Sowjet-Projektionen
Die Filmarbeit der kommunistischen Organisationen
in der Ersten Republik (1918–1933)1
Peter Grabher
Für U.
1. »Die modernen Opiumhöhlen des Kapitalismus« – Die KPÖ und das Kino bis
zum 5. Weltkongress der Komintern (1918–1924)
Nach der Ausrufung der Republik Deutsch-Österreich brachte der Text eines Gassenhauers eine verbreitete Stimmung zum Ausdruck: »Mir is olles ans, ob i a Göd hob
oder kans. Wann i a Göd hob, kann i ins Kino gehen, wann i kans hob, muß i
draußen stehn. Mir is olles ans, ob i a Göd hob oder kans.«2 In der Roten Fahne3
(in weiterer Folge: RF), dem seit 1918 erscheinenden Zentralorgan der Kommunistischen Partei Österreichs, wurde die klassenübergreifende Popularität des »Lichtbildes, welches jetzt mit Kitsch das letzte Dorf verseuchen darf« (RF 12.10.1919,
S. 5), bald zur Zielscheibe der Kritik. »Das schäbige Kino« hauche »einen toten Atem
aus«, da es wie die gesamte zum Verfall bestimmte bürgerliche Kultur sein »Dasein
nur dem Gelde verdankt«. (RF 21.12.1919, S. 3)
Quelle: Dewald, Christian (Hg.): Arbeiterkino.
Linke Filmkultur der Ersten Republik.
Wien: Verlag Filmarchiv Austria, 2007
S. 221-303.
1 Die vorliegende Untersuchung basiert im Wesentlichen auf einer Recherche in kommunistischen
Printmedien – vor allem der Roten Fahne – in der Österreichischen Nationalbibliothek. Kopien
von filmbezogenen Artikeln aus diesen Zeitschriften liegen nun im Filmarchiv Austria zur
Einsicht auf. Vorarbeiten zur kommunistischen Filmpublizistik und -zeigekultur in Österreich
waren im Gegensatz zu Deutschland nicht verfügbar. Erschwert wurde die Recherche durch die
Tatsache, dass viele Quellen zur Geschichte der kommunistischen Organisationen in der Ersten
Republik während der austrofaschistischen und der NS-Zeit zerstört wurden und dass in der
Erinnerungsliteratur sehr selten auf Filmisches Bezug genommen wird. Archivalien in anderen
österreichischen, deutschen und russischen Sammlungen konnten nur punktuell berücksichtigt
werden. Herzlichen Dank für Auskünfte, Hilfestellung und Zurverfügungstellung von Materialien an Christian Dewald, Shoshana Duizend-Jensen, Paulus Ebner, Richard Fuchs, Ulli Fuchs,
Winfried Garscha, Haimo Halbreiter, Christine Kanzler, Michael Loebenstein, Valérie Pozner,
Hans Schafranek, Peter Schauer, Elisabeth Streit, Hans Szende, Thomas Tode, Verena Traeger
und Jürgen Weber.
2 Nach Manès Sperber, Die vergebliche Warnung. All das Vergangene, 2. Teil, München 1979, S. 6.
3 Die Rote Fahne erschien bis zum Sommer 1919 unter den Titeln Weckruf und Die soziale Revolution. Viele Artikel sind nicht namentlich gezeichnet. Einer der ersten kurzzeitigen Chefredakteure war der Journalist und Theaterautor Leo Lania, der später den programmatischen Film
UM’S TÄGLICHE BROT (HUNGER IN WALDENBURG) (D 1929) realisierte.
Sowjet-Projektionen | 221
Fragen der Kultur und des Kinos im Besonderen spielten in der Atmosphäre permanenter Unruhe des Nachkrieges für die politische Praxis der KPÖ kaum eine
Rolle. Bis zum Verbot der Partei 1933 setzte sich keine einheitliche Konzeption der
Kulturarbeit durch. Die sowjetische Debatte zwischen den Vertretern des Proletkults
(Bogdanow, Lunatscharski u. a.) und ihrem Konzept einer spezifisch proletarischen
Klassenkultur und Lenins und Trotzkis universalistischer Vorstellung von einer
»Menschheitskultur« inspirierte die österreichischen KommunistInnen erst zeitverzögert zu kulturpolitischen Stellungnahmen. Eine »proletarische Kultur« konnte in
Österreich unter Bedingungen des sich restaurierenden Kapitalismus nicht einfach
kopiert werden. Die propagierte »Selbstaktivierung der Masse, das Mitschaffen an
Stelle des passiven Mitempfindens« als »Grundlage der sich entfaltenden neuen Kultur
– des Proletkults« (RF 29.8.1922, S. 4) wurde – vor allem von Theater-Agitprop4Gruppen – ansatzweise erst zu einem Zeitpunkt realisiert, als der Proletkult in der
SU mit dem Ende des Kriegskommunismus und dem Beginn der »Neuen Ökonomischen Politik« (NÖP) schon in Ungnade gefallen war.5
Die KPÖ war eine Woche vor der Ausrufung der Republik am 3. November 1918
in den Eichensälen in Wien-Favoriten als eine der ersten kommunistischen Parteien
der Welt gegründet worden.6 Bereits nach Beginn des Ersten Weltkrieges hatten sich
Linksradikale unterschiedlicher Herkunft von der Sozialdemokratie entfernt, die,
im Widerspruch zu ihrer eigenen Programmatik, die Kriegspolitik mitgetragen hatte.
Vor dem Hintergrund der russischen Revolution war auch in Wien die Idee der
4 »Agitation« meint dabei die nach außen gerichtete Werbearbeit der Partei, »Propaganda« die
innerparteiliche Schulungsarbeit. Aus der Zusammenziehung der beiden Bezeichnungen ergibt
sich der Ausdruck »Agitprop«.
5 Zu den Diskussionen um den Proletkult in der Sowjetunion und in Österreich sowie zur Theaterarbeit der KPÖ vgl. Christine Kanzlers sehr instruktive Dissertation Proletarisches Theater in der
Ersten Republik. Szenische Formen der Agitproparbeit der Kommunistischen Partei Österreichs
im Kontext kulturrevolutionärer Strömungen in Sowjetrussland (1925–1933), Universität Wien
1997.
6 Bis 1920 hieß sie »Kommunistische Partei Deutsch-Österreichs«. Die frühe KPÖ kristallisierte
sich vor allem um einige Intellektuelle (Paul Friedländer sowie die beiden Geschwister des
Komponisten Hanns Eisler Gerhart und Elfriede/Ruth Eisler-Friedländer-Fischer-Maslow) und
Arbeiterfunktionäre (K. Steinhardt, J. Riehs, O. Maschl u. a.). Neben zurückgekehrten Kriegsgefangenen (J. Koplenig u. a.) und Angehörigen der Wiener »Roten Garde« (E. E. Kisch u. a.) stellten verschiedene linke Gruppen, wie der »Verband jugendlicher Arbeiter«, die »Freie Vereinigung
sozialistischer Studenten« (E. Schüller u. a.) und die jüdische sozialistische Arbeiterorganisation
»Poale Zion« (M. Kohn, M. Schorr u. a.), die ersten Mitglieder der KPÖ. Vgl. zur Geschichte
der KPÖ: Herbert Steiner, Die Kommunistische Partei. In: Erika Weinzierl/Kurt Skalnik (Hg.),
Österreich 1918–1938. Geschichte der Ersten Republik, Graz/Wien/Köln 1983, Bd. 1, S. 317–
329; Hans Hautmann/Rudolf Kropf, Die österreichische Arbeiterbewegung vom Vormärz
bis 1945. Sozialökonomische Ursprünge ihrer Ideologie und Politik, Wien 1974; Historische
Kommission beim ZK der KPÖ (Hg.), Die Kommunistische Partei Österreichs. Beiträge zu ihrer
Geschichte und Politik, Wien 21989; Arnold Reisberg, Parteichronik der KPÖ, Typoskript im
Alfred-Klahr-Archiv Wien.
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Revolution aufgetaucht. Während des Jännerstreiks 1918 wurde die für die spätere
KPÖ zentrale Forderung nach einem »Sowjet-Österreich« erhoben. Nach dem Scheitern der Idee von 1919, die ungarische und die Münchner Räterepublik durch eine
österreichische zu verbinden, verließen viele die Partei. Nachdem sie im Mai/ Juni
1919 mit etwa 35.000 Mitgliedern ihren historischen Höchststand erreicht hatte,
sank die Mitgliederzahl der KPÖ bis 1924 wieder auf etwa 4500, eine Zahl, die bis
Anfang der 30er-Jahre stabil bleiben sollte (davon waren 1922 erst etwa 10%
Frauen).
Die Sowjetunion war für die KPÖ in allen Belangen definitive Bezugsgröße. Im
Gegensatz zu den anderen österreichischen Parteien war sie keine nationale Partei,
sondern eine Sektion der Dritten – Kommunistischen – Internationale (KI, Komintern). Entscheidungen im Rahmen der Weltkongresse der Komintern und des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI) waren für die im Alsergrund (9. Wiener Gemeindebezirk) beheimatete Parteileitung der KPÖ sakrosankt.7
Diese Abhängigkeit, die bald einer Aufgabe der politischen Souveränität gleichkam,
verlieh andererseits ihren AktivistInnen als einzig legitimen BündnispartnerInnen
Sowjetrusslands Selbstbewusstsein. Die Existenz der Sowjetunion war im symbolischen Raum der Ersten Republik von zentraler Bedeutung. Was Anna Seghers 1935
in ihrem Roman Der Weg durch den Februar einem ihrer Protagonisten in den
Mund liegt, gilt möglicherweise für die gesamten eineinhalb Jahrzehnte dieser Republik: »Rußland. Viele reißen sich dafür die Beine aus, viele hassen es wie den
Teufel, viele sind sich nicht einig darüber. Aber einmal im Tag mindestens denkt,
glaub ich, jeder daran.«8
Zunächst war es eine Welle von Russland-Reiseberichten, die das Publikum mit
Informationen über den Sowjetstaat und seine Kulturwerke bedienten. 1920 berichtete eine Broschüre der KPÖ von »kinematographischen Abteilungen« in Lunatscharskis
Kommissariat für Volksaufklärung, die »mit Arbeit überbürdet«9 seien, und von
»kinematographische[n] und grammophonische[n] Wanderseancen zum Zwecke der
kommunistischen Agitation«.10 Der spätere KPÖ-Vorsitzende Johann Koplenig, der
gleich nach der russischen Revolution der Partei der Bolschewiki beigetreten war,
7 Deswegen erschien es auch sinnvoll, den Artikel nach »sowjetischer Zeitrechnung« zu strukturieren, welche durch die Abfolge von Komintern-Kongressen bestimmt wurde. Dies soll die
symbolische Abhängigkeit der kommunistischen Organisationen von der Sowjetunion kenntlich
machen. Tatsächlich wurden die Beschlüsse der internationalen kommunistischen Gremien in
den österreichischen Sektionen selten sofort und in Reinform umgesetzt.
8 Anna Seghers, Der Weg durch den Februar, Darmstadt/Neuwied 1983, S. 227. Die erste Auflage
des Romans erschien 1935 in Willi Münzenbergs Pariser »Editions du Carrefour«.
9 Das Kulturwerk Sowjetrußlands, Wien: Verlag der Kommunistischen Partei Österreichs 1920,
S. 16 u. 71.
10 Ankündigung der Broschüre in der Roten Fahne (RF 28.9.1919, S. 5–6).
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leitete vor seiner Rückkehr 1920 die Kultur- und Aufklärungsabteilung des Amtes
für die Rückführung der Kriegsgefangenen im Ural. Erwin Zucker-Schilling: »Der
große Verschubbahnhof Perm II wurde zum Mittelpunkt der Aufklärungsarbeit
unter den Heimkehrern. Hier wurden während des Aufenthalts Filme gezeigt, und
für die Deutschsprachigen berichtete Koplenig über die Lage des Sowjetlandes und
über die internationalen Aufgaben der Arbeiterklasse.«11 Die KPÖ organisierte
1921 einen Lichtbildervortrag mit dem Titel »Die Wahrheit über die Sowjetunion«
im Eisenbahner-Kino im 5. Wiener Gemeindebezirk. (RF 10.11.1921, S. 3) Nach
der Niederschlagung des Aufstandes der Kronstädter Matrosen, die sich mit der
Forderung »Alle Macht den Sowjets – Keine Macht der Partei« im Frühjahr desselben Jahres gegen die Bolschewiki erhoben hatten, war die »Wahrheit« über die
Sowjetunion jenseits der Leinwand bereits schwer umkämpft.
Gewiss waren auch einige der 1200 österreichischen Freiwilligen, die der ungarischen Räterepublik zu Hilfe gekommen waren, bei der Aufführung russischer Filme
am 1. Mai 1919 in Budapest anwesend gewesen.12 Allerdings überstieg es bei weitem die Möglichkeiten der KPÖ, das sowjet-ungarische Projekt eines »Roten Films«
(»Vörös Film«)13 bzw. die Anfänge sowjet-russischer Kinopolitik in Österreich zu
kopieren. Obwohl die Bedeutung des Kinos als Medium der politischen Agitation
in Sowjetrußland und während der dreimonatigen ungarischen Räterepublik deutlich geworden war, dauerte es bis Mitte der 20er-Jahre, bis die KPÖ und die ihr nahe
stehenden Organisationen sich überhaupt auf Film als Mittel der politischen Propaganda bezogen. Die Filmarbeit der kommunistischen Organisationen beschränkte
sich während der gesamten Ersten Republik im Wesentlichen auf Filmpublizistik
und die Organisation von Vorführungen vor allem sowjetischer und deutscher KPFilme. Erst 1931 wurden zwei Kurzfilme produziert. In Österreich verfügte allein
die Sozialdemokratie über die Mittel, eine konkrete Kino- und Filmpolitik von links
zu betreiben.
Im Gegensatz zu Deutschland konnten die österreichischen KommunistInnen nie
ernsthaft mit der Sozialdemokratie konkurrieren. Dies hat verschiedene Gründe:
Friedrich Adler, der Sohn Victor Adlers, der 1916 aus Protest gegen die Kriegs-
politik den österreichischen Ministerpräsidenten Karl Stürgkh erschossen hatte,
sollte für die KPÖ als Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Deutschland vergleichbare Galionsfigur gewonnen werden. Doch Adler lehnte ab. Zudem mündeten die schmale Basis und die ideologische Heterogenität der jungen Partei sehr bald
in wilde Fraktionskämpfe, die erst Mitte der 20er-Jahre im Zeichen der »Bolschewisierung« der Partei diktatorisch beendet wurden. Die KPÖ begegnete auch rasch
massiver staatlicher Repression, die 1919 in einem Polizeimassaker in der Wiener
Hörlgasse kulminierte. Die Forderung nach Ausrufung der Räterepublik nach dem
Vorbild Ungarns während einer Arbeitslosendemonstration wurde als Putschversuch gewertet, 20 Tote und 80 Verletzte blieben auf der Straße liegen.14 Durch eine
Mischung von erfolgreicher reformistischer Sozialpolitik und verbalem Radikalismus gelang es der »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei« (SDAP) in der Folge, die
KPÖ nachhaltig auf eine kleine auf Wien konzentrierte AktivistInnenpartei zu reduzieren. Während der Ersten Republik erreichte sie keine Vertretung im Parlament
oder in Landtagen und stellte nur einige Gemeinderäte.15 Aus Sicht der KPÖ hatte
die sozialdemokratische Parteileitung 1918/19 eine Revolution in Deutsch-Österreich verhindert.16 Der Streit um die »verlorene Revolution« sowie derjenige zwischen einer reformorientierten Beteiligung an der bürgerlichen Demokratie einerseits und der sowjetorientierten Perspektive einer Diktatur des Proletariats andererseits bildeten während der gesamten Ersten Republik eine tiefe Kluft zwischen KPÖ
und SDAPÖ, über die hinweg eine erbitterte Polemik ausgefochten wurde, die sich
immer wieder auch an Kinofragen entzündete.
11 KPÖ (Hg.), Aus der Vergangenheit der KPÖ, Wien 1961, S. 27.
12 Über diese Aufführung waren keine Berichte in österreichischen Zeitungen auffindbar. In der
sozialdemokratischen Zeitschrift Bildungsarbeit, die der ungarischen Räterepublik skeptisch bis
ablehnend gegenüberstand, nahm Fritz Rager Ende 1920 misstrauisch darauf Bezug (Nr. 11, S.
85): »Wir hörten wohl auch von Lunatscharskys russischen Propagandafilms, die man angeblich während der Kommunistenherrschaft in Budapest zu sehen bekam.«
13 Noch vor der Sowjetunion wurde im Rahmen der ungarischen Räterepublik das Kino verstaatlicht. Neben einigen Filmen, an denen u. a. auch Mihály Kertész (= Michael Curtiz) und Sándor
Korda (= Alexander Korda) beteiligt waren, wurde kurzfristig auch eine eigene Filmzeitschrift
mit dem Titel Vörös Film produziert.
14 Unter denen, die nach dem vom Polizeipräsidenten und späteren Bundeskanzler Schober verantworteten Massaker am 15.6.1919 die KPDÖ verließen, war etwa auch der damals 17-jährige
Karl Popper, der in der Hörlgasse acht Freunde verlor.
15 Ab 1920 beendete die KPÖ ihren Wahlboykott und erreichte 26.651 Stimmen (SDAP: 961.846).
Vgl. dazu Lenins »Brief an die österreichischen Kommunisten«, in welchem er der KPÖ die Teilnahme an Wahlen als richtige Taktik nahe legte (RF 31.8.1920, S. 1).
16 Trotzki polemisierte etwa in Richtung Austromarxismus: »Der österreichische Marxist ist unerschöpfbar, wenn es sich um das Ausfindigmachen von Ursachen handelt, welche die Initiative
hindern und die revolutionäre Aktion erschweren. Der österreichische Marxismus ist eine
gelehrte und gespreizte Theorie der Passivität und der Kapitulation.« (RF 6.1.1921, S. 3–4).
