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Ümit Akçay Die Krise der türkischen Wirtschaft und die Grenzen abhängiger Finanzialisierung Im Lauf des Jahres 2018 zeigten sich in der Türkei zunehmend wirtschaftliche Probleme, insbesondere, als Folge wachsender politischer Spannungen in den Beziehungen zu den USA, im August dieses Jahres in Form einer Währungskrise. Die wirtschaftlichen Turbulenzen traten zeitgleich mit dem Stand-by-Abkommen des Internationalen Währungsfonds (IWF) für Argentinien und mit den sinkenden Währungskursen von Schwellenländern gegenüber dem US-Dollar auf. Da zwischen den türkischen und den europäischen Banken enge Verbindungen bestehen, kam es zu Befürchtungen, die Situation könnte zu Risiken für das europäische Finanzsystem führen, und Bankkonkurse in der Türkei würden auch Verluste für die europäischen Banken mit sich bringen (Gongloff 2018). In der öffentlichen Debatte werden im Wesentlichen drei Erklärungen für die derzeitige Krise in der Türkei genannt. Die erste sieht die Gründe dafür in der „falschen Politik“ der AKP und im Wandel des politischen Systems zu einer exekutiven Präsidialmacht. Demnach hätten die Kapitalimporte abgenommen, weil diese Veränderungen die Rechtsstaatlichkeit und die demokratischen checks and balances unterminierten. Die Krise sei daher dadurch zu überwinden, dass das Land zum parlamentarischen und rechtsstaatlichen System zurückkehre – so argumentiert insbesondere die Republikanische Volkspartei (CHP) (Hürriyet 2018). Die zweite Erklärung ist wirtschaftlicher Art und zielt darauf ab, die Probleme seien dadurch entstanden, dass das Land vom IWF-Programm der Jahre 2001 bis 2008 abgewichen sei. Daraus folgt als Lösungsvorschlag, man müsse zu einer orthodoxen Wirtschaftspolitik zurückkehren, die Unabhängigkeit der Zentralbank stärken und ein regelkonformes Agieren der wirtschaftlichen Institutionen durchsetzen (Acemoglu 2018) – in diesem Sinn argumentieren liberale Mainstream-Ökonomen und Experten. Nach der dritten Erklärung ist die Krise im Zusammenhang mit internationalen Beziehungen und der geopolitischen Dynamik zu sehen. Demnach haben die US-Sanktionen gegen die Türkei vom August 2018 zu der Währungskrise geführt und diese habe nichts mit sonstigen politischen oder wirtschaftlichen Umständen zu tun – dies ist die Argumentation von Recep Tayyip Erdoğan, dem Vorsitzenden der Partei für Gerechtigkeit und PROKLA. Verlag Westfälisches Dampfboot, Heft 193, 48. Jg. 2018, Nr. 4, 617 – 639 DOI: 10.32387/prokla.48.193.1149 618 Ümit Akçay Entwicklung (AKP) und Präsidenten der Türkischen Republik. Ihm zufolge ist die Türkei ein starkes Land, dessen Wirtschaft sich gegenüber ökonomischen Angriffen dieser Art zu wehren vermag (New York Times 2018). Ich möchte hier zeigen, dass keine dieser Erklärungen für sich alleine schlüssig ist, sondern die Türkei die Krise eines bestimmten Akkumulationsregimes durchläuft, nämlich desjenigen der abhängigen Finanzialisierung. In Bezug auf die Finanzialisierung des Globalen Südens sprechen marxistische, postkeynesianische oder regulationstheoretische Ansätze der heterodoxen Literatur von „untergeordneter Finanzialisierung“ (Lapavitsas 2013; Powell 2013; Bortz/ Kaltenbrunner 2017; Kaltenbrunner/Painceira 2018) oder auch von „peripherer oder semi-peripherer Finanzialisierung“ (Becker u.a. 2010; Rodrigues u.a. 2016; Santos u.a. 2018), um sowohl die Besonderheiten der Finanzialisierung in Schwellenländern wie auch die Gemeinsamkeiten derartiger Prozesse in sämtlichen Ländern zu analysieren. In diesem Sinn und insbesondere im Anschluss an Becker (2016) verwende ich den Begriff der abhängigen Finanzialisierung, der für Schwellenländer vor allem dann zutrifft, wenn sie einen hohen Anteil an Dollarisierung (oder Euroisierung) und zugleich ein großes Defizit der Zahlungsbilanz aufweisen, wenn ihre Inlandsproduktion in starkem Maß von Importgütern abhängt und wenn ihr Wachstum erheblich auf Kapitalimporten beruht, wie dies in der Türkei der Fall ist. Dieses Konzept der abhängigen Finanzialisierung basiert auf der Dependenz- und auf der Regulationstheorie. Wie Becker/Weissenbacher angemerkt haben, teilen diese Ansätze zwei „wesentliche Merkmale: Beide entsprangen zumindest teilweise marxistischen Debatten, beide sind auf einer mittleren Abstraktionsebene angesiedelt und beide sind ausdrücklich historisch und geographisch situiert.“ (2015: 2)1 Mit abhängiger Finanzialisierung ist darüber hinaus der hierarchische Charakter des globalen Wirtschafts- und Finanzsystems angesprochen – hier also die Position der Türkei. Wie ich weiter unten ausführen werde, waren die Schwankungen der Kapitalströme, der Zinssätze und der Wechselkurse wesentliche Einflussgrößen, da die türkische Industriestruktur in starkem Maß von importierten Vorleistungen abhängig war und ist. Wenn das Akkumulationsregime auch nicht allein auf den Aspekt der Finanzialisierung reduziert werden kann, so vertrete ich doch, dass diese die Mechanismen des Wachstums oder der Rezession der Wirtschaft entscheidend prägt. Zumindest für die letzten drei Jahrzehnte kann abhängige Finanzialisierung als Charakteristikum des türkischen Akkumulationsregimes gesehen werden. In diesem Artikel soll es jedoch nicht darum gehen, den theoretischen Rahmen 1 Englischsprachige Zitate wurden von der Übersetzerin des Artikels ins Deutsche übertragen. Die Krise der türkischen Wirtschaft 619 weiterzuentwickeln, sondern die historische Entwicklung und die Mechanismen dieses Typs von Finanzialisierung in der Türkei zu untersuchen. Abhängige Finanzialisierung hat in der Türkei vier Phasen durchlaufen. In der ersten Phase von 1989 bis 2001 erfolgte die Liberalisierung des Kapitalverkehrs als integraler Teil des neoliberalen Projektes (Akyüz 2014). In dieser Periode wurde die hohe öffentliche Verschuldung zu einem der drängendsten wirtschaftlichen Probleme, weshalb das Finanzsystem von der Notwendigkeit der Umschuldung dominiert wurde, was die türkische Wirtschaft zusätzlich krisenanfällig machte (Voyvoda/Yeldan 2005). Die zweite Phase begann im Anschluss an die Krise von 2001, in der die Verschuldung von privaten Haushalten anstieg, was für die Türkei eine neuartige Erscheinung darstellte, wenngleich die Rate der Verschuldung im Vergleich zum verfügbaren Einkommen immer noch niedriger war als in reiferen kapitalistischen Volkswirtschaften (Karaçimen 2016). Diese Phase der Finanzialisierung bereitete den Weg für die Durchsetzung der neoliberalen populistischen