen ungarischen und einen „österreichischen“ (cisleithanischen) Teil, sondern sie war ein po- 278 lyzentrisches Gebilde, in dem neben dem Kampf der Nationalitäten um den Staat auch eine Reihe miteinander kaum vereinbarer Gesamtstaatskonzepte – großösterreichische, deutsch-imperiale, pluriethnisch-föderalistische und so weiter – existierten. Ratzenhofers Position in dieser Auseinandersetzung erhellt sich am besten aus der Gegenüberstellung mit der offiziellen Integrationsideologie und der in Franz Joseph personifizierten, dynastischen Reichsidee. Diese könnte kurz als Bewahrung der im großen Titel repräsentierten Pluralität der Herrschaften beschrieben werden, „ein geräumiges Wohnhaus für die Stämme verschiedener Zunge“, wie im Patent anlässlich der Thronbesteigung von Kaiser Franz Joseph formuliert worden war.6 Alle „Lande und Stämme de Monarchie“ sollten – durch ein „einigendes Band“, so der gerne gewählt Ausdruck – zu „einem großen Staatskörper“ vereinigt werden.7 Das Reich se eine „Völkerfamilie“ mit ihrem kaiserlichen „Familienvater“, ein „Mosaikbild“, in dem jedes Teilchen an seiner Stelle zur Schönheit des Ganzen beitrage.8 Anlässlich des sechzigsten Regierungsjubiläums des Kaisers wurde diese Reichsidee noch einmal in einem großen Festzug repräsentiert: In chronologischer Folge zog in historischen Kostümen die Geschichte des Hauses Habsburg über den Ring. Es folgten in einem zweiten Teil 8.000 Vertreter der „Völker“, die als Trachtengruppen in der Reihenfolge der Länder im Kaisertitel auftraten und in ihrer jeweiligen Muttersprache dem Monarchen huldigten (wobei Ungarn, Tschechen und Italiener allerdings aus Protest ferngeblieben waren). Für Ratzenhofer war diese dynastische Reichsidee nicht mehr zeitgemäß. Er gehörte zu jenen Patrioten, die seit 1848 argumentiert hatten, dass die Legitimität des Reichs und dessen staatsrechtliche Form auf einem anderen, modernen Fundament neu begründet werden müsse.9 Im Kontext der Herausforderung des Gesamtstaats durch politische Nationalbewegungen identifizierten sich diese Eliten mit einer übernationalen Idee. Am Bürgerlichen orientiert, hatten sie eine Vorstellung vom Reich, die mit jenen der traditionellen Mächte – Dynastie, Kirche, Adel – auseinander fiel. Die ideologischen Vorzeichen dieser Position mochten unterschiedliche sein. Das Spektrum reichte, um es zuzuspitzen, von den Sozialdemokraten des Brünner Parteitages bis zu Kronprinz Rudolf und seinem Kreis: beide Erben der liberalen Bewegung, beide gegen radikale Nationale, beide aber auch in Opposition zu den „Offiziellen“ am Hof. Gustav Ratzenhofer war als bürgerlicher Aufsteiger tief vom österreichischen Liberalismus geprägt. Die Ideale der Märztage waren sein Bezugspunkt, 279 die bürgerlichen Leistungsbereiche Wirtschaft, Kunst, Wissenschaft sein Stolz. Vor allem für letztere hatte er sich seit seinen Zwanzigern begeistert und im Selbststudium populäre Werke der Kulturgeschichtsschreibung und der aufstrebenden Naturwissenschaften rezipiert. An der Kriegsschule, die im Zuge der Reform der Heeresorganisation nach 1866 auch moderne Wissenschaften integriert hatte, setzte er diese Neigung fort. Er hörte Vorträge in Physik, Chemie und Mechanik, ebenso in Staats- und Völkerrecht (bei Leopold Neumann, 1811–1888), in Deutscher Literatur (bei Joseph Weil, dem Präsidenten des Presseklubs „Concordia“ und Mitarbeiter Kronprinz Rudolfs) sowie Volkswirtschaftslehre (bei Franz Neumann-Spallart, 1837–1888). Zur Charakterisierung von Ratzenhofers Denken könnte als erste Annäherung der von Endre Kiss vorgeschlagene Terminus zweite Aufklärung stehen.10 Diese teilte mit der ersten Aufklärung das wissenschaftliche Pathos und die Forderung nach einer „Rehabilitation der Sinnlichkeit“ (Panajotis Kondylis). Man setzte die konkrete, erfahrbare Realität den Lügen des „Culturmenschen“ und der Kirche entgegen. Man war rationalistisch, utilitaristisch, teils technokratisch, jedenfalls Gegner revolutionärer gesellschaftlicher Umwälzung. Geprägt von der österreichischen Version des Liberalismus vertrat man einen eudämonistischen Humanismus, primär vertrauend auf den Fortschritt und die Arbeit der Kultivierung. Gegen jeden Obskurantismus oder Utopismus hielt man sich an ein Ethos der Wissenschaftlichkeit und Objektivität, das in positiven Fakten seinen „unleugbaren“ Halt behauptete. Vor diesem Hintergrund hatte Ratzenhofer in einer ersten größeren Buchpublikation, die er unter dem Pseudonym Renehr 1877 und 1878 bei Karl Bellmann in Prag veröffentlicht hatte, seine Ideen zur Reichsreform vorgetragen. Er schlug dort ein umfassendes Wohlfahrtsprogramm vor, das als Ausdruck des „reinen Kulturtriebs“ einen neutralen Boden für die politisch Integration der Nationalitäten bieten könne.11 Das implizierte, die Identitä der Habsburgermonarchie „wissenschaftlich“, mit den Mitteln einer aufklärerischen Kulturtheorie zu begründen. „Kultur“ übernahm – nunmehr i Zeichen des Bürgerlichen – die Einheitsfunktion der Krone: über den Kulturen der Nationalitäten die eine, universale, „höhere“ Kultur.12 Wo die Dynastie, ihre Geschichte und Mission als Amtsträger einer höheren, göttlichen Ordnung13 zur Identitätskonstitution verabschiedet werden sollte, war die wissenschaftlich begründete „Kulturmission“14 ein möglicher, gleichsam „säkularisierter“ Ersatz. Ratzenhofers Vorträge zu Bosnien zeigen exemplarisch, wie gemäß dieser Österreichidee ein politischer Reichskörper imaginiert sowie seine Identität und sein Anderes konstruiert werden konn- 280 ten. Das Reden über Bosnien eignet sich hierbei besonders, die Struktur dieser Identität zu rekonstruieren: Da hier eine territoriale Neuerwerbung in das Reich integriert werden sollte, figurierte dieses als Einheit, als Körper, dessen Eigenschaften im Verhältnis zu Bosnien als einer geradezu idealtypischen Peripherie ins Licht gerückt werden konnten. Hegemonialer Diskurs Die Konventionalität von Ratzenhofers Vorträgen zu Bosnien als Kollektion einer Reihe von Gemeinplätzen wurde bereits erwähnt. Ein weiteres Merkmal, das diese Texte hier interessant macht, ist ihre Überdetermination als hegemonialer Diskurs: Ratzenhofer blickte nicht nur vom Zentrum auf die Peripherie, sondern auch als Deutschösterreicher auf den Balkan, als Militär auf undisziplinierte Insurgenten und als Wissenschafter auf sein Objekt. Immer handelte es sich um ein hierarchisches Verhältnis zum Anderen, wobei sich die hier unterschiedenen Dimensionen seines Diskurses durchaus überlappten und amalgamierten, zum Beispiel Begriffe aus dem wissenschaftlichen Vokabular in den politischen Modus transferiert und rekontextualisiert wurden und vice versa. Den größten Bezug zur eigenen Erfahrung Ratzenhofers mit dem „Objekt“ Bosnien hat wohl seine Beschreibung der Kriegsereignisse selbst, die er in seinen Vorträgen anhand der Gegenüberstellung von regulärer Armee auf der einen und Insurgenten auf der anderen Seite rekonstruierte. Die Beschreibung des Feldzuges, der logistischen Schwierigkeiten, der Strategie und Taktik der Kontrahenten und so weiter ist dabei durchgehend gemäß der asymmetrischen Unterscheidung „kultiviert“/„natürlich“ codiert: Die Insurgenten seien „tapfer“, „mannhaft“, „findig“ (S. 339)15 und „hartnäckig“ (S. 334), doch es mangle ihnen an „Disziplin“, „strategischem Verstand“, „Ordnung“. Ihre Führer hätten „nicht jene Macht [...], um den ganzen Haufen zu einem willigen Werkzeuge in ihrer Hand zu machen“ (S. 339). Die disziplinierte, gut vorbereitete sowie in wohlgeplanten „tactischen Formen“ (S. 340-343) eingesetzte Armee der Kaiserlichen setzte sich durch. Während der Gegner oft „grausam“ (S. 332, S. 346) gehandelt habe, gehe sie „human“ und nur wenn nötig mit „äußerster Strenge“ (S. 334) vor. Die „Pacificirung“ des Aufstandes habe gar eine „gewisse Rücksichtnahme auf die Insurgenten, als zukünftige Staatsbürger“ erlaubt (S. 334). 281 Kultivierung eines Naturvolkes Die „Bosnier und Hercegovzen“ waren nicht allein als wilde Partisanenhorden, sondern als Volk zu betrachten, das zukünftig in den Reichskörper als Österreicher aufgenommen werden sollte. Sie waren folglich nicht als ferne, grundsätzlich Andere, das heißt Exoten zu beschreiben, sondern als potenziell Gleiche, als „williger, kulturfähiger Stoff“, der lediglich seine Wildheit verlieren, also bearbeitet und kulturell „gehoben“ werden musste. So gelte zwar, dass man es hier mit einem „Naturvolke“ (S. 499) zu tun habe, das noch nichts lerne, das gesund sei oder sterbe (S. 497), doch seien es Leute mit „gesunder Vernunft“, denen die Kultur „den Kopf noch nicht verwirrt“ habe (S. 498). – Ihr Widerstand gegen die Okkupation, die mit „Milde“ und für einen „humanitären Zweck“ (S. 328) durchgeführt worden sei, könne demnach nur Folge einer äußeren Beeinflussung gewesen sein. Von außen habe man die Bevölkerung „fanatisirt“ (S. 499) und es sei eine ähnliche Furcht vor „unseren Truppen“ erweckt worden, wie sie „früher vor den Russen geherrscht“ habe (S. 326). Für Ratzenhofer sollen Bosnien und die Herzegowina keine zur rücksichtslosen Ausbeutung freigegebene Kolonien sein, sondern Teil des Reichs werden, so wie „unsere Morlaken, Croaten oder Slavonier“ (S. 502). Österreich als „Kulturstaat“ solle den Kulturstand der Provinzen allmählich heben, die Wirtschaft beleben, die Sitten fördern. Bosnien, so Ratzenhofer, sei ein Säugling, dem bislang die Brust versagt geblieben sei.16 Jetzt endlich soll er – sanft und mütterlich17 – genährt, aber auch erzogen werden. Das Mittel dazu sei vor allem eine „gute Verwaltung“ – mit der nötigen Macht im Hintergrund –, die allmählich „Ruhe und Ordnung zur Gewohnheit und endlich zum spontanen Wunsche“ machen werde (S. 497). Dabei sei insbesondere zu beachten, dass diese Verwaltung sich der lokalen „Eigenthümlichkeit der Bevölkerung und Race“ (S. 498) anpasse. Der imaginäre Reichskörper Bosnien und die Herzegowina waren in das große Wir, den imaginären Reichskörper, zu integrieren. Auf welche Weise und nach welchen Kriterien aber konnte dieses Wir bestimmt werden? Gemeinsame Wurzeln, Geschichte und Sprache wie im Fall der Nation fielen aus; das dynastische Narrativ allein schien ungenügend. Bei Ratzenhofer trat an seine Stelle die Wissenschaft, nämlich Ethnographie und Geographie, so dass er die Frage, ob „Bosnien 282 und die Hercegovina geeignet sind, berechtigt ein Theil eines Culturstaates zu werden“ als „engere Fachfrage“ bezeichnen konnte (S. 499). In seinem Im Donaureich hatte Ratzenhofer auf Basis einer allgemeinen Kulturtheorie eine detaillierte Beschreibung der „Raum- und Volksanlagen“ Zentral- und Südosteuropas vorgelegt, um auf dieser Basis die Staatsidee des „Donaureichs“ wie folgt zu formulieren: „Quantitativ kleine, durch die Einseitigkeit der Naturanlagen und durch die Gleichartigkeit der Raumanlagen beschränkte Volksindividualitäten müssen sich geistig einen um zu erstreben, was grosse, räumlich begünstigte Völker innerhalb einer Individualität erreichen, die sogenannte nationale Kultur.“18 Die Details der Argumentation müssen hier nicht interessieren. Festzuhalten ist, dass die Bestimmung der „natürlichen Grenzen“ des Reichskörpers wissenschaftlich vorgenommen wurde, wobei allerdings eine Amalgamierung mit geopolitischen Überlegungen festzustellen ist: Die Position Österreich-Ungarns im Konzert der europäischen Großmächte ergab die Richtung und Strategie einer territorialen und ökonomischen Expansion im Südosten (S. 503–511). Zugleich wurde geographisch und ethnographisch bewiesen, dass die hier interessierenden Gebiete (Serbien und das Donautal) von Natur wegen jedenfalls zum „Donaureich“ gehörten (während das etwa für Albanien keineswegs gelte) (S. 506). Als Geograph und Ethnograph, als geopolitischer Stratege, wie als Vertreter des Zentrums war Ratzenhofers Blick nach Südosten in jeweils ähnlicher Weise objektivierend. Aus der Vogelschau19 betrachtete und analysierte er einen zu durchdringenden Raum. Er sah, wie die Kultur „gleichsam vom Westen Europa’s gegen Osten zur Uncultur Asiens“ absinke (S. 502). Er sah, wie die Völkerlagerung im Donauraum eine militärische Zusammenarbeit erzwinge und die geographische Lage – verdichtet in der Donau als der „Lebensader unserer Staatsentwicklung“ – auf eine volkswirtschaftliche Einigung und Binnenmarktorientierung der Wirtschaft verweise.20 Er besprach Landesnatur, Volkskultur, Bodenbeschaffenheit, Rohstoffvorkommen der Balkanländer. Wie in einem militärischen Planspiel diskutierte er Szenarien für die Anlage von Eisenbahnlinien in den okkupierten Territorien (S. 506–507). Er empfahl die Ansiedlung gewisser Berufsgruppen aus anderen, kulturell höherstehenden Teilen der Monarchie zur Hebung der ökonomischen Tugenden und: „damit in diesem Lande eine Anzahl fester Puncte gewonnen werde, von denen aus die Cultur weiter schreitet, damit ein deutsches Gemeindewesen entstehe, wie es in Oesterreich-Ungarn allerorts entstanden ist, damit die Macht jener Bürger wachse, die dem Staate ergeben und steu- 283 erwillig sind“ (S. 513–514). – An erster Stelle stehe das „Studium des Landes“, dann folge dessen „Ausbeutung“ (S. 509). Onus Imperii „Gleiches Mass für Alle und rücksichtslose Strenge gegen jede Ausschreitung“ (S. 513), schrieb Ratzenhofer der Habsburgermonarchie ins Stammbuch, gleichsam ein fernes Echo jener berühmten Formel Vergils für die Mission Roms, die er im sechsten Buch der Äneis den Anchises verkünden ließ: parcere subjectis et debellare superbos. Der imperiale Auftrag einer Kulturmission und Befriedung der „Halbbarbaren“ am Balkan wurde von Ratzenhofer nicht als Expansionslust oder Eigeninteresse verstanden, sondern als schwere, wenn auch schöne Last, als humanitärer Auftrag und moralische Pflicht, die eine hohe „intellectuelle und sittliche Kraft“ erforderten. „The White Man’s Burden“ hatte das bei Kipling geheißen; Ratzenhofer schrieb: „Die vorliegende Aufgabe ist aber nur für jene nicht schön und nicht bedeutend, die den Fortschritt und die Civilisation in dem engsten Kreise ihrer wirtschaftlichen oder nationalen Selbstsucht abgewickelt wünschen“ (S. 500). Deutlich ist die Spitze gegen jene nationalen Parteien, die sich vom Gesamtstaatsgedanken abgewendet hatten. So stellte Ratzenhofer „engherzige“ Nationalegoisten den „Culturträgern“ gegenüber, die für das „allgemeine Menschliche“ wirken. Während sich die einen ängstlich auf sich selbst zurückziehen und das Fremde von sich fernhalten, öffnen sich die anderen der „Sammlung cultureller Güter“ im Bestreben, „sich Anderen nützlich zu zeigen“ (S. 514). Der Vortrag schloss folgendermaßen: Indem unser Staat das Streben nach Aussen wieder angetreten hat, eröffnet sich den Culturträgern desselben die Bahn, welche sie so lange verleugnet haben, um das Cultur-Ferment nach Aussen zu tragen, das Ferment der Anregung in die Heimat zu bringen. Der wirthschaftliche Erfolg kann nicht ausbleiben, ebenso wie uns das Gegentheil im Oriente wirthschaftlich ohnmächtig gemacht hat. Weil unser Occupations-Gebiet ein Feld der culturellen Thätigkeit ist, lenken unsere Beziehungen zu demselben in jene Richtung, die das Grundgesetz des Staaten- und Völkergedeihens ist: „die Erhöhung und Erweiterung der Cultur“. Mit dieser Aufgabe darf sich kein Volk, kein Gesellschaftskreis ungestraft in Gegensatz bringen, sollen sie nicht in sich uneinig zerfallen; diese Aufgabe, wird sie ohne Hintergedanken angetreten, kann nur menschliche Grösse hervorbringen und sittliche Befriedigung erwecken (S. 514). 284 Schluß Zusammenfassend könnte Ratzenhofers Diskurs über Bosnien als ausgesprochen kohärente Reformulierung der abendländischen Reichsidee gemäß der großen bürgerlichen Erzählung der Zivilisation beschrieben werden. Die reichstheologische Legitimation ist durch eine kulturtheoretische ersetzt, aus einer letztlich in die göttliche Heilsökonomie eingelassenen politischen Gemeinschaft ist ein innerweltliches Modernisierungsprojekt geworden. Auf die Gemeinsamkeiten und Differenzen mit anderen imperialen Ideologien, etwa im Kontext des britischen Empire,21 kann ich hier nicht eingehen. Fragt man nach den Besonderheiten von Ratzenhofers Reichsdenken, könnte etwa auf die Problematik des Deutschösterreichers hingewiesen werden. Eine wissenschaftliche Reformulierung der Reichsidee bot hier den Vorteil einer möglichen Versöhnung der Zerrissenheit zwischen der habsburgisch-österreichischen Prägung und einer aufgrund des Nationalitätenkonflikts forcierten Loyalität zum „Deutschen“.22 „Kultur“ konnte als universal und deutsch zugleich verstanden werden, ein Reich in ihrem Zeichen viele Völker enthalten und dennoch das Eigene repräsentieren. Das ausgedehnte und uneinheitliche Siedlungsgebiet der Deutschösterreicher ließ sich ins Positive wenden, wenn man diese als eigentliche Träger des Reichs und seiner weit in den Südosten reichenden Kultivierungsaufgabe deutete. So mag sich auch die verbreitete Identifikation gesamtstaatstreuer Liberaler mit Joseph II. erklären, konnte er doch für den Versuch stehen, im Zeichen der Aufklärung eine Einheit des „Reichs der Deutschen“ und „Österreichs“ herzustellen. Auf einer allgemeinen Ebene wiederum ließen sich eine Reihe struktureller Parallelen zwischen Ratzenhofers imperialer Identitätskonstruktion und anderen diskursiven Formationen herstellen. Im wissenschaftlichen Feld wäre etwa ein gewisser vulgärer Evolutionismus zu nennen, wie er in der Habsburgermonarchie gerade unter bürgerlichen Militärs seit den 1870er Jahren an Boden gewann. In der Konfrontation des Westens mit seinem Anderen entspricht diesem progressistischen Narrativ der unselige Topos der „Zivilisierung der Wilden“. Was die Konfrontation mit dem Anderen im Eigenen betrifft, könnte schließlich auf die von Michel Foucault analysierten Dispositive der Disziplinargesellschaft und ihrer humanwissenschaftlichen Wissensformation verwiesen werden. Die Arbeiten von Foucault sind hier insofern relevant, als sie geeignet sind, diese interdiskursiven Parallelen auf ihre Tiefenstruktur hin zu befra- 285 gen. In seiner Ordnung der Dinge beschrieb Foucault die „epistemische“ Konstellation des 19. Jahrhunderts als ein „Denken des Gleichen“: „Kurz gesagt, es handelt sich immer [...] darum zu zeigen, wie das Andere, das Ferne, ebenso wohl das Nächste und das Gleiche ist. So ist man von einer Reflexion über die Ordnung der Unterschiede [...] zu einem Denken des Gleichen übergegangen, das stets seinem Gegenteil abzugewinnen ist.