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1923 schrieb Georg Lukács in der österreichischen Roten Fahne über die Berliner
Aufführung des ersten im Westen aufgeführten sowjetischen Spielfilms POLIKUSCHKA
(UdSSR 1919, Alexander Sanin, P: Rus), der nach einer Erzählung Tolstois das
kümmerliche Leben und den Selbstmord eines Leibeigenen in zaristischer Vergangenheit schildert: »Die berühmten Leistungen des Moskauer Künstlertheaters […]
erscheinen zum ersten Male im Film. […] Das neue Rußland aber hat neue noch
lebendigere Möglichkeiten für den Film: lebendige Massen in Aktion, ein Stück
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Ein geläutertes Kino
Als das Kinematographentheater aufkam, sahen die einen in ihm ein Feld für
ungeahnte Möglichkeiten der Kultur- und Bildungsarbeit; die anderen witterten
Gefahr für den guten Geschmack und eben die Kultur. Es setzte ein Wettkampf
ein zwischen Lichtbühne einerseits und Volkstheater, Variété, Ueberbrettl und
Zirkus andererseits. Jetzt ist das Lichtbildtheater als Volksbelustigung, als verbreitetste und billigste, zugänglichste und beliebteste Vergnügungsstätte eine
vollendete Tatsache, die genau so zu dem Komplex unserer Zivilisation gehört
wie etwa das Waisenhaus oder die Mode. Nach der Zeit der gefährlichen Konkurrenz für die »reine Kunst« hat das Kino Bürgerrecht erhalten. Heute ist nicht
mehr die Rede davon, ob Lichtbildtheater bestehen sollen, sondern, was mit
Hilfe dieser Nebenlinie der Kunst für die Kunst, für die Kultur oder sonst etwas
erreicht werden kann.
Das Kino ist ein Kind der Großstadt: in raschem Tempo, unverbindlich, sachlich
wird der G e n u ß hingenommen wie alles andere. Der Besuch im Kino bedarf keiner Vorbereitungen, hinterläßt keine Reminiszenzen: im Vorübergehen, zwischen
zwei Geschäftsabwickelungen tut man einen Sprung ins Kino, oder nach Tagesschluß, spontan, ohne lang gehegte Absicht. Und man geht wieder hinaus, an die
Arbeit oder nach Hause. Die im Kino verbrachte Stunde verpflichtet zu nichts und
wird auch nicht ernst genommen: eine kleine Zerstreuung, sonst nichts!
Aber für die Großstadt, besonders für eine gewisse Art der Bevölkerung, gehört
bereits diese Zerstreuung zu den Lebensnotwendigkeiten. Man sehe sich doch
das Publikum des Kinematographenhauses an. Auch Proletarier gehen ins Kino,
nach Feierabend und an Feiertagen, aber das typische Straßenpublikum liefert
der Mittelstand: kleine Mädchen aus den Bureaus, Privatangestellte und Beamte,
denen der Besuch eines wirklichen Theaters zu teuer ist; ferner »besseres Publikum«, das neben der schweren Kost der Kunst noch rasch das leichtverdauliche
Kino mitnimmt. Für die zahlungsfähigen Gäste werden auch die Kinopaläste
erbaut, mit einem Riesenaufwand und Pomp, aber zum Beispiel von den zirka
300 Kinos, die Wien zählt, sind die meisten eben die kleineren Bühnen. Die
Lichtbühne mit ihrer vulgarisierten Bezeichnung »Kino« ist die Kunst des kleinen Mannes, und die ganze Entwicklung der Filmindustrie geht dahin, sie den
Bedürfnissen des kleinen Mannes anzupassen.
Die Moral, der Geschmack, das Geistesniveau der Filmkunst – all das gibt einen
Querschnitt der Verfassung des K l e i n b ü r g e r t u m s . Der tugendhafte junge
Mann, der nach viel verspritztem Edelmut die Tochter des Chefs heiratet oder
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von ihm mit einem Scheck von einer Million Dollar (wo gibt es solche Schecks?)
belohnt wird; das schöne junge Mädchen, das beinahe hätte verführt werden
können, aber ihre Tugend in die Ehe rettet; die verworfene Lebedame, die zerknirscht abtreten muß; der Millionär, welcher großmütig die Veruntreuung seines Angestellten verzeiht – sind die üblichen Typen des Kinos. Selbst der Detektivfilm, der auf Sensation aufgebaut ist, versteht’s immer noch, die bürgerliche Moral
unversehrt zu lassen, das Gaunerstück macht sich in harmloser Schadenfreude
Luft, ja gar dort, wo der Filmregisseur, in seiner Suche nach dekorativen Momenten, in ungewohntes und abenteuerliches Milieu hinabsteigt, muß letzten
Endes die kleinbürgerliche Moral triumphieren. Die Liebe der Kunstreiterin wird
zurückgewiesen, weil sie – verheiratet ist, das entführte Fräulein kann ihren Reiter,
mit dem sie von Dächern gesprungen, über Flüsse geschwommen und in Verließen eingekerkert war, nicht heiraten, weil ihr Vater Graf ist. Das Publikum läßt
sich alle Ungereimtheiten des Kinostückes ruhig gefallen; dort, wo lebende Schauspieler auf den Brettern schon längst ausgepfiffen worden wären, sagt sich der
Beschauer: »Es ist ja schließlich n u r Kino.«
Nur Kino!
Aber dürfte man nicht auch an das Kino höhere Ansprüche stellen? Es gibt
Kinostücke mit den herrlichsten Naturaufnahmen, phantastische Stücke, Stücke, die
eine höchst komplizierte Technik erfordern, Verfilmungen von berühmten Büchern, ja
sogar von der Bibel und den Leiden Christi, es gibt auch wissenschaftliche Films,
Demonstrations- und Belehrungsfilms. Aber das tägliche Brot des Kinos ist und
bleibt – Schund: platte Moral, lendenlahme Erfindung, tiefes Niveau.
Wir denken uns aber ein geläutertes Kino, ein Kino, das ebenso wie heute den breitesten Massen zugänglich ist, aber zugleich den höchsten Anforderungen genügt. Ist
nicht das Beste in der Kunst gerade gut genug, um den werktätigen Massen präsentiert zu werden? Wir sind doch schon über jene Epoche hinaus, als schlechter Absud
dem Volke dargeboten wurde als »Popularisierung der Wissenschaft«. Wir geben in
unserer Propaganda und Agitation nicht entstellten Sozialismus, nicht an die Massen
»angepaßten« Marxismus, sondern reine marxistische Wissenschaft in verständlicher Darstellung. In Sowjetrußland ist das Kino in den Dienst der Volksaufklärung
und der politischen Propaganda gestellt worden. Bei uns würde ein höherstehendes
Kino auf Widerstand stoßen, denn in der bürgerlichen Gesellschaft wird diejenige
Ware produziert, die den meisten Profit einbringt. Einer besseren nichtkapitalistischen Gesellschaft bleibt auch eine von den Widersprüchen der kapitalistischen
Gesellschaft gereinigte Kunst vorenthalten und darunter auch das geläuterte Kino.
F. R., Die Rote Fahne, 11.1.1922, S. 2
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Weltgeschichte rollt sich ab. […] Der Film vom vierten Weltkongress [der Komintern,
P. G.].« (RF 8.2.1923, S. 2) Gemeint war vermutlich Dziga Vertovs KINOPRAWDA NR. 13
(»Oktober-Prawda«), die Lukács unter dem Titel FÜNF JAHRE SOWJETRUSSLAND
(UdSSR 1922)17 in Berlin gesehen hatte. Vom Wiener Magistrat wurde dieses Werk
»nicht zugelassen, weil der Film durch seine tendentiös politische Färbung geeignet
erscheint, im Publikum Gegensätze in den Meinungen auszulösen, zu eventuellen
Ruhestörungen demonstrativen Charakters führen und so die öffentliche Ruhe,
Ordnung und Sicherheit gefährden könnte«.18 Lukács war während der ungarischen
Räterepublik Volkskommissar für Volksaufklärung gewesen, nach der Niederlage
gegen die Horthy-Faschisten nach Wien geflohen19 und dort genauso wie sein Freund
Belá Balázs der KPÖ beigetreten20. In Wien lief POLIKUSCHKA im Dezember 1923.
Manès Sperber erinnert sich an dessen Aufführung in einer Atmosphäre der Russophilie: »Man mußte […] den Film sehen, der, sagte man, mitten im Bürgerkrieg von
hungernden und frierenden Künstlern unter unvorstellbar schwierigen Umständen
hergestellt worden war.«21
Dass mit der Gründung der »Allianz Film-Fabrikations- und Vertriebsgesellschaft
m. b. H.« die Sozialdemokratie den Film verstärkt nutzte, um für das »Rote Wien«
zu werben, wurde auch von den KommunistInnen wahrgenommen. M. N., eine kommunistische Angestellte, schrieb der Roten Fahne (9.10.1923, S. 3): »›Das Kino der
Hunderttausend‹, so nennt die Arbeiter-Zeitung den Platz, auf dem sie ihren Wahlfilm22
17 Thomas Tode/Alexandra Gramatke (Hg.), Dziga Vertov. Tagebücher/Arbeitshefte, Konstanz
2000, S. 216 f.
18 Paolo Caneppele (Hg.), Materialien zur österreichischen Filmgeschichte 8: Entscheidungen der
Wiener Filmzensur 1922–1925, Wien 2002, S. 90. Österr. Zensurlänge: 856 Meter. Unklar
bleibt, wer den Film zur Zensur eingereicht hat.
19 Abgesehen von der relativen Bedeutungslosigkeit der KPÖ spielte Wien in der kommunistischen
Welt eine bedeutende Rolle als Ort des Exils: Neben den vielen Flüchtlingen aus Ungarn
(Mihály Biró, Jenö Landler u. v. a.) organisierten Angehörige von in ihren Ländern verbotenen
kommunistischen Parteien (Litauen, Lettland, Estland, Griechenland, Jugoslawien, Polen,
Bulgarien, Rumänien) von hier aus – oft in der Illegalität – ihre Aktivitäten. Auch die kommunistische »Balkan-Föderation« hatte ihren Sitz in Wien. Deren Vorsitzender war zeitweise
Dimitroff, nachdem er 1924 für ein halbes Jahr auch KPÖ-Vorsitzender gewesen war. Belá Kun,
Victor Serge und Antonio Gramsci hielten sich zeitweise in Wien auf, und auch die KPD (Ruth
Fischer, Wilhelm Pieck u. a.) übte – verstärkt nach deren kurzfristigem Verbot 1923/24 – starken
Einfluss auf die KPÖ aus.
20 Es existieren keine Mitgliederlisten der KPÖ, jedoch galt »für alle kommunistischen Emigranten
[…] in puncto Parteizugehörigkeit das Territorialprinzip, d. h. nach einiger Zeit wurden sie in
die KP des jeweiligen ›Gastlandes‹ überführt (sofern sie nicht von der betreffenden Partei vollständig abgekoppelt waren, etwa als Agenten der GRU oder GPU/NKWD).« (Hans Schafranek
in einem E-Mail an den Autor) Vgl. dazu auch Georg Lukács, Gelebtes Denken – Eine Autobiographie im Dialog, Frankfurt a. M. 1981, S. 117.
21 Sperber 1975, S. 64; s. a. RF 2.12.1923, S. 2.
22 Vermutlich handelte es sich dabei um HOLZ UND KOHLE FÜR DIE WIENER BEVÖLKERUNG (A 1923,
P: Allianz).
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laufen lässt. Es ist eine ganz gute psychologische Spekulation auf die Massen, sie
zuerst durch einen ›Charlie-Chaplin-Schwank‹ zum Stehenbleiben zu veranlassen,
sie so vorzubereiten, damit sie dann das ›Wählet sozialdemokratisch‹ leichter verdauen. Der Film wiederholt eigentlich im allgemeinen die Wahlschlager der Sozialdemokraten, welche aus ihren Wahlplakaten genugsam bekannt sind.« Sie äußerte
sich anerkennend über die Wirkung des Films: »Wenn der Film dazu beiträgt, dass
die Arbeiter erkennen, dass sie es sind, die alles schaffen, dann ist es nicht mehr weit
zu der Erkenntnis, dass alle Menschen verpflichtet sind, zu arbeiten, damit die Last
für den Einzelnen nicht so groß ist und damit der heutige Zustand aufhöre, wo die
Vielen schwer arbeiten und hungern, einige wenige aber nichts tun und prassen, –
dann soll es mir recht sein, wenn er allabendlich für Hunderttausende läuft.« Dass
die verstärkte Filmarbeit der SDAP auch bei KPÖ-Mitgliedern gut ankam, musste
der Parteileitung ein Dorn im Auge sein. Im Dezember 1923 fand auch die erste
größere Kinoveranstaltung der KPÖ statt: »Für die Opfer der deutschen Revolution«
nach der Niederlage des Hamburger Aufstandes wurde im Kino des Eisenbahnerheimes in der Wiener Margaretenstraße POLIKUSCHKA in einer Sonntagsmatinee aufgeführt. (RF 8.12.1923, S. 3)
Ab 1924 nahm die Kritik am Kinobetrieb in der Roten Fahne schärfere Konturen
an. Sie rezensierte Trotzkis »Fragen des Alltagslebens« (RF 16.5.1924, S. 3), worin
dieser die psycho-technische Instrumentalisierung des Kinos für den Sowjetstaat ins
Auge gefasst hatte: »Wir nehmen die Menschen so, wie die Natur sie geschaffen hat
und wie sie die alte Gesellschaft zum Teil erzogen, zum Teil verstümmelt hat. Wir
suchen nach Stützpunkten in diesem lebendigen Menschenmaterial, um unseren
Parteihebel und revolutionär-staatlichen Hebel anzusetzen. […] Das wichtigste, alle
anderen bei weitem übertreffende Werkzeug auf diesem Gebiet kann gegenwärtig
das Kino sein.«23 Es »zerstreut, klärt auf, versetzt die Einbildungskraft durch Bilder
in Erstaunen und befreit von dem Bedürfnis, über die Schwelle der Kirche zu gehen.
Das Kino ist eine große Konkurrenz nicht nur der Kneipe, sondern auch der Kirche.
Es ist das Werkzeug, dessen wir uns unbedingt bemächtigen müssen!«24
Die Voraussetzungen für eine solche Inbesitznahme des Kinos waren in Österreich
nicht gegeben: Das Kapital hatte das Kino bereits flächendeckend für seine Zwecke
eingespannt, wie Alexander Holm in einem Artikel zum Verhältnis von Kino und
Proletariat (RF 4.11.1924, S. 2–3) ausführte: »Gleichzeitig mit dem Erwachen des
modernen Proletariats aus der Narkose der Religionen und Kirchen verpflanzen die
Trusts diese Narkose in gefälligerer, modernerer Form in die Kinos.« Sie seien »die
23 Leo Trotzki, »Schnaps, Kirche und Kino«, in: Leo Trotzki, Fragen des Alltagslebens (1923),
Essen 2001, S. 33.
24 Ebd., S. 37.
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Proletarier im Kino.
Vorne, dichtgedrängt,
wo man die billigsten Plätze gewinnt,
sitzen sie, die tagsüber eingezwängt
in die Tretmühle des Lebens sind:
Das Laufmädchen mit dem dünnen Fähnchen
und dem frühreifen Gesicht;
die schwindsüchtige Näherin, die nächtelang
beim Lampenlicht
mit nadelzerstochenen Fingern und halbblinden Augen
ihr Leben vernäht –;
Waschfrauen, denen beißende Laugen
von früh bis spät
die Hände zerreißen;
magere Vorstadtkommis mit Hornbrillen
und schmutzigweißen
Kragen;
blasse Lehrbuben, die am Tage schwere Wagen
wie Tiere durch die Straßen zogen, mit stumpfen Blicken;
Burschen und Mädel aus schwarzen Fabriken,
die ihr Leben dem Herrn der Maschine – verpfänden,
halten die billigen Karten in Händen.
Ein Klingelzeichen erschallt
Reklamebilder erscheinen, huschen auf und nieder;
Zeigen, wo man am besten in Raten – zahlt;
Wie man reich wird; wie männliche Stärke kehret wieder.
Apparate surren.
Still Magen! Halt dich brav! Hör’ auf zu knurren!
Verschon die arme Seele, wenn sie füttert mit Bedrängnis!
Hast du für Harry Piel und für Chaplin durchaus kein Verständnis …?
Begreife Magen, heute mußt »du« fasten –;
ein Nachtmahl und das Kino sind zu große Lasten!
Ein schlechter Kavalier du deiner Seele bist,
mit einem Wort: ein Egoist …!
230 | Peter Grabher
Das Spiel ist aus, es ruft der Billeteur
und angelweite Türen springen.
Von draußen strömt das Leben her,
was wird am nächsten Tag es bringen?
Der Wind geht kalt, nach Hause geht
das müde Vorstadtpublikum;
ein Wachmann an der Ecke steht
in seinem strengen Ordnungskleid
Und in des Lebens Wirklichkeit –
Verraucht das süße Opium …
Hans Maier, Die Rote Fahne, 2.4.1926, S. 3
(Hans Maier, alias Hamay (1881–1945), Bäcker, Schriftsteller und Journalist. Beitritt zur KPÖ
1920, Funktionär des »Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller«, Feuilletons und
Gedichte in der Roten Fahne.)
modernen Opiumhöhlen des Kapitalismus« – »der einzige Vergnügungsort der armen Leute«, in dem aber eine »betrügerische Business-Moral« verbreitet werde. Obwohl »seiner Form nach die demokratischste Einrichtung«, die den »Schein [wahre],
über den Klassen zu stehen«, sei das Kino ein »Herd psychischer Ausbeutung«, ein
»Institut zur Verkleinbürgerlichung der Massen«. Holm fordert den Aufbau eines
»Klassenkinos«, eines von den Gewerkschaften getragenen Kinonetzes sowie eine
proletarische Filmkritik, deren Aufgabe es sei, dem Proletariat das »Klassengesicht
des Kinos klar zu machen« und »somit den Klassenkampf auch auf die kulturellen
Gebiete zu übertragen«. (ebd.)
1924 war die in Fraktionskämpfe verstrickte KPÖ allerdings keineswegs in der
Lage, solche Aufgaben in Angriff zu nehmen. Erst nach der Parteireform im Zeichen
des 5. Weltkongresses der Komintern im Sommer 1924 und von Willi Münzenbergs
Losung »Erobert den Film!« begannen ab 1925 die Partei und ihr nahe stehende
Organisationen wie die »Österreichische Arbeiterhilfe« und die »Österreichische Rote
Hilfe« Filme als Mittel politischer Agitation einzusetzen und kontinuierlich Filmkritik zu betreiben.