Strategie der AKP. Die dritte Phase setzte 2008 mit der globalen Finanzkrise ein, und eines ihrer Merkmale war ein starker Anstieg der Verschuldung von Nichtfinanzunternehmen in ausländischer Währung. Die vierte Phase umfasst die Zeit ab 2013, als die Verschuldung von privaten Haushalten ihren Höchststand erreichte und danach zurückging, während diejenige des Unternehmenssektors dramatisch zunahm. Damit verdichteten sich die Krisentendenzen, deren neuere Dynamik in Bezug auf das Akkumulationsregime hier untersucht werden sollen, wobei die Periode ab 2001 im Mittelpunkt steht. Ich werde außerdem zeigen, dass die wirtschaftliche Krise eng mit der politischen verbunden ist, die ihrerseits auf das Konzept des neoliberalen Populismus zurückgeht. Dieser stellt eine Machtstrategie der AKP-Regierungen dar und setzt auf abhängige Finanzialisierung. Die besondere Variante des Neoliberalismus der AKP sieht so aus, dass die Klasse der ArbeiterInnen atomisiert wird und die Regierung sich gleichzeitig darum bemüht, sie über soziale und finanzielle Inklusionsmechanismen zu einer gewissen Zustimmung zu bringen. Dieses politökonomische Modell sollte die Konflikte zwischen den Klassen zum Erliegen bringen. Im Folgenden werden erstens zwei wesentliche Wendepunkte in der neueren Geschichte des Regimes der abhängigen Finanzialisierung kurz skizziert. Zweitens sind die besonderen Eigenarten des Austeritätsprogramms der AKP in Verbindung mit dem Konzept des neoliberalen Populismus darzustellen, der in den 2000er Jahren, anders als im vorhergehenden Jahrzehnt, zur politischen Stabilität geführt hat. Drittens werde ich die wichtigsten Merkmale des Prozesses der abhängigen Finanzialisierung und ihre inneren Widersprüche aufzeigen. Die aktuelle Krise soll viertens als Krise des Akkumulationsregimes untersucht werden, indem die vorrangigen Krisentendenzen in der Periode ab 2013 sowie die Grenzen der abhängigen Finanzialisierung in der Türkei zu beleuchten sind. 620 Ümit Akçay 1. Zwei Wendepunkte: 1980 und 2001 Die Jahre 1980 und 2001 waren entscheidend für die Entwicklung der abhängigen Finanzialisierung in der Türkei. Im Jahr 1980 erfolgte die Wende zum Neoliberalismus. 2001 wurde das Land von der bis dahin schwersten wirtschaftlichen Krise getroffen, aufgrund dessen die Karten für die folgende Zeit grundsätzlich neu gemischt wurden. Mit dem Staatsstreich der Militärs vom 12. September 1980 wurde deren Herrschaft etabliert, die bis 1983 anhielt und dazu führte, dass die Arbeiterbewegung und linke Gruppen gewaltsam zerstört wurden. Zugleich wurde die Strategie der Kapitalakkumulation verändert, und zwar weg von der bisherigen Politik der importsubstituierenden Industrialisierung, die seit den 1960er Jahren betrieben wurde, und hin zu einer Exportorientierung, die Teil der umfassenden neoliberalen Wende war, die auf freie Märkte setzte. Die Glanzzeit dieser exportfördernden Strategie endete allerdings bereits Ende der 1980er Jahre, als die Abwertung der heimischen Währung und die Lohnsenkungen an Grenzen stießen. Das Schlüsselelement zur Öffnung der Wirtschaft war die Liberalisierung des Kapitalverkehrs, d.h. der freie Zu- und Abfluss von Kapital, womit die erste Phase der abhängigen Finanzialisierung eingeläutet wurde. Diese Integration ins internationale Finanzsystem machte das Land auch anfällig für spekulative Angriffe (Boratav/Yeldan 2006). Die 1990er Jahre stellten ein Jahrzehnt der anhaltenden politischen Instabilität dar. Anders als in den 1980er Jahren, in denen die Mutterlandspartei ANAP dominierte, folgten damals mehr als zehn Koalitionsregierungen aufeinander (Sakallıoğlu/Yeldan 2000). Die politische Unruhe wurde vor allem durch das „Dilemma der strukturellen Anpassung“ befördert, das für die politische Klasse eine gewaltige Herausforderung darstellte. Die strukturellen Anpassungsprogramme, die der IWF und die Weltbank entwarfen und die mit an bestimmte Bedingungen geknüpften Darlehen seitens der Bretton-Woods-Institutionen verbunden waren, bedeuteten auf der einen Seite, dass die politischen Parteien ihre Wirtschaftspolitik im Sinn der neoliberalen Agenda ausrichten mussten. Gleichzeitig gab es auf der anderen Seite vor allem aus den Reihen der arbeitenden Klasse das hartnäckige Verlangen nach einer Entwicklungspolitik, die auf Inklusion abzielte. Unter diesen Umständen war es für die Parteien schwierig, harte Austeritätsprogramme durchzudrücken. Trotz der entsprechenden Bemühungen der Militärregierung zwischen 1980 und 1983 gelang es der Arbeiterbewegung, sich diesen Programmen gegen Ende der 1980er Jahre zu widersetzen, und sie erreichte sogar, dass die Reallöhne Anfang der 1990er Jahre anstiegen (Doğan 2010; Boratav 2016: 3). Die wirtschaftliche Krise von 2001 war eine der schwersten, die die Türkei jemals erlebt hat, und sie veränderte das Dilemma der strukturellen Anpassung Die Krise der türkischen Wirtschaft 621 in seinem Charakter. Als Ausweg daraus wurde das Programm Transition of the Strong Economy (TSE) implantiert, das als grundlegende Wende gedacht war (Undersecretariat of Treasury 2001). Es ging auf Kemal Derviş zurück, einem früheren Vizepräsidenten der Weltbank, der nach der Krise von 2001 dazu eingeladen wurde, einen Ministerposten anzunehmen, und vertrat, die Politik habe sich „in der Türkei stark in die Wirtschaft eingemischt. Wir müssen die Wirtschaft und die Politik voneinander trennen […] Der Prozess der Ausbeutung der Wirtschaft durch die Politik muss beendet werden“ (Derviş 2001). Zum TSE-Programm gehörte es, dass die Zentralbank von der Regierung unabhängig wurde, was auf der Linie des Post-Washington-Consensus lag (Öniş/Şenses 2005). Ein Kernelement dieses neuen politischen Regelwerks bestand in Maßnahmen, mit denen die Arbeiterklasse politisch neutralisiert werden sollte, und zwar nicht durch militärische Mittel, sondern durch politische und wirtschaftliche Atomisierung. Diese Maßnahmen verschafften dem neuen Regime unter Erdoğan die politische Stabilität, zu der es die Regierungen des vorangegangenen Jahrzehnts nie gebracht hatten. Das Land konnte nun, mit Rückendeckung durch den IWF, die seit den 1990er Jahren geplante wirtschaftliche Restrukturierung in Angriff nehmen, die bisher nur teilweise durchzusetzen war. Der Staat ergänzte Privatisierungen nun mit einer punktuellen Wohlfahrtspolitik – Maßnahmen, mit denen die Wirkungen der Liberalisierung abgepuffert werden sollten, indem den ärmeren Haushalten Einkommensbeihilfen und ein leichterer Zugang zu Krediten gewährt wurden. Dieses Politikmodell stellt eine Variante des neoliberalen Populismus dar.2 In den 2000er Jahren gelang es dem türkischen Staat in der Folge, die Arbeiterbewegung erfolgreicher als zuvor zu zähmen. Erdoğans Manöver trafen auf eine Periode der konjunkturellen Erholung und erlaubten ihm, eine Reihe von neoliberalen Reformen durchzusetzen, die bis dahin nicht verwirklicht werden konnten. So gesehen stellte die Krise von 2001 eine neue Weichenstellung dar und das „Dilemma der strukturellen Anpassung“, das in den 1990er Jahren zu anhaltender wirtschaftlicher und politischer Instabilität geführt hatte, trat nun mit geänderten Parametern in Erscheinung. 