“23 Das 19. Jahrhundert habe den Menschen im Singular erfunden als fundamentale Kategorie hinter Menschen im Plural, wobei aufgrund dieses Postulats einer wesenhaften Gleichheit nun empirische Differenzen nach der Unterscheidung von normal und pathologisch codiert worden seien. Mit Foucault ist dies die Struktur des hegemonialen Blicks: den Anderen als fundamental gleichen, doch empirisch inferioren Menschen zu betrachten, der zur Normalität entwickelt werden muss. Das Besondere (Andere) wird hier dem Allgemeinen (Eigenen) subsumiert, gemäß seinen Kategorien beschrieben und beurteilt. Spiegelbildlich erlaubt eine solche Objektivierung des Anderen die Bestimmung dessen, was das Eigene ist. Dies gilt ebenso für den normalisierenden Blick der disziplinargesellschaftlichen Institutionen wie für den Blick bürgerlicher Wohltätigkeitsvereine auf die Milieus des städtischen Proletariats24 oder für Ratzenhofers Blick auf Bosnien. Mit Foucault (und im Hintergrund Hegel) gelesen zeigen diese Beispiele das nämliche Muster hegemonialer Inklusion: Symbolische Eingemeindung auf dem Weg einer Aussonderung des Absonderlichen am Besonderen, das heißt mit anderen Worten ein Verhältnis zum Anderen, das ebenso wohlwollenden Paternalismus wie aggressive Verachtung enthält. Anmerkungen 1 Vgl. die unpaginierte, handschriftliche Biographie von Gustav RATZENHOFER jr. (372 Blatt, Fundort: Österreichisches Staatsarchiv, Wien, Kriegsarchiv, B 691, XXVII, Nr. 63), Abschnitt 10: Im kriegsgeschichtlichen Bureau. Das „Donaureich“. 2 „Unter einer kollektiven oder Wir-Identität verstehen wir das Bild, das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren.“ Jan ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 3. Aufl., München 2000, S. 132. 3 Vgl. Florian OBERHUBER, Gustav Ratzenhofer (1842–1904). Eine monografische Skizze, in: Newsletter des Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich 22 (2001), S. 11–25. 4 Vgl. Gustav RATZENHOFER, Zur Beleuchtung der Occupation Bosniens und 286 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 der Hercegovina, in: Organ der militär-wissenschaftlichen Vereine 18 (1879), S. 325–346, S. 497–514. Victor Adler kommentierte im Jahr 1899: „In Österreich sind wir heute so weit, daß es als größter Schimpf gilt, daß man ein guter Patriot ist!“ Victor ADLER, Revolutionäre oder reaktionäre Staatskrise? Referat über politische Lage und Taktik. Parteitag in Brünn 1899, in: Parteivorstand der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutsch-Österreichs (Hg.), Victor Adlers Aufsätze, Reden und Briefe, Bd. 8, Victor Adler der Parteimann. Österreichische Politik, Wien 1929, S. 194. Kaiserliches Patent vom 2. December 1848, in: Allgemeines Reichs-, Gesetz- und Regierungsblatt für das Kaiserthum Österreich 1, 1849 (Wien 1850). Ebenda, Hervorhebung des Verfassers. Vgl. Gemeinsamer Hirtenbrief der hochwürdigsten Erzbischöfe und Bischöfe Österreichs, in: Wiener Diöcesanblatt 22 (1898), S. 253–259. Vgl. z. B. die Rekonstruktion der „Stimmung“ des Bürgertums 1848 und folgende im großen Werk von Josef REDLICH, Das österreichische Staats- und Reichsproblem. Geschichtliche Darstellung der inneren Politik der habsburgischen Monarchie von 1848 bis zum Untergang des Reiches, Teil I/1, Leipzig 1920, S. 132–148, S. 156–164, S. 170–190. Endre KISS, Der Tod der k. u. k. Weltordnung in Wien. Ideengeschichte Österreichs zur Jahrhundertwende, Wien u. a. 1986. Gustav RENEHR (= RATZENHOFER), Im Donaureich, Bd. 2, Die Kultur, Prag 1878, S. 118. Vgl. Florian OBERHUBER, Reich und Kultur. Zum neu-josephinischen Kulturbegriff 1848–1918, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 13, 2 (2002), S. 9–33. Vgl. Fritz FELLNER, Reichsgeschichte und Reichsidee als Problem der österreichischen Historiographie, in: Wilhelm BRAUNEDER, Lothar HÖBELT (Hg.), Sacrum Imperium. Das Reich und Österreich 996–1806, Wien–München–Berlin 1996, S. 366. Vgl. Hugo BALL, Österreichs Kulturmission, in: DERS., Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften, hg. v. Hans Burkhard SCHLICHTUNG, Frankfurt a. M. 1988, S. 172–176. RATZENHOFER, Occupation, S. 339. Aus dieser Publikation wird hier und im folgenden direkt im Text zitiert. Dieses Bild übernimmt Ratzenhofer Jr. (vgl. Fußnote 1) aus einem Tagebuch seines Vaters. Für den Hinweis auf die Codierung der Habsburgermonarchie als „weibliche Großmacht“ danke ich Diana REYNOLDS. RATZENHOFER, Donaureich 2, S. 127. Die „Vogelschau“ ist eine treffende Metapher für Ratzenhofers objektivierenden, das heißt Nationalität und Geschichte gleichsam als Naturphänomene betrachtenden Blick. (Vgl. auch die Texte des Alexander von PEEZ, Europa aus der Vogelschau. Politische Geographie, Vergangenheit und Zukunft, Wien– Leipzig 1916). 287 20 RATZENHOFER, Donaureich 2, S. 42, S. 46. 21 Vgl. David ARMITAGE, The ideological origins of the British Empire, Cambridge 2000 (Ideas in Context 59). 22 Zur Problematik „deutsch“ gegen „österreichisch“, interpretiert im Rahmen eines Kampfs um die kulturell-symbolische Hegemonie, vgl. Georg SCHMID, Intrige als Kultur. Selbstmord, Deutschsein und „Sozialinertia“ im Österreich der 1850er Jahre, in: DERS. (Hg.), Die Zeichen der Historie. Beiträge zu einer semiologischen Geschichtswissenschaft, Wien–Köln–Graz 1986, S. 67–92. 23 Michel FOUCAULT, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 1971, S. 409, (Hervorhebung im Original). 24 An vielen Stellen trat der Missionsgedanke gegenüber den Pauperisierten auf und damit eine Verbindung der „stinkenden Gassen“ und dunklen Hinterhöfe mit den fernen Regionen Afrikas oder Südamerikas. Manchen erschienen die Elendsmilieus der eigenen Großstädte Gegenden, die es als Forscher erst zu entdecken galt, und prompt zogen sie den Vergleich mit der ethnologischen Erforschung fremder Völker, vgl. Hartmut DRIESSENBACHER, Der Armenbesucher: Missionar im eigenen Land. Armenfürsorge und Familie in Deutschland um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Christoph SACHSSE, Florian TENNSTEDT (Hg.), Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik, Frankfurt a. M. 1986, S. 218– 219. 288 Die Kette des Seins und die Konstruktion Jugoslawiens Christian Promitzer Der Zerfall Jugoslawiens hat – zumindest auf dem Territorium des ehemaligen gemeinsamen Staates – die historiographische Selbstreflexion über dessen Entstehungsgründe versiegen lassen. Die letzte umfangreiche Arbeit über die Entstehung Jugoslawiens, die von einem aus dem Land selbst stammenden Historiker geschrieben wurde, stammt aus den späten achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts.1 Im sogenannten Westen ist es hingegen umgekehrt zu einem vorübergehenden Aufflackern des Interesses für die Entstehung und Geschichte dieses Landes gekommen. Diese ging alsbald in ein allgemeines Interesse für den Balkan über, wobei die Entwicklung westlicher Stereotypen über diese Region Europas – etwas, was auch als die bildhafte Konstruktion des europäischen „Anderen“ umschrieben werden kann – eine prominente Stellung einnahm. Dieser Ansatz wurde am überzeugendsten von Maria Todorova vorgetragen, die sich in theoretischer Hinsicht von einem der ersten Vertreter des Postcolonialism, Edward Said, leiten ließ.2 Todorovas Ansatz verortet westliche Vorstellungen über den Balkan, die auf Exotisierung eines imaginierten Anderen, das als „rückständig“ wahrgenommen wird, basieren. Sie beschreibt damit eine aus einer Position der Überlegenheit formulierte Sichtweise, die durch koloniale beziehungsweise sogar explizit kolonialistische Züge gekennzeichnet werden. Todorova geht in ihrem Werk jedoch nur am Rande darauf ein, wie diese Vorstellungen über den Balkan in der Region selbst reflektiert wurden. Gerade das Beispiel Jugoslawiens, als eines Staates, durch den eine symbolische Grenze verläuft, die angeblich Mitteleuropa vom Balkan scheidet, soll hier als Beispiel herangezogen werden, um zu zeigen, dass die Reflexionen südslawischer Intellektueller über westliche Imaginationen des Balkans – nicht zuletzt in der Habsburgermonarchie – eine wichtige Rolle bei der ideologischen Konzeption eines gemeinsamen südslawischen Staates gespielt haben. So lassen sich diese Reflexionen durchaus auch als eine Modifizierung westlicher Vorstellungen 289 begreifen, die von einer europäischen Hierarchie von Staaten und Nationen ausgehen, wobei es in Abgrenzung zu den übrigen Bevölkerungen und Staaten des Balkans darum ging, innerhalb dieser als vorgegeben erachteten Hierarchie einen möglichst weit oben positionierten Platz für den erhofften südslawischen Staat zu finden. Aus Platzgründen kann hier nicht auf die breiten und in der Forschung bereits ausführlich behandelten ideengeschichtlichen Grundlagen der Entstehung Jugoslawiens eingegangen werden, die bis in die Zeit des Illyrismus zurückreichen und die sprachliche Gemeinschaft der Südslawen betonen, Ideen, die sich unter anderem an der deutschen und italienischen staatlichen Einigung orientierten, wobei dem Königreich Serbien von manchen Protagonisten eine Rolle als das südslawische Piemont beziehungsweise Preußen zugesprochen wurde.3 Ebenso wenig kann eingehend auf die angesprochene Problematik symbolischer Grenzen eingegangen werden, die im Rahmen der mentalen Landkarte Jugoslawiens mit der vorangegangenen Zugehörigkeit seiner südlichen Teile zum Osmanischen und seiner nördlichen zum Habsburger Reich verknüpft waren.4 Auch auf den Umstand, dass Bulgarien, das ebenfalls ein südslawischer Staat war, aber in derartigen Konzeptionen nur eine periphere Stellung einnahm, kann hier nur verwiesen werden. In diesem Beitrag sollen vielmehr jene Konzeptionen angesprochen werden, die die Rezeption beziehungsweise Modifizierung hierarchischer Vorstellungen, wie sie von akademischen und außerakademischen Intellektuellen in der Habsburgermonarchie vertreten wurden, begründen, um so zu einer neuen Sichtweise auf die Konstruktion Jugoslawiens beizutragen. Dabei ist von jenen Vorstellungen auszugehen, die die Stellung der Deutschen im Rahmen einer europäischen Hierarchie der Völker wie auch speziell ihre Stellung in der Habsburger Monarchie gegenüber den Slawen in den Vordergrund rücken. Als herausragendes Beispiel sei die Kulturgeographie der deutschslawischen Sprachgrenze des späteren Leiters des Wiener Instituts für Kulturforschung, Erwin Hanslik, aus dem Jahr 1910 angeführt. Mit Hilfe von statistischem Material glaubte er nachweisen zu können, dass diese von Triest bis zum Baltikum verlaufende Grenze unterschiedliche „Kulturstufen“ und „Wirtschaftsstufen“ voneinander trenne.5 Die hier zum Ausdruck kommende geopolitische Ausrichtung verweist auf damals vor sich gehende Entwicklungen im Fach Geographie und auf die damals dominante Rolle der Wiener länderkundlichen Schule, die von dem aus Sachsen stammenden Albrecht Penck (1858–1945) begründet worden war, der 290 1885–1906 die ordentliche Professur für Geographie an der Wiener Universität bekleidete.6 Penck konzentrierte sich damals auf die Eiszeitforschung. In den politiknahen Bereich gelangte er erst nach seiner Wiener Zeit im Ersten Weltkrieg und vor allem in den 1920er Jahren. Damals verfasste er geopolitische Arbeiten und begründete die „deutsche Volks- und Kulturbodenforschung“.7 Doch schon in einer frühen Arbeit über die Länderkunde des Deutschen Reichs aus dem Jahr 1887 hatte er die Deutschen „nichtsweniger als eine reine Rasse“ und „die dem deutschen Volk eigentümliche Expansivkraft“ gewürdigt.8 Im selben Jahr hielt er vor der Wiener geographischen Gesellschaft einen umstrittenen Vortrag über die „Ziele der Erdkunde in Österreich“, der im Vereinsorgan nicht abgedruckt werden konnte. Darin warf er der Geographie in Österreich eine verfehlte Ausrichtung auf außereuropäische Regionen vor, wo bereits die Großmächte ihre Kolonien errichtet hatten. Unter Hinweis auf die Großmachtstellung Österreichs auf dem Balkan seit der fehlgeschlagenen osmanischen Belagerung Wiens von 1683 führte er aus, dass der Orient – jenes Gebiet von den Grenzen der Monarchie bis nach Vorderasien – das eigentliche Zukunftsgebiet der österreichischen Geographie sei: „Der Orient auch ist jener einzige Fleck der Erde, wo österreichische Forschungsreisende nach wie vor mit Erfolg thätig sein können, weil sie hier von keiner Machtsphäre abhängig sind, während allüberall sonst sie im Wettbewerbe mit den Reisenden anderer Staaten benachtheiligt sind.“9 – „[…] so möchte sich von nun an die Theilnahme aller Freunde der Erdkunde in Österreich nach dem Südosten lenken.“10 An anderer Stelle betonte Penck die Stellung der Deutschen im südöstlichen Europa: „Deutsche besetzten die menschenleer gewordenen Gebiete Slavoniens und des Banats; es vollzog, viel zu wenig gewürdigt, eine glanzvolle Colonisation im Innern, welche den Vergleich mit späteren und gleichzeitigen Colonisationen im Innern Preußens nicht zu scheuen braucht.“11 Penck hatte wesentlichen Anteil an der wissenschaftlichen Ausbildung zweier südslawischer Gelehrter, die damals in Wien studierten und eine prominente Rolle bei der Schaffung des jugoslawischen Staates gespielt haben: des bekannten serbischen Geographen Jovan Cvijiæ und des weithin unbekannten slowenischen Anthropologen Niko Zupaniè. Jovan Cvijiæ (1865–1927) stammte aus einem serbischen Dorf an der Grenze zu Bosnien-Herzegowina. Sein Doktoratsstudium absolvierte er in den Jahren 1889-1992 an der Wiener Universität, das er mit einer von Penck betreuten Aufsehen erregenden Dissertation über die Karstphänomene auf der Balkanhalbinsel abschloss. Danach wurde Cvijiæ Professor für Geographie an ^ 291 der Universität in Belgrad. Cvijiæ war unter anderem der Begründer der serbischen Anthropogeographie und war der erste serbische Geograph, der sich mit der geopolitischen Stellung Serbiens auf der Balkanhalbinsel auseinandersetzte.12 Es gibt keinen direkten Hinweis, dass sich Cvijiæ dabei direkt von den geopolitischen Vorstellungen seines einstigen Wiener Mentors leiten ließ, zumal seine Arbeiten selten von Fußnoten begleitet sind. Aber es springt doch ins Auge, dass, nachdem Penck einen zivilisatorischen und wissenschaftlichen Auftrag Österreichs im „Südosten“ postuliert hatte, Cvijiæ im Anschluss daran in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts – sozusagen eine hierarchische Ebene tiefer – eine ähnliche Rolle Serbiens für den westlichen Teil der Balkanhalbinsel beanspruchte, eines geographischen Raums, der ein Territorium absteckte, dass sich nicht rein zufällig mit den späteren Grenzen des Königreichs Jugoslawiens deckte. Damit einhergehend wurde die geopolitische Rolle des zweiten südslawischen Staates, Bulgarien, argumentativ auf den östlichen Teil der Balkanhalbinsel verwiesen, um den verkehrsgeographisch begründeten Anspruch Serbiens auf Makedonien zu begründen.13 In ähnlicher Weise hatte Penck zuvor die herausragende Rolle Wiens und seiner Stellung im Einzugsbereich der ins Schwarze Meer mündenden Donau begründet. Bis zum Ersten Weltkrieg war es neben der serbischen Öffentlichkeit immer wieder auch das deutschsprachige Fachpublikum, an das sich Cvijiæ wandte, um – etwa in der Frage des Zugangs Serbiens zum Meer – die geopolitischen Ziele Serbiens oder um seine Ansichten über die ethnographische Verteilung der Balkanhalbinsel zu erläutern.14 Während des Ersten Weltkriegs unterstützte er – so wie Penck auf der anderen Seite der Front – die eigene Regierung, indem er seine Expertise zur Verfügung stellte, in der er die Kriegsziele Serbiens mit dem Instrumentarium der Geopolitik ausarbeitete. Anders als Penck genoss Cvijiæ nach Kriegsende den Vorteil, als Experte der zu den Pariser Friedensverhandlungen eingeladenen jugoslawischen Seite auf den Grenzverlauf des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen, wie sich der südslawische Staat in seiner ersten Periode nannte, Einfluss zu nehmen.15 Offensichtliche Parallelitäten zwischen Lehrer und Schüler sind ein Indiz, aber kein Beweis für einen direkten intellektuellen Einfluss Albrecht Pencks auf Cvijiæ.16 Bei all der Ähnlichkeit ihrer Vorstellungen ist jedoch die unterschiedliche Größen- und Rangordnung ihrer jeweiligen geopolitischen Ziele festzuhalten. Im Falle Cvijiæs wurde die Einsicht in die gegebenen machtpolitischen Konstellationen des europäischen Staatenkonzerts mit dem Konzept der Befreiung der Südslawen auf dem westlichen Balkan verbunden: 292 Einerseits bettete er die Befreiungsmetapher in den gegebenen hierarchischen Kontext ein und andererseits reproduzierte er diese Hierarchie in kleinerem Maßstab für den erst zu schaffenden symbolischen Raum Jugoslawiens. Diese Reproduktion von Hierarchien auf kleinerem, aber „eigenem“ Raum wurde – wie noch auszuführen zu sein wird – mit Hilfe des anthropogeographischen Zugangs realisiert. Doch um diesen Zusammenhang hinreichend zu verstehen, ist es erforderlich, vorerst auf das zweite Fallbeispiel einzugehen: Der Slowene Niko Zupaniè (1876-1961) wurde in Unterkrain geboren. Er studierte von 1898–1904 Geschichte und Geographie an der Wiener Universität und gehörte einer Generation südslawischer Studenten an, die im frühen 20. Jahrhundert publizistisch für die südslawische Einigung eintraten. 