Sowjet-Projektionen | 231
2. »Erobert den Film!« – Anfänge kommunistischer Filmpublizistik und -zeigekultur
bis zum 6. Weltkongress der Komintern (1924–1928)
Nach dem Tod Lenins im Jänner 1924 wurde von der Komintern und Stalin die
Losung vom »Aufbau des Sozialismus in einem Land« ausgegeben und den KPSektionen eine als »Bolschewisierung« titulierte Stalinisierung auferlegt: Die KPÖ
stellte ihre alte Organisationsstruktur nach Wohnbezirken auf eine »Betriebszellenorganisation« um. Jahrelange Fraktionskämpfe wurden durch Ausschlüsse eingedämmt, der »Marxismus-Leninismus« zur verbindlichen Parteilinie erhoben und
die innerparteiliche Opposition in den folgenden Jahren immer offener mit dem
Vorwurf des »Trotzkismus« verfolgt. Zur neuen strafferen Organisierung der Partei,
die den Weg zu einer Massenbasis ebnen sollte, gehörte auch die Neuorganisation
der Kultur- und Agitprop-Arbeit. Eine Sondernummer der für alle KPs maßgeblichen Inprekorr25 beschrieb detailliert, wie die kommunistischen Parteien ihre Agitation und Propaganda umgestalten sollten.
In der Folge wurde die Bildungszentrale der KPÖ durch eine Abteilung für Agitprop
ersetzt, in deren Rahmen im Mai 1925, unter Kurt Landaus (1903–1937?) Leitung,
eine Proletkult-Gruppe gegründet wurde. Diese trat an, durch kollektive Theaterarbeit
»Propaganda für die Ziele und Aufgaben des Proletariats und des Kommunismus zu
machen und andererseits den bestehenden Massenvertriebsstellen kleinbürgerlicher
Ideologie (Theater, Kino, usw.) den Kampf anzusagen […]« (RF 1.7.1925, S. 3). Bevor
Landau wegen seiner Nähe zum Trotzkismus aus der Partei ausgeschlossen wurde,
schrieb er von Jänner bis Mai 1925 unter der Rubrik »Kultur und Klassenkampf« einige Artikel zu Film, Theater, Sprechchor, Literatur und proletarischer Kulturtheorie, in
denen er versuchte, der Kulturkritik größeren Stellenwert zu geben. Er kritisierte die
Haltung vieler KP-AktivistInnen zur Kulturarbeit: »Vor einiger Zeit noch wurde in
unserer Partei von vielen, selbst führenden Funktionären jede Stellungnahme zu künstlerischen Ereignissen, zu Theater- und Filmveranstaltungen, Ausstellungen usw. als ein
Rückfall in den ›kleinbürgerlichen Intellektualismus‹ aufgefasst und daher abgelehnt.
Im Gegensatz zu dieser nicht vereinzelten Ablehnung steht die Praxis der russischen
und deutschen Bruderpartei.« (RF 4.1.1925, S. 7) Landau berichtete über LichtbildEinsatz im Theater Meyerholds (RF 4.1.1925, S. 7), kritisierte die »Bildungsmeierei
der Sozialdemokratie« und forderte eine antiindividualistische befreiende Kunst der
»kollektiven Selbsttätigkeit« (RF 29.3.1925, S. 7). In den wenigen Filmkritiken des
jungen Landau zeigte sich kritische Sensibilität: In einem Märchenfilm erriet er den
25 Sondernummer vom 12.3.1925. Die Internationale Pressekorrespondenz (kurz Inprekorr),
deren deutschsprachige Ausgabe zu diesem Zeitpunkt noch in der Wiener Berggasse herausgegeben wurde, war das Zentralorgan der Komintern.
232 | Peter Grabher
Reiz, den dieser aufs Publikum ausübte (RF 18.1.1925, S. 7), an der SaschaProduktion DIE RACHE DES PHARAO (A 1925, Hans Theyer) denunzierte er die den
Film tragende britisch-koloniale Phantasie. Die Zuschauer sollen im Kino »abgelenkt
werden von der Erkenntnis der wahren Triebfeder der heutigen Gesellschaft, von der
Erkenntnis, daß nicht die Moral der Einzelnen, sondern das System als Ganzes zu
bekämpfen ist«. (RF 19.4.1925, S. 7) Landau ging nach seinem Parteiausschluss
nach Paris und beteiligte sich später auf Seiten der POUM am Kampf für die spanische Republik. Seine Spuren verlieren sich 1937 in der Sowjetunion, wohin ihn der
NKWD aus Spanien verschleppt hatte.26 Nach Landaus Ausscheiden erschienen
Artikel zu Filmthemen wieder nur sporadisch. Erst ab Herbst 1926 enthielt Die Rote
Fahne eine regelmäßig erscheinende Filmrubrik.
In seinem für die kommunistische Filmpolitik zentralen Text »Erobert den Film!«27
von 1925 berichtet Willi Münzenberg von extremen Reaktionen auf einen »Hetzfilm gegen Sowjet-Rußland«, TODESREIGEN (DIE GEBURT DES BOLSCHEWISMUS) (D 1923,
William Karfiol): »In einigen Arbeiterbezirken empörten sich die Arbeiter gegen
diese Verleumdung und schlugen kurzerhand – wie in Leipzig – die Vorführungsapparate in Trümmer und verbrannten das Schundwerk.«28 Auch in Wien wurden
Vorführungen von monarchistischen, militaristischen oder antibolschewistischen
Filmen gestört. Kurt Landau berichtet im April 1925, es sei »noch nicht lange her,
dass unsere Jugend in den Kinos der Vorstadt gegen den infamen reaktionären Film
MARIA ANTOINETTE29 demonstrierte«. (RF 5.4.1925, S. 5) Die Rote Fahne forderte
26 Zu Landaus Biografie und den Konflikten um den »Trotzkismus« vgl. Hans Schafranek, Das
kurze Leben des Kurt Landau. Ein österreichischer Kommunist als Opfer der stalinistischen
Geheimpolizei, Wien 1988. Schafranek schreibt, dass Landau 1921 der KPÖ beitrat und in der
Währinger Parteizelle sowie in der Bildungszentrale arbeitete, wo er die Parteibibliothek betreute und deren Leiter er schließlich wurde. Zu Landaus Theaterarbeit im Rahmen des Wiener
Proletkults vgl. Christine Kanzlers Dissertation.
27 Willi Münzenberg, »Erobert den Film! Winke aus der Praxis für die Praxis proletarischer
Filmpropaganda« (1925), wiederabgedruckt in: Willi Lüdecke, Der Film in Agitation und Propaganda der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung (1919–1933), Berlin 1973, S. 80.
(Internet: http://www.trend.infopartisan.net/trd1099/t351099.html). Der finnische Kommunist
Allan Wallenius, dessen Spur sich in den »Säuberungen« der 30er-Jahre verliert, erörterte bereits
im Mai 1924 in der Inprekorr die Möglichkeiten und Schwierigkeiten der filmischen Propaganda für die kommunistische Weltbewegung: Die Kinematographie im Dienste der proletarischen Revolution (Inprekorr 17.5.1924, S. 448–449); vgl. auch Paul Thompson, Der Film als
politisches Propagandamittel (RF 1.4.1925, S. 2–3).
28 Das Wiener Magistrat wollte es zu solchen Szenen erst gar nicht kommen lassen und untersagte Anfang Juli 1923 den bereits freigegebenen Film nachträglich, weil er »durch seine zahlreichen Szenen von rohen und brutalen Gewalttaten geeignet erscheint das moralische Empfinden
zu verletzen, die Instinkte der Zuschauer aufzupeitschen und Aergernis zu erregen«. Wenige
Wochen später wurde er mit Jugendverbot wieder freigegeben. 1924 lief der Streifen noch einmal unter dem Titel DER LEIDENSWEG DER OLGA PETROWNA. Paolo Caneppele (Hg.), Materialien
zur österreichischen Filmgeschichte 8, S. 75, 84, 90 und 136.
29 D 1922, R: Rudolf Meinert.
Sowjet-Projektionen | 233
ihre LeserInnen einen Monat später auf, die Aufführung eines Films mit dem Titel DIE
VERSCHWÖRUNG ZU HARBOR CITY (evtl. HARBOR PATROL, USA 1924), in dem »eine Verschwörerbande, die sich ›Weltbürger‹ nennt […], mit Gewalt die Freiheit und Gleichheit erzwingen will […], mit den zweckdienlichen Mitteln zu verhindern. […] Genossen, wo dieser Film gespielt wird, hat er noch bei der ersten Aufführung zu verschwinden!« (RF 8.5.1925, S. 7) Ob dieser Aufruf befolgt wurde, geht aus den Quellen nicht
hervor. Motiviert wurde er von der gleichzeitig stattfindenden Verfolgung bulgarischer Kommunisten und durch die Erfahrung, dass »das Mittel des Verbots von der
Polizeidirektion ausschließlich gegen uns angewendet wird, während sie die niederträchtigsten Hetzfilme gegen die Arbeiterklasse ruhig passieren lässt« (ebd.).
Willi Münzenberg propagierte in seinem Text die Eroberung statt der Zerstörung
des Kinos, seine »Verwendung für die Arbeiterbewegung, für die Ideenwelt des
Kommunismus«.30 Münzenbergs Initiative deckte sich genau mit der neuen Agitprop-Linie der Komintern: »Die bürgerliche Ideologie sickert auf tausend Wegen in
die Arbeitermassen, durch den Markt und die Krämerläden, durch die Bierhallen
und Theater, Kino und Presse. Wir müssen einen Versuch machen, aus dem Rahmen
der bereits feststehenden Agitationsformen herauszutreten, um dem korrumpierenden Einfluss der Bourgeoisie und des philisterhaften Sozialismus überall unseren
kommunistischen Einfluss entgegenzustellen. Bei den ständigen Verfolgungen, denen
die kommunistischen Parteien ausgesetzt sind, ist dies wirklich keine leichte Aufgabe. […] Es versteht sich von selbst, dass wir die größten Resultate erzielen können, wenn uns das Kino, eines der mächtigsten Beeinflussungsmittel der Massen,
zur Verfügung stehen würde. Dies ist aber gerade das Schwerste, insbesondere unter
den europäischen Verhältnissen.«31
Der Wiener Kommunist Leo Katz, der unter seinem Pseudonym Leo Weiss auch
einige Filmkritiken in der Roten Fahne schrieb, nahm in seiner Rezension von
Münzenbergs Streitschrift in der Inprekorr auf diese Schwierigkeiten Bezug: »Das
europäische und amerikanische Proletariat ist auf die Einfuhr von proletarischen
Filmen aus der Sowjetunion angewiesen, wo […] die Filmstelle der IAH und das
Prolet-Kino schon eine Anzahl von solchen produzierten. […] Allerdings müssen die
kommunistischen Parteien, um eine Filmaufführung solchen Inhalts zu erreichen,
manche Schwierigkeiten überwinden. Die politische Zensur des kapitalistischen
Staates, die Konzerne der Filmgesellschaften, im Bündnis mit den Filmverleihinstituten, die alle größeren Kinotheater in ihren Händen halten, sorgen dafür, daß keine
proletarischen Filme aufgeführt werden sollen.«32
30 Nach Lüdecke, S. 80.
31 Inprekorr, Sondernummer vom 12.3.1925, S. 505/506.
32 Inprekorr, 5.9.1925, S. 1063.
234 | Peter Grabher
Münzenbergs Aktivitäten erreichten schließlich auch Österreich. Er hatte gute Kontakte zu österreichischen KommunistInnen und war schon wiederholt in Österreich
gewesen,33 jedoch scheinen die ersten Filme seiner »Internationalen Arbeiter-Hilfe«
(IAH) über die Hungerkatastrophe in der Sowjetunion 1921/2234 und die Hungersnot in Deutschland 192335 nicht gezeigt worden zu sein. Münzenberg hatte die
österreichische Firma »Prometheus-Film Gesellschaft« übernommen, welche Kurt
Bernhardts Antikriegsfilm namenlose helden (INFANTERIST SCHOLZ) (A 1924)36 produziert hatte, der jedoch in Österreich selbst nicht in die Kinos kam.
Am 31.8.1925 wurde auch eine österreichische Sektion der IAH als Verein konstituiert:37 Tragende AktivistInnen der »Österreichische Arbeiter-Hilfe« (ÖAH)38 waren
die KPÖ-Mitglieder Marie Frischauf39 und Leopold Maresch,40 der Argentinier Iso
33 1927 wurde ihm die Einreise zur Reichskonferenz der »Österreichischen Arbeiter-Hilfe« (ÖAH)
verweigert (RF 25.2.1927, S. 2); s. a. RF 2.9.1919, S. 3.
34 Allein eine »Ausstellung russischer Original-Bildplakate zugunsten der Hilfsaktion für Sowjetrußland« wurde in der Roten Fahne annonciert. (RF 19.8.1921, S. 8)
35 Willi Münzenberg, Über Größe, Ursache und Bekämpfung der Hungersnot in Deutschland.
Rede auf dem Weltkongress der IAH in Berlin am 9.12.1923. Wien: Moderner Verlag 1924.
Der darin abgedruckte Aufruf scheint in Österreich kein Gehör gefunden zu haben: »Vereine!
I.A.H.-Komitees! Sie können den I.A.H.-Film: HUNGER IN DEUTSCHLAND in 3 Teilen, 1000 Meter,
erhalten. Schreiben Sie an das Film-Amt der I.A.H., Berlin, S.W. 48, Friedrichsstr. 247. II.«
36 Vgl. Gertraude Kühn/Karl Tümmler/Walter Wimmer (Hg.), Film und revolutionäre Arbeiterbewegung in Deutschland 1918–1932. Dokumente und Materialien zur Entwicklung der Filmpolitik der revolutionären Arbeiterbewegung und zu den Anfängen einer sozialistischen Filmkunst
in Deutschland, Berlin (Ost), 2., erw. Aufl. 1978, Bd. 2, S. 470–476 (in weiterer Folge zitiert
als: Kühn/Tümmler/Wimmer 21978).
37 Informelle Aktivitäten fanden bereits seit Anfang 1924 statt. (RF 10.1.1924, S. 2)
38 Vgl. Willi Münzenberg, Fünf Jahre Internationale Arbeiterhilfe, Berlin: Neuer Deutscher Verlag
1926, S. 30/35.
39 Marie Frischauf, geb. Pappenheim (1882–1966), die als eine der ersten Frauen in Wien Medizin
studiert hatte, trat 1919 unter dem Eindruck der Oktoberrevolution der KPÖ bei. Vor dem
Ersten Weltkrieg hatte sie Gedichte und Prosa u. a. in der Fackel veröffentlicht und für Arnold
Schönberg das Libretto »Erwartung« geschrieben. Bereits seit 1924 in Sachen IAH tätig, war
sie von 1927 bis zum Verbot Vorsitzende der ÖAH und gemeinsam mit Maresch Mitglied des
Exekutivkomitees der IAH. Nach den Juli-Kämpfen 1927 war sie drei Wochen in Haft und
gründete anschließend in Wien das »Bureau zum Studium des Fascismus«. Ende 1928 wurde
sie Vorsitzende der »Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung«. Ab 1929 arbeitete
sie in der »Proletarischen Sexualberatungsstelle« mit Wilhelm Reich zusammen. 1934 emigrierte
sie nach Frankreich, 1941 nach Mexiko. Nach ihrer Rückkehr 1947 war sie als Ärztin und Publizistin (Volksstimme, Österreichisches Tagebuch u. a.) tätig.
40 Dass Maresch im Jänner 1925 auf Ansuchen Münzenbergs von der KPÖ »zwecks Mitarbeit im
österreichischen ZK der IAH« aus dem Angestelltenverhältnis entlassen wurde, wirft ein Licht
auf die enge Zusammenarbeit Münzenbergs mit der KPÖ und auf die tatsächliche Nähe der
ÖAH zur KP – eine Nähe, die in der Öffentlichkeit gerne relativiert wurde. Maresch war später
Wiener Korrespondent der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung (AIZ) und wurde in diesem Zusammenhang einmal wegen eines Berichtes über eine Polizeiaktion verurteilt (Arnold Reisberg, Parteichronik der KPÖ, Jahresmappen 1925 und 1928).
Sowjet-Projektionen | 235
Brante-Schweide von der »Österreichischen Künstlerhilfe« sowie der Staatsrechtler
Carl Grünberg.41 Das Konzept der IAH, in den Industriestaaten mit überparteilichem und humanitärem Gestus unter KünstlerInnen und Intellektuellen ideelle und
materielle Unterstützung für die Interessen der Sowjetunion zu gewinnen, war auch
in Österreich relativ erfolgreich. Eines der ersten Protesttelegramme gegen die Verfolgungen der Arbeiterbewegung in Ungarn wurde von zahlreichen österreichischen
Prominenten unterzeichnet, unter ihnen Raoul Auerheimer, Hermann Bahr, Egon
Friedell, Leo Perutz, Felix Salten, Robert Musil, Albert Bassermann und Hans Kelsen.
Im Herbst 1925 fanden die ersten Aufführungen von aus Berlin eingeführten
Filmen der IAH statt, welche die ÖAH beim Wiener Magistrat zur Begutachtung
eingereicht hatte: RUSSISCHE KINDERFÜRSORGE (D 1923, P: Aufbau-Industrie- und
Handels-AG der IAH Berlin),42 DIE ARBEIT DER INTERNATIONALEN ARBEITERHILFE
(I.A.H.) IN DEUTSCHLAND (D 1924, P: Aufbau-Industrie- und Handels-AG der IAH
Berlin43)44 und ANKUNFT DER ERSTEN ARBEITERDELEGATION IN SOWJET-RUSSLAND
(UdSSR 1925?, P: Meshrabpom-Rus45)46, der mit Jugendverbot belegt wurde. Das
»Reichssekretariat der Österreichischen Arbeiterhilfe«47 verlieh diese Titel an ÖAHOrtsgruppen in Österreich, »um sie in den Dienst unserer Werbepropaganda« zu
stellen.48 Der Film über eine deutsche Delegation wurde im Rahmen einer Kampagne
für eine österreichische Arbeiterdelegation in die Sowjetunion in Wien, Kapfenberg
und Donawitz gezeigt. (RF 8.1.1926, S. 4) Drei Tage nachdem die erste aus Sozialdemokraten und KommunistInnen zusammengesetzte Arbeiterdelegation in die
Sowjetunion abgereist war, wurden diese drei Kurzfilme im Rahmen einer Sonn41 Carl Grünberg war als Lehrer Otto Bauers und Max Adlers ein »Vater des Austromarxismus«.
Er wurde 1924 erster Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung.