2. Die neue Regierungsstrategie der AKP Die Welle neoliberaler Reformen, die nach 2001 durchgesetzt wurden, betrafen im Wesentlichen drei Bereiche: die Schaffung des Rahmens für eine orthodoxe Geldpolitik, die Disziplinierung des Arbeitsmarktes und die Privatisierung 2 Beispiele für ähnliche Fälle in Lateinamerika und Asien finden sich bei Roberts 1995: 92; Barr 2003, 2009; De Castro 2007; Jayasuriya/Hewison 2004: 574; Weyland 1996. 622 Ümit Akçay öffentlicher Unternehmen. Das wichtigste Ziel bei der Reform der Geldpolitik bestand darin, die Zentralbank von der Regierung und insbesondere vom Finanzministerium unabhängig zu machen. So konnte die Regierung fiskalpolitisch eine strenge Austerität verfolgen, während die Zentralbank geldpolitisch eine Deflation anstrebte. Die öffentliche Verschuldung ging von 76,1 Prozent des Bruttosozialprodukts (BSP) im Jahr 2001 auf 28,2 Prozent 2017 zurück (Undersecretariat of Treasury 2017). Die Reformen des Arbeitsmarktes zielten darauf ab, dessen Flexibilität zu erhöhen. Die wichtigsten Bestimmungen des Neuen Arbeitsgesetzes Nr. 4857 von 2003 betrafen die Legalisierung von flexibler Arbeit und von Teilzeitarbeit sowie die Möglichkeit des Subunternehmertums (Özdemir/Yücesan Özdemir 2006). Auf diese Art änderten sich die Arbeitsbedingungen entsprechend den Anforderungen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und der Erwartungen der türkischen Großbourgeoisie. Indem man die Arbeiterklasse der Disziplin des Marktes unterwarf, wurde auch ihr Potenzial zur Organisierung geschwächt. Nach Daten der OECD nahm der gewerkschaftliche Organisationsgrad von 29,1 Prozent im Jahr 2001 auf 6,3 Prozent im Jahr 2015 ab (OECD 2017) – ein Indikator für das erfolgreiche Vorgehen der AKP gegen die Arbeiterklasse. Nach den Zielvorgaben zur Geldwertstabilität der Zentralbank wurden außerdem die Lohnzuwächse begrenzt. Die wichtigsten Ergebnisse der geld- und arbeitsmarktpolitischen Reformen waren also prekäre Arbeitsbedingungen und stagnierende Reallöhne (Bedirhanoğlu u.a. 2017). Die Privatisierungen passten demgegenüber zur Agenda der AKP, das alte Establishment beiseite zu schieben. Als typische Komponente einer Politik auf der Linie des Washington Consensus sollten Privatisierungen nicht nur nur die öffentliche Verschuldung reduzieren, sondern auch Staatsbetriebe liquidieren. Der AKP ist es gelungen, sie in bis dahin einmaligem Ausmaß umzusetzen (Privatization Administration of Turkey 2017). Da die Staatsbetriebe eine Hochburg der Arbeiterbewegung waren, wurde diese – wie beabsichtigt – dadurch ebenfalls geschwächt. Dazu kam, dass Produkte und Dienstleistungen, die bis dahin von öffentlichen Unternehmen bereitgestellt wurden, durch die Rekommodifizierung teurer wurden. Alle diese Entwicklungen wirkten sich auf die Arbeits- und Lebenssituation einer großen Mehrheit der Arbeiterinnen und Arbeiter äußerst negativ aus. Die Privatisierungen der Staatsbetriebe trafen die am besten organisierten und am ehesten militanten Teile der Gewerkschaften; die Kommodifizierung der bisher von Staatsbetrieben zur Verfügung gestellten Güter und Leistungen führte zu neuen Belastungen der Budgets von Privathaushalten. Die Krise der türkischen Wirtschaft 623 2.1 Zwei Inklusionsmechanismen Die folgenden Erdoğan-Regierungen implantierten ein Standardpaket der neoliberalen Politik, zu dem zwei Inklusionsmechanismen gehörten, mit denen man danach trachtete, die Arbeiterklasse weiter zu atomisieren und an die wirtschaftliche Agenda des Regimes zu binden. Durch umverteilende Wohlfahrtsmaßnahmen und dadurch, dass man Haushalten der Arbeiterklasse den Zugang zu den Finanzmärkten ermöglichte, sollte die Bürde des Austeritäts- und Privatisierungsprogramms gemildert werden (Akçay 2018). 2.1.1 Soziale Inklusion Im bisherigen Wohlfahrtsregime waren die Arbeiterinnen und Arbeiter des informellen und des landwirtschaftlichen Sektors von staatlichen Leistungen für Gesundheit, Arbeitslosigkeit und Altersversorgung ausgeschlossen. Diese galten zuvor nur für die Beschäftigten im formellen Industriesektor und im öffentlichen Dienst (Buğra/Candaş 2011). Die AKP setzte durch, dass auch Beschäftigte außerhalb dieser Sektoren daran teilhaben konnten. Dazu gehörte, dass die Leistungen der Gesundheitsfürsorge über das System der sogenannten Grünen Karte ausgeweitet wurden. Es war 1992 eingeführt worden und dazu gedacht, diejenigen Teile der Bevölkerung zu integrieren, die keine Krankenversicherung hatten. Unter der AKP vergrößerte sich dessen Geltungsbereich, so dass es alle gesundheitsrelevanten Leistungen umfasste, und die Zahl der Anspruchsberechtigten stieg von 1,7 Millionen im Jahr 1995 auf 10 Millionen im Jahr 2010 (Coşar/Yeğenoğlu 2009). Auch ein weiteres Element der Wohlfahrtsmaßnahmen bezog sich auf den Gesundheitsbereich. Das Allgemeine System der Gesundheitsversicherung trat an die Stelle des bisherigen dreigliedrigen und hierarchischen Systems für Arbeiter, Beschäftigte im öffentlichen Dienst und Selbstständige. Die neuen Regelungen egalisierten das Klassifikationssystem und sollten sämtliche Bürgerinnen und Bürger erfassen. Indem die Inhaber der Grünen Karte 2012 in das Allgemeine System der Krankenversicherung überführt wurden, sollte dieses allgemein zugänglich gemacht werden. Schließlich führte die AKP das auch von der Weltbank unterstützte Programm Conditional Cash Transfers (CCTs) für Haushalte ein. Özden/Bekmen beschreiben dieses so: „Das Programm sieht Geldzahlungen für solche Haushalte vor, die von extremer Armut betroffen sind, und verpflichtet sie, dafür zu sorgen, dass ihre Kinder die Schule besuchen und regelmäßig an gesundheitsfördernden Aktivitäten teilnehmen. Bis 2011 galt es jährlich für ungefähr 10 Millionen Menschen.