1907 ging Zupaniè – wahrscheinlich unter dem direkten Einfluss von Cvijiæ – nach Serbien, wo er sich als Vertreter der „Rassenkunde“ alsbald einen Namen machte. Während des Ersten Weltkriegs war Zupaniè Mitglied des Jugoslawischen Ausschusses, einer pressure group von slowenischen, kroatischen und serbischen Exilpolitikern, die bei den Ententemächten für die Gründung eines jugoslawischen Staates eintrat. Bei den Friedensverhandlungen in Paris war Zupaniè als Mitglied der jugoslawischen Expertenkommission unter dem Vorsitz von Cvijiæ tätig.17 Zupaniè, der zehn Jahre nach Cvijiæ studierte, fand damals ein durch die zunehmenden nationalistischen Auseinandersetzungen bereits aufgeheiztes politisches Klima an der Wiener Universität vor. Wenige Jahre nach Abschluss seines Studiums – damals bereits in Belgrad befindlich – fand er klare Worte über die Lehre an der Wiener Universität. Den deutschsprachigen Professoren warf er mangelnden Universalismus und borniertes Spezialistentum vor: „[…] nirgendwo haben sie mehr Beweise für diese ihre Unfähigkeit gegeben als in der delikaten Frage über die Inferiorität oder Superiorität einzelner Rassen und Völker. Das zeigen am besten ihre Schriften über die Slawen. […] A[lbrecht] Penck hat an der Wiener Universität mit sarkastischen Bemerkungen über die Slawen seine slawischen Hörer verletzt, unter denen sich auch der Autor dieser Abhandlung befand.“18 Demgegenüber hob Zupaniè die „Wiener Lebendigkeit, Mobilität, den Humor und den ,Chic‘“19 im Alltag hervor, der auf die „Rassenmischung“ mit zugewanderten Slawen zurückzuführen sei. Die Kritik an den Wiener Professoren als Vertretern einer „deutschen Wissenschaft“ und das Lob der Plurikulturalität entsprangen jedoch nicht einer multikulturellen Position, wie Zupaniè auch ethnozentristische Positio^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ 293 nen in der Wissenschaft grundsätzlich nicht in Frage stellte. Seine Kritik konzentrierte sich allein auf subjektiv erfahrenes Leid von Hörern slawischer Herkunft. Als Vertreter der damals modernen Strömung des Neoslawismus und der südslawischen Einigung hatte Zupaniè kein Problem damit, sich in der slowenischen und deutschsprachigen Öffentlichkeit als Antisemit20 und als Gegner des die südslawische Einigung gefährdenden Projekts einer albanischen Nation21 zu positionieren: Die Emanzipation von der erfahrenen Diskriminierung einer als „eigen“ wahrgenommenen Gemeinschaft schloss die Anwendung und Übernahme dieses hegemonialen Musters gegenüber jenen, die in ihrem Emanzipationsprozess noch nicht so weit waren, aber gleichwohl von dieser Diskriminierung betroffen waren, nicht aus, sondern bedingte sie geradezu. Die Stimmen aus dem eigenen Lager, die diesen selektiven Zugang kritisierten, waren rar. Wenn die Albaner laut Zupaniè keine Nation, sondern nur „ein Komplex von sprachlich einander verwandten Stämmen“ ohne kulturelle Tradition seien – so der Tenor eines vereinzelten slowenischen Kritikers –, stelle sich Zupaniè auf den Standpunkt der „Herrschervölker“, die kleinen Völkern keine eigene Entwicklung gestatteten: „Was waren denn wir Slowenen vor [Primoz] Trubar?“22 Die innere Logik der von Zupaniè propagierten Ansichten wird nachvollziehbar, wenn man sie wechselweise mit der von Jovan Cvijiæ 1902 vorgestellten Einteilung der Balkanhalbinsel von vier nicht auf derselben hierarchischen Ebene liegenden Kulturzonen vergleicht: Cvijiæ spricht von einem italienischen und mitteleuropäischen Kulturgürtel im Nordwesten der Balkanhalbinsel, einem sich südlich daran anschließenden, vom Gebirge geprägten patriarchalen Regime, in dem die Serben und Nordalbaner die zentrale Rolle spielten, einem Gürtel der byzantinischen Stadtkultur und einer Zone des türkisch-asiatischen Einflusses. Die letzteren beiden wurden dabei eher als untergeordnet charakterisiert.23 Hinsichtlich des – man achte auf die Namensgebung – „patriarchalen Regimes“ folgte Cvijiæ der damals vom russischstämmigen französischen Anthropologen Joseph Deniker in die Diskussion eingebrachten Kategorie der „dinarischen Rasse“ im Rahmen eines vorgeblich empirischen Konzepts europäischer „Rassen“.24 Erst spätere Publikationen, die die „dinarische Rasse“ im zusammenfassenden Rahmen einer europäischen „Rassen“-Hierarchie explizit gleich unterhalb der „nordischen Herrenrasse“ platzieren,25 eröffnen einen klärenden Blick auf diese folgenreiche Konstruktion. Cvijiæ verstand zwar das „dinarische“ Element in seinem Modell eher als kulturelle und weniger als biologische Komponente. Doch konnte er sich ^ ^ ^ ^ ^ 294 einer Charakterisierung der Bevölkerung mittels physiognomischer Merkmale auf dem Gebiet des „patriarchalen Regimes“ nicht entziehen: „Die sind die physisch stärksten und expansivsten Stämme. [...] Dies sind Menschen von Stärke und Macht, gewöhnlich von hohem Wuchs, schlank, elastisch, niemals korpulent, mit ausdrucksvollen Gesichtern, mit ausgeprägten Kehlköpfen und Falkenaugen: die schönste Rasse auf der Balkanhalbinsel.“ 26 In einer späteren Ausgabe wurde noch folgender Satz hinzugefügt: „Es gibt kaum physisch degenerierte Typen.“27 Die Bevölkerung des patriarchalen Regimes umfasste die Serben und die Nordalbaner. Daraus leitete Cvijiæ jedoch nicht eine politische Unabhängigkeit der Albaner ab, sondern vielmehr den – angesichts der überwiegend albanischen Bevölkerung – als „antiethnographische Notwendigkeit“ bezeichneten territorialen Anspruch Serbiens auf Teile Nordalbaniens: „Dies ist umso mehr berechtigt, weil jene Albaner aus Amalgamierung von Serben und Albanern entstanden sind und weil sich unter ihnen Reste von slawischer Bevölkerung finden.“28 Zupaniè wiederum entwarf während des Ersten Weltkriegs eine Ethnogenese der Jugoslawen. Diese verstand er als rassenkundlich argumentierte „naturwissenschaftliche“ Grundlage für die staatliche Vereinigung der Südslawen. Konfrontiert mit der von deutsch-österreichischer Seite ausgedrückten Hochschätzung der „Rassereinheit“ und des „rassischen“ Niedergangs der einst „arischen“ Slawen – in einer früheren Arbeit hatte Zupaniè diesbezüglich Houston Stewart Chamberlain zu den großen Denkern der Moderne gezählt29 – argumentierte er mit den Vorteilen der „Rassenmischung“: Die Bevölkerung des Balkan habe historisch niemals ausschließlich aus nur einer „Rasse“ bestanden, ihre „Blutsmischung“ stelle vielmehr eine Legierung dar, deren Hauptbestandteil jedoch „arisch“ sei: „Auch das kostbare Gold ist nämlich nicht schöner und brauchbarer, wenn es rein ist, denn dann ist es zu matt und zu weich; deshalb fügt man ihm in den Münzstätten Kupfer und andere weniger teure Metalle hinzu, damit es an Härte, lebendiger Farbe und an schönerem Glanz gewinnt.“30 Doch nicht die Reinheit, auch nicht die Mischung an sich seien entscheidend, sondern der Mischungsgrad. Dem „nordischen Rassenelement“ kam dabei weiterhin die ausschlaggebende Bedeutung zu. Dieses sei – wie Zupaniè schon früher festgehalten hatte – bei den Albanern zu gering vertreten,31 und bei den Griechen habe sich die Mischung im Laufe der Geschichte in negativer Hinsicht entwickelt, so dass die Südslawen in körperlicher und geistiger Hinsicht nun deren historische Erbschaft an der Spitze der Balkanvölker antreten würden.32 ^ ^ ^ 295 Abschließend ist festzuhalten, dass die hier herangezogenen Fallbeispiele von Cvijiæ und Zupaniè durch weitere empirische Forschungen zu ergänzen wären, um zu zeigen, wie hegemoniales Raum- und Rassedenken, wie es seitens politisch interessierter akademischer und außerakademischer Intellektueller in der Habsburgermonarchie, aber auch im westlichen und zentralen Europa insgesamt vertreten wurde, in modifizierter Weise auch Eingang in die ideologische Konstruktion des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen fand, ein Aspekt, dem in der Forschung bislang noch zu wenig Gewicht gegeben wurde. Hier konnte überdies nur ein schmaler Ausschnitt aus dem Denken des in der serbischen und jugoslawischen und teilweise auch internationalen Öffentlichkeit weithin bekannten Jovan Cvijiæ präsentiert werden, gerade jener Ausschnitt, der zeigt, wie emanzipatorische Attitüden sich mit unter anderem in Wien rezipierten hegemonialen Denkmustern verbanden. Zupaniè, dessen Werk weit besser in dieses Schema passt, hatte zwar einen geringeren Bekanntheits- und Wirkungsgrad. Sein antihumanistischer Zugang äußerte sich übrigens nicht nur in seinem „wissenschaftlich“ begründeten rassistischen Zugang, sondern auch in der frühzeitigen Forderung nach Einschränkung des geheimen Wahlrechts, nach dem Verbot autonomistischer Parteien im jugoslawischen Königreich und in der Begrüßung der Königsdiktatur vom 6. Jänner 1929.33 In ihrem Kern bilden die Ansätze von Cvijiæ und Zupaniè daher keine Absage an die hierarchischen Schemata, mit denen sie im Laufe ihrer Studienzeit in Wien konfrontiert wurden. Ihnen ging es vielmehr darum, das in Europa vorherrschende Stufenmodell von Nationen, Rassen und Völkern zugunsten der jugoslawischen Einigung zu modulieren. Wie das Beispiel von Zupaniè zeigt, wird die dominante Stellung der „nordischen“ beziehungsweise „arischen“ Rasse nicht in Frage gestellt. Auch Cvijiæ stellte dem zentraleuropäischen beziehungsweise westlichen Typ bloß den dinarischen zu Seite, ohne die grundsätzliche Hierarchie jedoch in Frage zu stellen. Infolgedessen bildete der jugoslawische Staat und der von ihm besetzte symbolische Raum ein von ihnen relativ hoch angesetztes Glied innerhalb einer hierarchischen Kette des Seins.34 Diese Form des Denkens stellte dichotomische Schemen des Herrschens und Beherrscht-Werdens, wie sie in von deutschnational geprägten Wissenschaftern in der Habsburgermonarchie geprägt wurden, nicht in Frage. Sie wurden bloß für die Anwendung auf einen kleineren geographischen Raum verfeinert und reproduziert. In diesem Beitrag wurde nur eine Auswahl von mehreren möglichen in statu nascendi befindlichen „jugoslawischen“ Sichtweisen gegenüber dem ^ ^ ^ ^ 296 „Westen“ geschildert, wobei zumindest zwei Fragen offen blieben: ob nämlich die ausgewählten Sichtweisen für die Konstruktion Jugoslawiens einerseits relevant waren und ob die Habsburgermonarchie, die Stadt Wien, die Wiener Universität andererseits tatsächlich diesen oftmals idealtypisch – gleich von welcher Seite – wahrgenommenen Westen widerspiegeln? Die in diesem Aufsatz dargestellten Diskurse können darauf höchstens eine Teilantwort liefern, zumal Einflüsse aus Frankreich, Deutschland und England explizit ausgeklammert blieben. Festzuhalten ist jedoch, dass die hier dargestellten Fallbeispiele einen zeitlich wichtigen Ausschnitt widerspiegeln, in dessen Rahmen es zu einer spezifischen Umformung der hierarchischen Kette beziehungsweise Stufenfolge kam, die das Denken über den Balkan seit dem 19. Jahrhundert ideologisch geprägt hat und die ihre Spuren in der Konstruktion, der Praxis und dem zweimaligen Niedergangs Jugoslawiens hinterlassen hat. Die dabei verfeinerte Reproduktion dieser Stufenfolge diente vorerst der Bestätigung des jugoslawischen Staates gegenüber seinen südlichen Nachbarn. Sie öffnete jedoch unwillkürlich auch das Tor zu ihrer unkontrollierten Anwendung im Inneren des neugegründeten multinationalen Staates. 1924 konnte der Soziologe Mirko Kosiæ in einem Beitrag über die Idee des Fortschritts noch in einem von Optimismus getragenen Ton warnen: Die jugoslawische Einigung sei ein Versuch der Bildung einer neuen nationalen Ganzheit, denn wer immer die dauerhafte staatliche Einheit einander nahe stehender und verwandter Stämme und Völker vertritt, muß auch mit der Wahrscheinlichkeit ihrer Verschmelzung in eine Nation rechnen. Dieser Prozess ist jedoch besonders kompliziert, weil sich zugleich die rassische Formierung (durch Assimilation noch vieler vorhandener ethno-psychisch und kulturell fremder Elemente von beträchtlicher Stärke) wie auch die Formierung einer nationalstaatlichen Tradition vollziehen müssen.35 Letztlich versagte dieser Prozess der angestrebten Inneren Kolonisierung. Auch die kommunistische Erneuerung Jugoslawiens scheiterte daran langfristig. Fragestellungen und Zugänge in der Art von Jovan Cvijiæ oder Niko Zupaniæ sollten hingegen das zweimalige Scheitern Jugoslawiens überleben: Die ehemals für Jugoslawien im Rahmen einer europäischen Stufenleiter gefundene Position, dass man sich einerseits West- und Zentraleuropa zum Vorbild machte und andererseits Geringschätzung gegenüber den südlichen Nachbarn ausdrückte, wird nun auf der Ebene separater Nationalstaaten reproduziert. So gibt es auch heute noch – mehr als ein Jahrzehnt nach dem Ende Jugoslawiens – eine heftig diskutierte fortlaufende Hierarchie der Ab^ 297 grenzungen von etwas – dem Balkan – an dem man nicht teilhaben will, sei es dass Slowenien zu Mitteleuropa gehöre, Kroatien das Bollwerk vor der orientalisch geprägten Orthodoxie sei oder Serbien die letzte Brustwehr vor dem Balkanislam sei.36 So wie damals in der Habsburgermonarchie präsente hegemoniale Denkmuster von Cvijiæ und Zupaniè vorerst abgelehnt, dann aber auf modifizierte Weise zugunsten des jugoslawischen Modells reproduziert worden sind, werden die heutigen gegenseitigen Abgrenzungen im südöstlichen Europa durch die Rolle der reichen Europäischen Union mit ihren abgestuften Erweiterungsbestrebungen in Bezug auf ökonomisch ärmere Staaten stimuliert. Indem die Institutionen der EU vorgeben, wie weit die jeweiligen Staaten in ihrer Anpassung im Hinblick auf eine künftige Integration vorangeschritten sind, offenbart sich ein hegemoniales Verhältnis zwischen dem, was das heutige Kerngebiet der Europäischen Union ausmacht, und dem davon ausgeschlossenen „anderen Europa“. Da die Teilnahme an der EU als erstrebenswert gilt, wird dieses hegemoniale Verhältnis von den ärmeren Staaten internalisiert und durch kulturalistisch-ideologische Abgrenzung von um die EU-Mitgliedschaft buhlenden Konkurrenten, die womöglich noch ärmer sind, reproduziert. Internalisierung und Reproduzierung werden dabei durch die Aktualisierung historischer Wahrnehmungen einer bereits vor der Zeit des Kommunismus bestehenden europäischen Stufenleiter erleichtert: Die Geschichte wiederholt sich. ^ Anmerkungen 1 Vgl. Milorad EKMEÈIÆ, Stvaranje Jugoslavije 1790–1918, 2 Bde, Beograd 1989. 2 Vgl. Maria TODOROVA, Imagining the Balkans, New York–Oxford 1997; zu einer kritischen Ansicht über die Anwendbarkeit des von Said gewählten theoretischen Zugangs auf das östliche Europa vgl. Kerstin S. JOBST, Orientalism, E. W. Said und die Osteuropäische Geschichte, in: Saeculum 51 (2000), S. 250–266. 3 Als westliche Beispiele synthetischer Darstellungen der Gründung Jugoslawiens vgl. in Auswahl: Ivo BANAC, The National Question in Yugoslavia. Origins, History, Politics, Ithaca–London 41994; vgl. John R. LAMPE, Yugoslavia as History. Twice there was a country, Cambridge 21999; vgl. Andrew B. WACHTEL, Making a Nation, Breaking a Nation. Literature and Cultural Politics in Yugoslavia, Stanford, California 1998. 4 Vgl. Edgar HÖSCH, Kulturgrenzen in Südosteuropa, in: Südosteuropa 47 (1998), S. 601–623. 5 Vgl. Erwin HANSLIK, Kulturgeographie der deutsch slawischen Sprachgrenze, 298 6 7 8 9 10 11 12 in: Vierteljahrsschrift für Social- und Wirtschaftsgeschichte 8 (1910), S. 103–127, S. 445–475. Vgl. Albrecht PENCK, Die Wiener länderkundliche Schule. Erinnerungen. Sonderabdruck aus dem Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich 26 (1936). Zu Penck vgl. Julius FINK, Penck Albrecht, Geograph, in: Österreichisches biographisches Lexikon 1815–1950, Band 7, Wien 1978, S. 404. Albrecht PENCK, Deutscher Volks- und Kulturboden, in: Carl Christian von LOESCH (Hg.), Volk unter Völkern. Für den deutschen Schutzbund, Breslau 1925, S. 62–73. Vgl. DERS., Das deutsche Reich, in: Albrecht KIRCHHOFF (Hg.), Länderkunde von Europa, 1. Teil, 1. Hälfte, Wien–Prag 1887, S. 115–596, hier S. 129 f. DERS., Ziele der Erdkunde in Österreich. Vortrag, gehalten in der k. k. geographischen Gesellschaft in Wien am 22. November 1887, Wien–Olmütz 1889, S. 7. Ebenda, S. 9. DERS., Die geographische Lage von Wien. Vortrag, Wien 1895 (Vorträge des Vereins zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien 35), S. 26. Zur Biographie und zum wissenschaftlichen Werdegang von Jovan Cvijiæ vgl. Vojislav RADOVANOVIÆ, Jovan Cvijiæ, Beograd 1958 (Biblioteka Portreti 16); vgl. Vasa ÈUBRILOVIÆ, Zivot i rad Jovana Cvijiæa, in: Jovan CVIJIÆ, Karst. Geografska monografija. Novi rezultati o glacijalnoj eposi Balkanskoga poluostrva, Beograd 21991, S. 13–156. Vgl. Jovan ÆVIJIÆ, Glavne osobine centralnih oblasti Balkanskoga Poluostrva, in: DERS., Govori i èlanci, Beograd 21991, S. 83–119; zu den geopolitischen Forschungen Cvijiæs vgl. Snezhana DIMITROVA, Jovan Cvijiæ on the Periphery and the Centre, in: Etudes balkaniques 32, (1996) 3-4, S. 82–91. Vgl. DERS., Der Zugangs Serbiens zur Adria, in: Militärgeographie. Beilage zu Dr. A. Petermanns Mitteilungen aus Justus Perthes’ Geographischer Anstalt 58, 2. Halbband (1912), S. 361–364; vgl. DERS., Die ethnographische Abgrenzung der Völker auf der Balkanhalbinsel, in: Dr. A. Petermanns Mitteilungen aus Justus Perthes’ Geographischer Anstalt 59, 1. Halbband (1913), S. 113–118, S. 185–189, S. 244–246. Vgl. ÈUBRILOVIÆ, Zivot i rad Jovana Cvijiæa, S. 135–145; zum allgemeinen Hintergrund des Einsatzes serbischer Wissenschafter für die Gründung Jugoslawiens vgl. Ljubinka TRGOVÈEVIÆ, Nauènici Srbije i stvaranje Jugoslavije 1914–1920, Beograd 1986. In dieser Hinsicht ist es von Interesse zu betonen, dass sich Ævijiæ, der sich damals in der Emigration befand, nicht an der zu Kriegsende publizierten Festschrift seines ehemaligen Lehrers beteiligen konnte und wollte. Vgl. Festband Albrecht Penck zur Vollendung des 60. Lebensjahrs, gewidmet von seinen Schülern, Stuttgart 1918. Andererseits war Penck jedoch mit einem Beitrag in der einige Jahre darauf erschienenen Festschrift für Ævijiæ vertreten. Vgl. Albrecht PENCK, Das unterirdische Karstphänomen, in: Zbornik posveæen Jovanu Cvijiæu povodom tridesetpetogodišnjice nauènog rada od prijatelja i saradnika, Beograd 1924, S. 175–197. ^ 14 15 16 ^ 13 299 17 Einen Überblick über die Biographie und den wissenschaftlichen Werdegang von Niko Zupaniè bis ins Jahr 1941 gibt Christian PROMITZER, Niko Zupaniè in vprašanje jugoslovanstva. Med politiko in antropologijo (1901–1941), in: Prispevki za novejšo zgodovino 41 (2001), S. 7–39. 