42 Österr. Zensurlänge: 695 Meter; vermutlich ident mit KINDERHEIME UND KINDERERZIEHUNG IN
SOWJET-RUSSLAND. Laut der Filmliste, die Münzenbergs »Erobert den Film!« ergänzt, »ein Film, der
die Fürsorge des russischen Sowjet-Staates für die durch Krieg, Bürgerkrieg und Hungersnot verwaisten russischen Arbeiter- und Bauernkinder zeigt«. Münzenberg, »Erobert den Film!«, S. 98.
43 Vgl. zu dieser Firma Thomas Tode, »Dosiertes Muskelspiel. Die linke Filmkultur der Weimarer
Republik«, in: Klaus Kreimeier/Antje Ehmann/Jeanpaul Goergen (Hg.), Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland. Bd. 2: Weimarer Republik 1918–1933, Stuttgart 2005, S. 528
(in weiterer Folge zitiert als: Tode 2005).
44 Österr. Zensurlänge: 440 Meter.
45 Vgl. dazur Musée d’Orsay (Hg.), Le studio Mejrabpom ou l’aventure du cinéma privé au pays
des bolcheviks (= Les dossiers du musée d’Orsay, n° 59), Paris 1996. Die Rote Fahne berichtete
immer wieder über die sowjetische Filmproduktion, vgl. etwa »Das russische Hollywood. Das
Filmstädtchen ›Meschrapom‹ bei Moskau« (RF 27.4.1927, S. 5).
46 Österr. Zensurlänge: 220 Meter.
47 Die Zentrale der ÖAH hatte ihren Sitz in Wien I., Bauernmarkt 1 und gab die Zeitschrift
Arbeiter-Hilfe. Überparteiliches Organ der »Österreichischen Arbeiter-Hilfe« heraus.
48 Im Mai 1927 standen außerdem noch SEIN MAHNRUF und DAS BEGRÄBNIS EINES ROTEN DIPLOMATEN
(= DES GESANDTEN WOROWSKIS LETZTE FAHRT) (D 1923) – ein Film über die Überstellung des Leichnams eines in Lausanne ermordeten Sowjetdiplomaten via Berlin und dessen Beerdigung an der
Kremlmauer – zur Verfügung (Arbeiter-Hilfe, Nr. 1, Mai 1927, S. 4).
236 | Peter Grabher
SEIN MAHNRUF, UdSSR 1925
tagsmatinee am 31.1.1926 im Augartenkino erstmals aufgeführt. (RF 27.1.1926,
S. 4)
Am selben Tag wurde die Meshrabpom-Rus-Produktion SEIN MAHNRUF (JEGO
PRISYW, UdSSR 1925, Jakow Protasanow)49 von der ÖAH im Stafa-Kino uraufgeführt,50 einer der ersten »Russenfilme«, in denen das projizierte Bild des Sowjetstaates visuell im Porträt Lenins kulminierte. In der Roten Fahne nahm Münzenberg das geradezu religiöse Finale des Films vorweg: »Die Höhe im Film wird erreicht im Schlussakt, als einer Arbeiterversammlung, die zusammengetreten ist, um
den Gedenktag an die erste russische Revolution im Jahre 1905 zu feiern, die Nach49 Österr. Zensurlänge: 1791 Meter.
50 Seine Aufführung war zunächst verboten worden: Das Magistrat beschied der einreichenden
»Österreichischen Filmindustrie«: »Nicht zugelassen, weil das Bild infolge seiner auf Verherrlichung revolutionärer gerichteten Tendenz, welche insbesondere auch in den zahlreichen Untertiteln zum Ausdruck kommt, geeignet erscheint Missfallskundgebungen gegensätzlich gesinnten
Publikums auszulösen und dadurch zu Störungen der öffentlichen Ruhe und Ordnung zu führen.«
Paolo Caneppele (Hg.), Materialien zur österreichischen Filmgeschichte 8, S. 322. Erst nach
Beeinspruchung durch die ÖAH war der Film vom Landeshauptmann mit Jugendverbot freigegeben worden (RF 20.1.1926, S. 3). Der Film wurde im KP-Kontext bis zum Verbot immer
wieder aufgeführt. Zu eruieren bleibt, ob die »Österreichische Filmindustrie«, die seit 1924 ihren
Sitz in der Neubaugasse 64–66 hatte, eine Münzenberg-Gründung war.
Sowjet-Projektionen | 237
richt überbracht wird, daß Lenin gestorben sei. Im Schneesturm ist die Telephonleitung zerrissen. Niemand glaubt die Nachricht.« Ein reitender Bote wird geschickt,
um Gewissheit zu bekommen: »›Lenin ist tot‹ […], welcher Ausbruch, als er die […]
Nachricht der immer noch wartenden Menge überbringen muß. Und dann das
Große, Erhebende, Bejahende, Hoffnungsfreudige, nach dem Begräbnis die Riesenkundgebung der Arbeiter, ›sein Mahnruf‹ aus dem Grabe, das Lenin-Aufgebot, der
Appell an alle Arbeiter und Bauern, Lenins Stelle auszufüllen und in die Partei einzutreten. […] Als Endbild Lenins weisende Hand und diesem Bild entgegen ziehen
Hunderte und Tausende Arbeiter mit roten Bannern.« (RF 24.1.1926, S. 5).
Der politische Kurswechsel der Komintern nach der Inthronisierung Stalins wurde
von einem umfassenden Lenin-Kult begleitet, der vor allem in Filmen seinen Niederschlag fand. Nachdem die Perspektive einer Weltrevolution auf unbestimmte Zeit aufgeschoben worden war, erfüllten zunehmend Kinobilder die Funktion, dem Bild des
Arbeiter- und Bauernstaates, seiner Geschichte und seinen Führerfiguren in der
Einbildungskraft der westlichen KinozuschauerInnen eine fast mythische Präsenz zu
verschaffen. SEIN MAHNRUF markiert den Beginn einer »Russenfilm-Welle«, die bis
zum Verbot der linken Parteien 1933/34 die österreichischen Kinolandschaft bewegte.
Die Ankündigung der ÖAH-Aufführung von DAS WUNDER DES SOLDATEN IWAN
(TSCHUDOTWOREZ, UdSSR 1922, Alexander Pantelejew)51, MUTTER UND KIND IN
SOWJETRUSSLAND (UdSSR 1924/25?)52 und DIE ARBEIT DER INTERNATIONALEN ARBEITERHILFE IN RUSSLAND im Februar 1926 wurde von einem Artikel über eine Anfrage
im deutschen Reichstag begleitet. Ein deutschnationaler Abgeordneter hatte die
proletarischen Versuche zur Eroberung des Kinos wahrgenommen und machte sich
darüber Sorgen, dass »in steigendem Maße Filme erscheinen, die […] die Bevölkerung planmäßig zum Klassenkampf aufhetzen und neue Unruhen verbreiten.« Der
Redakteur der Roten Fahne kommentierte: »Jawohl, Herr Abg. […]! Die Filme
›ausländischen (russischen) Ursprungs‹ kommen und werden noch im ›steigenden
Maße erscheinen‹. Und daß man sie nicht aufhalten soll, dafür sorgt die Arbeiterschaft!« (RF 20.2.1926, S. 2) Die österreichischen Behörden reagierten auf die Anfänge kommunistischer Zeigekultur durch Verbote. In Niederösterreich erklärte der
christlichsoziale Landeshauptmann und spätere Bundeskanzler Karl Buresch die
Aufführung von SEIN MAHNRUF für illegal. (RF 18.3.1926, S. 3) Der Landeshauptmann schrieb der ÖAH: »Der Film hat abgesehen von der Häufung verbrecheri51 Österr. Zensurlänge: 1127 Meter, Einreicher: ÖAH. Die beiden anderen Titel scheinen in den
Zensurlisten nicht auf.
52 Laut der Münzenbergs »Erobert den Film!« ergänzenden Liste »ein Film, der in einer spannenden
Handlung die Fürsorge zeigt, die Sowjet-Rußland der werdenden und stillenden Mutter angedeihen läßt.« Zitiert nach Lückecke, S. 98.
238 | Peter Grabher
scher Szenen und aufreizender Ausschreitungen, welche der besitzenden Klasse zur
Last gelegt werden, die ausgesprochene Tendenz, den Bolschewismus als erstrebenswerte Form der staatlichen Ordnung erscheinen zu lassen und ist deshalb geeignet, bei dem größten Teil der Bevölkerung des Landes Anstoß zu erregen, sowie die
öffentliche Ruhe und Ordnung zu gefährden.« (RF 18.3.1926, S. 3)53
Eine nach der Rückkehr der Russlanddelegation angesetzte Veranstaltung der
Zentralen Frauenabteilung der KPÖ im Theater-Kino, in deren Verlauf »neue, aus
Rußland mitgebrachte Filme« (RF 10.4.1926, S. 6) gezeigt werden sollten, wurde
ebenfalls untersagt (RF 11.4.1926, S. 1). Vorführungen links konnotierter Filme
wurden zunehmend Schauplatz von Auseinandersetzungen. Bei der österreichischen
Erstaufführung von Martin Bergers SPD-nahem Gewerkschaftsfilm FREIES VOLK
(D 1925, Martin Berger)54 »versuchten einige Hakenkreuzler bei dem Spiel der ›Internationalen‹ zu stören.« Die Rote Fahne vermerkte, dass »die anwesenden Arbeiter
und vor allem unsere Jugendlichen ihnen aber schnell und bündig die verdiente Abfuhr [bereiteten]«. (RF 6.6.1926, S. 3)
In diese Situation platzte im Juni 1926 der Film PANZERKREUZER POTEMKIN des 28jährigen Sergej Eisenstein (UdSSR 1925, P: Goskino). Nach seiner umkämpften und
schließlich spektakulär erfolgreichen deutschen Premiere55 am 2.5.1926 kündigten
ab Ende Mai zahlreiche Artikel in der österreichischen Presse die Ankunft des
Filmes an. Die Rote Fahne berichtete von der Pressevorführung am 2.6.1926 im
Wiener Central-Kino: »Jede, auch die hochgespannteste Erwartung wurde vom
unmittelbaren Eindruck dieses gewaltigen Filmwerkes übertroffen.« (RF 3.6.1926,
S. 3) In den Augen des fassungslosen Kritikers war »die getreue Wiedergabe der
historischen Ereignisse […] von einer derart aufrüttelnden Wirkung, daß man sich
kaum vorstellen kann, wie die unmittelbare Kunde von der Meuterei auf dem
Panzerkreuzer Potemkin noch aufrüttelnder sein konnte«. Er betrachtete den Film
als ein »Werk des russischen Proletkult«, »das vollendete künstlerische Produkt
eines Kollektivs russischer Kommunisten«, was sich auch im Film selbst niederschlage: »War jemals erhört, dass in einem Film keine Liebesgeschichte gespielt
wird, daß es überhaupt keine dramatischen ›Rollen‹ gibt, daß kein Star das Publikum von der Leinwand herab blöde anlächelt? Hier spielt das arbeitende Volk
Theater, nein es spielt nicht Theater, es erlebt zum zweiten Mal seine eigene
Geschichte.« Der Film »packt den Zuschauer«, wie ein »Kran eine Last packen
53 Nachdem eine Zensur de iure nicht vorgesehen war, hob der Verfassungsgerichtshof dieses Verbot kurze Zeit später auf. (RF 23.3.1926, S. 3)
54 5.6.1926 im Flottenkino. Auch dessen Aufführung war der verleihenden »Mondial« zunächst
verboten worden. Österr. Zensurlänge: 2225 Meter.
55 Vgl. dazu Tümmler/Kühn/Wimmer 21978, Bd. 1, S. 323–369.
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würde, reißt ihn an sich und zwingt ihn, an seinem Schicksal teilzuhaben«. Mit ihm
sei der sichtbare Beweis dafür erbracht, »daß künstlerisches Schaffen erst dann
beginnt, eine lebenswichtige Sache des ganzen Volkes zu werden, wo [es] dem
ganzen Volke, d. h. der Revolution dient« (ebd.). Ein weiterer Artikel forderte einen
»österreichischen Potemkin-Film, etwa die Darstellung der Meuterei in Cattaro«.
(RF 8.6.1926, S. 3)56
Am Freitag, dem 25.6.1926 lief der PANZERKREUZER POTEMKIN57 tatsächlich in
Wien ein. Ein hymnischer Artikel über »POTEMKINS Einzug« berichtete von restlos
ausverkauften Vorstellungen in vierzehn Wiener Kinos und von einem enthusiastischen, Beifall klatschenden Publikum. (RF 27.6.1926, S. 3)58 Obwohl der Erfolg des
Films alle bisherigen Dimensionen proletarischer Filmkultur sprengte und buchstäblich von ganz Wien gesehen wurde, wird in der autobiografischen Literatur das
»Ereignis POTEMKIN« selten erinnert. Umso interessanter ist die Erzählung Rosa
Puhms in einem Interview 1983. Sie war damals gerade 17 Jahre alt und seit kurzem Mitglied des »Kommunistischen Jugendverbandes« (KJV): »Die alten Stars von
damals, ich weiß nicht, wie sie alle geheißen haben, der Harry Piel und die diversen
Leute. Es waren alles Spielfilme, gute oder schlechte. Vielleicht im Vergleich zu heute noch eher gute. Aber dann kommt auf einmal ein politischer Film, der etwas aus
der Geschichte der Sowjetunion zeigt: die Geschichte des Panzerkreuzers Potemkin.
Der Film hat – nicht nur auf mich, sondern auf alle Leute – einen derartigen Eindruck gemacht. Man musste sich um Karten anstellen damals, kann ich mich erinnern. Ich werde die Szene nicht vergessen – ich habe ihn seitdem x-mal gesehen –,
wie dort in Odessa die russische Polizei das Volk über die Stiegen jagt, wie Frauen
mit Kinderwägen laufen, wie der Kinderwagen über die Stiegen kollert, usw. Das
hat mich ungeheuer berührt.«59
56 Leider wurde nie ein solcher Film gedreht. Tatsächlich lassen sich einige Parallelen zwischen der
Meuterei in Odessa und der Meuterei von Matrosen auf Schiffen der k. u. k. Armee im Februar
1918 in der Bucht von Cattaro (Kotor, Montenegro) ausmachen. Diese Meuterei, bei der ebenfalls schlechte Verpflegung eine Rolle spielte, endete jedoch nicht mit einer Revolution, sondern
mit vier Todesurteilen. Auf der Grundlage von Bruno Freis Erzählung Die roten Matrosen von
Cattaro. Eine Episode aus dem Revolutionsjahr 1918 (Wien: Wiener Volksbuchhandlung 1927)
wurde die Geschichte 1930 von Friedrich Wolf unter dem Titel »Matrosen von Cattaro« für die
Bühne adaptiert.
57 Österr. Zensurlänge: 1552 Meter, Jugendverbot.
58 Es kam auch zu Konflikten, etwa im Burgkino: »Während der Revolutionsszene an Bord des
Kriegsschiffes spielte die Musikkapelle die Marseillaise. Dieses Spiel rief den Widerspruch einiger Kinobesucher hervor, die mit lebhaften Pfuirufen antworteten und ›Deutschland, Deutschland über alles‹ anstimmten. Es kam zu Auseinandersetzungen, die zu Tätlichkeiten auszuarten
drohten. […] Zwölf Personen wurden arretiert.« (Neue Freie Presse, 29.6.1926) Wenige Tage
darauf wurden in mehreren Kinos »Stinkbomben« geworfen und »übelriechende Flüssigkeiten«
ausgegossen. (Neue Freie Presse, 30.6.1926) In Vorarlberg wurde der Film im Oktober von der
Landesregierung verboten.
240 | Peter Grabher
Anders als in Deutschland, wo Münzenbergs »Prometheus-Film Gmbh« Eisensteins
Film verlieh und sich damit eine finanzielle Basis für Eigenproduktionen schaffen
konnte, hatte dessen enormer Erfolg in Österreich, wo der Film vom kommerziellen
Verleih »Philipp & Co« vertrieben wurde, für die linke Filmkultur keinen direkten
finanziellen Effekt. Trotzdem prägte er nachhaltig die Erwartungshaltung des Publikums. Zahlreiche »Russenfilme« erreichten nun die österreichischen Kinos. Von
1926 bis 1933 wurden etwa 75 sowjetische Titel in Österreich vorgeführt, davon
ca. 38 lange Spiel- und ca. 14 lange Dokumentarfilme.60 Während die »Russenfilme« sowohl von SozialdemokratInnen als auch von KommunistInnen vorgeführt
und für sich reklamiert wurden, wurden die Dokumentarfilme der IAH und der
KPD nur im KP-Kontext gezeigt. Mit weit größeren Ressourcen als jenen der KPÖ
gelang es der SDAP in der Folge, eine effiziente Filmverleihstruktur aufzubauen.
Im Rahmen ihres vergleichsweise kleineren Aktionsradius organisierten die KPÖ
und die ihr nahe stehenden Organisationen nun kontinuierlich Aufführungen im
Parteikontext – etwa Die Rote Fahne im Zirkus-Busch-Kino die »Separataufführung«
von DER BLUTIGE SONNTAG (9. JANUAR 1905) (DEWJATOJE JANWARJA, UdSSR 1925,
Wjatscheslaw Wiskowski), einem nicht näher bezeichneten SOWJET-FILMJOURNAJ
und DIE ÖSTERREICHISCHE ARBEITERDELEGATION IN SOWJETRUSSLAND (UdSSR 1926, P:
Staatskinos Rußland)61 – mit »vollbesetztem Orchester« (RF 4.9.1926, S. 3)62. Bereits im gedruckten Bericht der Russlanddelegation war die Filmarbeit der Sowjets
beim Grenzübertritt ins gelobte Land erwähnt worden: »An der Grenze zweier
Welten! […] Nun ein Pfiff, der Zug setzt sich langsam in Bewegung und unter den
Klängen der Internationale, intoniert von einer Rotarmistenkapelle, durchfahren
wir das rote Tor, umjubelt von einer vielhundertköpfigen Menschenmenge. Standarten mit den Aufschriften ›Proletarier aller Länder vereinigt euch‹, ›Willkommen
teure Gäste, Proletarier Österreichs‹ […] und andere leuchteten uns entgegen. Filmoperateure und Photographen bemühten sich, den Augenblick unseres Betretens des
russischen Bodens festzuhalten.«63 Die Delegation sei »nach Sowjetrußland gefahren,
59 Aus einem Interview von Hans Schafranek mit Rosa Puhm, 1.6.1983. Vgl. auch Rosa Puhm,
Eine Trennung in Gorki, Wien 1990, S. 27.