“ (2015: 93) Diese Maßnahme zielte vor allem darauf ab, dass Wählerinnen und Wähler, die zu den Armen gehörten, die AKP verstärkt unterstützen sollten (Aytaç 2014: 1219). Während derartige Programme in neoliberalen Regimes üblicherweise Bedürftigkeitsprüfungen 624 Ümit Akçay vorsehen und nach transparenten Richtlinien verwaltet werden, wurde es in der Türkei der Generaldirektion für Soziale Solidarität überantwortet, einer staatlichen Institution im Bereich des Premierministers, die über einen weiten Ermessensspielraum bei der Vergabe der Geldzahlungen verfügt (Eder 2010: 182). Eine einschlägige Studie kam zu dem Schluss, es gebe keine systematischen Mechanismen zur Überprüfung der Bedürftigkeit, sodass die Entscheidungen vom Urteil und somit von der Gunst der betreffenden Beamten abhängig blieben (Buğra/Candaş 2011: 522). Diese Initiativen waren wohlfahrtsorientiert, aber mit einem spezifisch neoliberalen Dreh. Sie bremsten die Durchschlagskraft der Marktreformen, passten sie allerdings in das weitreichende Konzept des neuen Regimes ein. Umut Bozkurt hat festgestellt, dass die Maßnahmen Hilfen für die ärmsten Schichten anboten, dass auf diesem Weg jedoch gleichzeitig die Vorstellung erodierte, soziale Unterstützung sei eine gesellschaftliche Verpflichtung (2013: 384; Özden 2014: 168). Das neue Wohlfahrtsregime fand nicht nur beim System der Grünen Karte und bei den CCTs-Programmen, sondern auch bei den Sozialleistungen auf lokaler Ebene und bei anderen philanthropisch-religiösen Netzwerken seinen Niederschlag (Yıldırım 2009). 2.2.2 Finanzielle Inklusion Die zweite Komponente der Puffermaßnahmen bestand darin, die Arbeiterklasse an der vertieften Finanzialisierung der türkischen Wirtschaft teilhaben zu lassen. Wie ich noch zeigen werde, stellte die wachsende Verschuldung von privaten Haushalten ein zentrales Merkmal der zweiten Phase der abhängigen Finanzialisierung der Türkei dar. Das kreditbasierte Konsummodell wurde dadurch besonders attraktiv, dass es eine unmittelbare politische wie auch ökonomische Wirkung hatte. Es schuf eine Grundlage für die aggregierte Nachfrage, indem es Haushalten der Arbeiterklasse Geld in die Hand gab, und im selben Zug trug es dazu bei, die Atomisierung dieser Klasse weiter voranzutreiben, da deren Mitglieder sich nun in die Bewegungen der Finanzströme hineingezogen sahen. Es gibt eine Vielfalt von Mechanismen der finanziellen Inklusion, einer der wichtigsten davon ist die Entwicklung der privaten Verschuldung (Karahanoğulları 2012). Seitdem die AKP das Sagen hat, hat die Verschuldung im Vergleich zum BSP dramatisch zugenommen: von 1,8 Prozent im Jahr 2002 auf 19,6 Prozent 2013. In nur einem Jahrzehnt hat sie sich also mehr als verzehnfacht (Bank for International Settlements 2017). Hinter dieser wachsenden Kreditaufnahme der Haushalte steht ein starker Rückgang der Einkommen von Mitgliedern der Arbeiterklasse – ein erwartbares Ergebnis der Angriffe auf die Gewerkschaften und die Löhne. Zwischen 1990 und 2012 ist die Lohnquote um mehr als 15 Prozent gesunken – gemessen an historischen und globalen Standards ein katastrophaler Rückgang Die Krise der türkischen Wirtschaft 625 (OECD 2015). Die Ausweitung von neuen Kreditangeboten für arme Haushalte war eine Art „privatisierter Keynesianismus“, ein Mittel, um die Löhne zu reduzieren, gleichzeitig aber ein entsprechendes Schrumpfen des Konsums zu verhindern (Crouch 2009). Das Verhältnis zwischen der Verschuldung der privaten Haushalte und ihrem verfügbaren Einkommen hat sich unter den AKP-Regierungen zwischen 2002 und 2013 mehr als verzehnfacht, nämlich vom Faktor 4,7 auf den Faktor 53 (Güngen 2017). Die finanzielle Inklusion betraf vor allem die ärmsten Teile der Gesellschaft. Die Zahl der verschuldeten Personen mit einem Einkommen unter 1.000 Türkischen Lira (was ungefähr 275 US-Dollar entspricht) hat zwischen 2001 und 2013 um das Zehnfache zugenommen, und 2013 gab es 4 Millionen Menschen, die arm und verschuldet waren.3 Der Mechanismus der finanziellen Inklusion hat Erdoğans Machtstrategie auf verschiedene Weise geholfen. Die Armen ins Marktsystem zu integrieren ist ein wirtschaftliches Mittel, das Arbeiterinnen und Arbeiter stärker von Märkten abhängig machte, und ein politisches Mittel, das zu einem stärkeren Bedürfnis nach politischer Stabilität geführt hat. 3. Die wichtigsten Merkmale der abhängigen Finanzialisierung in der Türkei Als wirksame Strategie der AKP-Regierungen ist der neoliberale Populismus in einem Umfeld entstanden, in dem die Türkei eine spezifische Position in der Weltwirtschaft eingenommen hat und in den Jahren 2002 und 2003 international solche Währungsbedingungen herrschten, dass ein finanziell abhängiges Land wie die Türkei eine Politik der niedrigen Zinsen verfolgen konnte. Die abhängige Finanzialisierung stellte das Akkumulationsregime der Türkei dar, der die neoliberale populistische Strategie der Jahre 2002 bis 2013 entsprungen und mit der diese gescheitert ist. Ihre wesentlichen Charakteristiken sind nun näher zu betrachten. Wie bereits weiter oben festgestellt, war das Hauptziel des Stabilisierungsprogramms ab 2001, die Inflation im Rahmen einer neuen geldpolitischen Orientierung und entsprechender Strukturmaßnahmen unter Kontrolle zu bekommen (Ergüneş 2010). Ein steigender Zinssatz hätte die inländische Ausweitung der Kredite ebenso wie das Investitionsniveau beeinträchtigt. Indes führt ein derartiger Anstieg des Zinssatzes in einer offenen Wirtschaft auch dazu, dass vermehrt 3 Zahlen wurden vom Autor errechnet auf der Grundlage der Daten von The Banks Association of Turkey, //www.tbb.org.tr/en/banks-and-banking-sector-information/statisticalreports/20 (Zugriff 22.6.2017). 