18 Niko ZUPANIÆ, Sistem istorijske antropologije balkanskih naroda II, in: Starinar. Organ Srpskog arheološkog društva, Neue Serie 3 (1908), S. 1–70, hier S. 44: „[…] nigde nisu dali više dokaza ove svoje nepodobnosti kao u delikatnom pitanju o inferioritetu ili superioritetu pojedinih rasa i naroda. To najbjolje pokazuje njihovo pisanje o Slovenima [...] A[lbrecht] Penck je na beèkom univerzitetu vreðao svoje slušaoce Slovene, meðu kojima je bio i pisac ove razprave“ [übersetzt vom Verfasser]. Vgl. auch DERS., „Slovenska inferijornost“ i nemaèka nauka, in: Brankovo kolo za zabavu, pouku i knjizevnost 15 (1909), S. 289–291, S. 308–310, hier S. 308. 19 DERS., Sistem istorijske antropologije, S. 45: „beèku zivahnost, okretnost, humor i ,šik‘“ [übersetzt vom Verfasser]. Vgl. auch DERS., „Slovenska inferijornost“, S. 309. 20 Dies geht aus seinen Bemerkungen über den Einfluss der „jüdischen Presse“ – „zidovsko èasnikarstvo“ – hervor; vgl. DERS., Macedonija, in: Ljubljanski zvon 23 (1903), S. 243–245, hier S. 243. 21 Dies zeigte sich erstmals in einem auf der Titelseite der Tageszeitung der slowenischen Liberalen publizierten Kommentar zur südslawischen Einigung und zur Außenpolitik Österreich-Ungarns im südöstlichen Europa. Vgl. DERS., Stara Srbija – Macedonija – Jugoslovanstvo I, in: Slovenski narod vom 12.4.1907, S. 1. 22 Milan PAJK, K. Gersin, Altserbien und die albanesische Frage, in: Ljubljanski zvon 33 (1913), S. 55: „Kaj pa smo bili Slovenci pred Trubarjem“ [übersetzt vom Verfasser]. 23 Vgl. Jovan CVIJIÆ, Kulturni pojasi balkanskoga poluostrva, in: Srpski knjizevni glasnik 6 (1902), S. 907–921. Der Begriff „Regime“ wurde in der ersten Publikation des Artikels noch nicht verwendet, sondern erst in einer 1918 in der Zeitschrift The Geographical Review in englischer Sprache publizierten Neuauflage, die 1921 ins Serbische rückübersetzt wurde. Vgl. DERS., Kulturni pojasi balkanskoga poluostrva, in: DERS., Govori i èlanci, Beograd 21991, S. 69–81. 24 Zum damaligen Einfluss dieses Konzepts auf Teile der serbischen Intelligenz vgl. EKMEÈIÆ, Stvaranje Jugoslavije, 2. Bd., S. 501–510. 25 Dieses unausgesprochene hierarchische Schema wurde wohl erstmals am klarsten von einem Wiener Anthropologen dargestellt. Vgl. Gustav KRAITSCHEK, Rassenkunde mit besonderer Berücksichtigung des deutschen Volkes, vor allem der Ostalpenländer, Wien 1923, S. 38–41. Zu einer eher positiven Würdigung des dinarischen Typs aus der Sicht von Jovan Cvijiæ vgl. Karl KASER, Anthropology and the Balkanization of the Balkans: Jovan Cvijiæ and Dinko Tomašiæ, in: Ethnologia Balkanica 2 (1998), S. 89–99. 26 CVIJIÆ, Kulturni pojasi 1902, S. 915: „To su naplodnija i najekspanzivnija plemena [...] To su ljudi od snage i moæi, mahom vrlo visoki, vitki elastièni, nikad gojazni, lica punog izraza, jakih jabuèina, sokolovih oèiju: najlepši soj na Balkanskom poluostrvu.“ [Übersetzt vom Verfasser]. ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ 300 27 DERS., Kulturni pojasi 1991, S. 80: „Gotovo nema fizièki degeneriranih tipova.“ [Übersetzt vom Verfasser]. 28 DERS., Der Zugang Serbiens zur Adria, S. 364. 29 Niko ZUPANIÈ, „Ilirija“, in: Ljubljanski zvon 27 (1907), S. 486–492, S. 554– 557, S. 615–620, hier S. 486 f. Zu Chamberlains Sicht über die Slawen vgl. Houston S. CHAMBERLAIN, Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, München 11 1915, 1. Bd., S. 559–566, S. 580–583, 2. Bd., S. 834 f. 30 ZUPANIÈ, Etnogeneza Jugoslavena, in: Rad Jugoslavenske akademije znanosti i umjetnosti 222 (1922), S. 137–193, hier S. 143: „Jer ni dragoceno zlato nije najlepše i najupotrebljivije, ako je èisto, buduæi da je suviše bledo i meko, pa mu se zato pridodaje u kovnicama bakra ili drugih manje skupocenih kovina, da dobije èvrstoæu, zivlju boju i lepši sjaj.“ [Übersetzt vom Verfasser]. 31 Vgl. DERS., Sistem istorijske antropologije, S. 9. 32 Vgl. DERS., Etnogeneza Jugoslavena, S. 143 f. 33 Vgl. DERS., Naša zelezna valuta, in: Slovenski narod vom 30.10.1921, S. 1; vgl. DERS., Slovenci v radikalni tabor!, in: Radikalski glasnik. Organ narodnoradikalne stranke za Slovenijo vom 11.4.1924, S. 1 f. Velik govor dr. Nika Zupanièa v Zuzemberku, in: Jugoslovan vom 7.11.1931, S. 3; zum Zusammenhang zwischen der Krise der humanistischen Tradition und dem Aufstieg der physischen Anthropologie vgl. Andrew ZIMMERMANN, Anthropology and Antihumanism in Imperial Germany, Chicago 2001. 34 Arthur O. LOVEJOY, The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea, Cambridge 1948. 35 Mirko M. KOSIÆ, Ideja progresa u savremenoj sociologiji, in: Zbornik posveæen Jovanu Cvijiæu, S. 447–473, hier S. 469 f: „[…] pokušaj obrazovanja jedne nove nacionalne celine, jer kogod zastupa trajno drzavno jedinstvo bliskih i srodnih plemena i naroda mora raèunati i sa verovatnošæu njihovog stapanja u jednu naciju. Taj je pak proces naroèito komplikovano, što se istovremeno mora vršiti i rasno formiranje (asimilacijom još mnogih etno-psihièki i kulturno tuðih elemenata znatne jaèine) i formiranje nacionalno-drzavnih tradicija.“ [Übersetzt vom Verfasser]. 36 Vgl. Slavoj ZIZEK, Liebe deinen Nächsten? Nein, Danke! Die Sackgasse des Sozialen in der Postmoderne, Berlin 1999, S. 7–13. ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ 301 ^ ^ Die Bürde des „österreichischen Menschen“. Der (post-)koloniale Blick des autoritären „Ständestaates“ auf die zentraleuropäische Geschichte Werner Suppanz [...] vielmehr wurde unser Heimatboden ein Teil des großen deutschen Siedlungsraumes, er wurde der südöstlichste Pfeiler des sich in Mitteleuropa bildenden Deutschen Reiches; seine Bewohner mussten die Völkerströme des Ostens auffangen und ihnen die Segnungen höherer Kultur vermitteln, sie mussten zugleich Verteidiger und Vermittler deutschen Geistes sein.1 Vorbemerkungen Der autoritäre „Ständestaat“ der Jahre 1933 bis 1938 in Österreich legitimierte sich in hohem Maße durch das Selbstverständnis, „österreichisches Wesen“ in Kontinuität zur 1918 untergegangenen Habsburgermonarchie zu verkörpern. Er steht daher als Fallbeispiel für eine post-imperiale Situation, für eine Gesellschaft, die das Ende einer hegemonialen Situation in einem in vielerlei Hinsicht – territorial, kulturell, demographisch – weitaus umfangreicheren Staatswesen zu bewältigen hat. Der vorliegende Aufsatz thematisiert die Deutung der zentraleuropäischen Geschichte, insbesondere der Geschichte der Habsburgermonarchie, als Geschichte kolonialer Verhältnisse durch die Identitätspolitik des „Ständestaates“. Die Superiorität des „österreichischen Menschen“2 als Vertreter eines „christlich-abendländischen Deutschtums“ stand dabei außer Zweifel und hatte ein Bild der anderen kulturellen und ethnischen Gruppen in der Region als unterlegen, rückständig und abhängig zur Folge. Diese koloniale Perspektive wirft allerdings weitere Fragen auf. So ist zu untersuchen, inwieweit die Erzählung von der Habsburgermonarchie als „Erfolgsgeschichte“, die ein harmonisches Miteinander der Völker und Kulturen ermöglichte, mit diesem hierarchischen Konzept in Einklang gebracht wurde beziehungsweise überhaupt darin Platz hatte. Dass koloniale Situationen kulturelle Hybridität fördern, ist aus der Sicht der Postcolonial 303 Studies eine Grundannahme. Die Wahrnehmung dieser Prozesse sowie die Selektionsmechanismen, die ihre Ausblendung ermöglichen, stehen daher mit der erstgenannten Frage im Zusammenhang. Dieser Themenkomplex wird hier anhand von Texten dargestellt, die der Vermittlung des offiziellen Geschichtsbildes im „Ständestaat“ dienten. Es handelt sich dabei einerseits um Schulbücher beziehungsweise für den Unterricht approbierte Lesebücher, andererseits um Schulungsmaterial der Vaterländischen Front für ihre FunktionärInnen. Die imaginäre Geographie des „Ständestaates“ – Kultur versus Barbarei Geschichte wurde im „Ständestaat“ als Abfolge von Kolonisierungsprozessen verstanden, wobei die Besiedlung durch „Deutsche“ und kulturelle Assimilation durch die überlegene christlich-deutsche Kultur als legitim galten. Der Anspruch auf kulturelle Überlegenheit in der Gegenwart wurde durch den Rückgriff auf die Geschichte seit dem Frühmittelalter begründet: Durch die bairische und fränkische Landnahme sei auch die Gegend östlich der Alpen bis zum Plattensee einschließlich des Burgenlandes zu den „Segnungen höherer Kultur“ gekommen.3 Die Formulierung vom „westöstlichen Kulturgefälle“4 machte die Annahme einer Rangordnung deutlich. Die „fremden“ Völker wurden pejorativ bezeichnet, mit Bezeichnungen, die ihre Inferiorität und ihre Massenhaftigkeit zum Ausdruck bringen. So war von den „von Osten heranflutenden Völkerwellen“5, von der „Überflutung durch die Türken“6 wie vom „Andringen des Slawentums“7 die Rede. „An einer Völkerscheide, wo asiatische Barbarei auf abendländische Kultur stieß, wehrte sie [= die Ostmark, Anm. W.S.] die Reichsfeinde ab und zog die Fremdvölker ihres Machtbereichs in den Dienst des Reichsgedankens“, hieß es in einer österreichischen „Geschichte für Jugend und Volk“.8 Kolonisierung wurde als Transfer von Menschen und von kulturellen Gütern verstanden, die Wahrnehmung kulturellen Transfers war Ausdruck von Superioritätsvorstellungen: Der magyarische Staat war von Anfang an auf eine enge Verbindung mit dem Deutschen Reiche angewiesen; den Ostalpenländern fiel nun als besondere Aufgabe nicht nur der Grenzschutz, sondern auch die Übermittlung kultureller Güter zu. Das haben die deutschen Könige erkannt, und sie haben durch besondere Einrichtung der Grenzmarken, durch Wiederaufnahme der Kolonisation und durch Förderung des Geisteslebens in den Ostalpenländern dieser Aufgabe gerecht zu werden versucht.9 304 Aufgrund der Vorstellung von einem West-Ost-Gefälle, die das östliche Zentraleuropa und Südosteuropa als unterlegen deutete, wurde die besondere Bedeutung der „Ostmark“ darin gesehen, dass sie den „Weg nach Osten“10 erschließe und in diesem Teil Europas kulturmissionarische Aufgaben erfülle: „Daher die zwei grossen Sendungen Oesterreichs: zunächst kulturelle Erziehung der kleinen Nationen und deren Durchdringung mit deutschem Wesen und dann Brücke zwischen den verschiedenen Kulturen zu sein. Dabei hat Oesterreich nicht nur kulturverknüpfend und kulturassimilatorisch, sondern in hohem Grad kulturschöpferisch gewirkt (insbes. Musik, Erfindungen usw.).“11 „Deutsche Besiedlung“ und „deutsche Einwanderung“ dienten gleichsam als running gags der Geschichtsdarstellung. Das Selbstverständnis als historische Kolonialmacht gegenüber „dem Osten“ besaß dabei eine eminente zeitgenössische Funktion im Rahmen der Legitimationsstrategien des „Ständestaates“. Es erfuhr seine Deutung als wesentliches Element der „österreichischen Mission“12, die die Existenz eines souveränen, christlich-(= katholisch)deutsch definierten Österreichs rechtfertigen sollte. Der Anspruch, die „besseren Deutschen“ gegenüber dem Deutschen Reich, insbesondere in seiner nationalsozialistischen Prägung, zu verkörpern, beruhte in hohem Maße auf dem Nachweis der besonderen historischen Leistungen für das „Deutschtum“: „Die Habsburger sind [...] in ihrer Hausmachtpolitik Träger einer großen geschichtlichen Idee geworden: durch den Zusammenschluß der drei Ländergruppen [= österreichische Erbländer, Böhmen, Ungarn, Anm. W.S.] ist der Einfluß des deutschen Volkes und seiner Kultur über Donau und Karpaten hinaus weit nach dem Osten getragen worden.“13 „Kulturarbeit [...] fernhinwirkend bis an die Tore des Orients“14 sei die besondere historische Leistung des österreichischen Deutschtums. Charakteristisch für die Sicht auf den habsburgischen Kolonialismus war seine Rolle in einem komplexen Wechselspiel von Offensive und Defensive. Komplementärer Bestandteil des Topos der „österreichischen Mission“ war die Auffassung, dass Österreich „Bollwerk der Christenheit und der Kultur Europas“ sei und die Grenzen des Deutschen Reiches und des christlichen Abendlandes zu schützen habe.15 Dennoch wurde die Kolonisierung nicht als bloße Präventivmaßnahme gerechtfertigt. Die Verbreitung christlich-deutscher Kultur galt entsprechend ihrer religiösen Überhöhung als Auftrag, der Österreich von Gott und/oder der Weltgeschichte – gewissermaßen als Bürde des „österreichischen Menschen“ – auferlegt worden sei.16 Die Anerkennung der Überlegenheit der österreichischen Kultur sei dabei den anderen Völkern am meisten zugute gekommen. Österreich sei im Laufe der Geschichte zum Träger einer Kultur 305 geworden, „die segenspendend ringsum ausstrahlte und Österreich in friedlichem Fortschreiten zum Mittelpunkt der zahllosen Völker machte, die sich in dem vielgestaltigen Beckengebiet an der mittleren Donau angesiedelt“ haben.17 Für den Nutzen von Kolonisierung, die sowohl im physischen Sinne – als Rodung, Besiedlung, ökonomische Nutzbarmachung – als auch als Verbreitung von Kultur aufgefasst wurde, galt Österreich selbst als das beste Beispiel. Denn auch die „Ostmark“, so wurde hervorgehoben, sei durch das Werk „deutscher“ Kolonisten entstanden, die der slawischen und awarischen Bevölkerung Friede, Ordnung und Stabilität gebracht habe: „So erstand die Ostmark. Eroberermut und Siedlerfleiß deutscher Männer bayrischen und fränkischen Stammes schafften (sic!) aus einer Stätte des Schreckens ein Land der Zukunft.“18 Das Ergebnis, so wurde propagiert, konnte sich sehen lassen und diente offensichtlich als Rechtfertigung für die „österreichische Mission“ im Südosten Europas: „Aus dem früheren Kolonistenland war ein blühendes, reich besiedeltes Gebiet entstanden, in dem auch die geistigen Güter zu ihrem Rechte kamen.“19 Der binäre Gegensatz von Kultur und Barbarei, Zivilisation und Wildnis, kennzeichnete die imaginäre Geographie20 von Zentraleuropa, wobei dank der Leistungen der „Deutschösterreicher“ die „weißen Flecken“ der Rückständigkeit kontinuierlich weniger wurden. Das Bild von der Siedlerarbeit in der „Ostmark“ wurde auf die „deutsche Kolonisation“ im östlichen Zentraleuropa, insbesondere in den ehemals osmanischen Gebieten, übertragen und emotional eindringlich vermittelt. So hieß es über die Zeit nach dem Frieden von Passarowitz/Pozarevac im Jahr 1718: „Viele Tausende deutscher Kolonisten zogen in den folgenden Jahren in das Banat. Aus versumpften Landstrichen wurde reicher Ackerboden, Flüsse wurden reguliert, Kanäle gebaut und Wälder gerodet, überall hielt deutsche Kultur ihren Einzug.“21 Oder: „[...] ein starker Strom deutscher Arbeitskraft und deutscher Kultur ergoß sich über Südungarn bis nach Belgrad.“22 Dabei handelte es sich quasi um einen Deal gleichermaßen zum Vorteil der Deutschen wie der ansässigen Bevölkerung, denn zum Beispiel habe Maria Theresia mit ihrer Ansiedlungspolitik im Banat, in Galizien und der Bukowina dem deutschen Volke neuen Lebensraum im Südosten gewonnen, „wo inmitten halbzivilisierter Gebiete blühende deutsche Gemeinwesen entstanden.“23 306 Die Hierarchie der „Volksstämme“ und das Paradigma Bosnien-Herzegowina An der hierarchischen Ordnung der „Volksstämme“ der Monarchie änderte sich auch in den Darstellungen des 19. Jahrhunderts nichts. Aus dem Blickwinkel des autoritären „Ständestaates“ war es wesentlich, die Rangordnung unter den Nationalitäten festzuschreiben. So hätten die Magyaren den Vorteil gehabt, geschlossen die Mitte ihres Landes zu bewohnen, während die anderen Nationen am Rand verteilt gewesen seien. In Österreich hingegen habe die zentrale Siedlung der Deutschen gefehlt, neben dem Kerngebiet in den Ostalpenländern habe es weitere Siedlungsräume gegeben, die anderssprachige Gebiete teils durchsetzten, teils deren Kerngebiet umschlossen. Auf dieser Grundlage erfolgten die Zensuren für die weiteren „Volksstämme“: „Die Tschechen waren der an Zahl stärkste slawische Stamm, sie waren in ihrer geistigen Reife und Bildung am weitesten fortgeschritten [...]“. Der Maßstab für diese Einschätzung wurde nicht näher definiert. Als Verfechter der nationalen Selbständigkeit und damit als Unruhestifter wurden neben den Tschechen die Slowenen und die Italiener angeführt, wobei das Auftreten letzterer als „häufige stürmische Kundgebungen“ umschrieben wurde.24 So ist es logisch, dass nur kulturelle Leistungen durch „Deutschösterreicher“ wahrgenommen und angeführt wurden. Ausdrücklich führt die Vaterlandskunde an, dass die Träger des künstlerischen Aufstiegs „in erster Linie Deutschösterreicher waren“25. War der Anspruch auf Überlegenheit gegenüber den Tschechen eindeutig, so blieb er gegenüber den Ungarn als zweitem „Hegemonialvolk“ in der Regel unausgesprochen. Dass diese den Deutschen Österreichs den Aufbau ihres Landes nach der osmanischen Herrschaft verdankten, wird aber stets deutlich: „Ungarn war eine Kulturaufgabe. Die neue Besiedlung des verwüsteten und entvölkerten Landes war ein deutsches Werk, von Oesterreich getan. In der Hauptsache aus den österreichischen Ländern, aus den habsburgischen Besitzungen entsprangen die Ströme deutschen Blutes, das sich nach Ostes ergoss. Das war österreichische Tat, das war Ostmarktat, die niemals vergessen werden soll.“26 Nur wenige Autoren formulierten die Vorrangstellung der „Deutschen“ so explizit wie der Jugendbuchautor Fritz Herndl, der Kaiser Joseph II. zu einem Lehrer aus dem Banat sagen lässt: „Das wäre noch schöner, ich bringe Jahr für Jahr Tausende deutscher Ansiedler ins tiefste Ungarn, die verwandeln mir die verlassene Einöde in blühendes Ackerland und zuletzt durften sie nicht einmal in ihrer Muttersprache eine Eingabe vor den Stuhlrichter bringen! Die Amtssprache in all meinen Ländern kann nur die deutsche sein!“27 307 Aus der Sicht des „Ständestaates“ konnte die Stellung des habsburgischen Gesamtstaates und insbesondere der „Deutschen“ nur eine der Vormundschaft gegenüber der Bevölkerung des östlichen Zentraleuropas und Südosteuropas sein. Als Kultur definiert wurde das, was die „Deutschen“ besaßen beziehungsweise den Slawen und – mit Einschränkungen – den Ungarn brachten: „Am Aufschwung der Monarchie gewannen besonders die slawischen Völker, die unter der Obhut des österreichischen Staates erst zu Kulturnationen wurden.