60 Approximative Angaben nach den von Paolo Caneppele herausgegebenen Materialien zur
Wiener Filmzensur und Filmankündigungen in linken Zeitungen.
61 1927 wurde der Film von Franz Rossaks Firma Astor-Pamela in zwei Teilen zu je 350 Metern
dem Magistrat vorgelegt.
62 Keiner dieser Titel scheint in den Zensurlisten auf.
63 Im selben Bericht war die russische Kinokultur eher nüchtern beschrieben worden: »Das Kino,
soweit es unterhaltende Filme anlangt, hat keine besondere Form. Es laufen auch heute noch
dort deutsche und amerikanische Filme. Charles Chaplin und Pat und Patachon sind dort ebenso beliebt wie in Wien.«
Sowjet-Projektionen | 241
um an Ort und Stelle die Verhältnisse zu prüfen«, hieß es in der Vorankündigung.
»Am Sonntag werden wir Gelegenheit haben, die uns bekannten Genossen in der
Sowjetunion an der Arbeit zu sehen, denn unsere russischen Genossen haben teilweise die Tätigkeit der österreichischen Arbeiterdelegation gefilmt« (RF 4.9.1926,
S. 3). »Besondere Beachtung [verdienen] die schönen Bilder von Baku, dem Oellager
der Revolution.« (RF 22.2.1927, S. 5)
Auch innerhalb der Sowjetunion wurde die Präsenz internationaler Delegationen
propagandistisch verwertet. Die Aufnahmen der sowjetischen Kameraleute tauchten als kurze Beiträge auch in russischen Wochenschauen auf.64 Die Ankunft der
österreichischen Delegation in Moskau etwa war Gegenstand des SOVKINO JOURNAL
NR. 6/25 (UdSSR 1926)65. Eine Einstellung zeigt ernst dreinblickende Delegationsmitglieder und im Vordergrund einen jovial lächelnden beleibten Sprecher, neben
ihm jemanden, der alles in seinem Schreibblock notiert: »Der Vorsitzende der Delegation, der Arbeiter […] Genosse Farkas begrüßt das Proletariat der UdSSR im
Namen der österreichischen Arbeiter.« Weitere Aufnahmen finden sich ohne Titel
im Filmarchiv von Krasnogorsk: Sie zeigen die Delegation beim Besuch der Eremitage und bei einer Versammlung von Textilarbeitern in Moskau. Man sieht Sowjetbürger mit einem großen deutschsprachigen Begrüßungstransparent.66 Vermutlich
wurde der – bisher leider nicht aufgefundene – Film über die Reise der österreichischen Delegation aus solchen Aufnahmen montiert. Der Film war der Roten Fahne
vom »Rußlandkomitée«, welches die Delegation organisiert hatte, zur Erstaufführung überlassen worden. (RF 7.9.1926, S. 3)
Auch über die Ankunft der Jugenddelegation des »Kommunistischen Jugendverbandes« (KJV) in Moskau 1925 existiert ein kurzer Film von 21,4 Metern Länge.
Gezeigt wird das Eintreffen der fröhlichen Delegation am Weißrussischen Bahnhof
in Moskau. Die TeilnehmerInnen – Franz Zabusch, Erwin Puschmann, Genia LandeQuittner, u. a. – tragen nicht Mäntel wie die Delegierten von 1926, sondern flotte
Lederjacken und -kappen, ein Geschenk der Sowjetunion. Eine weitere Sequenz
zeigt eine öffentliche Kundgebung für die Jugenddelegation. Auf einem Transparent
errät man den Schriftzug: »Sagt die Wahrheit [über Russland der (?)] österreichischen Arbeiterschaft.« Was man im Film nicht sieht: Die Delegation besuchte auch
eine unter GPU-Verwaltung stehende »Kolonie« für jugendliche Delinquenten und
wurde dort von Genrich Jagoda empfangen, dem Mann, der 1934 bis 1936 als
64 Herzlichen Dank an Christian Dewald für die Zurverfügungstellung von Informationen aus
russischen Archiven für diesen Artikel.
65 Länge: 27 Meter.
66 Länge: 44,5 Meter.
242 | Peter Grabher
SOVKINO JOURNAL NR. 6/25, UdSSR 1926, Delegationsleiter Farkas
NKVD-Chef der gefürchtetste Mann in der Sowjetunion sein würde.67 In Tiflis weilt
die Delegation, ohne von der repressiven Sowjetpolitik gegenüber der georgischen
Widerstandsbewegung etwas wahrzunehmen.
Der Historiker Hans Schafranek bezeichnete diese Delegationen, von denen bis
1933 ungefähr ein Dutzend in die Sowjetunion pilgerten, als »Avantgarde der
Einäugigen«.68 Sie wurden vom sowjetrussischen Staats- und Parteiapparat propagandistisch verwendet, um »eine glorifizierte Sichtweise der politischen, sozialen
und ökonomischen Entwicklung zu produzieren und in den Köpfen vornehmlich
nicht-kommunistischer Sympathisanten zu verankern«.69 Die Wahrnehmung der teilnehmenden »Fellow travellers« wurde jeden Moment kontrolliert und beeinflusst.
Schafranek zitiert einen Bericht von Raoul Lazlo, der ab 1931 mit der Organisation
von Delegationsreisen betraut war, in deren Verlauf die Inszenierung von enthusiastischen – und filmtauglichen – Momenten fixer Bestandteil war: »An der Grenze,
dann in Moskau, grandiose ›spontane Empfänge‹ durch Hunderte, oft Tausende
67 Vgl. Hans Schafranek, »Die Avantgarde der Einäugigen – Österreichische Arbeiterdelegationen
in der UdSSR«, in: Barry McLoughlin/Hans Schafranek/Walter Szevera, Aufbruch – Hoffnung
– Endstation. Österreicherinnen und Österreicher in der Sowjetunion 1925–1945, Wien 1997,
S. 17–21.
68 Ebd., S. 13.
69 Ebd., S. 14.
Sowjet-Projektionen | 243
von Arbeitern, die kurzerhand abkommandiert werden, sich mit Fahnen und
Transparenten zum Bahnhof zu begeben.«70 Wunschvorstellung und Realitätsblindheit der RevolutionstouristInnen und die Bedürfnisse der außenpolitischen Propaganda des Sowjetstaats ergänzten einander perfekt. Mit der Aufführung des Filmberichts DIE ÖSTERREICHISCHE ARBEITERDELEGATION IN SOWJETRUSSLAND mit den österreichischen Reisenden in der Hauptrolle wurde den mehreren hundert ZuschauerInnen gleichsam eine Sowjet-Projektion zweiten Grades vorgeführt.
Seit September 1926 organisierte auch die österreichische Sektion der überparteilichen, jedoch KP-nahen »Internationalen Roten Hilfe« (IRH, russ. MOPR) Filmvorführungen. Die 1923 in Moskau gegründete IRH hatte sich bald zu einer wichtigen Hilfsorganisation für politische Gefangene und Flüchtlinge aus dem Kontext
der Arbeiterbewegung entwickelt. Die Geschichte der 1923 als Verein gegründeten
»Österreichischen Roten Hilfe« (ÖRH)71 ist untrennbar mit der Person Malke
Schorrs72 verbunden, die gemeinsam mit Heinrich Brodnig und dem Anwalt Egon
Schönhof ihre Aktivitäten von Beginn an koordinierte73. Wie in der ÖAH waren in
der ÖRH KPÖ-Mitglieder (ca. 60%), SozialdemokratInnen (ca. 20%) und Parteilose (ca. 20%) aktiv – auch in zahlreichen Ortsgruppen in den Bundesländern. Filmvorführungen fanden meist im Rahmen von Kampagnen und Geld- und Unterschriftensammlungen statt (etwa gegen den »Weißen Terror« in Horthys Ungarn74
70 Zitiert nach Schafranek 1997, S. 15.
71 Die ÖRH ging nach dem Ersten Weltkrieg aus dem »Revolutionären Roten Kreuz« hervor. Seit
dem Sturz der ungarischen Räterepublik kämpfte sie für das Asylrecht und unterstützte zahlreiche Flüchtlinge und politische Gefangene im In- und Ausland mit Geldzuwendungen, Hilfe
bei der Wohnungs- und Arbeitssuche und durch juristischen Beistand. Die ÖRH führte zahlreiche Kampagnen gegen den »Weißen Terror« in Ungarn, Bulgarien und Rumänien, gegen den
italienischen Faschismus, aber auch gegen Polizeigewalt und faschistische Entwicklungen in
Österreich. In Grinzing verfügte sie über eine Baracke, in der Flüchtlinge untergebracht werden
konnten. Nach dem 15. Juli 1927 unterstützte sie die Opfer des Polizeimassakers und deren
Familien. Zahlreiche KünstlerInnen und Intellektuelle unterstützten die Arbeit der ÖRH, etwa
auch Karl Kraus, der ihr die Einkünfte aus einigen seiner Vorträge überwies und sich manchmal für ÖRH-Veranstaltungen zur Verfügung stellte (siehe etwa RF 11.11.1928, S. 11). Am
20.5.1933 wurde die ÖRH verboten, war jedoch in der Illegalität weiter aktiv. Die Geschichte
der ÖRH wurde – genauso wenig wie die der ÖAH – bis heute nicht aufgearbeitet. Vgl. Malke
Schorr, Österreichische Rote Hilfe. Mit einem Anhang: Wie verhält sich der Proletarier vor
Gericht?, Wien 1926; Erwin Zucker-Schilling, »Hoch klang das Lied der Solidarität. Vor 50
Jahren wurde die Rote Hilfe gegründet«, in: Weg und Ziel, 1973, Nr. 4, S. 160–163.
72 Malke Schorr (1885–1961), in Galizien geboren, von Beruf Modistin, war seit 1904 Mitglied
des »Paole Zion« und trat 1918 der KPÖ bei, dessen ZK sie auch bald angehörte. Von 1923 bis
1932 Vorsitzende der ÖRH, die sie als einen »Sanitätsdienst im Klassenkrieg« betrachtete
(Schorr 1926, S. 19), ab November 1932 Mitglied der IRH-Leitung. Sie flüchtete über Paris, wo
sie mit Willi Münzenberg zusammenarbeitete, in die Sowjetunion und kehrte nach 1945 nach
Österreich zurück.
73 Weitere AktivistInnen waren Georg Schauer, Rudolf Heidenreich, Leopold Stift, Franz Kraml,
Anna Grün, Isidor Wachs, Elsa Federspiel, Othmar Strobl und Erwin Zucker.
244 | Peter Grabher
oder für die in den USA zum Tode verurteilten Anarchisten Sacco und Vanzetti). Sie
zielten auf öffentliche Aufmerksamkeit, aber auch auf Einnahmen für die diversen
Projekte der »Roten Hilfe«.
Neben PANZERKREUZER POTEMKIN und SEIN MAHNRUF, die immer wieder gezeigt
wurden, führte die ÖRH 1926 noch PALAST UND FESTUNG (DWOREZ I KREPOST,
UdSSR 1923, A. Iwanowski) auf. 1927 wurden neben dem staatsoffiziellen Film
über DAS BEGRÄBNIS LENINS (POCHORNY W. I. LENINA, UdSSR 1924, Boltjanski,
Rasumny, Tissé, Lemberg u. a.)75 DER ROTE KREML (DIE PARADE DER ROTEN ARMEE)76,
AUFBAU IN SOWJETGEORGIEN und STREIK (STATSCHKA, UdSSR 1924, Sergej Eisenstein)
gezeigt. Wie die KPÖ brachte auch die ÖRH gelegentlich Filme zur Vorführung, die
dem Magistrat nicht zur Begutachtung vorgelegt worden waren. Filme wurden
manchmal im Rahmen von Festveranstaltungen gezeigt, in denen theatrale, literarisch-politische und musikalische Beiträge revueartig montiert wurden, z. B. anlässlich eines »Gedenkabend(s) zum Andenken an die Opfer des 15. Juni 1919« am
18.6.1927 im Philadelphiatheater in Wien-Meidling: »Programm: 1. Sprechchor,
2. Gedenkrede, 3. Rezitation: Hans Rodenberg, 4. Szene: 15. Juni 1919, Hörlgasse,
5. Russischer Film: AUFBAU IN SOWJETGEORGIEN, 6. Szene: Internationales Gefängnis,
7. Russischer Film: KREML EINST UND JETZT (Während des Films Sprechchöre und
Musik). Spielleitung: ›Rote Blusen‹, Veranstaltungsgruppe der Roten Hilfe.«77
Malke Schorr hatte 1926 den jungen deutschen Schauspieler Hans Rodenberg78 eingeladen, die Regie bei einem Stück über die Geschichte der Pariser Kommune zu
74 Ein weiterer Fall von politischer Zensur betraf einen Lichtbildervortrag über den »Weißen
Terror« in den Balkanländern (RF 13.4.1926, S. 2). Die Folge von 127 Bildern wurde von der
Polizeidirektion Wien »zur öffentlichen Vorführung nicht zugelassen […], weil eine erhebliche
Anzahl der zum Vortrage gehörigen Skioptikonbilder […] die in Betracht kommenden Vorgänge
in einer derart gehässigen und widerwärtigen Art darstellen, dass sie geeignet erscheinen,
Aergernis und Unwillen bei einem großen Teil der Bevölkerung, sowie Gegenkundgebungen und
damit Störungen der öffentlichen Ordnung herbeizuführen […].« Schorr 1926, S. 27.
75 Obwohl der Film schon im Mai 1924 von der Firma »FIAG-Filmindustrie A.G. (Filmzentrale),
Filmerzeugung, -verleih u. -vertrieb« zur Zensur eingereicht worden war, finden sich in der
kommunistischen Presse zunächst keine Spuren davon.
76 Evtl. ident mit dem Titel DIE ROTE ARMEE. Dieser in Münzenbergs »Erobert den Film!« genannte Film
ist Thomas Tode zufolge vielleicht mit Dziga Vertovs KRASNYJE MANJOWRY (UdSSR 1922) ident.
77 Kerker und Flüchtling, Juni 1927, S. 8. Diese Zeitschrift wurde vom Sekretariat der ÖRH, Wien
VIII., Schlösselgasse 12, herausgegeben.
78 Hans Rodenberg (1895–1978) hielt sich von 1923 bis Frühjahr 1926 in Wien auf. In dieser Zeit
Arbeit als Schauspieler, sowie Agitprop-Arbeit für die ÖRH. Im Februar 1926 tritt er unter dem
Namen »Hans Müller« der KPÖ bei; bis 1932 in Berlin, dort Mitglied der Piscator-Bühne und
Sekretär der RGO-Industriegruppe Film, Bühne, Musik; bis 1948 in der UdSSR, stellvertretender
Direktor der Meshrabpom-Film in Moskau bis 1935, von 1936 bis 1938 Szenarist und Konsultant
beim Filmstudio Mosfilm in Moskau; bis zu seinem Tod in der DDR, 1952–1956 Hauptdirektor der
DEFA-Studios für Spielfilme, bis 1960 Dekan an der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg.
Sowjet-Projektionen | 245
Gruppenbild mit Hans Rodenberg
(vorne links) und Malke Schorr, der
Leiterin der »Roten Hilfe« in Österreich
(neben ihm)
übernehmen, für welches Béla Balázs den Text geschrieben hatten. (RF 10.3.1926,
S. 2)79 Rodenberg trat später der KPÖ bei. Für die »künstlerische Maifeier« 1926 inszenierte er eine Revue mit dem Titel »Die Russen sind da«, in welcher eine fiktive
Sowjetdelegation, die Österreich besucht, den satirischen Vorwand für politische
Kritik lieferte. Die Revue wurde von 1400 ZuschauerInnen gesehen, darunter auch
einigen Polizeibeamten, die anschließend Strafanzeige gegen Rodenberg erstatteten.80
1932 wurde er von Münzenberg mit der stellvertretenden Direktion der »Meshrabpom« betraut.81
Béla Balázs schrieb gelegentlich Stücke und Sprechchöre für die Laientheatergruppen im KPÖ-Umfeld, hielt sich im Gegensatz zu Georg Lukács jedoch politisch
eher im Hintergrund. Er hatte sich eine Stellung als bekannter Filmreporter beim
Wiener Tag aufgebaut und veröffentlichte seine filmpolitischen Positionen nur in
der Roten Fahne der deutschen Bruderpartei. Dort hatte er bereits 1922 die Einrichtung von »Filmfabriken« anregt, um »Filme zu schaffen, welche die Weltanschauung
79 Rodenbergs Erinnerung an diese Aufführung am 20.3.1926 in Weigels Altdeutschem Saal: »Die
Premiere fand in einem riesigen Saal statt, der bis auf den letzten Platz besetzt war. Es müssen
mehr als tausend Leute anwesend gewesen sein. […] Ein Komponist, Max Brand, mit dem ich
mich eng befreundete, hatte eine revolutionäre Musik geschrieben. Schon während der Aufführung gab es von den Zuschauern große Zustimmung, und es wurde ein riesiger Erfolg, eine wirkliche Feier für die Pariser Kommune. Zufriedenheit auch bei Béla Balázs, bei Malke Schorr. Man
sagte mir, dass auch die Führung der Kommunistischen Partei Österreichs sich das Stück angesehen hatte. Aber dieses Stück konnte nur einmal gespielt werden, weil kein Geld vorhanden war,
den Saal erneut zu mieten oder die Spesen für die Dekoration zu bezahlen.« Hans Rodenberg,
Protokoll eines Lebens. Erinnerung und Bekenntnis. Berlin (Ost) 1980, S. 71 ff.