626 Ümit Akçay Kapital zufließt. Sobald diese Kapitalzuflüsse ansteigen, wird die einheimische Währung aufgewertet. Das Bestreben, die Inflation zu kontrollieren, führte zu einer Aufwertung, die von der Zentralbank angestrebt wurde, da die türkische Produktion stark importabhängig ist und selbst die Exporte auf den Import von Zwischenprodukten und Kapitalgütern angewiesen sind (Gerni u.a. 2008). Aus diesen Gründen war die Aufwertung der türkischen Währung das heimliche Ziel der Zentralbank. Die hohe Zinsrate und eine überbewertete Währung wurden zu zwei strukturellen Merkmalen der abhängigen Finanzialisierung in der Türkei. Dieses Akkumulationsregime führte zu internen Widersprüchen. Die überbewertete Währung zeitigte vier nicht beabsichtigte Folgen. Erstens ließ sie Anreize für nichtfinanzielle Unternehmen entstehen, Zwischengüter und Rohmaterialien zu importieren, statt solche selbst zu produzieren, was längerfristig die produktiven Kapazitäten der nationalen Industrie unterminierte und, wie Dani Rodrik (2016) argumentiert, eine vorzeitige Deindustrialisierung mit sich brachte. Zweitens unterstützt die Verbilligung der Importe zwar die Politik der Zentralbank, die Inflation zu kontrollieren; aber damit vergrößerte sich auch die Lücke zwischen Importen und Exporten, was das Zahlungsbilanzdefizit ansteigen ließ. Drittens stellt die Aufwertung der einheimischen Währung einen Anreiz für Banken und für nichtfinanzielle Unternehmen dar, auf den internationalen Finanzmärkten Kredite in ausländischer Währung aufzunehmen. Dies begünstigt wiederum die Dollarisierung (oder Euroisierung) der Wirtschaft, was den Weg dafür ebnet, dass die Zentralbank die Kontrolle über die Geldpolitik verliert. Wie Akyüz hervorhebt, wurde die Türkei zu einer „stark dollarisierten Wirtschaft mit zwei Parallelwährungen. Nicht nur Verbindlichkeiten und Vermögenswerte werden zunehmend in Dollar ausgewiesen, sondern auch ein wesentlicher Teil der Immobilienpreise, der Einkommen und der Mieten; Verträge für public-privatepartnership-Projekte werden ebenfalls in Dollar abgeschlossen.“ (2018). Viertens führt eine überbewertete Währung dazu, dass die ausländischen Schulden ansteigen, was die wirtschaftliche Struktur weiter schwächt. Kurz und gut: Alle diese Widersprüche machten das Regime der abhängigen Finanzialisierung labiler und krisenanfälliger. Zunehmende Instabilitäten, Risiken und Unsicherheiten verstärkten bei nichtfinanziellen Unternehmen die Tendenz, kurzfristige Anlagen auf den Finanzmärkten zu suchen. Nach diesen Eingangsbemerkungen widme ich mich nun wieder den einzelnen Phasen der Zeit nach der Krise von 2001. Die erste davon umfasst die Jahre 2002 bis 2007. Die Kreditausweitung in den reifen kapitalistischen Ländern führte damals zu verstärkten Kapitalzuflüssen in Schwellenländer, und die Türkei davon war einer der größten Nutznießer (Akyüz 2014). Ein erheblicher Teil des Kapitalzuflusses begünstigte die abhängige Finanzialisierung und schuf die notwendigen Bedingungen für die Entstehung des Die Krise der türkischen Wirtschaft 627 neoliberalen populistischen Modells. Die wichtigsten Merkmale der ersten Phase von 2002 bis 2007 waren hohe (allerdings sinkende) Leitzinsen, die mit einer rückläufigen Inflation einhergingen. Die hohen Zinsen waren Teil des vom IWF unterstützten Stabilisierungsprogramms und sollten Kapitalflüsse anziehen; sie führten zur Aufwertung der Währung gegenüber dem US-Dollar und dem Euro. Die überbewertete türkische Lira trug dazu bei, die Inflation abflauen zu lassen, und als diese nachließ, konnte die Gelddisziplin mit geringeren Leitzinsen erreicht werden. Gleichzeitig gingen die Produktionskosten zurück, da die überbewertete Währung Importe begünstigte. Dank der hohen, aber sinkenden Realzinsen und der anhaltenden Kapitalzuflüsse kam es zu einer Ausweitung der inländischen Kredite und einer Periode dynamischen wirtschaftlichen Wachstums. Dieses Modell, das die Basis für das Antiinflationsprogramm bildete, war eng verbunden mit der globalen Wirtschaftskonjunktur. Wenn sich diese positiv entwickelt, wenn es also niedrigere Zinssätze in den reifen kapitalistischen Ländern gibt, dann kann ein antiinflationäres Programm in einem Schwellenland leicht implementiert werden. Umgekehrt ist es jedoch schwieriger, hier die Inflation zu reduzieren, wenn die globale Wirtschaftskonjunktur sich negativ entwickelt. Von 2002 bis 2007 war die globale Konjunktur günstig für Schwellenländer, und die Türkei erfuhr in dieser Zeit einen Rekordzufluss an Kapital. Die zweite Phase setzte 2008 mit einer scharfen, aber kurzen Rezession ein und dauerte bis 2009, ihr folgte jedoch abermals eine Periode der wirtschaftlichen Expansion zwischen 2010 und 2013. Diesmal gab es eine Verschiebung im Rahmen der abhängigen Finanzialisierung, und nichtfinanzielle Unternehmungen konnten nun direkt Kredite im Ausland und in ausländischer Währung aufnehmen. In der Phase von 2008 bis 2013 gab es sinkende Zinssätze, während die Inflationsrate stabil blieb. Als die globale Finanzkrise 2007/08 ausbrach, reagierten die Zentralbanken der USA und anderer reifer kapitalistischer Länder darauf, indem sie die Leitzinsen auf Null setzten und Programme des quantitative easing einführten. In diesem international positiven Umfeld senkte die türkische Zentralbank in den Jahren von 2010 bis 2013 den einwöchigen Repo-Satz systematisch von 7 auf 4,5 Prozent. In dieser Zeit war das Wirtschaftswachstum stark und der Bausektor explodierte dank der niedrigen Zinsen. Den Zinssatz weiter abzusenken hätte angesichts des spezifischen Charakters der abhängigen Finanzialisierung Auswirkungen auf den Wechselkurse gehabt. Wegen der Reaktionen der reifen kapitalistischen Länder auf die Krise von 2007/08 hatten die politisch Verantwortlichen der Türkei die einmalige Chance, den Leitzins zu senken, die Inflationsrate stabil und den Außenwert der türkischen Lira hoch zu halten. Im Jahr 2013 wurden die niedrigsten Zinssätze der AKP-Jahre erreicht und das kreditgetriebene Wachstums setzte sich fort. In diese Periode fiel auch 628 Ümit Akçay der Gipfelpunkt des neoliberalen Populismus und im Zuge der ungewöhnlich positiven Konjunktur wurden die Grundlagen für den Wandel des politischen Regimes errichtet. Die dritte Phase begann 2013, in einem Jahr, das bei den Kapitalzuflüssen, die bisher das Zugpferd des Wachstums darstellten, einen deutlichen Wendepunkt der abhängigen Finanzialisierung markierten. Diese Zeit war international durch eine deutliche Verknappung der internationalen Liquidität gekennzeichnet, vor allem, nachdem der Vorsitzende der Federal Reserve Bank (Fed), Ben Bernanke, ankündigte, die Fed würde ihre Politik des leichten Geldes zurückfahren und die Zinsen erhöhen (Bernanke 2103), was bei den Ländern des Globalen Südens bedeutende Kapitalabflüsse bewirkte. Seither befindet sich das türkische Akkumulationsregime in der Krise. Diese griff auch auf das politische System über, was den Wandel des Regimes einleitete. Die Zuspitzung der wirtschaftlichen Krise und die zunehmend autoritäre Ausrichtung, wie sie im Übergang zur präsidentiellen Herrschaft zum Ausdruck kam, gingen Hand in Hand. Kennzeichen der dritten Phase war der Anstieg der Zinssätze und der Inflation, was Abwertungstendenzen der türkischen Lira verstärkte. In der ersten Phase waren die Zinsen gesunken und der Wert der Lira angestiegen, in der zweiten Phase waren beide Werte zurückgegangen. Wie an den gewichteten Refinanzierungskosten zu sehen ist, bemühte sich die Zentralbank, mit ihren Leitzinsen niedrig zu bleiben und den Wechselkurs weiter überhöht zu halten, doch führte das zu einem dramatischen Anstieg der Zinsen 2014. Der letzte Versuch, die Zinsen zu senken, endete 2016 ähnlich erfolglos, und auch im Mai und August 2018 gab es weitere starke Zinserhöhungen. 