“28 Ebenso wurde als Ordnung definiert, was der österreichischungarische Staat als seine Strukturen und Interessen durchsetzte. Österreich wurde als Ordnungsfaktor in Gebieten präsentiert, die ohne die Eingliederung in das habsburgische Reich nicht selbst dazu fähig gewesen seien. So habe Österreich 1878 unter großen Opfern und nach verlustreichen militärischen Kampfhandlungen Bosnien-Herzegowina besetzt. „Wie weit wurde nun Österreich seiner Aufgabe, das unruhige Land zu befrieden und zu kultivieren, gerecht?“29 Die Antwort darauf war eindeutig: In den dreißig Jahren zwischen der Okkupation und der Annexion von 1908 sei das Land „aus dem Räubernest zu einem blühenden Gemeinwesen gediehen“30. Die habsburgische Herrschaft habe den Fortschritt in die zivilisatorische Einöde gebracht: Als die österreichischen Truppen das Land betraten, gab es dort nicht eine [Hervorhebung im Original, Anm. W.S.] ordentlich befahrbare Straße. Wagenverkehr kannte man keinen, elende Karren und Saumtiere waren die Verkehrsmittel, Gasthäuser fanden sich nirgends, eine regelmäßige Postverbindung galt als überflüssig. [...] Zur Zeit der Okkupation vollzog sich die Landwirtschaft Bosniens in Formen, die an urzeitliche Verhältnisse gemahnen. [...] Bergbau war früher nicht vorhanden. [...] Unter der Türkenherrschaft sah der arme bosnische Bauer oft monatelang keinen Groschen Bargeld.31 Reich an Einzelheiten werden die Zeichen der Primitivität in der bosnischherzegowinischen Gesellschaft aufgezählt, ebenso detailliert finden die Maßnahmen der österreichisch-ungarischen Administration Erwähnung, die die Errettung aus dieser Primitivität zum Zweck hatten: „Unter österreichischer Verwaltung wurden 7000 Kilometer Kunststraßen gebaut und 2000 Kilometer Eisenbahnen fertiggestellt, 400 Postämter dienen dem Verkehr, Autobuslinien erschließen auch entlegene Täler, zahlreiche behagliche Gaststätten, vom sauberen Wirtshaus bis zum eleganten Hotel, ermöglichen einen ausgedehnten Fremdenverkehr.“32 Die Produktivität sei um ein Vielfaches gesteigert worden, denn „unsere Verwaltung“ habe Musterwirtschaften errichtet, Saatgut und Zuchttiere kostenlos vergeben, Kurse veranstaltet und Schulen gegründet, Bergbau, Industrie und Geldwirtschaft eingeführt, einen Agrar- 308 markt hervorgebracht. „Durch die zielbewußte Förderung der Wirtschaft unter österreichischer Verwaltung zog allmählich ein gewisser Wohlstand im Lande ein. [...] Mit Stolz konnte Österreich sagen, es hatte an den arg vernachlässigten Provinzen eine wahre Kulturtat vollbracht. [...] Auch die Provinzen Bosnien und Herzegowina erfuhren den Segen ostmärkischen Kolonisationsgeistes.“33 Diese Politik, so wird die paternalistische Haltung unterstrichen, sei Ausdruck der Sendung der Ostmark. Selbstlosigkeit sei es gewesen, die die österreichischen Truppen ausziehen ließ, um den unterdrückten christlichen Bosniern zu helfen und die den österreichischen Staat veranlasste, viele Millionen zur Förderung der Wohlfahrt Bosnien-Herzegowinas einzusetzen.34 Harmonie und Hegemonie Neben dem Diskurs der „deutschen“ Überlegenheit ist allerdings ein weiterer erkennbar, der die Gleichheit und das friedliche Miteinander der „Volksstämme“ in den Mittelpunkt stellt. Modellhaft dafür ist folgende Beschreibung der Reaktion auf den Ausbruch des Ersten Weltkriegs: „Als der Kaiser seine Soldaten rief, folgten sie ihm alle freudig. Der Bauer ließ den Pflug, der Handwerker sperrte seine Werkstatt, der Senne stieg von der Alm, der Csikos kam aus der Pusta (sic!), der huzulische Schafhirte zog aus dem Waldgebirge, der dalmatinische Fischer ließ sein Netz. Alle, alle kamen, ob sie nun deutscher, ungarischer oder slawischer Zunge waren. Es galt, das gemeinsame Vaterland zu schützen, der Kaiser hatte gerufen.“35 Der österreichische Staatsgedanke der Habsburgermonarchie wurde retrospektiv als Grundlage einer harmonischen Gemeinsamkeit präsentiert: Die „Überbrückung von Gegensätzen und Sonderinteressen“ habe es ermöglicht, aus einem höchst differenzierten Körper einen geschlossenen europäischen Machtfaktor zu machen. Das österreichische Staatsgefühl wird als „ein von den Völkern der Monarchie selbst getragenes und erlebtes Bewußtsein von Einheit und Gemeinschaft“ beschrieben.36 Am besten sei Österreich daher damit gefahren, sich nach außen als deutscher Staat zu betrachten, aber die „natürliche Vielheit der Völker“ bestehen zu lassen und „sie in der monarchischen Einheit zu einer harmonischen staatlichen Lebensform“ zusammenzufassen.37 Insbesondere auf ökonomischer Ebene wurde immer wieder die Harmonie des österreichisch-ungarischen Staates beschrieben. Ein Gefüge aus Agrargebieten wie Ungarn und „alle östlichen Gebiete“ und aus Industriezent- 309 ren in den Erbländern und in Böhmen sei im Zeichen des wirtschaftlichen Austauschs zum allseitigen Vorteil gestanden. Zudem habe sich die Einheit des Verkehrs „nicht im mindesten um Völkergrenzen“ gekümmert und nur dem Zweck gedient, die Länder aneinander zu binden und den Güteraustausch zu erleichtern. Wien sei der Mittelpunkt dieser Entwicklung gewesen.38 Über das Gebiet der Monarchie hinausgehend war das Bild von Wien als neutralem Umschlagplatz der materiellen und kulturellen Güter wesentlich: „Orient und Okzident trafen sich in Oesterreich, tauschten ihre Güter miteinander aus und befruchteten einander.“39 Das Narrativ eines bunten Multikulturalismus, wie es Homi Bhabha kritisiert,40 und einer perfekten arbeitsteiligen Ökonomie wird allerdings durch den Kontext der Identitätspolitik des „Ständestaats“ zwangsläufig relativiert. Denn letztlich geht diese Erzählung in der Legitimation eines paternalistischen Kolonialismus auf, der eine wesentliche Stütze in der Konstruktion des „österreichischen Menschen“ fand: Die Geschichte habe „den Österreicher leben und werden lassen in einem Staatswesen, in dem die Deutschen der Zahl nach immer Minorität, ihrer politischen und kulturellen Rolle nach aber das Führer- und Staatsvolk waren.“41 In einem Staatswesen wie der Habsburgermonarchie nun habe Führerschaft immer auch Richterschaft und ein „Über-den-Partein-Stehn (sic!)“, ein „Stehn (sic!) über den Volksstämmen“ bedeutet. Der Vorrang im Gesamtstaat habe die Fähigkeit zur Voraussetzung, alles in eine große Zahl anderer Sprachen übersetzen zu können und sich dabei in andere Völker hineinfühlen und hineindenken zu können. Die Führungsposition der Deutschösterreicher in der Habsburgermonarchie beruhe daher auf einer besonderen, wohl erworbenen Disposition zur Psychologie.42 Es sollte klar bleiben, dass das Gefüge der Habsburgermonarchie eines führenden Volkes bedurfte: „Wien blieb deutsch und wurde durch den Zuzug kräftiger deutscher Menschen aus den Provinzen immer wieder innerlich befähigt, seine deutsche Art aufrecht zu erhalten.“43 Die genannten Austauschprozesse fanden – so wurde das Bild der Harmonie ständig konterkariert – eben doch nicht unter gleichwertigen Völkern und Kulturen statt, sondern unter der Ägide von Führern und Richtern. Österreich-Ungarn habe letztlich dem Zweck gedient, die überlegene deutsche Kultur zum Vorteil aller zu verbreiten: „Der deutsche Beamte, der deutsche Offizier, der deutsche Kaufmann – sie trugen alle das abendländische Bildungsgut hinaus zu den slawischen Völkern, sie waren es, die der abendländischen Technik ein neues Betätigungsfeld, der abendländischen Wirtschaft neue Absatzgebiete erschlossen.“44 310 „Ständestaat“ postkolonial Die vergangene Größe Österreichs beziehungsweise der Habsburgermonarchie, wie sie der „Ständestaat“ vermitteln wollte, beruhte somit in hohem Maße auf dem Selbstbild als ehemalige (Binnen-)Kolonialmacht. Das Streben nach Vereinheitlichung kultureller Muster wurde als historische Leistung des katholischen „Ostmarkdeutschtums“ präsentiert und fungierte als raison d`être des unabhängigen Österreich in der Konfrontation mit dem Dritten Reich. Der Maßstab, dem sich die hierarchisch als untergeordnet aufgefassten Volksstämme und Regionen anpassen sollten, war die „abendländische“ beziehungsweise „deutsche Kultur“, die als christlich – konkret: katholisch – geprägt imaginiert wurde. Die Darstellung der zivilisatorischen Leistungen der k.u.k. Armee beziehungsweise der Administration in Bosnien-Herzegowina macht paradigmatisch deutlich, wie das Andere – das noch nicht vom kulturellen Einfluss Österreichs geformt war – als rückständig und unmündig gedacht wurde.45 „Ordnung“ und „Chaos“ sowie „Kultur“ und „Barbarei“ waren die Koordinaten in diesem Blick auf die zentraleuropäische Vergangenheit im „Ständestaat“, wobei dank der deutsch-österreichischen „Kulturarbeit“ letztere jeweils durch erstere ersetzt wurden. Ethnisch-kulturelle Differenz in der Monarchie wurde als Rangordnung, kulturelle Hybridität im Sinne einer „Vermischung von Traditionslinien oder von Signifikantenketten“46 hinsichtlich der „Kolonisierten“ in der Monarchie wahrgenommen und als wünschenswert betrachtet: Für die anderen Volksstämme galt die Übernahme „deutscher“ kultureller Elemente als Chance und als Voraussetzung für Entwicklung. Die „Deutschen“ blieben laut hegemonialem Diskurs unberührt von Prozessen der Hybridisierung im Kontakt mit den anderen „Volksstämmen“ Österreich-Ungarns und konnten so ihre Führungsrolle bewahren. Diskurse, die das Bild multikultureller Harmonie in Österreich-Ungarn thematisierten, standen mit dieser Perspektive nicht im Widerspruch, sondern ergänzten sie. Gerade indem sie das Konfliktpotenzial kultureller Differenz und die unterschiedlichen Machtverhältnisse ausblenden, festigen sie die Legitimation des Binnenkolonialismus der Habsburgermonarchie. Das zeigt sich beispielsweise an der Thematisierung Wiens, das teils als gleichsam neutraler Ort des Austauschs, teils als Machtzentrum der Deutschen in der Habsburgermonarchie galt. Diese Narrative von der „Reichshaupt- und Residenzstadt“ waren nicht gegeneinander gerichtet, vielmehr wird Wien hier als Ort präsentiert, in dem die besonderen Tugenden des „österreichischen Menschen“ als Mittler und Schiedsrichter zum Tragen 311 kommen, der als Deutscher stets Überlegenheit beanspruchen sollte und konnte. Aus der Sicht eines autoritären Regimes der 1930er Jahre besaß Kolonialismus selbstverständlich nichts Anrüchiges. Im Gegenteil, die „austrofaschistische“ Regierung versuchte gerade durch das Narrativ von den „österreichischen Deutschen“ als besonders begabten Kolonisatoren den „Ständestaat“ zu legitimieren – durch den Nachweis historischer und aktueller Größe gegenüber der eigenen Bevölkerung und der Überlegenheit gegenüber dem „Reichsdeutschtum“. Das Sprechen von der kolonialen Bürde des „österreichischen Menschen“ – für Ignaz Seipel, den Bundeskanzler der 1920er Jahre, seiner Geschichte und Art nach ein Großstaatmensch47 – erweist sich somit paradigmatisch als „Schutzdichtung“ im Sinne Homi Bhabhas ebenso im Kampf gegen politische Feinde wie um die ÖsterreicherInnen der Ersten Republik „mit dem traumatischen Wissen zu verschonen, [...] keinen festen Boden unter den Füßen [zu] haben“48. Anmerkungen 1 Vaterlandskunde. Geschichte, Geographie und Bürgerkunde Österreichs für die achte Klasse der Mittelschulen, verfaßt von Dr. Alois HINNER, Dr. Oskar KENDE, Dr. Heinrich MONTZKA und Dr. Mathilde UHLIRZ, Wien 1938, S. 48. 2 Vgl. Werner SUPPANZ, Der „Österreichische Mensch“. Ein Topos des „Ständestaates“ und der frühen Zweiten Republik, in: multiple choice. Studien, Skizzen und Reflexionen zur Zeitgeschichte, hg. von Abteilung Zeitgeschichte, Graz 1998, S. 183–209. 3 Vaterlandskunde, S. 51. 4 Richard DOLBERG, Bau- und Zerstörungskräfte des Gemeinschaftslebens, in: Das Schulungsgut der Vaterländischen Front, o.O. o.J., S. 30 (Archiv der Republik, Bestand Vaterländische Front, Kart. 54). 5 Vaterlandskunde, S. 100. 6 Vaterlandskunde, S. 107. 7 Vaterlandskunde, S. 119. 8 Fritz HERNDL, Österreich. Seine Geschichte für Jugend und Volk, Innsbruck– Wien–München 1934, S. 24. 9 Vaterlandskunde, S. 53. 10 Ebenda. 11 DOLBERG, Bau- und Zerstörungskräfte, S. 30. 12 Vgl. Werner SUPPANZ, Österreichische Geschichtsbilder. Historische Legitimationen in Ständestaat und Zweiter Republik, Köln–Weimar–Wien 1998 (Böhlaus Zeitgeschichtliche Studien 34), S. 114–124. 13 Vaterlandskunde, S. 92. 312 14 Hugo HANTSCH, Österreichische Staatsidee und die Reichsidee, in: Österreich, Volk und Staat, Wien 1936, S. 4. 15 Vaterlandskunde, S. 106. 16 „Wenn darum der österreichische Staat ausdrücklich im christlichen [Hervorhebung im Original, Anm. W.S.] Sinne erneuert werden soll, so ist dies nur eine selbstverständliche Besinnung auf die ihm von der Geschichte zugewiesene Sendung.“ (Vaterlandskunde, S. 253). 17 Alfred v(on) BALDASS, Das Nibelungenlied, in: Helden der Ostmark. Gedruckt im Auftrag des Vaterländische-Front-Werkes „Österreichisches Jungvolk“, Wien 1937, S. 13. 18 HERNDL, Österreich, S. 23. 19 Ebenda, S. 40. 20 Zum Konzept der „imaginären Geographie“ vgl. das Kapitel „Imaginative Geography and Its Representations: Orientalizing the Oriental“ in: Edward SAID, Orientalism, New York 1978, S. 49–73. Siehe auch: Götz GROSSKLAUS, Neue Medienrealität – jenseits der alten Dichotomie von „fremd“ und „eigen“?, in: Shichiji YOSHINORI (Hg.), Begegnung mit dem „Fremden“. Grenzen – Traditionen – Vergleiche. Akten des VIII. Internationalen GermanistenKongresses Tokyo 1990, Bd. 2, Sektion 1, Theorie der Alterität, München 1991, S. 29–31. 21 Vaterlandskunde, S. 108. 22 Ignaz Philipp DENGEL, Prinz Eugen, der edle Ritter, in: Helden der Ostmark, S. 74. 23 HERNDL, Österreich, S. 133, vgl. Vaterlandskunde, S. 122. 24 Vaterlandskunde, S. 154 f. 25 Ebenda, S. 162. 26 Oesterreich, sein Werden und seine Sendung (= Kursbehelf Nr. 5, Vaterländische Front, Landesleitung Wien), S. 10 (Archiv der Republik, Bestand Vaterländische Front, Kart. 14). 27 HERNDL, Österreich, S. 140. 28 Ebenda, S. 186. 29 Ebenda, S. 196. 30 Ebenda, S. 197. 31 Ebenda, S. 197 f. 32 Ebenda, S. 197. 33 Ebenda, S. 198. 34 Ebenda, S. 198 f. 35 Ebenda, S. 213. 36 HANTSCH, Österreichische Staatsidee, S. 43. 37 Ebenda, S. 44. 38 Oesterreich, sein Werden und seine Sendung (= Kursbehelf Nr. 5, Vaterländische Front, Landesleitung Wien), S. 13 f. 39 DR. BITTNER, Österreich, ein deutscher Staat, in: Schulungsblätter, hg. von der Schulungsabteilung im Amt des Frontführers, Nr. 5 (Juli–August 1937), S. 17 (Archiv der Republik, Bestand Vaterländische Front, Kart. 55). 313 40 Vgl. Homi K. BHABHA, Das theoretische Engagement, in: Homi K. BHABHA, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000 (Stauffenburg Discussion 5), S. 58. Bhabha kritisiert die harmonisierenden und essentialistischen Tendenzen der Konzeption des Multikulturalismus primär als naive liberale Vorstellung. 41 Anton WILDGANS, Rede über Österreich (1929), in: Österreich, Volk und Staat, S. 7. 42 Ebenda, S. 8. 43 Oesterreich, sein Werden und seine Sendung, S. 14. 44 DR. BITTNER, Österreich, ein deutscher Staat, S. 17. 45 Vgl. Johannes FEICHTINGER, Die Habsburgermonarchie: ein Ort der Inneren Kolonisierung? http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/index.asp?id= 157&pn=tagungsberichte (download 7.3.2003). 46 Elisabeth BRONFEN, Benjamin MARIUS , Hybride Kulturen. Einleitung zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, in: Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, hg. v. Elisabeth BRONFEN, Benjamin MARIUS, Therese STEFFEN, Tübingen 1997 (Stauffenburg Discussion 4), S. 14. 47 Brief Ignaz Seipels an W. Bauer (31. Juli 1928), zitiert nach Viktor REIMANN, Zu groß für Österreich. Seipel und Bauer im Kampf um die Erste Republik, Wien–Frankfurt a. M.–Zürich 1968, S. 192. 