80 Arnold Reisberg, Parteichronik der KPÖ, Jahresmappe 1926.
81 Vgl. Hans Rodenberg 1980, S. 105–136.
246 | Peter Grabher
und Gesinnung des revolutionären Proletariats«82 vertreten. Joseph Zsuffa erwähnt
in seiner Balázs-Biographie, dass auch die SDAP wegen eines Filmprojektes an ihn
herangetreten sei: »Balázs voluntarily submitted to the Party’s decisions. When the
Austrian Social Democratic Party wanted him to make a film, Jenö Landler […]
counseled him to turn down the offer: ›Why should they have a good film?‹«83 In
seiner Döblinger Wohnung wurden politische Flüchtlinge untergebracht und fanden
Treffen von KommunistInnen aus den Balkanländern statt, die in Wien im
Untergrund lebten.84
Obwohl er sich mit »Der sichtbare Mensch« 1924 als einer der ersten Filmtheoretiker profiliert hatte, war seine Stellung beim Tag prekär. Nach einem ersten Konflikt wegen eines Artikels über Griffiths BIRTH OF A NATION (USA 1915),85 den er als
rassistisch attackiert und dessen Verbot er gefordert hatte, wurde er wenige Wochen
nach der Aufführung des »Kommune«-Stückes im April 1926 wegen seiner kommunistischen Tendenz gefeuert.86 Rodenberg und Balázs zogen beide von Wien nach
Berlin. Fast zehn Jahre später würden die beiden im sowjetischen Exil wieder zusammenarbeiten: an einem nie fertig gestellten Filmprojekt der »Meshrabpom«
über den Kampf der österreichischen Arbeiterschaft gegen den Klerikalfaschismus
im Februar 1934.87
Von den Autoren der zahlreichen Filmkritiken, die seit dem POTEMKIN in den KPZeitungen – meist ungezeichnet – erschienen, ist nur einer als Person fassbar88: Von
82 Belá Balázs, Der revolutionäre Film (RF der KPD, 10.10.1922). Vgl. zur Debatte um diesen
Artikel: Joseph Zsuffa, Béla Balázs. The Man and the Artist, Berkeley/Los Angeles/London
1987, S. 423. Balázs arbeitete im Oktober 1920 mit dem Mitbegründer der KPÖ Gerhart Eisler
an einer Filmidee mit dem Titel »Tom Browns letzter Fang« über einen Detektiv mit gespaltener
Persönlichkeit. In seinem Tagebuch notierte Balázs: »Die Idee stammt von Gerhart Eisler. Ich
soll es machen und wir machen Halbe-Halbe und wir werden Millionäre, schnell, noch bevor
dank der Weltrevolution jeder Reichtum gegenstandslos wird.« (ebd. S. 97 u. 420)
83 Zsuffa 1987, S. 124.
84 Zsuffa berichtet, dass Balázs im April 1925 auf die Bitte von Lukács hin eine heikle Mission
übernahm: Wenige Tage nach einem Attentat auf den bulgarischen König reiste er mit taktischen Instruktionen für die illegale bulgarische KP im Orient-Express nach Sofia. Eine Folge
dieser gefährlichen Reise war die Unterstützung, die Dimitroff Balázs und Lukács später gegen
Stalin gewährte. (Zsuffa 1987, S. 127)
85 Béla Balázs, Die Geburt einer Nation: Eine Frage an die Zensur (Der Tag, 13.1.1925). Der
Filmtitel war bei seiner Wiener Wiederaufführung durch den Untertitel »Rassenkampf« ergänzt
worden. Die Filmindustrie übte in der Folge Druck auf die Zeitung aus, und da sich Balázs weigerte, seine Haltung zu ändern, entzog ihm die Geschäftsführung seine Rubrik »Der Filmreporter«;
bis April 1926 schrieb er noch Feuilletons und Theaterkritiken.
86 Vgl. dazu Zsuffa 1987, S. 126 f. und 134 f.
87 Vgl. Valérie Pozners Artikel im vorliegenden Band.
88 Die allermeisten Artikel waren nicht namentlich gezeichnet. Vermutlich weitere AutorInnen zu
Filmbelangen waren zumindest gelegentlich Hans Maier, Frida Rubiner, Karl Grünberg und Leo
Katz (Leo Weiss).
Sowjet-Projektionen | 247
Jänner 1927 bis März 1928 betreute Hugo Huppert89 die Filmrubrik der Roten
Fahne. Außer einer kurzen persönlichen Erinnerung findet sich in Hupperts 3-bändiger Autobiographie leider nichts von Belang zur KP-Filmarbeit: »Die Redaktion
der Roten Fahne, des Zentralorgans der KPÖ, bewilligte mir das gehaltfreie Amt
des ständigen Filmkritikers. Ich arbeitete für das bloße Zeilenhonorar, musste die
Presseaufführungen im ›Flottenkino‹ an der Mariahilferstraße pünktlich besuchen
und meine kleinen Referat-Aufsätze ebenso pünktlich in die Pramergasse bringen,
wo sie unbesehen in Druck gingen.«90 In einem Artikel über »Die Politisierung des
Kinos« konstatierte er eine zunehmende Instrumentalisierung des Kinos für staatliche
Propagandazwecke in England, Frankreich und Deutschland. Er forderte eine »ideologische Desinfizierung der Lichtspieltheater« und kritisierte, dass die Wiener »Kiba«
»sich bisher nur beschaulicher Untätigkeit hingegeben« habe. (RF 27.2.1927, S. 5)91
Vor dem Hintergrund eines antikolonialen Kongresses, den Willi Münzenberg im
Februar 1927 in Brüssel organisiert hatte, kritisierte Huppert den ideologischen
Charakter vieler Kulturfilme am Beispiel von QUER DURCH DIE SAHARA (F 1924?, P:
André Citroën)92: »Wenn Araber, Berber, Tuaregs, wie der Film zeigt, den französischen Offizieren begeisterte Ovationen bereiten […] – im Angesichte der Festungsmauern und Maschinengewehre –, sollte da dem ›Kulturfilm‹ nicht schon ein bißchen ›Spielfilm‹ innewohnen? […] Denn kolonialer Kulturfilm heißt: Stirb oder laß
dich fotografieren!« (RF 13.3.1927, S. 5–6)93 Berthold Viertels und Béla Bálazs’
Versuch, in ABENTEUER EINER BANKNOTE (D 1926) den Fetisch Geld zum Protagonisten zu machen, bezeichnete Huppert als »ernsthafte(s) […], wenn auch gewiß nicht
revolutionäres« Projekt: »Freilich ist die Frage, inwiefern die lebhafte Handlung,
89 Hugo Huppert (1902–1982), Mitglied des »Kommunistischen Jugendverbandes« (KJV) und der
KPÖ, Rechts- und Nationalökonomie-Studium, Filmkritiker der Roten Fahne von Jänner 1927
bis Mitte 1928, Verhaftung nach den Julikämpfen, anschließend Emigration in die Sowjetunion,
Mitarbeiter am Marx-Engels-Institut Moskau. Im Mai 1929 war Huppert mit Kracauer u. a.
bei der Vorführung von DER MANN MIT DER KAMERA in der sowjetischen Handelsmission in
Berlin anwesend. Mit Béla Balázs Redakteur der in Moskau erscheinenden deutschsprachigen
Deutschen Zentral-Zeitung; 1938/39 Untersuchungshaft; noch heute kanonische MajakowskiÜbersetzungen, 1945 als Major an der Befreiung Wiens beteiligt, 1945–1949 in Österreich,
1949–1956 in der Sowjetunion, anschließend wieder in Wien, enge Verbindung zur DDR (1967
Nationalpreis).
90 Hugo Huppert, Wanduhr mit Vordergrund. Stationen eines Lebens, Halle/Saale 1977, S. 35.
91 Ende 1926 forderte Die Rote Fahne die »proletarische Umgestaltung« des Filmprogramms im
sozialdemokratischen Arbeiterheimkino Favoriten: »Die Arbeiter sollen den Rat des Filmleiters
der ›Arbeiter-Zeitung‹ Fritz Rosenfeld befolgen, und den Film nicht nur auspfeifen, sondern darüber hinaus den Boykott über dieses Kino verhängen […].« (RF 5.12.1926, S. 5) »In Berlin pfeift
man Filme aus«, hatte Rosenfeld kurz vorher berichtet (AZ 21.11.1926, S. 20). Auch in den SPZeitungen wurde immer wieder Kritik am Programm der SP-Kinos geübt.
92 Österr. Zensurlänge: 1600 Meter, Einreicher: Urania.
93 Kritik am exotistisch-kolonialen Charakter vieler »Urania«-Filme wurde wiederholt geäußert,
vgl. etwa: RF 29.11.26, 13.3.1928, 8.2.1931.
248 | Peter Grabher
mit einem Zehnmarkschein durch Schicksale flatternd, die hinter dem Symbol gelagerten Wirklichkeitsmächte erkennen läßt […].« (RF 10.4.1927, S. 8)
Huppert schrieb seine Kritiken in einer Atmosphäre des Ausnahmezustands, welche spätestens nach den Morden in Schattendorf am 30.1.1927 gleichsam Alltag
geworden war. Die KPÖ trommelte gegen die zunehmenden Faschisierungstendenzen – mit wenig Erfolg, wie Bruno Frei sich erinnert: »Bloß die Rote Fahne […] schrie
in Balkenlettern: ›Schlagt den Faschismus nieder, bevor es zu spät ist!‹ Aber wer
kümmerte sich um die Rote Fahne?«94 Im Vorfeld der Nationalratswahlen im April
1927 publizierte sie einige Karikaturen als »Ergänzungen zum sozialdemokratischen
Wahlfilm«, die das »Rote Wien«, wie es in zwei SP-Wahlfilmen der »Allianz« – RUND
UM DAS ROTE RATHAUS (A 1927) und VON DER KAISERSTADT ZUR VOLKSSTADT (A 1927)
– präsentiert wurde, als Mythos denunzierten. Die KPÖ selbst blieb bei dieser Wahl,
aus der Seipels Einheitsliste mit 48,4% gestärkt hervorging, mit 0,4% der Stimmen
weiterhin eine Quantité négligeable. Unter diesen Bedingungen musste sich die Filmarbeit der KPÖ weiterhin darauf beschränken, Filme zu besprechen und zu zeigen,
anstatt sie selbst zu produzieren.
»Die Schattendorfer Arbeitermörder – freigesprochen! Die Arbeiter sind vogelfrei«
titelte das Zentralorgan der KPÖ am 15.7.1927. In der Gewalt dieses »symbolträchtigen Unrechts« (Manès Sperber)95 kulminierte in der Wahrnehmung vieler
ArbeiterInnen eine Serie von Traumata: das Todesurteil gegen die amerikanischen
Anarchisten Sacco und Vanzetti im April, gegen welches eine monatelange Kampagne geführt wurde,96 die Freilassung Otto Rothstocks, des Mörders von Hugo
Bettauer, im Mai desselben Jahres sowie die sich häufenden Übergriffe von Heimwehrlern und Hakenkreuzlern. »Die demokratischen Illusionen sind zerschossen!«
Die Worte des KPÖ-Vorsitzenden Johann Koplenig97 bei der Beerdigung der Opfer
der Julirevolte führten zu dessen sofortiger Verhaftung, fanden jedoch bis in die
94 Bruno Frei, Der Papiersäbel. Eine Autobiographie, Frankfurt a. M. 1972, S. 111.
95 »Man weiß, nichts setzt Menschen in so leidenschaftliche Bewegung wie das symbolträchtige
Unrecht; es erweckt in ihnen das Gefühl, dass die Justiz die Gerechtigkeit und mit ihr die Opfer
verhöhnt, so dass deren Mörder als Helden paradieren dürfen. Eben deshalb trieb es die Empörten vor das Gebäude, das ihnen nach dem Schattendorfer Urteil als der Palast des Unrechts
erschien, das jeden von ihnen heute oder morgen schutzlos den Übeltätern auslieferte.« Sperber,
Die vergebliche Warnung, S. 108.
96 Der Wiener Emil Gans produzierte 1927 den bemerkenswerten Spielfilm IM SCHATTEN DES ELEKTRISCHEN STUHLS (SACCO UND VANZETTI), vgl. Hugo Hupperts Besprechung: RF 23.10.1927, S. 9.
97 Johann Koplenig (1891–1968) war von 1924 bis 1968 Vorsitzender des ZK der KPÖ. Der aus
Kärnten stammende gelernte Schuhmacher wurde in russischer Kriegsgefangenschaft zum Kommunisten. In der Ersten Republik war er mehrfach in politischen Prozessen angeklagt, nach
1934 leitete er die Parteiarbeit von Prag, Paris und Moskau aus. Nach 1945 kurzfristig Vizekanzler der Regierung Renner, dann mehrere Jahre Nationalrat.
Sowjet-Projektionen | 249
Reihen der Sozialdemokratie Gehör.98 Dort rief Otto Bauers Haltung, der das Stillhalten des »Republikanischen Schutzbundes« zum »Prestigeopfer« für die Demokratie stilisierte und seiner Basis »revolutionäres Schweigen« auferlegte, vielfach Unwillen hervor. Zwei Wochen nach dem Polizeimassaker rund um den Justizpalast
veröffentlichte Die Rote Fahne Bilder aus dem POTEMKIN – zwei Kader aus der
berühmten Treppensequenz im Hafen von Odessa – und versah sie mit der Unterschrift: »Vorsicht! Nicht verwechseln! Keine Originalaufnahme vom 15. Juli, sondern
ein Bild aus dem PANZERKREUZER POTEMKIN!« (RF 31.7.1927, S. 5 u. 6)
Karikatur »Ergänzungen zum SP-Wahlfilm«, Die Rote Fahne, 17.4.1927, S. 10
»Achtung! Bild nicht verwechseln!«, Die Rote Fahne, 31.7.1927, S. 5
250 | Peter Grabher
Rosa Puhms Erinnerungen bestätigen, dass in diesem Moment viele die Ereignisse
auf der Folie des POTEMKIN wahrnahmen. In einem Interview erzählte sie: »Ich kann
mich erinnern, nachher, wie es in Wien ähnliches gegeben hat, hat das dann alles
noch eine viel größere Bedeutung gehabt. Es waren die Assoziationen hergestellt. Im
Juli 27 habe ich mir zum Beispiel gedacht, jetzt ist bei uns auch so eine Revolution,
wie sie dort in Odessa war, wie das Volk gegen die zaristische Herrschaft angetreten
ist. Das wollte ich sagen, weil der PANZERKREUZER POTEMKIN lebt bis heute.«99 In ihrer
Autobiografie schildert Rosa Puhm auch das zweite Sehen des Films. Zwischen den
Vorführungen im Abstand von etwas mehr als einem Jahr lag eine ganze Welt: »Als
ich ihn nach dem 15. Juli 1927 wiedersah, wurde mir übel, und ich mußte den Saal
verlassen. Die Bilder von der zaristischen Polizei, die schießend im Gleichschritt wie
eine exakte Mordmaschine über die Treppen von Odessa schreitet, Leichen von
Frauen und Kindern hinter sich lassend, hatten eine erschreckende Ähnlichkeit mit
der schießenden Wiener Polizei des 15. Juli 1927.« Wer kann wirklich ermessen, welchen Einfluss die sowjetischen Laufbilder von revolutionären Aufständen auf den
Zornausbruch beim Justizpalast hatten, die seit Mitte 1926 von den Kinos aus das
kollektive Imaginäre bevölkerten?100
98 »Die Kritik, die die winzige KP Österreichs an ihr [der SP, P. G.] übte, hätte überzeugen können,
hätte sie nicht wie das Gekeife eines gehässigen Hysterikers Mißtrauen und Widerwillen erzeugt.« Sperber, Die vergebliche Warnung, S. 115. Sperber zog es in der Folge vor, sich in Deutschland der KPD anzuschließen. Ende der 30er-Jahre war er nach seinem Bruch mit der Sowjetunion in Paris kurzfristig Mitarbeiter von Willi Münzenbergs Zeitschrift Die Zukunft.
99 Aus einem Interview von Hans Schafranek mit Rosa Puhm, 1.6.1983. Vgl. auch Rosa Puhm,
Eine Trennung in Gorki, Wien 1990, S. 27.
100 Ähnliche Anlässe hätte es bereits einige gegeben. Etwa den Faschisten-Mord an Leopold Müller
am 20.5.1925, einem Mödlinger SP-Gemeinderat; es war bereits der vierte seit Gründung der
Republik. Die Arbeiter-Zeitung notierte damals, dass die Erregung der Arbeiter so groß war,
dass es »des Einsatzes der ganzen Autorität der Partei (bedurfte), um zu verhindern, dass die
besinnungslose Wut in ein unermessliches Chaos des Bürgerkrieges umschlage«. Zitiert nach
Arnold Reisberg, Parteichronik der KPÖ, Jahresmappe 1925. Die »Rote Hilfe« führte in ihren
Berichten penibel Buch über rechte Gewalttaten gegen Arbeiter, die regelmäßig mit relativ
geringfügigen Strafen bzw. Freisprüchen geahndet wurden. Das erste Opfer in der Ersten Republik war 1923 der sozialdemokratische Semperit-Betriebsrat Franz Birnecker gewesen. Karl
Josef Nowak produzierte dazu die kurze Aktualität DAS BEGRÄBNIS DES VON POLITISCHEN GEGNERN
ERSCHOSSENEN BETRIEBSRATES FRANZ BIRNECKER (A 1923).
Sowjet-Projektionen | 251
Vielleicht sah Rosa Puhm den Film ein zweites Mal bei einer der Vorführungen, welche die »Rote Hilfe« im September 1927 in verschiedenen Wiener Kinos unter Mitwirkung der ÖRH-Theatergruppe »Die Roten Blusen« organisiert hatte.101 Zahlreiche Mitglieder der KPÖ waren nach den Julikämpfen verhaftet worden, und die
ÖRH organisierte mit den Einnahmen aus den POTEMKIN-Vorführungen Hilfe für die
Opfer und deren Familien, einige wurden mit einigem propagandistischen Aufwand
in die Sowjetunion auf Kur geschickt. Der behördliche Druck auf die KP-Organisationen nahm indes zu: Ende Juli wurde eine Filmveranstaltung der ÖAH mit SEIN
MAHNRUF und DER ROTE KREML (DIE PARADE DER ROTEN ARMEE) verboten. (RF 30.7.