4. Die Krise des Akkumulationsregimes Die Krise des türkischen Akkumulationsregimes wurde seit 2013, als die Wachstumsraten zu sinken begannen, offensichtlich. Das Markenzeichen des Neoliberalismus AKPscher Prägung war anhaltendes wirtschaftliches Wachstum. In Erdoğans erster Regierungsperiode von 2002 bis 2007 war die Wirtschaft relativ stark, und das setzte sich unter den folgenden AKP-Regierungen bis 2013 fort, selbst wenn auch hier die Auswirkungen der globalen Finanzkrise von 2008/09 fühlbar wurden. Aber erst in der Periode nach 2013 kam es zu einem deutlichen Abfall der Wachstumsraten, die zwischen 2012 und 2016 im Durchschnitt um 3,4 Prozent zurückgingen.4 4 Vom Autor errechnet auf Basis der älteren BSP-Daten der Türkischen Statistischen Institution (TUIK), 10.12.2017, http://www.turkstat.gov.tr/PreHaberBultenleri.do?id=21512. Die Krise der türkischen Wirtschaft 629 Die stagnierende Wirtschaftsleistung bedrohte zunehmend die Wirksamkeit der sozialen und finanziellen Inklusionsmechanismen, die die wichtigsten Faktoren für die bisherige politische Stabilität gebildet hatten. Sie war, wie noch zu sehen sein wird, ebenso ein Anzeichen für die Krise der abhängigen Finanzialisierung. Vor allem aber schwächte der wirtschaftliche Rückgang die Fähigkeit der AKP, Koalitionen innerhalb der verschiedenen Teile der herrschenden Klasse zu bilden, aus deren Sicht politische und wirtschaftliche Probleme zu einer Gefährdung der politischen Stabilität führten. Fast alle kritischen Ereignisse der jüngeren türkischen Geschichte seit 2013 – der Aufstand im Gezi-Park, die Wahlniederlage der AKP 2015, der gescheiterte Staatsstreich von 2016 oder die politischen Veränderungen 2018 – fanden in einer Periode des wirtschaftlichen Niedergangs statt. Im letzten Abschnitt beleuchte ich diese Periode und erläutere die wesentliche ökonomische Dynamik der Akkumulationskrise, außerdem, warum diese die Form der Stagflation annahm. 4.1 Drei Engpässe in fünf Jahren Wie weiter oben dargestellt, weist abhängige Finanzialisierung von Anfang an interne Widersprüche auf. Diese wurden in den letzten fünf Jahren bei drei Gelegenheiten als wirtschaftliche Engpässe manifest, und es traten stagflationäre Tendenzen auf. Diese Engpässe entstanden dadurch, dass die türkische Wirtschaft gegenüber Kapitalbewegungen hypersensitiv ist und auf einer Produktionsstruktur beruht, die stark importabhängig ist. Diese beiden Merkmale der abhängigen Finanzialisierung ließen die Politik der Zentralbank zur Stabilisierung des Geldwerts de facto zu einer Politik mutieren, die den Wechselkurs kontrollierte. Aus diesem Grund wurde auch die Politik des Leitzinses diesem Ziel untergeordnet, und nicht dem Ziel der Bekämpfung von Inflation. Die wirtschaftlichen Engpässe weisen auf die Dilemmata der abhängigen Finanzialisierung in der Türkei hin (Akçay/Güngen 2018). Wie andere Regierungen auch verfolgt die AKP als wichtigstes Ziel ein anhaltendes Wirtschaftswachstum. Seit sie nach der Krise von 2001 an die Macht kam, stellte sie stets eine „Wachstumskoalition“ dar. Um dieses Ziel umzusetzen, brauchte sie niedrige Zinsen. Aber in einer offenen Volkswirtschaft führen niedrige Zinsen gleichzeitig zu einem fallenden Wechselkurs. Wenn die Produktionsstruktur in erheblichem Maß von Importen abhängt, führt die Abwertung der Währung über den Importkanal zu einem Anstieg der Inflation. Vor allem nach Währungsschocks steigen Wechselkurse und Inflation an, indem sie sich gegenseitig befeuern. Wenn die Zinssätze zur Förderung des Wachstums niedrig gehalten werden, wirkt sich eine plötzliche Abwertung wie ein Währungsschock 630 Ümit Akçay aus. Während dessen Wirkungen sich über die gesamte Wirtschaft verteilen, wird das wirtschaftliche Wachstum durch wiederholte Zinserhöhungen, die einen weiteren Verfall des Wechselkurses verhindern sollen, gebremst (Akçay 2018b). Abbildung 1 zeigt die drei Engpässe der türkischen Wirtschaft in der Periode ab 2013. Die Balken zeigen die Inflation, die schwarze Linie zeigt den de factoLeitzins der Zentralbank (beide Werte auf der linken Achse). Die gestrichelte Linie zeigt die Parität von US-Dollar und türkischer Lira (rechte Achse). Am 1. Januar 2014 hat die Zentralbank der türkischen Republik (CBRT) den Leitzins erheblich heraufgesetzt (siehe Kreis 1). Abbildung 1: Drei Engpässe in fünf Jahren Quelle: Daten von CBRT, eigene Darstellung. https://evds2.tcmb.gov.tr/ (Zugriff 20.10.2018). Um kurz noch einmal die vorherigen Entwicklungen in Erinnerung zu rufen: Der Präsident der Federal Reserve hatte angekündigt, dass die Politik des quantitative easing beendet und der Leitzins angehoben würde. Diese Ankündigung war der Auftakt dazu, dass die globale Finanzkrise auf die Schwellenländer übersprang. Die AKP-Regierung, die im Inneren eine Politik der Polarisierung betrieb, schrieb die Abwertung der Lira und den Anstieg der Zinsen den Gezi-Park-Protesten zu und leugnete die dramatische Kehrtwendung der globalen Wirtschaftskonjunktur (Akçay 2018a). Zugleich mit den Gezi-Park-Protesten fand eine andere einschneidende Entwicklung statt, die zu einer der wichtigsten politischen Krisen in neuerer Die Krise der türkischen Wirtschaft 631 Zeit führte. Im Dezember 2013 spitzte sich die Krise innerhalb des politischen Machtblocks zu, da die Konflikte zwischen der AKP und den Gülenisten sich verschärften.5 Der Anstieg der Zinsen im Januar 2014 war sowohl das Ergebnis des Wechsels der internationalen Lage wie der internen politischen Krise. Sie führte nur deshalb nicht zu einer wirtschaftlichen Rezession, weil die Europäische Zentralbank in dieser Zeit neue quantitative-easing-Programme einführte. Da die Kapitalflüsse in die Türkei anhielten, überstand die Erdoğan-Regierung den ersten Engpass ohne größeren wirtschaftlichen Schaden. Der gescheiterte Staatsstreich vom 15. Juli 2016 stellte eine Fortsetzung der Kämpfe zwischen AKP und Gülenisten dar, die seit 2013 ausgebrochen waren. Die wichtigste wirtschaftliche Folge des Staatsstreichs war, dass das Wachstum einbrach, und