48 Homi K. BHABHA, Vorwort, in: BHABHA, Verortung der Kultur, S. XII f. 314 Die Poetik der Ruine* ^ Dzevad Karahasan Wenn ich trübselig in den Ruinen hocke, so tue ich es wegen der verborgenen Schätze. Die Liebe zu den Schätzen zieht mich dorthin, denn Schätze findet man in Ruinen. Fariduddin Attar 1 Mit einer Ruine kam ich zum ersten Mal in meiner frühen Kindheit in Berührung, als ich die Boæina dola entdeckte, einen der zentralen Orte jener Jahre. Diese Ruine war für mich, vielleicht wegen der Boæina dola, so wichtig, daß ich praktisch in einer Ruine (oder an einer Ruine, auf jeden Fall aber mit ihr, in ständiger, vertrauter und intensiver Berührung mit ihr) aufgewachsen bin vielmehr in der Boæina dola, einer langen, engen Schlucht, deren steile Abhänge von dichter, fast undurchdringlicher Macchia bewachsen waren und durch die an den seltenen Regentagen ein träger Bach floß (rann). Dort unten in der Schlucht gab es eine und am östlichen Abhang mehrere von einer undurchsichtigen Wand aus Gestrüpp umgebene Lichtungen, und nur ein Junge, der bereit war, Kratzer, Schrammen und ähnliche Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen, konnte zu dieser „Höhle“ vordringen, einer für Unwillkommene nicht sichtbare und unzugängliche Stelle, wo ein einsames Kind stundenlang ganz in seiner Welt verweilen konnte, Träumen und allen möglichen Vorstellungen nachhängend, schweigend oder im Gespräch mit dem, was seine Vorstellungen bevölkerte. Auf dem Grund der Schlucht, von der Macchia durch ein paar Meter verwilderten Garten getrennt, befand sich meine Ruine: das Haus der Familie 315 Ligaè, die vor meiner Geburt nach Australien ausgewandert war, ein Haus, das zu kümmerlich war, als daß man es, trotz der Armut, die bei uns herrschte, jemandem hätte verkaufen oder auch nur schenken können. Erbaut aus schlechtem Stein (bei uns „Schuppenkopf“ genannt), der das Wasser buchstäblich aufsaugt, dann aber an der Sonne Sprünge bekommt und mit der Zeit zu Staub zerfällt, war ihm, einmal verlassen und sich selbst überlassen, keine lange Lebensdauer beschieden. Als ich es entdeckte (in dem Augenblick, als wir uns begegneten), war das Haus der Familie Ligaè bereits eine richtige Ruine geworden – innerhalb von nur fünf oder sechs Jahren. Die Westwand war nur noch ein Berg aus zermahlenem Stein, Mörtel und Staub. Beim ersten Gang zu meiner Ruine fand ich hier eine junge Heckenrose und ein paar Grashalme, die als Ankündigung, als Versprechen einer künftigen Wiese hervorsprossen, der sich eines Tages mit viel Liebe und Neugier ein anderer Junge zuwenden würde, bereit, auf dieser Wiese stundenlang vor sich hin zu träumen. Die Ostwand stand noch, nicht ganz, aber fast in voller Höhe, so daß man erraten konnte, wo früher die Fenster, wo die Deckenbalken gewesen waren, die die Grenze zwischen Wohntrakt und Dachboden markierten, an dieser Wand ließ sich ablesen, wie hoch das Haus gewesen war und wie viele Wohnräume es gehabt hatte. Nord- und Südwand waren nach Osten hin solide erhalten und standen an der westlichen Seite knapp bis zur halben Höhe, aber auch das reichte, um die Eingangstür und das Fenster nach Süden zu erahnen, durch das tagsüber das Licht Gottes die Küche erhellt hatte – den wichtigsten Raum in den Häusern armer Leute, wo sich der wache Teil des Tages aller Familienmitglieder abspielte und wo die Familie sich als Gemeinschaft jeden Tag aufs neue bestätigte. Zweifellos war dieser Raum links von der Eingangstür in der südwestlichen Ecke des Hauses die Küche gewesen, denn hier lagen die Überreste eines Blechherds herum (zum Zeitpunkt, als das Haus verlassen wurde, sicher so heruntergekommen, daß ihn keiner der Nachbarn mit zu sich herüber nehmen wollte), und dieser Raum war der größte, er hatte die beste und geschützteste Lage. Die verrotteten Blechteile, dünn und durchsichtig wie Spinnweben, die von der früheren Existenz eines Herds zeugten, waren als einziges von den Sachen übriggeblieben, die einmal die Küche und demnach die Tage einer Familie gestaltet hatten, die jetzt irgendwo in Australien dabei war, sich häuslich niederzulassen. Kein Tisch aus grob gezimmertem Holz, keine ordentlich um den Tisch gestellten Stühle ohne Lehne, keine Bank unter dem Südfenster, auf der man an kalten Tagen sitzen und über das Kleefeld zum Bach und auf den Berg dahinter schauen konnte. Kein mit rot- 316 weiß-kariertem Stoff überzogenes Geschirregal, das sicher zwischen Herd und Fenster an der Südwand gestanden hatte. Keine Trennwand zur Vorratskammer, die sich nördlich von der Küche befand (daran abzulesen, daß in diesem ehemaligen Raum nicht das winzigste Überbleibsel auf einen Fußboden hindeutete, so daß es hier kälter gewesen sein muß als in den anderen Räumen und damit auch günstiger für die Aufbewahrung der wenigen Speisen, die man lagern konnte), und auch kein mit einfachen Blumen besticktes Tuch, das gerade an dieser Wand gehangen haben muß, mit Taschen für das Besteck. Welcher Küchenspruch zur Belehrung der Hausfrau war wohl daraufgestickt? „Die kluge Köchin wenig spricht, damit nicht anbrennt ihr Gericht“? Das glaube ich nicht, denn das Tuch hing gegenüber dem Herd und konnte die mit dem Rücken zu ihm stehende Köchin gar nicht ermahnen. Dann war es vermutlich eine Belehrung über die Reinlichkeit, weil in den Taschen das Besteck verwahrt wurde: „Die Küche rein, das Essen fein. Anders darf’s bei mir nicht sein“. Ich weiß nicht, sicher ist nur, daß da ein Tuch gehangen hat, auf dem eine wichtige, mit einfachen kursiven Buchstaben aufgestickte Belehrung stand. Außer den Blechüberresten in der Ecke, den Scherben eines Dachziegels und den Bruchstücken eines morschen Brettes im Staub ist von der Trennwand zwischen Küche und Vorratsraum oder vom Fußboden kaum noch etwas übrig. Doch für ein Kind und auch für einen Erwachsenen, der gern in der Stille und Einsamkeit träumt und sich etwas vorstellt, ist es vollauf genug, um das Leben einer Familie zu rekonstruieren. Man kann sich leicht den Vater vorstellen, wie er auf der Bank an der Südwand sitzt, raucht und zum Bach hinüberschaut, dann zum Berg, der sich über dem Bach erhebt, während er darauf wartet, daß das Essen auf den Tisch kommt. Man kann sich leicht die Tochter vorstellen, wenn sie eine gehabt haben, wie sie eifrig und stolz, ein Tuch in der Hand, zwischen Tisch und Trennwand hin- und herläuft, das Besteck auf den Tisch legt und der Mutter hilft. Aber am leichtesten kann man sich den Jungen vorstellen, der jenem, der das alles imaginiert, ähnlich ist (diese Ähnlichkeit läßt sich nicht vermeiden, weil das Imaginäre, damit man es wirklich erleben kann, konkret und von Liebe erfüllt sein muß), einen Jungen, der sich bemüht, die Schuldgefühle abzuwehren, weil er nicht mithilft, sondern untätig und unnütz herumsitzt, während Mutter und Schwester arbeiten. Um sein Unbehagen vor sich selbst zu verbergen, stellt er sich vor, er sei ein Erwachsener, und diese vorgestellte Person gleicht auffallend seinem Vater, der gerade vom Feld nach Hause gekommen ist, auf der Bank unter dem Fenster sitzt und sich eine Zigarette anzündet. 317 Man kann sich das alles sehr leicht vorstellen, und dem aufmerksamen Blick und Geist eines Menschen, der das Leben in den Häusern armer Leute kennt, enthüllt es sich von selbst. Von selbst offenbart sich ihm, daß der Raum nördlich vom Eingang, mit der Tür, die direkt auf die Eingangstür hinausging, das Schlafzimmer war, wo die Mutter jede Nacht das Bettzeug für sich und den Vater holte und die Kinder im kalten Zimmer allein ließ, mit der Dunkelheit, mit den Ängsten, die sie weckt, und mit der Schläfrigkeit, die so gut vor der Angst schützt, wenn nichts Vertrauteres da ist, um die Kinder zu trösten. All das enthüllt sich nur dem, der aufmerksam genug schaut und bereit ist, sich der Ruine und dem, was sie sagt, nicht zu verschließen. Nur ein bißchen Erfahrung, ein Minimum an Wissen über das Leben in solchen Häusern und das notwendige Maß an Sensibilität, die Bereitschaft, sein Wesen und seine Erfahrung der Rede der Ruine, in der der Junge seine Tage verbringt, zu öffnen – mehr braucht es nicht, um auf der Grundlage der erhaltenen Details die Form des Lebens, das hier währte, zu rekonstruieren und in der Imagination aufleben zu lassen. Sich der Ruine zu öffnen, sich in ihr aufzuhalten, wach, geduldig, lange und häufig genug, hat vollauf gereicht, um das Leben, das sich hier abspielte oder sich zumindest genauso hätte abspielen können, wie es sich der Junge vorgestellt hat, vollständig wiedererstehen zu lassen, um die Menschen, die dieses Leben ertragen mußten, kennenzulernen, um sich ihnen wirklich zu nähern. Obwohl ich sie nie gesehen habe, obwohl sie schon vor meiner Geburt längst in Australien oder in jener anderen Welt gewesen waren, habe ich sie gekannt und mich mit ihnen verstanden, bin in der Ruine ihren Erinnerungen an die hier zugebrachten Tage begegnet, habe im Gesicht oder an den Händen die Seufzer der Sehnsucht nach dem schönen Blick durch das Südfenster oder die Angst vor der Dunkelheit im kalten Schlafzimmer gespürt. Ich habe die Seelen ihrer schon lange verstorbenen und unweit von hier beerdigten Vorfahren kennengelernt, die bisweilen wie zu einem ihrer Ursprünge hierhergekommen sind, und habe gelernt, sie voneinander zu unterscheiden. Damals wußte ich noch nicht, was Kunst ist, und habe auch nicht ahnen können, daß ich mein ganzes Leben mit dem verbringen würde, was ich damals tat: aus der Rede der Ruine, aus der Rede der Erinnerung, die das Geschehen ungenau bewahrt hat, aus Überresten, auf der Grundlage einiger Details, die erhalten geblieben sind oder sich mir entdeckt haben, gegenwärtig, sichtbar lind wirklich, das mögliche (wahrscheinliche) Leben abwesender, ferner, unsichtbarer, womöglich schon verstorbener oder niemals gebo- 318 rener, doch liebgewonnener und mir wie mein eigener Atem vertrauter Menschen zu rekonstruieren. Ich habe damals auch nicht ahnen können, daß ich auf dieselbe Weise, wie ich die Familie Ligaè kennen- und liebengelernt habe, später den guten und müden Onkel Wanja und seine Nichte Sonja, den schlauen alten Pisteter, das unschuldige und leidenschaftliche Gretchen kennenlernen und lieben würde. Ich habe nicht geahnt, daß die Poetik des Erzählens und die Poetik der Ruine geistige Zwillingsschwestern oder zumindest nahe Verwandte sind, ich habe nicht gewußt, daß Ruinen dem Erzählen so nah und so unentbehrlich sind. Ich war wohl zu jung, um eigene Erinnerungen zu haben, und konnte deshalb nicht begreifen, daß die Ruine eine Hüterin der Erinnerungen ist und gerade deshalb unentbehrlich fürs Erzählen. Als ich selbst zu erzählen begann, war der Umgang mit der Familie Ligaè eine ferne Reminiszenz, und an meine „Begegnungen“ mit den Seelen und Erinnerungen ferner Menschen habe ich mich manchmal mit einem Unbehagen erinnert, wie es wahrscheinlich ein wahrheitsliebender und der Wirklichkeit zugetaner Mensch empfinden würde, wenn er zugeben müßte, daß er in eine Kristallkugel geschaut hat. Geblieben sind mir nur die Fragen, die dann auftauchten und mich die ganze Zeit begleiteten, während ich die kindlichen Beschäftigungen bei ihrer Wiederholung vergessen hatte: wieviel objektive Wahrheit und wieviel von meinen Träumereien ist in dem vorhanden, was sich mir als das Leben offenbart, das ich aus den sichtbaren Überresten rekonstruiere; wie weit lassen sich die Form eines Lebens, die Tage in einem Haus wirklich aus einer Ruine rekonstruieren; wieviel von dem Haus muß erhalten sein; welcher Teil der Rekonstruktion ist ein wirkliches Lesen der erhaltenen Details, und inwieweit ist diese Rekonstruktion nur ein Hineinlesen des eigenen Ichs in diese Details? All diese Fragen zu überprüfen hatte ich im Frühherbst meines Lebens Gelegenheit, als ich ein Jahr lang durch Ruinen ging. Von April 1992 an hat sich meine Stadt vor meinen Augen in Ruinen verwandelt, so daß ich in Ruinen gearbeitet habe, durch sie gegangen bin, in ihnen Deckung vor Granaten gesucht habe. Zu manchen bin ich, getrieben von einer naiven Hoffnung, gegangen, um zu überprüfen, ob nicht doch etwas übriggeblieben ist, manche habe ich fast rituell aufgesucht, um mich an schöne Tage zu erinnern. 319 2 Die erste Ruine, die ich während der Kriegsjahre in Sarajevo kennengelernt habe, war das ehemalige Orientalische Institut, das schon in den ersten Tagen des Krieges von Granaten getroffen wurde und ausbrannte. Ich ging hin in der naiven Hoffnung (aus einem überstarken Bedürfnis heraus, durch das wohl die naive Hoffnung hervorgebracht wird), daß es nicht so sein möge, wie man sagte und wie es aussah, daß nicht alles zerstört wäre, ich ging hin in der törichten Überzeugung, daß ich zumindest einen Teil der Institutsschätze, der von der Vernichtung verschont geblieben wäre, würde finden können. Im Orientalischen Institut wurden Hunderttausende Dokumente von unschätzbarem historiographischem Wert aufbewahrt, Dokumente, ohne die man buchstäblich keine Geschichte dieser Region schreiben kann, und darauf gründete sich wohl meine törichte „Hoffnung zum Trotz“: Auch diejenigen, die die Stadt zerstören, können ihre Vergangenheit einzig aus den hier aufbewahrten Dokumenten erfahren, auch sie werden das zuverlässige Gedächtnis und die Möglichkeit verlieren, ihr Gedächtnis zu überprüfen, wenn sie dies alles vernichten. Darin zeigt sich die stumpfe Hartnäckigkeit dieser „Hoffnung zum Trotz“: ich weiß, daß sie Barbaren sind, und ich weiß, daß sie gerade deshalb Barbaren sind, weil ihnen die paradoxe Operation gelungen ist, die Geschichte zu mythologisieren. (Ein historisches Ereignis erklären sie zum mythischen Anfang aller Geschichte, so daß in ihrer Vorstellung die Zeit ihre historische Kontinuität verliert; dem Menschen wird somit gestattet, seine Geschichte nach Lust und Laune zu ordnen und die Vergangenheit willkürlich zu deuten. Das Erfinden von Pseudomythen ist die notwendige Ergänzung dieser Operation.) Dennoch erwarte ich, daß ihnen die wertvollen Dokumente wichtig sind, unverzichtbar für die historische Forschung – eine Erwartung, die nur durch diese Hoffnung geweckt werden kann und trotz objektiver Argumente und eigener Überzeugungen und, wenn es sein muß, auch trotz der offensichtlichen Wahrheit hartnäckig existiert. Ich weiß, daß diejenigen, die das Orientalische Institut niedergebrannt haben, kein dokumentiertes Gedächtnis brauchen, weil sie ihr „Gedächtnis“ im Pseudomythos und in epischen Liedern haben; ich weiß, daß ihnen historische Dokumente nur hinderlich sein können, denn Dokumente lassen keine Mythologisierung der Geschichte zu, ihre Ideologie aber ist auf mythologisierte Geschichte angewiesen; all das weiß ich, doch meine „Hoffnung zum Trotz“ treibt mich zur Überprüfung, erfüllt mich mit dem Gefühl, daß auch ihnen die Sammlung wertvoller Dokumente zu teuer ist, um sie unwiederbringlich zu vernichten. 320 (Oder gründete sich meine törichte „Hoffnung zum Trotz“ auf das Vertrauen in die Gnade Gottes? Als Er sich den Menschen offenbarte, hat Gott die Geschichte eingeleitet und die Zeit „in Bewegung gesetzt“, die Erinnerung ermöglicht und uns zum Gedächtnis verpflichtet. Deshalb wird Er es nicht zulassen, daß eine Sammlung, in der das Gedächtnis dieser ganzen Region aufbewahrt ist, untergeht.) Diese „Hoffnung zum Trotz“ trieb mich zum Orientalischen Institut, ein paar Tage nachdem es von Granaten in Brand gesetzt worden war. Sie hatten so präzis ins Ziel eingeschlagen, daß kein Zweifel daran bestehen konnte, daß die Koordinaten lange vor Beginn der Angriffe auf die Stadt festgelegt worden waren. Ich bin in der Hoffnung hingegangen, daß nicht alles, daß unmöglich alles ... Und es war auch tatsächlich nicht alles – geblieben war eine Ruine, die ich lesen konnte, so wie ich seinerzeit die aus dem Haus der Familie Ligaè entstandene Ruine hatte lesen können. Man konnte das Verweilen in diesen Räumen rekonstruieren, aus der Aufteilung und Größe der Räumlichkeiten konnte man auf die Hierarchie schließen, die unter den Anwesenden geherrscht hatte, man konnte an den Formen, der Anordnung und den Verhältnissen der nunmehr schwarzen Wandflächen erkennen, wo die Bücherregale, wo die Dokumentenschränke und wo die nackten Wände gewesen waren. Man konnte natürlich auch das Ursprüngliche, jeder Arbeit und jedem Aufenthalt Vorausgehende erkennen – aus welchen Materialien das Gebäude erbaut worden war, die quantitativen Verhältnisse dieser Materialien in der Zusammensetzung des Gebäudes, die durch sie geschaffenen Funktionen und Formen. Man konnte auch erkennen, daß hier nicht gewohnt, sondern gearbeitet und archiviert wurde, daß nicht produziert, sondern, pathetisch gesprochen, Leben aufbewahrt wurde, das sich in konkreter Form an irgendwelchen anderen Orten abgespielt hatte. Und man konnte leider auch erkennen, daß sich nichts von dem, was aufbewahrt worden war, erhalten hatte und daß wir demnach das Leben, dessen Spuren hier gehütet worden sind, nicht mehr rekonstruieren, sondern uns nur noch vorstellen können mit soviel Willkür, wie wir uns selbst gestatten. Später, während der Kriegsjahre in Sarajevo, habe ich viele Ruinen dieses Typs kennengelernt, weil Bauten, die einen symbolischen Wert hätten haben können, systematisch zerstört wurden. Das Gebäude des Roten Kreuzes, das Hotel Europa, die Magribija-Moschee, das Olympische Museum ... Ich denke, daß ich während dieser Jahre die grundlegenden gattungsmäßigen Unterschiede zwischen diesem Typ von Ruine und jenem Typ, den ich als Kind 321 kennengelernt und erforscht hatte, verstanden habe. Ich glaube, daß die vollständige imaginäre Rekonstruktion einer Ruine nur möglich ist, wenn sich in ihr ein konkretes, vollständiges, alltägliches Leben abgespielt hat, während die aus großen repräsentativen Gebäuden entstandenen Ruinen wie ein ganz anderer Texttyp funktionieren, weil sie einen ganz anderen Typ von Daten, Wissen, Fragen liefern. Beim Lesen der Hausruine der Familie Ligaè stellen wir uns ihre Bewohner, ihr Mittagessen oder ihre Launen und Stimmungen während des Tages vor; aber wenn wir die aus dem Orientalischen Institut entstandene Ruine lesen, erschließen sich uns spezifische Eigenarten der Bautechnik in der österreichisch-ungarischen Monarchie, der Raumaufteilung in den Institutionen des Zweiten Jugoslawien, Einzelheiten über die Hierarchie innerhalb dieses konkreten Instituts, über die Vorlieben einzelner Angestellter bei der Einrichtung des Büroraums. Es erschließen sich uns objektive Informationen über objektive Phänomene, wir begreifen „gesellschaftliche“, nicht individuelle „menschliche“ Fakten. Wir spüren den Stolz der Tochter der Ligaès, während sie ihrer Mutter bei der Vorbereitung des Mittagessens hilft, obwohl wir weder sie noch ihre Mutter jemals gesehen haben, wir spüren ihn sogar, wenn es die Tochter überhaupt nicht gegeben hat, wir spüren ihn, weil man ihn einfach spüren muß, wenn man in der ehemaligen Küche steht, zwischen der Stelle, an der früher der Tisch stand, und der Wand, an der das Tuch mit den Taschen hing. Und wir spüren nicht, wir können schlicht nicht spüren, wie die Hand einer ehemaligen Institutsangestellten zittert, selbst wenn wir diese Angestellte gekannt haben, selbst wenn wir Zeuge waren, daß ihre Hand zitterte, als sie eine Mappe aus dem Schrank nehmen wollte, und selbst wenn wir an jener selben Stelle stehen, in ihrem ehemaligen Büro neben der schwarzen Aureole, die dieser ehemalige Schrank an die Wand gezeichnet hat. Alles ist da: das Zimmer und die Wand, die Spuren des Schranks an der Wand und das Bild unserer Freundin, unsere lebendige Erinnerung an die Worte, die sie an eben diesem Ort, in eben diesem Moment, als ihre Hand zitterte, vor eben diesem Schrank, den uns die schwarze Aureole ins Gedächtnis ruft, ausgesprochen hat. Vergebens – das Gefühl dieses Augenblicks wird nicht wiederbelebt, unser Geist registriert nicht das Zittern der Hand, die wir gesehen haben und deren Bild wir in der Erinnerung wiederbeleben können. Und das hat, glaube ich, nichts mit uns zu tun, das hat mit dem zu tun, was die Ruine redet und sagen kann. Die Ruine eines Hauses ist voller Spuren, die etwas über die Menschen verraten, die in ihm gelebt haben. Aus unserem Haus können wir nicht völlig 322 verschwinden. Unser Zimmer verrät auch das über uns, was wir nicht einmal selbst über uns wissen, die Formen und ihre Anordnung in unserem Heim sind ein präzises Bild unserer Alltagsrituale, und diese Rituale wiederum sind ein Bild unserer Tage, eine Gestalt der Zeit, die wir uns gönnen konnten. Wenn unsere Seelen nach unserem irdischen Tod das Diesseits aufsuchen, dann suchen sie sicherlich die Ruinen unserer Häuser auf. Deshalb ist eine Hausruine das künstlerische „Ruinengenre“ schlechthin, ein Genre, das uns ein ehemaliges Leben verstehen läßt und uns die