1927, S. 6)102 In der Roten Fahne wurde die Aufführung eines Films der Firma Mayer
– DIE SCHRECKENSTAGE IN WIEN (A 1927) – marktschreierisch inseriert: »Der einzige
authentische Film der Aufruhrtage 15. und 16. Juli. Der Sturmangriff auf den Justizpalast! Der gigantische Brand! Der Auflauf der Massen! Der Gegenangriff der Polizei!« (RF 4.9.1927, S. 11)103 Die »Rote Hilfe« zeigte eine erweiterte Fassung unter
dem Titel DIE EREIGNISSE DES 15. JULI UND DAS BEGRÄBNIS DER OPFER (A 1927).104
Im Rahmen der KPÖ-Feierlichkeiten zu »Zehn Jahre Sowjetrußland« wurden auch
Filme vorgeführt: DIE WIENER JULIKÄMPFE (A 1927, P: vermutl. Fa. Mayer), DER
BLUTIGE SONNTAG, DER ROTE KREML (DIE PARADE DER ROTEN ARMEE), QUER DURCH
SOWJETRUSSLAND (UdSSR 1926?, P: Staatskinos Rußland)105 sowie drei schwer identifizierbare, vermutlich sowjetische Titel: DAS ALTE UND DAS NEUE RUSSLAND, RUSSLAND BAUT AUF, DIE SIEGREICHEN FRAUEN. (RF 16.10.1927, S. 4) Ungefähr 2000
ZuschauerInnen erlebten am 6.11.1927 im Wiener Konzerthaus die Aufführung
einer theatralen Revue des KPÖ-Proletkults, die in 22 Szenen österreichische und
sowjetische Geschichte parallel reinszenierte106: Die Szenen zur Oktoberrevolution,
zum Jännerstreik, zum Polizeimassaker in der Hörlgasse 1919 – der 15. Juli wurde
101 RF 17.9., 23.9. und 6.10.1927.
102 Eine Aufführung von HEXENKESSEL CHINA im Heimat-Kino im Rahmen einer Matinee des KJV
wurde vor Ort von der Polizei verboten. (RF 3.1., S. 4; 10.1.1928, S. 2) Die RF verglich dieses Vorgehen mit dem Vorgehen der Engländer in China, welches Gegenstand des Filmes war:
»Mit dem Verbot der Filmaufführung, die als solche die Polizei einen großen Schmarren
angeht, hat die Polizei einen vollkommen ungesetzlichen Uebergriff begangen. Für heute begnügen wir uns mit der Feststellung, daß Schober sich wieder einmal als Lakai des englischen
Imperialismus erwiesen hat. Die Mörder des 15. Juli haben ihre Verwandtschaft mit den Mördern von Kanton zum Ausdruck gebracht.« (ebd.) Am 15.1.1928 wurde der Film »trotzdem«
aufgeführt (RF 13.1.1927, S. 3).
103 Zu den Ereignissen um den 15.7.1927 und ihrer filmischen Darstellung vgl. Elisabeth Büttner /
Christian Dewald, Das tägliche Brennen. Eine Geschichte des österreichischen Films von den
Anfängen bis 1945, Salzburg/Wien 2002, S. 224–239.
104 RF 13.10.1927, S. 6.
105 Österr. Zensurlänge: 1800 Meter, Einreicher: Astor Pamela Film (Frank Ward Rossak).
106 Text: Hugo Huppert, Leo Katz, u. a. Regie: Leo Deutsch (eigentlich: Leo Deuches), über hundert
DarstellerInnen. Vgl. Kanzler 1997, S. 154 f.
252 | Peter Grabher
nicht thematisiert – waren teilweise durch »Lichtbilder«, vermutlich Diaprojektionen, verbunden. Eines dieser Bilder rief beinahe religiöse Begeisterung hervor: »Und
plötzlich erscheint über der Bühne, auf der großen Projektionsfläche, ein Lichtbild
Lenins. Der Genius, der Führer der proletarischen Weltrevolution, ist über dem riesigen Saale. Die tausenden Zuschauer springen von ihren Sitzen, jubeln ihm zu. Der
ganze Saal singt die ›Marseillaise‹: ›Dem Weg, dem kühnen folgen wir, den uns geführt Lenin.‹« (RF 8.11.1927, S. 4)107
Im Jänner 1928 veranstaltete die KPÖ eine Lenin-Feier im Zirkus-Busch-Kino, bei
welcher Esfir Schubs Kompilationsfilm DER GROSSE WEG (WLIKI PUT, UdSSR 1927, P:
Sovkino)108 uraufgeführt wurde, ein Film der »aus zeitgenössischen Filmberichten
[…] das Werden der Rätemacht, den Brester Frieden, Krieg und Bürgerkrieg und
schließlich den sozialistischen Aufbau darstellt«. (RF 13.1.1928, S. 3) Der kritische
Blick, der es Hugo Huppert noch erlaubt hatte, in »bürgerlichen« Kulturfilmen die
Spuren der Inszenierung zu entziffern, fiel hier völlig aus: »Die historischen
Ereignisse werden nicht durch Arbeiter (wie im POTEMKIN) oder Schauspieler
gestellt, sondern man filmte die Ereignisse selbst. Das ist die neue große Leistung,
die da zum erstenmal in der Geschichte des Films vollbracht wurde.« Da scheint
sogar – noch vor der Einführung des Tonfilms – Lenin zu sprechen: »Lenin. Er
spricht. Oh, man sieht, er spricht nicht in Phrasen. Er argumentiert, logisch, klar,
überzeugend. Man muß die Worte nicht hören, um das festzustellen.« Zuletzt gerät
der vermittelte, technische Charakter des Kinos überhaupt aus dem Blick: »Ein
lebendes Geschichtsbuch rollt sich vor uns ab. Es ist ein Film, dessen Regie das russische Proletariat unter Führung Lenins und der Bolschewistischen Partei übernommen hat!« (RF 25.1.1928, S. 4)
Lenin, der sich zu Lebzeiten gegen jeden Kult in Bezug auf seine Person ausgesprochen hatte, war inzwischen zur Ikone, zur übermenschlichen Identifikationsfigur geworden. Seine Person war völlig in den Dienst der stalinistischen Propaganda gestellt: als einbalsamierter Leichnam im Lenin-Mausoleum wie als geisterhafte Lichtgestalt auf den Leinwänden Europas. Der Glaube an Lenin und an die
Sowjetunion, von dem viele KommunistInnen später sprachen, verschaffte ein trügerisches Gefühl der Stärke und Zuversicht und machte blind für alles, was nicht in
das Bild des sowjetischen Arbeiterparadieses passte109 – auch für die tatsächlichen
107 Die Diaproduktionen verursachten einige Probleme, wie einer Nachbesprechung zu entnehmen
ist: »Die Umbaupausen zwischen den Bildern viel zu lang, bei den Lichtbildereinschaltungen
entstand ein bedauerliches Tohuwabohu, das sich bei nochmaliger Lichtbilderprobe ausschalten lassen muß.« (RF 9.11.1927, S. 5)
108 Österr. Zensurlänge: 2200 Meter, Zensur-Einreicher: Newa.
109 Vgl. etwa Rosa Puhm, Eine Trennung in Gorki, Wien 1990, S. 80: »Unser durch nichts zu
erschütternder Glaube an die Sowjetunion als leuchtendes Beispiel für die Unterdrückten aller
Länder war eine der Ursachen dafür, daß von den Kommunisten der anderen Länder alle Maß-
Sowjet-Projektionen | 253
Kräfteverhältnisse in Österreich, wo keineswegs der Sozialismus, sondern – parallel
zur Entwicklung in Deutschland – der Faschismus im Vormarsch war.
In einem Film der Heimwehren wurde Die Rote Fahne bald selbst Zielscheibe:
In UNSERE HEIMWEHREN – EIN FILM AUS DER SEELE DES VOLKES, FÜR HEIMAT UND RECHT
(A 1927, Franz Karl Wagner)110 wurden nach dem Zwischentitel »Aber Hass und
menschlicher Unverstand lassen die Bevölkerung nicht zur Ruhe kommen« einige
Bilder von linken Zeitschriften, darunter Die Rote Fahne, geschnitten.111 Ein steirischer »Arbeiter-Korrespondent« bezeichnete es als »charakteristisch«, dass keine sozialdemokratische Zeitung angegriffen wurde, und: »Daß dieser Schundfilm durch
fast zwei Wochen im Grazer Unionskino laufen konnte, beweist wie nationalistisch
verseucht unsere Bevölkerung heute, kaum 10 Jahre seit dem letzten Stahlbad der
Völker, schon wieder ist.« (RF 22.2.1928, S. 3)
Gleichsam als Antwort auf die filmische Heimwehr-Attacke annoncierte Die Rote
Fahne am folgenden Tag die Aufführung von DIE WEBER (D 1927, Friedrich
Zelnik)112 und Phil Jutzis DIE ROTE FRONT MARSCHIERT (D 1927, P: Prometheus)113 im
Rahmen einer Festveranstaltung des »Österreichischen Roten Frontkämpferbundes«114 im Schönbrunner Schloßkino (23.2.1928, S. 6). Dieser Film über das Dritte
Reichstreffen des paramilitärischen kommunistischen Frontkämpferbundes in Berlin
war der erste in Österreich gezeigte Film der KPD. Bereits in Deutschland wurden
auf Initiative des Auswärtigen Amtes »alle Bilder verboten, die geschlossene Forma-
110
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nahmen gutgeheißen wurden, die im ›Land des siegreichen Sozialismus‹ getroffen wurden. […]
Wer uns damals prophezeit hätte, daß in Rußland unter Stalin mehr Kommunisten umkommen
würden als durch die Herrschaft Hitlers, dem wären wir an die Gurgel gesprungen.«
In Wien wurde der Film, welcher der Roten Fahne zufolge etwa 700 Meter lang war, nicht der
Zensur vorgelegt.
Die Rote Fahne tauchte auch zu Werbezwecken im Kino auf, wie der Bericht eines Arbeiters
über eine Russenfilm-Vorführung im Weltspiegel-Kino verrät: »Das Licht wird auf halbdunkel
gedreht, auf der Leinwand erfährt man, wo man die billigsten Uhren, den besten Wein bekommt und wo man nach Kinoschluss (wenn man das nötige Geld dazu hat) noch hingehen,
gut speisen und sich gut amüsieren kann – mich interessiert das nicht, ich bin – verzeiht mir
diese kleine Indiskretion – in die dunklen Augen einer nicht weit von mir sitzenden Kinobesucherin vertieft. Plötzlich schreckt mich lebhaftes Beifallsklatschen aus meinen Träumereien.
Ich schaue auf die Bildfläche nach der Ursache dieses spontanen Beifallsausbruches und sehe
dort: das Diapositiv der ›Roten Fahne‹! Ich war schon oft im Weltspiegel-Kino und weiß, daß
dort schon jahrelang für unsere Zeitung eine Kinoreklame eingeschaltete ist – aber gestern war
es das erste Mal, daß die Reklame und mit ihr unsere ›Rote Fahne‹ von den anwesenden Arbeitern so freudig begrüßt wurde. Ein Zeichen, daß intensive Propaganda für unsere Zeitung
gerade jetzt auf sehr guten Boden fallen muß.« (RF 10.4.1930, S. 5)
Österr. Zensurlänge: 2700 Meter, Einreicher: Philipp & Co.
Österr. Zensurlänge: 680 Meter, Jugendverbot.
Diese Organisation war 1928 nach KPD-Vorbild gegründet worden, nachdem nach den Julikämpfen die Kommunisten aus dem Republikanischen Schutzbund ausgeschlossen worden
waren.
tionen des Frontkämpferbundes in militärischer Aufmachung zeigen«115. Die in Wien
gezeigte Fassung war mit 680 Metern Länge nur noch ein Torso des Originals mit
1719 Metern. Die als Zensur-Einreicher einmalig aufscheinende »Arbeiter-Filmund Lichtbildstelle« war mit Sicherheit eine KP-nahe Konstruktion, über die jedoch
nichts weiter bekannt ist.
3. »Heraus mit den Russenfilmen!« – Kommunistische Filmpolitik im Zeichen der
»Sozialfaschismus«-These und zunehmender Faschisierung (1928–1930)
Das bürgerkriegshafte Jahr 1927 hatte auch den Höhepunkt der »RussenfilmWelle« erlebt. Die »Newa-Filmgesellschaft« unter der Direktion Adalbert Pellers
hatte in diesem Jahr zwanzig von den etwa dreißig in Wien gezeigten sowjetischen
Titeln in die Wiener Kinos gebracht. Alle vierzehn abendfüllenden russischen
Spielfilme, die 1927 in Wien liefen, waren im Verleih der »Newa«. Nie mehr würden so viele russische Filme gezeigt werden wie in diesem Jahr.116 Auch 1928 wurden fast alle der elf sowjetischen Filme (davon sieben Spielfilme) von der »Newa«
verliehen. Die geringere Zahl der Filme gegenüber dem Vorjahr leitete das kontinuierliche Abebben der »Russenfilm-Welle« ein. Im Jahr 1929 trat die sozialdemokratische »Allianz« unter der Leitung der Brüder Eduard und Philipp Hamber an
die Stelle der »Newa«, die sich zunehmend aus dem Geschäft zurückzog, und
brachte sieben von zehn sowjetischen Titeln in die Kinos. Dieses Engagement endete 1930 abrupt. 1932 kamen gerade noch zwei, 1933 gar kein sowjetischer Spielfilm
mehr in die Wiener Kinos. Die kommunistische Presse erging sich in der Folge in
einer nicht abreißenden Polemik gegen die sozialdemokratische Filmpolitik, und
kommunistische Organisationen übernahmen in den Jahren 1931 und 1932 – wenn
auch in geringerem Maßstab – eine wichtige Rolle beim Import sowjetischer Filme,
von dem sich die sozialdemokratischen Organisationen zurückgezogen hatten.
Diese Entwicklung resultierte nicht aus schwindendem Publikumsinteresse, sondern
vor allem aus politischen Erwägungen.
Zwischen den Filmressorts wurden weiter ideologische Differenzen ausgefochten.
Die Rote Fahne mokierte sich über die Arbeiter-Zeitung, die es verstanden habe,
sich dem russophilen »Geschmack anzupassen« und »im allgemeinen ziemlich wohlwollende – wenn auch mit diversen ›wenn‹ und ›aber‹ – verzierte Kritiken« sowjetischer Filme zu bringen. In einer publizistischen Polemik um DIE LETZTEN TAGE VON
ST. PETERSBURG (KONEZ ST. PETERSBURGA, UdSSR 1927, Wsewolod Pudowkin, P:
115 Nach Tode 2005, S. 533. In Deutschland war der Film auf 1017 Meter gekürzt worden.
116 Approximative Angaben nach den von Paolo Caneppele herausgegebenen Materialien zur
Wiener Filmzensur und Filmankündigungen in linken Zeitungen.
Sowjet-Projektionen | 255
Meshrabpom-Rus)117 verwies die SP-Gewerkschaftszeitung Der Eisenbahner unter
dem Titel »Wie der russische Film Geschichte fälscht!« auf sowjetische Geschichtsfälschung im Fall der Erstürmung des Winterpalais, die so bekanntlich nur im Kino
stattgefunden hat: »Die ganze Schilderung der Oktoberkämpfe vor den Toren von
Petersburg sowie die Bestürmung des Winterpalais […] ist erlogen und steht in keinem Einklang mit der geschichtlichen Wahrheit.« Der sozialdemokratische Autor
legte außerdem den Finger auf eine signifikante Lücke: Der Film sei »genötigt, nur
namenlose Helden zu zeigen, denn alle historischen Helden der Oktoberrevolution
[…] sind abgebaut und als Gegenrevolutionäre vom Schlage Kerenskis verbannt.
Ein Oktoberfilm ohne Trotzki – ist das nicht ein Symbol?« Dem war kaum etwas
entgegenzuhalten, Die Rote Fahne musste sich auf rhetorische Invektiven beschränken: »idiotische Beschimpfungen«, »konterrevolutionär« und: »Hält Der Eisenbahner seine Leser wirklich für so beschränkt, daß sie auf solch plumpen Schwindel
hineinfallen?« (RF 5.8.1928, S. 9)118
Umgekehrt fiel es dem KP-Zentralorgan leicht, den Widerspruch aufs Korn zu
nehmen, dass die Mehrheit der sozialdemokratischen Basis genauso vom Sowjetkino fasziniert war wie die kommunistische, während es der Parteileitung immer
schwerer fiel, ihre Aversion gegenüber der Sowjetunion mit diesem Enthusiasmus in
Einklang zu bringen: »Die ungeheure Wirkung der russischen Revolutionsfilme,
namentlich auf die Proletarier, ist der sozialdemokratischen Führung gar sehr in die
Knochen gefahren. Während sie jedoch in ihrem offiziellen Hauptorgan nicht wagt,
ihrer wahren Stimmung Ausdruck zu geben, besorgt sie das um so gründlicher in
ihrem Blatt für den ›kleinen Mann‹, im Kleinen Blatt.« (RF 25.11.1928, S. 8)
demokratie und der Marginalität der KPÖ konnte in Österreich allerdings von einer
solchen »Spaltung« kaum die Rede sein. Die österreichischen Ereignisse vom Juli
1927, in deren Folge die KPÖ mit einer ersten behördlichen Verfolgungswelle konfrontiert worden war, hatten jedoch bei der taktischen Reorientierung der Komintern eine nicht unwesentliche Rolle gespielt.
Der 6. Weltkongress der Komintern im Sommer 1928 hatte die Spaltung der Arbeiterbewegung auf die Spitze getrieben. Der Kongress rückte vom Konzept einer
»Einheitsfront« der Linksparteien ab. Im Rahmen der desaströsen »Sozialfaschismus«-These wurden stattdessen die sozialdemokratischen Parteien der II. Internationale zum Hauptfeind der kommunistischen Weltbewegung erklärt. Eine
besonders perfide Rolle spiele deren linker Flügel, wie er etwa im Austromarxismus
Otto Bauers zum Ausdruck komme. In Slogans wie »durch Demokratie zum Faschismus« (RF 11.11.1928, S. 1) wurde diese Linie artikuliert, die 1932/33 in
Deutschland wesentlich zur Spaltung und kampflosen Niederlage der Arbeiterparteien beitragen sollte. Angesichts der Hegemonie der österreichischen Sozial-
Vor diesem Hintergrund fand österreichische Politik Eingang in sowjetische Wochenschauen: Als am 7. Oktober 1928 – sechs Jahre nach Mussolinis »Marsch auf
Rom« – die faschistischen Heimwehren in der sozialdemokratischen Hochburg
Wiener Neustadt aufmarschierten, waren sowohl österreichische als auch sowjetische Kameraleute anwesend, um das Ereignis zu filmen. Die Gegner eines kommenden Bürgerkrieges standen hier einander gegenüber. Ein als »Marsch auf Wiener Neustadt« titulierter Auftritt Tausender »Hahnenschwanzler« fand am Vormittag statt, während ein sozialdemokratischer »Arbeitertag« und ein Aufmarsch
des Schutzbundes auf den frühen Nachmittag verlegt worden waren, um eine
gewalttätige Konfrontation zu vermeiden. Die Ereignisse dieses Tages werden in den
beiden Filmberichten naturgemäß vollkommen unterschiedlich dargestellt.