zwar im dritten Quartal 2016, erstmalig seit 2009 (Turkish Statistical Institute 2016). Die Kapitalzuflüsse gingen zurück und führten zu einer Lira-Abwertung sowie zu einem Währungsschock (Kreis 2 in Abbildung 1). Die Regierung reagierte auf die drohende Rezession umgehend mit einer neuen Strategie, die ich als „Flucht in die Zukunft“ bezeichnen möchte. Für Erdoğan war die „Zukunft“ eindeutig das Referendum vom April 2017. Ziel der neuen Strategie war es, die negativen Wirkungen des wirtschaftlichen Einbruchs zu begrenzen, insbesondere zu verhindern, dass sie im Alltagsleben der Bevölkerung fühlbar wurden. Die Strategie hatte drei Komponenten: (i) die Verluste von Unternehmen mit Hilfe von staatlichen Garantien zu sozialisieren und konkursbedrohte Firmen zu retten; (ii) die nationale Währung zu stabilisieren; (iii) Konsum- und Geschäftskredite anzukurbeln (Akçay 2018: 25). Die erste Komponente sollte vor allem die drohenden Konkurse von kleinen und mittleren Unternehmen auffangen. Dazu wurde der Kreditgarantiefonds eingerichtet, der für Firmen, die aufgrund negativer Bewertungen keinen Zugang zum Banksystem hatten, Sicherheiten zur Verfügung stellte. Außerdem wurden mit Hilfe des Fonds 73 Miliarden US-Dollar neue Kredite (fast 10 Prozent des BSP der Türkei) für Firmen zur Verfügung gestellt, die auf solche dringend 5 Die Gülenisten sind Mitglieder einer einflussreichen islamistischen Organisation, die von Fettullah Gülen angeführt wird, einem türkischen Kleriker, der seit 1999 in den USA lebt. Die Bewegung nahm ihren Aufschwung nach dem Staatsstreich der Militärs von 1980 und verstärkte ihre Präsenz sowie ihren Einfluss auf Erziehungseinrichtungen und Medien in der Türkei. Sie versuchte auch, sich in den staatlichen Schlüsselbereichen wie dem Militär, der Polizei, dem Geheimdienst und der Justiz zu verankern. AKP und GülenBewegung bildeten eine wirkungsvolle Allianz gegen das kemalistische Establishment. Nachdem die Kemalisten 2010 aus den wichtigsten staatlichen Institutionen vertrieben worden waren, brach der Machtkampf zwischen den früheren Partnern aus, da beide nun die alleinige Kontrolle des Staates für sich beanspruchten, was zu dem gescheiterten Staatsstreich der Gülenisten vom 15. Juli 2016 führte. 632 Ümit Akçay angewiesen waren (Srivastava 2016). Auf diese Art wurden rund 30.000 Unternehmen vor dem Konkurs bewahrt (Gazete Duvar 2017). Auch Steuernachlässe und finanzielle Investitionsanreize waren Bestandteile der Strategie „Flucht in die Zukunft“. Die zweite Komponente war die Stabilisierung der nationalen Währung, die von entscheidender Bedeutung war, denn deren schneller Verfall war eine erhebliche Bedrohung für die türkische Wirtschaft, die ohnehin bereits die Last eines massiven Defizits der Zahlungsbilanz zu tragen hatte. Der Leitzins wurde vom 5.10.2016 bis zum 23.6.2017 von 7,73 auf 11,95 Prozent erhöht (siehe den zweiten Kreis in Abbildung 1). In der ersten Jahreshälfte 2017 kam es, ebenso wie in anderen Schwellenländern, zu einem raschen Anstieg der Kapitalzuflüsse, was den Druck auf den Wechselkurs milderte. Gleichwohl, selbst wenn sich die türkische Lira mit einer Notierung von 3,5 gegenüber dem US-Dollar stabilisierte, so war sie doch zwischen dem 23.6.2016 und dem 23.6.2017 unter den 20 am meisten gehandelten Währungen diejenige mit dem stärksten Kursverfall, nämlich 18,8 Prozent (Nelson 2017). Die dritte Komponente waren Krediterleichterungen für Haushalte und Unternehmen. Wie weiter oben festgestellt, kam die reale Wachstumsrate der Konsumkredite in der zweiten Hälfte 2016 zum Erliegen. Da der Staat die Banken ausdrücklich ermunterte, den Haushalten den leichten Zugang zu Krediten zu ermöglichen, stieg sie zwischen Oktober 2016 und Juni 2017 abermals von 7 auf 22 Prozent (Kandemir 2017). Das Ergebnis dieses dreifachen Stimulierungspaketes war, dass die türkische Wachstumsrate im ersten Vierteljahr 2017 auf fünf Prozent zunahm und die wirtschaftliche Aktivität sich erholte. Dies war ausschlaggebend für den Abstimmungssieg des Regimes beim Referendum vom April 2017, bei dem die Zustimmung bei 51,4 Prozent lag. Insofern war der erste Schritt von Erdoğans „Flucht“-Strategie erfolgreich. Aber die beobachtete Wirtschaftserholung von 2017 war nur vorübergehend. Der Finanzsektor stieß an seine Grenzen, da das Verhältnis von Krediten und Einlagen im Juni 2017 bei 150 Prozent lag (ebd.), was wiederum Druck auf einen weiteren Anstieg der Zinsen ausübte, während die Staatsschuld durch die Umsetzung der „Flucht“-Strategie in erheblichem Ausmaß zunahm (Sönmez 2017). Mit anderen Worten, diese Strategie diente als Ersatz für den Rückgang der internationalen Kapitalzuflüsse, und sie sollte das neoliberale populistische Modell weiter am Laufen halten. Der dritte Engpass der abhängigen Finanzialisierung führte schließlich im August 2018 zu einer Währungskrise (siehe den dritten Kreis in Abbildung 1). Da der Plan der „Flucht in die Zukunft“ nicht die erhofften Ergebnisse brachte, wurden die Präsidenten- und die Parlamentswahl um ein Jahr vorgezogen. Sie fanden am 24. Juni 2018 statt und standen im Schatten der heraufziehenden Wirtschaftskrise. Da der Zinsschock noch nicht mit seiner ganzen Wucht wirk- Die Krise der türkischen Wirtschaft 633 sam geworden war, gelang es Erdoğan allerdings, weiterhin Präsident zu bleiben, und seiner Partei, mithilfe ihres neuen rechtsextremen Partners, der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), die Mehrheit im Parlament zu behaupten. Der dritte Engpass von 2018 führte letztlich zu einem doppelten Schock. Erstens fiel der Wert der türkischen Lira im Verhältnis zum US-Dollar in den ersten neun Monaten des Jahres um mehr als 40 Prozent, was die Währungskrise verschärfte. Zweitens wurde der Leitzins, um einen weiteren Verfall der türkischen Lira zu verhindern, um mehr als elf Prozent angehoben. Dies entspricht dem IWF-Szenario des „abrupten Bremsens“ und unterstreicht, wie wichtig die Kapitalzuflüsse für Schwellenländer sind. Eichengreen/Gupta beschreiben die entsprechenden Mechanismen so: „Der Kurs der Währung verschlechtert sich, die Reserven nehmen ab und die Aktienkurse fallen. Das Wachstum des BSP geht zurück, die Investitionen verlangsamen sich und das Defizit der Leistungsbilanz nimmt zu“ (2016: 3). Die Türkei weist seit dem August 2018 alle diese Merkmale auf. Die Währungskrise und die Anpassungen des Leitzinses durch die Zentralbank bahnten den Weg für die Stagflation – die aktuelle Form der Krise der abhängigen Finanzialisierung in der Türkei. 