Bewohner so nahe bringt, als hätten wir sie schon immer gekannt, ja als wären wir selbst einer dieser Bewohner gewesen. Beim Lesen einer Hausruine befreien wir uns einen Augenblick lang von der uns auferlegten Existenz und erlangen ein Wissen, das wir haben könnten, wenn wir ein anderer wären – wenn wir nämlich ein Bewohner dieser Ruine gewesen wären, solange diese jemandes Haus gewesen ist. Im Gegensatz dazu enthüllt die Ruine eines repräsentativen oder eines öffentlichen Gebäudes die kulturellen Strukturen der Gesellschaft, in der es entstanden ist, und der Gesellschaft, die es genutzt hat. Sie enthüllt dem Betrachter die Architektur und das Bauwesen einer Epoche, sagt ihm, wie diese Epoche sich ein repräsentatives Gebäude vorgestellt hat (wenn man die Ruine z. B. des Orientalischen Institutes liest, begreift man, daß ÖsterreichUngarn seine Präsenz in Sarajevo und die Stadt selbst sehr ernst genommen hat, weil das Gebäude entsprechenden Gebäuden in österreichischen Städten auffallend ähnlich ist), enthüllt ihm die Vorstellung von Büroarbeit, wie sie in der Gesellschaft, die das Gebäude im Moment seiner Umwandlung in eine Ruine genutzt hat, üblich war, spricht über die innere Organisation öffentlicher Einrichtungen. Wer eine Hausruine liest, kann ihre Bewohner erahnen (wenn er fähig ist, etwas zu erahnen), wer aber die Ruine eines öffentlichen Gebäudes liest, wird die gesellschaftlichen Strukturen erahnen, also die Formen einer Kultur, nicht aber auch die Formen konkreter Wesen und ihres Alltags, die diese Kultur geprägt hat. Alle Unterschiede zwischen diesen zwei „Ruinengenres“, von den Methoden des Lesens und Verstehens bis zu den Resultaten der Interpretation, sind die Folge dieser grundsätzlichen Differenz – der Differenz zwischen den allgemeinen kulturellen Strukturen und den Tatsachen des realen, einzelnen, ganz konkreten Lebens, das wir mit uns selbst und mit unseren Lieben verbringen. Die Fähigkeit einer Ruine, uns das Vergangene vor Augen zu führen, hat mich während des Krieges vor völliger Verzweiflung bewahrt. Sarajevo verwandelte sich zwar in eine Ruinenlandschaft, aber diese Landschaft ermög- 323 lichte es, ähnlich wie ein altertümlicher Garten, die Formen des Lebens, das sich an diesem Ort abgespielt hatte, zu überblicken und zu begreifen. Solange Menschen in einer Ruine leben oder sich von ihr angezogen fühlen, solange eine Ruine von den Menschen aufgesucht und gedeutet wird, funktioniert sie als Abbild des Lebens, als Speicher der Erinnerung. Es gibt aber auch Ruinen, die keinem Garten ähneln, weil sie kein Leben speichern und weitergeben, keine Erinnerungen bewahren und keine Vergangenheit evozieren. Sie sind zeitlos, sie sind ein besonderes Genre. 3 Dieses dritte „Ruinengenre“ habe ich ebenfalls in Sarajevo kennengelernt, und wenn ich es mir recht überlege, fertige ich diese Aufzeichnungen seinetwegen an. Das Wort „Ruine“ ist hier selbst unter Vorbehalten strenggenommen nicht angebracht, denn das, was vom UNIS-Hochhaus in Marindvor, vom Parlamentsgebäude, von einer Reihe sehr moderner Geschäftshäuser, eigentlich von allen abgebrannten modernen Glas- und Stahlbauten übrigblieb, ist schlicht keine Ruine in dem Sinne, wie das Haus der Ligaès und das Gebäude des Orientalischen Instituts Ruinen sind. (Eine wegen meiner absoluten Unkenntnis der Bautechnik unumgängliche Anmerkung: die Materialien, aus denen man diese Bauten errichtet, sind womöglich gar nicht Glas und Stahl, sondern sehen nur für mich, den Unwissenden, so aus. Das sind jene Gebäude, die glänzen, als wären sie aus Spiegeln, jene Gebäude, die wie jeder Spiegel gegenüber der Welt um sie herum gleichgültig sind, so daß sie immer gleich aussehen, sich den gleichen Anschein geben und gleichermaßen gleichgültig eine mediterrane, tropische und nördliche Landschaft widerspiegeln. Wohl wegen ihrer Gleichgültigkeit gegenüber der Umgebung und dem Klima, in dem sie errichtet worden sind, hat man bei ihrem Anblick das Gefühl, daß sie hinter den blitzenden Flächen leer sind, wie jeder andere Spiegel auch – daß sich hinter dem Glanz eine virtuelle Wirklichkeit befindet, an die vielleicht nur derjenige glaubt, der sich im Spiegel reflektiert und nur in dem Moment, in dem er sich reflektiert.) Eine Ruine ist der Überrest ehemaligen Lebens, eine Ansammlung von Spuren und Zeugnissen, auf deren Grundlage sich das Denken und die Arbeit, das Weltempfinden und die Existenzweise der Menschen, die diese Ruine bewohnt haben, bevor sie zu einer geworden ist, rekonstruieren und verstehen, vorstellen oder wenigstens erahnen läßt. Wenn das eine Ruine ist – und 324 die „traditionelle Ruine“ ließe sich genau so definieren –, dann werden die modernen Bauten aus Glas und Stahl sicherlich keine Ruinen sein, wenn sie einmal zerstört werden. Ich weiß nicht, als was man die Überreste dieser Gebäude bezeichnen sollte, ich weiß nicht, in welches Genre man sie einordnen müßte, wenn wir sie dennoch als Ruinen bezeichnen wollen, aber ich weiß, daß das, was übrigbleiben wird, seinen entscheidenden Eigenschaften nach etwas ganz anderes als eine traditionelle Ruine ist. Vom ehemaligen Parlamentsgebäude, das ich gut gekannt habe, weil ich dort oft zum Wasserholen hingegangen bin, ist eine grotesk deformierte Stahlkonstruktion und viel schwarze Masse übrig geblieben, die nicht Teer, nicht Ruß, nicht ... ist. Sie ist mit nichts zu vergleichen, was mir aus der Wirklichkeit, die ich kenne, bekannt wäre. Die Außen- und Trennwände, die Bodenbeläge und die Möbel, all das ist wahrscheinlich geschmolzen und in eine schwarze Materie verwandelt worden, die sich weder benennen noch beschreiben läßt, oder es ist in einen genauso undefinierbaren schwarzen Staub zerfallen. Die phantastisch verbogene Stahlkonstruktion und die erwähnte Menge schwarzer Materie, über die ich gern sagen würde, daß sie die Gegenwart, daß sie das sichtbare Antlitz des Nichts sei, sind dennoch keine Ruine, aus der sich etwas ablesen, rekonstruieren, erahnen ließe, aus der sich eine vergangene Zeit und andere Menschen, die die Ruine im Gedächtnis behalten hätte und uns jetzt enthüllte, spüren und verstehen ließe. Das ist keine Ruine, das ist der Tod im Erleben des modernen Menschen: Tod nicht als Übergang in eine andere Existenzform, sondern als Abgang in das pure Nichts. Oder wenn es doch eine Ruine wäre, weil es sich hier um Überreste eines ehemaligen Gebäudes handelt, dann eine Ruine neuen Typs, der sich von den bisher bekannten nicht graduell, sondern qualitativ unterscheidet. Der erste und offensichtlichste Unterschied besteht in seinem Verhältnis zur Zeit: Die neue Ruine ist wie der Spiegel absolute Gegenwart, sie erinnert an nichts und niemanden und tut sich nicht kund, bei ihrem Anblick kann man nicht glauben, daß es eine Vergangenheit gab und eine Zukunft geben könnte. Sie bewahrt keine Erinnerung an die Menschen, die sich in ihr aufgehalten haben, solange sie noch ein Gebäude und keine Ruine war, sie bewahrt nichts von den kulturellen Strukturen, die sie bestimmt haben, sie teilt auch nichts über die Materialien mit, aus denen sie erbaut ist. (Oder doch, nur daß ich über diese Materialien nichts weiß und nicht in der Lage bin, ihr neues Gesicht zu lesen – jene schwarze Materie, die mich so erschreckt hat?) Die einzige Information, die wir einer solchen Ruine über das Gebäude, das früher an ihrer Stelle gestanden hat, entnehmen können, ist die, daß wahrscheinlich 325 auch dieses Gebäude „zeitlos“ gewesen ist: solange es steht und funktioniert, sieht es wie neu aus, aber in dem Moment, wo es nicht mehr neu ist, wird es zu einem gewesenen. Aber vielleicht stimmt auch das nicht. (Mal ernsthaft, können diese Gebäude, die wie Spiegel aussehen, alt sein? Haben sie ein Gedächtnis? Wie sehen sie aus, wenn sie fünfzig Jahre alt sind? Unterscheiden sie sich, und wie unterscheiden sie sich von denen, die hundert Jahre alt sind?) Wie könnte man diesen Ruinentyp in einer Übersicht der „Ruinengenres“, die ich mich hier zu skizzieren bemühe, klassifizieren? Wie ist eine Ruine dieses Typs zu lesen, wie zu verstehen und wie zu interpretieren? Welche Informationen liefert sie über sich selbst, über das Gebäude, aus dem sie entstanden ist, über die Menschen, die sie erbaut, und die Menschen, die sie genutzt haben, solange sie ein Gebäude war? Welche Sinngehalte und Bedeutungen, welches Weltempfinden und welcher Denkstil lassen sich aus den Informationen, die eine solche Ruine liefert, erahnen? Welcher Art von Text ist eine solche Ruine zuzuordnen? Ist das überhaupt ein Text, und wenn ja, wie ist er zu lesen, zu verstehen, zu analysieren? Ist das einer von jenen Texten, die, wie die dadaistischen, nicht „bedeuten“, sondern „sein“ wollen (als wäre das eine ohne das andere möglich), so daß er nicht über sich hinaus weisen kann? Ein Text, der mit sich selbst absolut identisch ist, dessen Körper und Schatten, Bedeutung und Sinn, Ziel und Anlaß, Quelle und Mündung – eins sind? Wie ist dieser Texttyp zu verstehen und wie zu definieren, wie ist er überhaupt zu beschreiben? Als Ultrakonkretismus? Die Überreste des Parlaments als ultrakonkrete Ruine, die „nicht bedeutet, sondern ist“, die absolut mit sich selbst übereinstimmt und mit sich selbst beweist, daß sie eine mögliche Handvoll schwarzen Staubs unter einer grotesk verbogenen Konstruktion ist, die früher, wenn Sie sich erinnern, das ganze Gebäude getragen hat. Eine solche Ruine ist gewiß kein Zeichen und auch keine Zeichenstruktur. Augustinus hat in De doctrina christiana das Zeichen als Ding definiert, das den Wahrnehmungen Form verleiht und in das Denken etwas anderes hineinbringt, indem es dieses andere aus sich selbst erzeugt. Diese Definition des Zeichens sagt mir am meisten zu, weil sie auch der Natur des Zeichens und nicht nur seinen Funktionen Rechnung trägt. Eine solche Ruine ist ganz gewiß kein Zeichen und kann erst recht keine Zeichenstruktur sein: Sie verleiht nichts eine Form, sie hat auch selbst keine Form, sie ist Abwesenheit der Form, sie ist der Zerfall selbst, der uns auf die Frage bringt, ob hier Form überhaupt möglich ist, ob es sie je gab. Noch weniger bringt diese Ruine, 326 dieses bißchen schwarze, formlose Materie etwas anderes in den Geist des Menschen (wenn ich nicht irre, hat Augustinus dieses „andere“ nach dem Vorbild der Stoiker lecton genannt), einen Sinn, das mentale Bild eines Gegenstands, einer Erscheinung, eines Zustands, weil sie einfach nicht dazu fähig ist, auch nur irgend etwas in den Geist hineinzutragen. Und noch weniger ist sie fähig, aus sich selbst heraus ein mentales Bild, einen Gedanken oder irgend etwas, das Form in der Zeit und/oder im Raum voraussetzt, zu erzeugen. Sie verweist auf nichts außerhalb von sich, und auch selbst liefert sie weder noch besitzt sie irgendeine Form, irgendeine Bedeutung, irgendeinen Sinn. Das einzige, was sie aussagt, ist, daß hier, wo wir jetzt ein wenig schwarze Materie sehen, wahrscheinlich früher einmal etwas gewesen war. Wenn sich der Mensch, der das betrachtet, erinnert, und wenn er sich erinnert, daß dort das Parlamentsgebäude gestanden hat, dann sagt sie noch etwas mehr aus – nämlich daß dort einmal ein schönes und stolzes Gebäude stand. Aber das sagt sie nur ihm, dem, der sich erinnert. Deshalb gibt es wohl kein Kind, das morgen unsere Seelen, Erinnerungen, Leben, Werke und Tage aus den Ruinen, die wir hinterlassen, erahnen und rekonstruieren könnte – ich glaube es nicht wegen der Kinder von morgen, sondern unseretwegen, der Ruinen wegen, die wir hinterlassen. Wir sind Baumeister, die keine erinnerungsfähigen Ruinen hinterlassen, wir sind Menschen, an die die Welt, in der wir uns aufgehalten haben, sich nicht erinnern kann. Was wir erbauen, wird niemals zu einer Ruine werden, aus der man unsere Person erahnen und im Imaginären wiedererstehen lassen könnte. Die Gebäude, die wir errichten, können, wenn sie zu funktionieren aufhören, einzig das reale, materialisierte Bild des Nichts werden. Unsere Seelen werden nicht wissen, wohin sie zurückkehren können, denn was wir hinterlassen, sind keine Ruinen, keine Orte, sondern das Nichts. Und dieses Nichts ist natürlich ahistorisch, wie es auch die Barbaren sind, die anstelle einer beschichte einen Pseudomythos haben und anstelle des Mythos eine (mythisierte) Pseudogeschichte. An dem, was wir anstelle von Ruinen hinterlassen, kann man weder kulturelle Strukturen noch den ehemaligen Menschen und seinen Alltag erahnen. Nach dem „Ruinengenre“ zu urteilen, das wir zu produzieren fähig sind, werden wir nur ein leeres Fundament hinterlassen, auf dem man konstruieren, willkürlich erfinden, schwätzen kann, was einem beliebt, also ein Fundament, das einzig zur Produktion von Pseudomythen geeignet ist. Die Ruinenlandschaft, die wir hinterlassen, wird kein Kind, wird kein Mensch als Garten deuten können, denn Gärten gibt es nur dort, wo die Kultur, wo die 327 wahren Mythen und die kritische Geschichte sich gegenseitig in trage stellen und ergänzen. Doch wo Pseudomythen und mythologisierte Geschichte das Bewußtsein bestimmen, sind keine Gärten möglich. Daher meine Angst, daß die Zeit der Barbaren kommt, daß die Barbaren doch noch kommen, daß sie schon unter uns sind. In uns? Anmerkung ^ * Dzevad KARAHASAN, Die Poetik der Ruine, in: Das Buch der Gärten. Grenzgänge zwischen Islam und Christentum. Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber, Frankfurt: Insel 2002, S. . Der Dank gilt dem INSELVerlag für die freundliche Abdruckgenehmigung. 328 Die AutorInnen BHATTI, Anil, Jg. 1944, ist Professor am Centre of German Studies, Jawaharlal Nehru University, New Delhi. Studium der Germanistik, Politikwissenschaft und Philosophie an der Ludwig Maximilians-Universität, München und Promotion 1971. Forschungsstipendiat der Alexander von HumboldtStiftung (1975/1976 und 1982 in Bielefeld, München und Göttingen). Gastwissenschaftler und Gastprofessor an den Universitäten Göttingen, Kassel, Graz und Wien, Präsident der Goethe Society of India. Korrespondierendes Kuratoriumsmitglied Europäisches Forum Alpbach. Jakob- und Wilhelm Grimm-Preis des DAAD 2001. Neuere Publikationen: Mehrere Aufsätze auf den Gebieten der Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft, Multikulturalismus, Postkolonialismus aus komparatistischer Sicht. Aufsätze aus jüngster Zeit: Ethik und Globalisierung. Eine Anmerkung zum Unbehagen, in: Karl ACHAM (Hg.), Moral und Kunst im Zeitalter der Globalisierung, Wien 2002. Nationales und Internationales. Eine literaturwissenschaftliche Anmerkung aus Indien. Rede anlässlich der Verleihung des Jacob- und Wilhelm-GrimmPreises. Bonn 2001. (m. H. TURK), Kulturelle Identität. Deutsch-indische Kulturkontakte in Literatur, Religion und Politik, Berlin 1997. (m. J. H. VOIGT), Jewish Exile in India, New Delhi 1999; email: Anil Bhatti <anilbhatti@ hotmail.com> CSÁKY, Moritz, Jg. 1936, ist Professor für österreichische Geschichte an der Universität Graz. Leiter der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Gründer und Präsident (1992/3–1995) des IKF Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Wien. Wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und korrespondierendes Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Neuere Publikationen: Ideolo- 329 gie der Operette und Wiener Moderne. Ein kulturhistorischer Essay zur österreichischen Identität. Wien u. a. ²1998 (Übersetzungen ins Ungarische, Russische, Italienische und Slowenische). (Hg.), Hermann Bahr, Tagebücher – Skizzenbücher – Notizhefte. I: 1885–1890, II: 1890–1900, III: 1901–1903, IV: 1904–1905, V: 1906–1908, Wien u. a. 1994–2003. (mit P. STACHEL), Speicher des Gedächtnisses. Bibliotheken, Museen, Archive. 2. Bde, Wien 2000–2001. Die Verortung von Gedächtnis, Wien 2001. Mehrdeutigkeit. Die Ambivalenz von Gedächtnis und Erinnerung, Wien 2002. (m. J. LE RIDER, M. SOMMER), Transnationale Gedächtnisorte in Zentraleuropa, Innsbruck u. a. 2002 (Gedächtnis – Erinnerung – Identität 1). (m. K. ZEYRINGER) I: Ambivalenzen des kulturellen Erbes, III. Pluralitäten, Religionen und kulturelle Codes, IV: Inszenierungen des kollektiven Gedächtnisses, Innsbruck u. a. (Paradigma Zentraleuropa, 2000–2002) und zahlreiche Aufsätze zur zentraleuropäischen Geschichte, neueren Kulturgeschichte, zur Moderne, Postmoderne und zu den Kulturwissenschaften; email: Moritz Csáky <moritz.csaky@oeaw. ac.at> FEICHTINGER, Johannes, Jg. 1967, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des SFB „Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900“ an der Universität Graz (Institut für Geschichte). Studium der Geschichte, der Deutschen Philologie sowie der Medienkunde (Graz). Mitarbeiter an der Wiener Ausgabe der Wittgenstein-Manuskripte (Cambridge, England). FWF-Projekte: Die Steiermark unter britischer Besatzung 1945–1955, Austrian Refugee Scholars. Gastprofessor an der University of Arkansas at Little Rock (UALR). Förderpreise: Josef Buttinger Preis (1993), Theodor-Körner-Preis (2000), Karl von VogelsangPreis (2002). Lehrbeauftragter an der Universität Graz. Neuere Publikationen: Wissenschaft zwischen den Kulturen. Österreichische Hochschullehrer in der Emigration 1933–1945, Frankfurt a. M.–New York 2001. (mit P. STACHEL), Das Gewebe der Kultur. Kulturwissenschaftliche Analysen zur Geschichte und Identität Österreichs in der Moderne, Innsbruck u. a. 2001, zahlreiche Aufsätze zur Zeitgeschichte, zur neueren österreichischen Geschichte, zur neueren Kulturgeschichte und zur Geschichte der Migrationen; email: Johannes Feichtinger <johannes.feichtinger@uni-graz.at> GYÁNI, Gábor, Jg. 1950, Dr., ist Sozial- und Stadthistoriker (Urban History). Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Ungarischen Akademie der Wissenschaften und am Institut für Soziologie der Eötvös Loránd Univerisät (ELTE) Budapest. Studium und Studienabschluss an 330 der Universität Debrecen (1974). Neuere Publikationen: (Co-authored with G. KÖVÉR), Magyarország társadalomtörténete a reformkortól a második világháborúig (Social history of Hungary from the Reform Age till the WWII), Budapest 1998. Emlékezés, emlékezet és a történelem elbeszélése (Remembering, memory and the telling of history), Budapest 2000. Történészdiskurzusok (Historian’s discourses), Budapest 2002. Parlor and Kitchen. Housing and Domestic Culture in Budapest, 1870–1940, Budapest 2002; email: Gábor Gyáni <gya8632@ella.hu> ^ KARAHASAN, Dzevad, Jg. 1953, Dr., ist Schriftsteller, Kritiker, Essayist. Professor für Literaturtheorie an der Philosophischen Fakultät der Universität Sarajevo. Professor für Dramaturgie und Dramengeschichte an der Akademie für szenische Künste der Universität Sarajevo (1986–1993). Studium der Literaturwissenschaft und der Theaterwissenschaft an der Universität Sarajevo. Dekan der Akademie der szenischen Künste Sarajevo (1992–1993). Hauptredakteur der Zeitschrift für Theorie und Kritik der Kunst „Izraz“ in Sarajevo (1989–1992). 1995 DAAD-Stipendium in Berlin. Gastprofessuren an den Universitäten Salzburg, Mannheim und Göttingen. Dramaturg am Nationaltheater Sarajevo (1996–1999). 1997–2003 Stadtschreiber in Graz. 1995 Europäischer Essay-Preis in Paris, Bruno-Kreisky-Preis in Wien und HerderPreis für das Jahr 1999. Neuere Veröffentlichungen: Der östliche Diwan, Berlin 1992. Tagebuch der Aussiedlung, Klagenfurt 1993. Schahrijars Ring. Roman einer Liebe, Berlin 1997. Die Fragen an den Kalender. Artikel, Essays. Reden, Wien 1999. Sara und Serafina, Berlin 2000. Das Buch der Gärten. Grenzgänge zwischen Islam und Christentum, Frankfurt 2002. KOVÁCS, Éva, Jg. 1964, Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Mitteleuropäische Studien, Budapest. Studium der Soziologie und Ökonomie. Gastprofessorin an der Eötvös Loránt Universität (ELTE) Budapest und an der Janus Pannonius Universität Pécs. Mitarbeiterin der Zeitschrift „Regio“. Forschungsschwerpunkt: Ethnisches Zusammenleben, kulturelle Vielfalt, sozio-kulturelle Prozesse in Mitteleuropa (19.–21. Jhdt.). Neuere Publikationen: (m. G. BAUMGARTNER und A. VÁRI), Entfernte Nachbarn – Jánossomorja und Andau 1990–2000, Budapest 2002. (m. J. VAJDA), Mutatkozás – Zsidó Identitás Történetek (Presence – Jewish Identity Stories), in: Múlt és Jövõ, Budapest 2002. (m. J. VAJDA), Interchanged identities – the role of a Jewish school in a mixed marriage, in: The History of the Family 7 (2002), S. 239–257; email: Éva Kovács <kova@compuserve.com> 331 LUFT, Robert, Jg. 1956, Dr., ist Geschäftsführer des Collegium Carolinum. Studium der Geschichte, osteuropäischen Geschichte, Mathematik und Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Mainz und Wien, seit 1997 Organisation der Münchner Bohemisten-Treffen. Mitglied der Gemeinsamen deutsch-tschechischen Schulbuchkommission, lehrt an den Universitäten Regensburg und Passau. Neuere Publikationen: Tschechische Parteien, Vereine und Verbände vor 1914. Besonderheiten und Defizite der politischen Kultur einer modernen Nation in einem Vielvölkerstaat, in: Joseph MARKO, Alfred ABLEITINGER, Alexander BRÖSTL und Pavel HOLLÄNDER (Hg.), Revolution und Recht. Systemtransformation und Verfassungsentwicklung in der Tschechischen und Slowakischen Republik, Frankfurt a. M. u. a. 2000, S. 311–350. Die Grenzen des Regionalismus: das Beispiel Mähren im 19. und 20. Jahrhundert, in: Philipp THER und Holm SUNDHAUSSEN (Hg.), Regionale Bewegungen und Regionalismen in europäischen Zwischenräumen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Marburg/Lahn 2003, S. 63–85; email: Robert Luft <robert.luft@ extern.lrz-muenchen.de> MANER, Hans-Christian, Jg. 1963, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung für osteuropäische Geschichte der Universität Mainz im Rahmen des Projekts der VW-Stiftung „Grenzräume und ihre Funktionen an den Rändern Europas: Galizien und die Bukowina im Kalkül der Donaumonarchie im 19. Jahrhundert“. Studium der Osteuropäischen Geschichte, Mittleren und Neueren Geschichte, Religionswissenschaften/Ev. Theologie, Politikwissenschaften. Jüngste Veröffentlichungen: (m. M. SCHULZE WESSEL), Religion im Nationalstaat in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen (1918–1939). Polen-Tschechoslowakei-Ungarn-Rumänien, Stuttgart 2002. Mitherausgabe und Redaktion der „Jahrbücher für Geschichte und Kultur Südosteuropas“, Bd. 1 (1999) ff.; außerdem mehrere Beiträge vorrangig zum 19. und 20. Jahrhundert in Ostmittel- und Südosteuropa (z. B. orthodoxe Kirchen in Südosteuropa im 20. Jahrhundert, 1848, Zweiter Weltkrieg); email: Hans-Christian Maner <maner@uni-mainz.de> MANNOVÁ, Elena, Jg. 1951, Dr., CSc., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Institut der Slowakischen Akademie der Wissenschaften in Bratislava. Studium auf der Comenius-Universität in Bratislava, Archivarin und Historikerin. Neuere Veröffentlichungen: (m. M. CSÁKY), Collective Identities in Central Europe in Modern Times, Bratislava 1999. A Concise History of Slovakia, Bratislava 2000. Aufsätze u. a. über Vereinswesen im 19. 332 und 20. Jahrhundert, Bürgertum, kollektives Bewußtsein der Slowaken, Deutschen und Magyaren in der Slowakei; email: Elena Mannová <humann@ klemens.savba.sk> MÜLLER-FUNK, Wolfgang, Jg. 1952, ist Literaturwissenschaftler und Kulturphilosoph. Professor of Cultural Studies an der University of Birmingham. Gastprofessor an der Universität Wien. Lehr- und Forschungstätigkeit an den Universitäten Klagenfurt, Innsbruck und Birmingham. Betreuung und Durchführung diverser kulturwissenschaftlicher Forschungsprojekte (Stadt Wien, FWF, BMBWK). U. a. Leiter des Forschungsprojektes FWF 14727: „Herrschaft, ethnische Differenzierung und Literarizität. Selbst- und Fremdbilder in Österreich und Ungarn 1867–1918.“ Neuere Publikationen: Junos Pfau. Studien zur Anthropologie des inszenierten Menschen, Wien 1999. Die Farbe Blau. Untersuchungen zur Epistemologie des Romantischen, Wien 2000. Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung, Wien u. a. 2002. (Hg.), Zeit. Mythos, Phantom, Realität, Wien u. a. 2000. (m. P. PLENER und C. RUTHNER), Kakanien revisited, Tübingen u. a. 2002; email: Wolfgang Mueller-Funk <wolfgang.mueller-funk@univie.ac.at> NIEDERMUELLER, Peter, Jg. 1952, ist Professor für Europäische Ethnologie an der Humboldt Universität zu Berlin. Neuere Veröffentlichungen: (m. B. STOKLUND), Europe – Cultural Construction and Reality, Copenhagen 2000. (m. B. BINDER und W. KASCHUBA), Inszenierung des Nationalen. Geschichte, Kultur und die Politik der Identitäten am Ende des 20. Jahrhunderts, Köln 2001. (m. K. KÖSTLIN und H. NIKITSCH), Die Wende als Wende? Orientierungen Europäischer Ethnologien nach 1989, Wien 2002. (m. J. 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WEIXLBAUMER), Die österreichische Ostgrenze. Zur Dynamik mentaler Grenzziehungen, in: Karin LIEBHART, Elisabeth MENASSE, Heinz STEINERT (Hg.), Fremdbilder-Feindbilder-Zerrbilder, Klagenfurt–Celovec 2002, S. 95–121. (m. K. LIEBHART, S. KURTÁN, A Temple for the Nation: Redesigning a Common Symbolic Space of Central European Conservatism, in: Christina LUTTER, Lutz MUSNER (eds.), Cultural Studies, Theorizing Politics, Politicizing Theory 16, 6 (2002) (Special Issue „Austrian Cultural Studies“), S. 797– 808; email: Andreas Pribersky <Andreas.Pribersky@univie.ac.at> PROMITZER, Christian, Jg. 1962, Dr., ist Vertragsassistent an der Abteilung für Südosteuropäische Geschichte an der Universität Graz, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Wieser Enzyklopädie des Europäischen Ostens und Leiter eines Forschungsprojektes über „Versteckte Minderheiten“ zwischen Zentral-europa und dem Balkan. Neuere Publikationen: (m. K.-J. HERMANIK), Grenzenlos zweisprachig. Die Erinnerungen des Keuschlersohnes Anton Šantel (1845–1920) an seine Kindheit in Leutschach und Jugend in Marburg, Graz 2002. The South Slavs in the Austrian Imagination: Serbs and Slovenes in the Changing View from German Nationalism to National Socialism, in: Nancy WINGFIELD (Ed.), Creating the Other: Nationalism and Ethnic Enmity in Habsburg Central Europe, New York 2003; email: Christian Promitzer <promi@gewi.uni-graz.at> 334 PRUTSCH, Ursula, Jg. 1965, Dr., ist Inhaberin einer Hertha-Firnberg-Stelle am Institut für Geschichte der Universität Wien zum Thema „US-Kulturpolitik in Lateinamerika am Beispiel Brasiliens und Argentiniens (1930–1945)“. Forschungsprojekte des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) zu „Paul Frischauer“ und „Leopold von Andrian“ (1994-2000). Neuere Veröffentlichungen: Das Geschäft mit der Hoffnung. Österreichische Auswanderung nach Brasilien 1918–1938, Wien u. a. 1996. (m. K. ZEYRINGER), Die Welten des Paul Frischauer, Wien u. a. 1997. (m. M. LECHNER), Das ist Österreich. Innensichten und Außensichten, Wien 1997. Arbeit als Machtinstrument. Soziale, ökonomische und kulturelle Auswirkungen in Lateinamerika, Frankfurt a. M. 2000. (m. K. ZEYRINGER), Leopold von Andrian (1875–1951): Korrespondenzen, Notizen, Essays, Berichte, Wien u. a. 2003; email: Ursula Prutsch <ursula.prutsch@univie.ac.at> REBER, Ursula, Jg. 1972, Mag., ist Redakteurin der Internet-Plattform Kakanien revisited (www.kakanien.ac.at). Studium der Klassischen Philologie, Germanistik, Philosophie, Indologie u. Religionswissenschaften an der Philipps-Univ.-Marburg. 1998 Studienabschluss mit einer Arbeit über Geschichtskonzeptionen und Messianismus in Frank Herberts Der Wüstenplanet. 1999–2000 DAAD-Lektorin für deutschsprachige Literatur an der Universität Tartu, Estland. Arbeitet seit 2000 an einer Diss. zu einer Theorie der Metamorph/ fose(n) an der Univ. Wien. Neuere Publikationen (in www.kakanien.ac.at): (mit S. L. VIDULIÆ), Bizarrerien in Gewandfragen – Deutsche Pullover & südslavische Röcke. Identitäten explizit-implizit. (mit M. RIES), Adiaphorische Räume; Pista und Puszta. Eine kleine Imagologie der kakanischen Nationalitäten bei Doderer; Briefe von Carl Rothe an Lõrinc Szabó und von Lõrinc Szabó an Carl Rothe; Verwandlungen. Intertextualität als Durchkreuzung des Eigenen und des Fremden; Einen Gedanken fassen. Bemerkungen zu „Geist und Seele“ mit Hilfe von Musil, unter Zeugenschaft Nietzsches; email: Ursula Reber <usha.reber@kakanien.ac.at> REYNOLDS, Diana, Jg. 1951, Dr., ist Associate Professor of History at Point Loma Nazarene University, San Diego, California (USA). Studium der Kunstgeschichte an der Universität Erlangen und Geistesgeschichte an der University of California, San Diego (Ph.D. 1997). Laufendes Buchprojekt: Manufacturing Mother Austria: Arts and Crafts Reform and Austrian Identity 1871–1914, gefördert durch ein Fulbright Research Grant (Sommer 2002). Neuere Publikationen: Die österreichische Synthese: Metropole, Peripherie 335 und die kunstgewerblichen Fachschulen des Museums, in: Peter NOEVER (Hg.), Kunst und Industrie, Wien 2000, S. 203–217. Vom Nutzen und Nachteil des Historismus für das Leben. Alois Riegls Beitrag zur Frage der kunstgewerblichen Reform, in: Kunst und Industrie, 2000, S. 20–29. The Great Exhibition of 1851, in: John FINDLING (Hg.), Events that Changed Great Britain, New York 2001. Alois Riegl und Wien. Kunstgewerbe, Kunstpolitik und Kunstgeschichte 1875–1905, Wien u. a. 2003 (im Druck); email: Diana Reynolds <DianaReynolds@ptloma.edu> RÖSSNER, Michael, Jg. 1953, ist Universitätsprofessor für Romanische Philologie in München. Studium der Übersetzerausbildung, der Romanistik und der Rechtswissenschaften an der Universität Wien. Lehrtätigkeit als Gastprofessor an den Universitäten Salzburg, Buenos Aires und Tucumán (Argentinien), Querétaro (Mexiko) sowie an der Wirtschaftsuniversität Wien. Vorsitzender des Deutschen Pirandello-Zentrums e.V., Mitglied des Österreichischen PEN-Zentrums. Übersetzer und Herausgeber des Gesamtwerks von Luigi Pirandello, Übersetzer von Goldoni und mehrerer lateinamerikanischer Autoren (N. Parra, M. A. Campos, O. Collazos). Autor zahlreicher Studien zur italienischen, französischen, spanischen, portugiesischen und lateinamerikanischen Literatur, darunter Pirandello Mythenstürzer. Fort vom Mythos; mit Hilfe des Mythos; hin zum Mythos, Wien u. a. 1980. Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Zum mythischen Bewußtsein in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1988. Neuere Publikationen: Lateinamerikanische Literaturgeschichte. 2. erw. Aufl., Stuttgart u. a. 2002. (Hg.), Literarische Kaffeehäuser. Kaffeehausliteraten, Wien u. a. 1999. „¡Bailá! ¡Vení! ¡Volá!“. Studien zu Tango und Literatur, Frankfurt a. M. 2000; email: Michael Rössner <michael.roessner@romanistik.uni-muenchen.de> RUTHNER, Clemens, Jg. 1964, Dr., ist Lektor am Germanistik-Institut an der Universität Antwerpen (UA) und Leiter des dortigen Zentrums für ÖsterreichStudien (OCTANT). Studium der Germanistik, Philosophie und Publizistik in Wien. 1991–1993 österreichischer Auslandslektor an der Eötvös Loránd Universität (ELTE) Budapest. 2003/04 Gastprofessor an der University of Alberta (Kanada). Neuere Publikationen: Aufsätze zur österreichischen Literatur und zu kulturwissenschaftlichen Themen (im Internet unter www.kakanien.ac.at). (m. W. MÜLLER-FUNK, P. PLENER), Kakanien revisited, Tübingen u. a. 2002. Am Rande. Kanon, Peripherie und die Intertextualität des Marginalen am Beispiel der (österreichischen) Phantastik im 20. Jahrhundert, Tübingen 2004 (im Druck); email: Clemens Ruthner <clemens.ruthner@ua.ac.be> 336 SIMONEK, Stefan, Jg. 1964, ist a.o. Professor am Institut für Slawistik der Universität Wien. Studium der Slawistik und der Vergleichenden Literaturwissenschaft an der Universität Wien; Promotion 1991 mit einer Arbeit zu Osip Mandel’štam und den ukrainischen Neoklassikern. Neuere Publikationen: Galizien, Klagenfurt–Celovec 1998 (Europa Erlesen). Ivan Franko und die „Moloda Muza“. Motive in der westukrainischen Lyrik der Moderne, Köln u. a. 1998. Distanzierte Nähe. Die slawische Moderne der Donaumonarchie und die Wiener Moderne, Bern u. a. 2002. Zahlreiche Aufsätze zur russischen und ukrainischen Moderne und zu den Verbindungen zwischen Wiener Moderne und zu den slawischen Literaturen Mitteleuropas. Mitherausgeber der Buchreihe Wechselwirkungen. Österreichische Literatur im internationalen Kontext (Peter-Lang-Verlag); email: Stefan Simonek <stefan. simonek@univie.ac.at> STACHEL, Peter, Jg. 1965, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Studium der Geschichte, Europäischen Ethnologie und Philosophie in Graz, seit 1994 Mitarbeiter des SFB „Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900“ an der Universität Graz (Institut für Geschichte). Lehrbeauftragter an der Universität Graz. Neuere Publikationen: (mit M. CSÁKY), Speicher des Gedächtnisses. Bibliotheken, Museen, Archive. 2. Bde, Wien 2000–2001. (mit B. BOISITS), Das Ende der Eindeutigkeit. Pluralismus in Moderne und Postmoderne, Wien 2000. (mit J. FEICHTINGER), Das Gewebe der Kultur. Kulturwissenschaftliche Analysen zur Geschichte und Identität Österreichs in der Moderne, Innsbruck u. a. 2001. (mit M. CSÁKY), Die Verortung von Gedächtnis, Wien 2001; Mythos Heldenplatz, Wien 2002. (mit M. CSÁKY), Mehrdeutigkeit. Die Ambivalenz von Gedächtnis und Erinnerung, Wien 2002 und zahlreiche Aufsätze zur neueren österreichischen Geschichte; email: Peter Stachel <Peter.Stachel@oeaw.ac.at> SUPPANZ, Werner, Jg. 1961, DDr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des SFB „Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900“ an der Universität Graz (Institut für Geschichte). Lehrbeauftragter an der Abteilung Zeitgeschichte. Forschungsschwerpunkte: Geschichts- und Gedächtnispolitik, politische Kultur. Neuere Publikationen: Österreichische Geschichtsbilder. Historische Legitimationen in Ständestaat und Zweiter Republik, Köln 1998. „Österreicher, lernt eure Geschichte!“ – Historische Legitimation und Identitätspolitik im Ständestaat, in: Michael ACHENBACH, Karin MOSER (Hg.), Öster- 337 reich in Bild und Ton. Die Filmwochenschau des austrofaschistischen Ständestaates, Wien 2002. „Wir haben nun keine Tradition des säkularen Textes“: Religion, Politik und ihre Kompetenzen in der politischen Kultur Österreichs, in: Manfred BROCKER, Hartmut BEHR, Mathias HILDEBRANDT (Hg.), Religion – Staat – Politik. Zur Rolle der Religion in der nationalen und internationalen Politik, Wiesbaden 2003, S. 33–46; email: Werner Suppanz <werner.suppanz@uni-graz.at> UHL, Heidemarie, Jg. 1956, Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Lehrbeauftragte an der Abteilung Zeitgeschichte der Universität Graz und am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Wissenschaftliche Mitarbeiterin des SFB „Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900“ an der Universität Graz und des kulturwissenschaftlichen Forschungsschwerpunktes des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, und Kultur. Charlotte Bühler-Habilitationsstipendium des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF). Neuere Publikationen: Zwischen Versöhnung und Verstörung. Eine Kontroverse um Österreichs historische Identität fünfzig Jahre nach dem Anschluß, Wien u. a. 1992. (m. S. RIESENFELLNER), Todeszeichen. Zeitgeschichtliche Denkmalkultur in Graz und in der Steiermark vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Wien u. a. 1994. (m. C. GERBEL, R. KANNONIER, H. KONRAD, A. KÖRNER), Urbane Eliten und kultureller Wandel, Wien 1996. (Hg.), Kultur – Urbanität – Moderne. Differenzierungen der Moderne in Zentraleuropa um 1900, Wien 1999. (m. A. SENARCLENS DE GRANCY), Moderne als Konstruktion. Debatten, Diskurse, Positionen um 1900, Wien 2000; email: Heidemarie Uhl <Heidemarie.Uhl@oeaw.ac.at> WOLDAN, Alois, Jg. 1954, ist Professor für Ost-Mitteleuropa-Studien an der Universität Passau/Bayern. Studium der Theologie, Slawistik und Komparatistik in Innsbruck (1978 Mag. theol, 1982 Dr. phil). Österreichischer Lektor in Moskau und Wroc³aw/Breslau, Assistent und Dozent (Habilitation 1995) an der Universität Salzburg. Neuere Publikationen: Der ÖsterreichMythos in der polnischen Literatur, Wien u. a. 1996. Zahlreiche Aufsätze zu Aspekten der polnischen, russischen und ukrainischen Literatur sowie zu Fragen literarischer und kultureller Wechselbeziehungen, email: Alois Woldan <Alois.Woldan@uni-Passau.de> 338