4.2 Stagflation und die Grenzen der abhängigen Finanzialisierung Der neoliberale Populismus der AKP und ihres Akkumulationsregimes basierte auf niedrigen Zinsen. Wie ich in Abschnitt 2.2.2. zur finanziellen Inklusion erläutert habe, ist dieses besonders wichtige Instrument 2013 mit deren ansteigendem Trend an seine Grenzen gestoßen. Die niedrigen Zinsen waren ein wirksames Mittel, um die Armen über Konsumentenkredite ins Finanzsystem zu integrieren, was die politische Legitimität der amtierenden Partei erhöht hat. Aber sie waren fast gänzlich von Kapitalzuflüssen abhängig, und dies im Rahmen eines Akkumulationsregimes, bei dem die Produktionsstruktur auf importierte Güter und das wirtschaftliche Wachstum auf Kapitalzuflüsse angewiesen waren. Die materielle Basis für die populistische Strategie, die ab 2002 verfolgt wurde, ist mit dem Rückgang der globalen Liquidität seit 2013 zunehmend erodiert. In dieser Situation standen die politisch Verantwortlichen und die türkische Zentralbank vor einem ernsthaften Dilemma. Wenn letztere, um den Verfall der Währung zu stoppen, den Leitzins erhöhte, würde das die wirtschaftliche Expansion bremsen. Wenn sie dies aber nicht tat, würde sich die Verschlechterung des Wechselkurses fortsetzen. In diesem Fall würde das Risiko steigen, dass private Firmen in Konkurs gingen und die Inflation weiter anstieg. Die Finanzreserven der Zentralbank reichten nicht aus, um die türkische Lira zu stabilisieren, und die Erdoğan-Regierung widersetzte sich der Erhöhung des Leitzinses, weil sie um das Wachstum fürchtete. Insofern stand die türkische Wirtschaft bereits 634 Ümit Akçay seit 2013 in Gefahr, in eine schwere Wirtschaftskrise zu schlittern, tatsächlich aber passierte dies erst im letzten Quartal 2018. Abbildung 2 zeigt die jeweils ersten neun Monate für die jährliche Wachstumsrate des Indexes der Verbraucherpreise (CPI) zwischen 2013 und 2018. Die Daten für den September 2018 belegen, wie stark sich Währungskrise darin niederschlug und wie die Inflation dramatisch anstieg. Die Kosten für die Lebenshaltung nahmen daher rasch zu, und die Kaufkraft breiter Teile der Bevölkerung, deren Einkommen stagnierten, ging real zurück. Abbildung 2: Index der Verbraucherpreise 2013–2018, erste neun Monate des Jahres Quelle: Daten von Turkstat, eigene Auswertung. www.turkstat.gov.tr/PreHaberBultenleri.do?id=27766 (Zugriff 3.10.2018). Abbildung 3 zeigt die jeweils ersten neun Monate für die jährliche Wachstumsrate des Indexes der inländischen Erzeugerpreise (D-PPI) zwischen 2013 und 2018. Auch bei diesen Daten ist deutlich zu sehen, wie stark sich die Währungskrise auswirkte. Da die Produktionsstruktur stark von importierten Gütern abhängt, hat eine Zunahme bei diesem Index zwei mögliche Auswirkungen. Zum einem werden die Verbraucherpreise sehr wahrscheinlich ebenfalls ansteigen, zum anderen werden die Unternehmen Schwierigkeiten haben, die Preiserhöhungen auf die Konsumenten abzuwälzen, da die Nachfrage schrumpft. Aus diesem Grund kann die Währungskrise in den kommenden Monaten zu weit verbreiteten Konkursen und zu Massenarbeitslosigkeit führen. Zusammen mit der dramatischen angestiegenen Inflation gibt es starke Indizien dafür, dass es im vierten Quartal 2018 zu einer Rezession kommen wird. Die Industrieproduktion nimmt ab, die Arbeitslosigkeit steigt an, und der Einkaufsmanager-Index (PMI) für die Verarbeitende Industrie zeigt an, dass Die Krise der türkischen Wirtschaft 635 Abbildung 3: Index der inländischen Erzeugerpreise 2013–2018, erste neun Monate des Jahres Quelle: Daten von Turkstat, eigene Auswertung. www.turkstat.gov.tr/PreHaberBultenleri.do?id=27716 (Zugriff 3.10.2018). bereits im Oktober 2018 eine schwere Rezession eingetreten ist (ISO 2018). Es ist daher mit einer ausgeprägten Stagflation zu rechnen. 5. Fazit Ich habe hier versucht, die aktuelle wirtschaftliche Krise in der Türkei anders zu erklären, als dies üblicherweise geschieht, indem ich das Konzept der abhängigen Finanzialisierung herangezogen habe. Ich habe zunächst auf die beiden wichtigsten Wendepunkte, nämlich 1980 und 2001 hingewiesen und den historischen Hintergrund dafür aufgezeigt, wie sich dieses Regime der abhängigen Finanzialisierung etablieren konnte. Darüber hinaus habe ich deren politische Seite beleuchtet, die auf das Konzept des neoliberalen Populismus verweist. Diese Strategie zielt darauf ab, die Macht der organisierten Arbeiterschaft zu brechen und sich gleichzeitig um die Unterstützung durch die ärmsten Teile der Bevölkerung zu bemühen. Die beiden wesentlichen Mechanismen dieses Modells sind punktuelle Wohlfahrtsleistungen und die finanzielle Inklusion. Schließlich habe ich die wesentlichen Dynamiken und internen Widersprüche des Regimes der abhängigen Finanzialisierung aufgezeigt und die neuesten Entwicklungen der Krise seit 2013 untersucht. Im Ergebnis zeigt sich, dass die Regierung Erdoğan 2018, als sich die Krise des Akkumulationsregimes entfaltete, die bisher ernsthafteste wirtschaftliche Herausforderung ihrer Macht erlebt hat, wenngleich es dem Präsidenten gelang, 636 Ümit Akçay sich bei den vorgezogenen Wahlen dieses Jahres in seiner Position bestätigen zu lassen. Im September verkündete die Regierung einen Neuen Wirtschaftsplan, der einen Ausweg aus der aktuellen Krise aufweisen und die Wirtschaft wieder „ins Lot bringen“ sollte. Doch der weitere Verlauf der Krise ließ den Plan und all seine Versprechungen bereits zwei Wochen nach seiner Veröffentlichung Makulatur werden. Derzeit sind alle Bemühungen der politisch Verantwortlichen darauf gerichtet, eine mögliche Bankenkrise zu vermeiden, die durch eine Reihe von Unternehmenskonkursen ausgelöst werden könnte. Aber selbst wenn sie damit erfolgreich sind, steht der türkischen Wirtschaft 2019 eine schwere Rezession samt hoher Inflation bevor. Aus dem Englischen übersetzt von Dorothea Schmidt Literatur Acemoglu, Daron (2018): To Go Forward, Turkey Must Look Back. Bloomberg Opinion. URL: www.bloomberg.com/opinion/articles/2018-08-30/to-go-forward-turkey-must-look-back, Zugriff: 30.10.2018. Akçay, Ümit (2009): Para, Banka, Devlet: Merkez Bankası Bağımsızlaşmasının Ekonomi Politiği, [Money, Bank, State: The Political Economy of the Independence of Central Bank]. İstanbul. – (2018): Neoliberal Populism in Turkey and Its Crisis. In: Institute for International Political Economy Berlin, Working Paper, No. 100/2018. 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