DER 7. OKTOBER (A 1928)119, eine Aktualität der Fa. Gustav Mayer, gibt vor, das
Geschehen mit unparteiischer Neutralität zu betrachten. Dazu wird die Perspektive
von Bundesheer und Gendarmerie eingenommen, deren 8000 Sicherheitskräfte als
Ordnungsmacht präsentiert werden. Zwischentitel kommentieren, dass Gulaschkanonen und Maschinengewehre »zur Aufrechterhaltung der Ruhe herangezogen«
worden seien. »Zum Schutze des Publikums« sei die Stadt »in ein Heerlager verwandelt« worden. Ein Zug mit winkenden Hahnenschwanzlern fährt ein, es folgt
der »Durchzug durch die Stadt«. Dem schelmischen Zwischentitel »Hoch das Alkoholverbot!« folgt eine Aufnahme von jausnenden und Schnaps trinkenden Heimwehrlern. Einer ihrer in Großaufnahme gezeigten Führer, der steirische Rechtsanwalt Walter Pfriemer, wird drei Jahre später einen erfolglosen Putschversuch
unternehmen – und anschließend freigesprochen werden. Etwas später, die Rathausuhr zeigt 12 Uhr 50, der Beginn des Schutzbundaufmarsches: Die Kamera schwenkt
über eine singende Menge auf dem Hauptplatz von Wiener Neustadt. Tausende stehen ernst und bewegungslos. Dann »Defilierung«: qualmende Beiwagenmotorräder,
Fahrradabteilungen mit Fahnen, am Straßenrand die Führung von SDAP und
Schutzbund120: Karl Renner, Theodor Körner und Julius Deutsch. Zuletzt dyna-
117 Österr. Zensurlänge: 2250 Meter, Einreicher: Newa.
118 Anlässlich von OKTOBER (ZEHN TAGE, DIE DIE WELT ERSCHÜTTERTEN) wiederholte sich dieser
historische Disput zwischen der Roten Fahne und dem sozialdemokratischen Kleinen Blatt.
(RF 25.11.1928, S. 8)
119 Österr. Zensurlänge: 260 Meter. Ein weiterer Filmbericht von 170 Metern Länge wurde von
der Fa. Exclusiv Film Wien unter dem Titel DER 7. OKTOBER IN WIENER NEUSTADT produziert.
120 Zu Geschichte und Taktik des Schutzbundes bis 1934 s. Ilona Duczynska, Der demokratische
Bolschewik. Zur Theorie und Praxis der Gewalt, München 1975.
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Sowjet-Projektionen | 257
misch von unten aufgenommene Schutzbündler und über das Kopfsteinpflaster
marschierende Beine. Der letzte Zwischentitel zieht ein illusorisches Resümee: »Um
5 Uhr ist der Alpdruck, der auf Österreich während Wochen lastete, vorüber.«
Der Filmbericht des SOVKINO JOURNAL NR. 51/160 (UdSSR 1928, L: 128,4 Meter)
über dasselbe Ereignis ist aus ähnlichen Aufnahmen von Marschierenden, Parteiführern und Sicherheitskräften montiert. Auch die Aufnahmen der sowjetischen
Kameraleute zeigen die Bundesheersoldaten und ihre schwere Bewaffnung in einer
Einstellung vor einem Kino.121 »Sozial-Kompromissler überlassen den Weg den
Faschisten«, und die sozialdemokratische Demonstration sei ihrerseits »von den
Faschisten bewilligt«. Die Zwischentitel präsentieren eine antagonistische Sicht der
Dinge und unterstellen im Rahmen der »Sozialfaschismus«-These ein verstecktes
Bündnis zwischen Sozialdemokratie und Heimwehr: »Die Vorbereitung der Bourgeoisie und der Sozialkompromissler zum faschistischen Putsch.« Die KPÖ hatte im
Vorfeld von einer »schändlichen Kapitulation der SPÖ« gesprochen und dazu aufgefordert, den Heimwehrmarsch mit allen Mitteln zu verhindern: durch einen
Eisenbahnerstreik, durch Blockierung aller Zugangsstraßen und die Besetzung der
Stadt durch die revolutionäre Arbeiterschaft. (RF 4.10.1928, S. 2)122 Dass die Regierung »das proletarische Verteidigungskomitee verhaften ließ«, welches zu Aktionen gegen den Heimwehraufmarsch aufgerufen hatte, ist im sowjetischen Beitrag
präsent, während in Mayers Aktualität diese politische Option vollkommen verschwunden ist. Die Möglichkeit eines faschistischen Putsches wird in der sowjetischen Wochenschau klar gesehen. Die Behauptung eines Zwischentitels, dass
schwerbewaffnete Sicherheitskräfte »für den Fall des Auftritts der Kommunisten«
anwesend seien, gehörte angesichts der realen Stärke der Kommunisten ins Reich
der Propagandalügen. Es gelang zwar einigen KommunistInnen am Aufmarsch des
Schutzbundes teilzunehmen, dem Aufruf der KPÖ an die SP-Arbeiterschaft, sich
unter ihre Führung zu stellen, war jedoch kaum jemand gefolgt.
121 Ein Arbeiterkorrespondent schrieb in einem Bericht über den »Tag der Niederlage des
Proletariats«: »Vor einem sozialdemokratischen Lokal, hoch über den Kinoankündigungen für
den 5. bis 8. Oktober ›Ich hab’ im Mai von der Liebe geträumt‹ und ›Wenn London lacht‹, ist
ein Schild des Wiener-Neustädter Radfahrerbundes, gegründet 1895, befestigt, ›Für Volk und
Freiheit‹ lautet der Spruch. Heute ist das Wort Freiheit aus dem Lexikon der Sozialdemokratie
gestrichen und durch Freundschaft ersetzt, – Freundschaft für Arbeiter u n d Arbeitermörder.«
(RF 9.10.1928)
122 Führungspersönlichkeiten der KPÖ wurden nach diesem Aufruf zur Verhinderung des Heimwehr-Aufmarsches verhaftet, in ihren Lokalen fanden Hausdurchsuchungen statt, und Die
Rote Fahne wurde mehrmals konfisziert. Der Schutzbund wurde angewiesen, »rücksichtslos
und mit aller Schärfe« gegen die Kommunisten und alle Unruhestifter vorzugehen. (RF 6.10.
1928, S. 1)
258 | Peter Grabher
Die publizistischen Querelen um die »Russenfilme« gingen indes weiter: Nach der
Wiener Aufführung von STURM ÜBER ASIEN (POTOMOK TSCHINGIS-CHANA, UdSSR
1928, Wsewolod Pudowkin),123 den die »Allianz« im April 1929 in vierzehn Wiener
Kinos herausbrachte, entrüstete sich Die Rote Fahne über einen »frisierte(n)
Pudowkin« und denunzierte »politische Schnitte«. (RF 14.4.1929, S. 9) »Der Film,
wie er in Wien jetzt gezeigt wird und von Berlin kam, ist leider stark geschnitten
und zensuriert worden.« Es sei »sorgfältig jeder Hinweis weggelassen, der auf
irgend eine Verbindung des Films mit der russischen Revolution und Sowjetrußland
deuten könnte.« Im Film beschwört ein sterbender Partisanenführer: »Hört auf
Moskau!« Ein Zwischentitel zeigt an, dass der junge mongolische Protagonist das
Wort »Moskau« wiederholt. Der Artikel suggeriert, dass die Kürzungen im Verantwortungsbereich der »Allianz« lagen: »In der Wiener Ausgabe ist ›Moskau‹ radikal
entfernt.« (ebd.)124
Die Rote Fahne entgegnete einem sowjetkritischen Artikel in der »sozialfaschistische(n) Presse« – gemeint war die Arbeiter-Zeitung125 – durch den Hinweis auf
»sachliche Dokumente«, zwei »Filmreportagen über russische Kulturtaten […],
die unangreifbar Zeugnis von dem Kulturleben der Sowjetunion legen und deren
Botschaft von niemandem verfälscht werden kann«. Gemeint waren PAMIR –
DAS DACH DER WELT (PAMIR – PODNOSHIJE SMERTI, UdSSR 1929, W. Schnejderow,
123 Österr. Zensurlänge: 2985 Meter. Eine interessante Filmkritik von links erschien in Erkenntnis
und Befreiung, dem »Organ der herrschaftslosen Sozialisten (Anarchisten)« um Pierre Ramus.
Unter dem Titel »STURM ÜBER ASIEN und die bolschewistische Kolonialpolitik« bezeichnete der
Artikel Pudowkins Werk als einen »das Proletariat geistig und seelisch am schwersten schädigenden Filme«. Er verglich die im Film thematisierte koloniale Politik Englands mit sowjetischen Verhältnissen: »Auch scheint Pudowkin ganz vergessen zu haben, dass Requirierung
kein in Rußland – besonders in ›Sowjetrußland‹ unbekannter Begriff ist […].« Das pazifistische
Blatt kritisierte die »Glorifikation des Partisanen-Lebens« und die Rechtfertigung der »selbstvernichtende[n] Kriegführung der Mongolen gegen die ihnen bei weitem überlegenen Kolonialtruppen Englands. […] Besonders der Ausklang des Films frönt scheußlichsten militaristischen Atavismen. Der Bolschewismus braucht sie für seine Kolonialpolitik.« Zuletzt wird
Ghandi beschworen, der »dem Hindi andere Befreiungswege und -mittel weist, als die Bolschewisten den Asiaten zeigen«. (Erkenntnis und Befreiung, 21.4.1929, S. 2) Leider erlaubt es die
Quellenlage nicht, über solche Spuren hinaus linksoppositionelle, anarchistische oder trotzkistische Positionen zum Kino in der Ersten Republik zu rekonstruieren.
124 Die deutsche Zensurkarte, anhand deren dies aufzuklären wäre, ist leider nicht erhalten.
Tatsächlich war die von der Prometheus bei der Filmprüfstelle Berlin eingereichte Version mit
2958 Metern kürzer als die österreichische Kopie. Die »Österreichische Arbeiterhilfe« zeigte
den Film in Verbindung mit »Russischen Naturaufnahmen« und »Musikeinlagen eines 24
Mann starken Orchesters« am 16.11.1929 im Schönbrunner Schloßkino. (RF 8.10.1929, S. 5)
125 Die Rote Fahne zitierte die Arbeiter-Zeitung: »Nun steht die Arbeiterklasse Rußlands wieder
recht- und machtlos dem diktatorisch-zentralistischen Staatsapparat gegenüber, […] die
anwachsende Unzufriedenheit der Volksmassen […]. Die russische Arbeiterklasse besitzt auch
jetzt keine Organisationsfreiheit […], sie besitzt auch jetzt keine Freiheit der politischen
Meinungsäußerung und Betätigung.« (RF 4.2.1930, S. 6)
Sowjet-Projektionen | 259
P: Meshrabpom)126, ein »Kulturfilm« über eine deutsch-sowjetische Forschungsexpedition, der in der Wiener Urania lief, und DAS WEISSE GEHEIMNIS – DIE HELDENHAFTE RETTUNG DER NOBILE-EXPEDITION DURCH DEN EISBRECHER »KRASSIN« (UdSSR
1928, Georgi & Sergej Wassiljew, P: Sowkino)127, der im Volksbildungshaus gezeigt
wurde. Konnten diese »Filmberichte über Kulturtaten« wirklich – wie es Die Rote
Fahne behauptete – jeden Arbeiter davon überzeugen, »dass eine Arbeiterschaft, die
solches zu leisten vermag, nicht eine niedergedrückte, ihrer Rechte beraubte Klasse
sein kann«? (RF 4.2.1930, S. 6)
Neben konsequentem antifaschistischem Engagement gegen die Heimwehren und
die österreichische NSDAP bildeten verbissene Attacken gegen die »sozialfaschistische« SDAP nun den Kern der KPÖ-Politik. Die »sozialdemokratische Kinopolitik«
wurde als »in vielen Fällen direkt reaktionär« gewertet. Die Rote Fahne zitierte ausführlich Fritz Rosenfelds Kritik an der Programmgestaltung des sozialdemokratischen Arbeiterheimkinos128 und kritisierte dessen von »reformistische[m] Geist
erfüllt[en]« Vorschlag, »die vom revolutionären Geist erfüllten russischen Filme
dadurch für die Sozialdemokratie brauchbar zu machen, daß ihre bolschewistische
Tendenz durch sozialdemokratische Umarbeitung mundgerecht gemacht wird. […]
Was selbst bürgerliche Kinobesitzer nicht wagen, will Herr Rosenfeld den Arbeitern
vorzusetzen versuchen. […] Von den Kunstwerken der revolutionären Sowjetunion
soll nur Herr Rosenfeld die Finger lassen. Sonst wird er sich aber schon gehörig verbrennen.« (RF 12.5.1929, S. 6) Seit im April 1929 STURM ÜBER ASIEN angelaufen
war, hatte die »Allianz« keinen einzigen sowjetischen Film mehr ins Kino gebracht.
Die Rote Fahne fragte sich, »warum es in Wien seit Monaten fast keine Russenfilme
gibt«, und behauptete eine sozialdemokratische »Sabotage der proletarischen Filmkunst«. (RF 8.12.1929, S. 9, siehe Textkasten)129
Die Filmvorführungen der KP-nahen Organisationen gingen indessen weiter. Zum
zweiten Jahrestag des 15. Juli hatte die »Österreichische Arbeiterhilfe« den IAHFilm HUNDERTTAUSEND IM KAMPF (D 1928, Albrecht Viktor Blum, P: Weltfilm)130 aus
dem Progamm von Willi Münzenbergs 1928 gegründeter Firma »Film-Kartell
›Weltfilm‹ Gmbh« im Helios-Kino aufgeführt: »Das Ruhrgebiet, dieses industrielle
126
127
128
129
Österr. Zensurlänge: 1863 Meter, Einreicher: Urania.
Österr. Zensurlänge: 1950 Meter, Einreicher: Newa.
Vgl. Fritz Rosenfeld, „Sozialdemokratische Kinopolitik“, in: Der Kampf, April 1929, S. 192–197.
Die Rote Fahne beschwerte sich auch, dass ihre Journalisten nicht mehr zu Pressevorführungen eingeladen wurden. (RF 19.5.1929, S. 8)
130 Österr. Zensurlänge: 1200 Meter (offenbar eine ungefähre Angabe, denn die Originallänge betrug nur 1078 Meter), Einreicher: Österreichische Arbeiterhilfe.
260 | Peter Grabher
Warum es in Wien seit Monaten fast keine Russenfilme gibt
Vor einigen Monaten wurde in der sozialdemokratischen Partei eine große
Diskussion über sozialdemokratische Kunstpolitik und sozialdemokratische
K i n o p o l i t i k durchgeführt. Der Filmrezensent der Arbeiter-Zeitung, Fritz
R o s e n f e l d , schrieb damals im Kampf, daß die Sozialdemokraten zu wenig
Kinos hätten, um eine großzügigere Kinopolitik betreiben zu können. Seit damals
sind in Wien, von der Provinz wollen wir hier gar nicht sprechen, eine ganze
Reihe Kinos von der A r b e i t e r b a n k , bzw. deren Tochtergesellschaft »K i b a «
erworben worden. Von den Großkinos nennen wir da vor allem das S c h w e d e n - K i n o und das größte Kino Wiens, das A p o l l o - T h e a t e r , das mit
einem ungeheuren Kostenaufwand adaptiert worden ist. Weiters gehören der
»Kiba« das L e o p o l d s t ä d t e r V o l k s k i n o , L i c h t s p i e l e E i s e n bahnerheim, Amalien-Kino, Sandleiten-Kino, Lichtspiele
F l o r i d s d o r f , W e l t s p i e g e l - K i n o . Das Programm, das in diesen Kinos
geboten wird, unterscheidet sich durch n i c h t s von dem der anderen Kinos, es
besteht vielmehr ein edler Wettbewerb in der Darbietung des größten
S c h u n d s . Ebenfalls im Besitz der Arbeiterbank und daher in engster Verbindung mit der »Kiba« ist die »A l l i a n z«, Filmfabrikations- und Vertriebsgesellschaft. Diese Firma hat sich auch vertraglich gegenüber der Wiener Handelsvertretung der Sowjetunion verpflichtet, die R u s s e n f i l m e in Österreich
zu vertreiben. Seit Monaten gibt es in Wien k e i n e n Russenfilm, dafür aber
eine Hochflut an bürgerlichem Schund. Das sozialdemokratische Luxuskino
»Apollo-Theater« hat bis heute keinen einzigen Russenfilm aufgeführt, offenbar
weil diese sich qualitativ mit den amerikanischen Dutzendfilmen, die dort zur
Aufführung gelangen, nicht messen können …
Nun ist endlich nach langer Zeit d o c h ein Russenfilm wieder nach Wien
gelangt, und zwar der ausgezeichnete Film REVOLTE IM ZUCHTHAUS, der in Berlin
unter dem Titel MENSCHENARSENAL wochenlang volle Häuser hatte und in der
gesamten Berliner Presse in ausführlichen Besprechungen als eine Spitzenleistung
der Filmkunst bezeichnet wurde. Er ist in Österreich wieder im Verleih der
»Allianz« und wird nicht etwa in den g r o ß e n Kinos, wie etwa Apollo- oder
Schweden-Kino vorgeführt, sondern in zwei Vorstadt-Kinos, und zwar im
O l y m p i a - K i n o in der Simmeringer Hauptstraße und im W e l t s p i e g e l K i n o am Lerchenfeldergürtel. Während alle Filmgesellschaften Pressevorführungen in den S t a d t kinos veranstalten, fand die Pressevorführung des
neuen großen Russenfilms auf der Simmeringer Hauptstraße statt!
Sowjet-Projektionen | 261
Was hier geschieht, ist eine o f f e n k u n d i g e S a b o t a g e der proletarischen
Filmkunst, weil die Sozialdemokratische Partei fürchtet, durch die Vorführung
guter Russenfilme Sympathie für den proletarischen Staat und sein künstlerisches
Schaffen zu erwecken. Das paßt aber in den Verleumdungsfeldzug, der gegen die
Sowjetunion betrieben wird, nicht hinein.
Anonym, Die Rote Fahne, 8.12.1929, S. 9
Wunderland mit seinen vielen tausenden Schloten steht still. Hunderttausend Arbeiter stehen im Kampfe, sind ausgesperrt. Sie wohnen in elenden Hütten, hungern, die
Kinder wachsen auf, ohne Licht und Sonne. Die Industrieritter aber hausen in
prächtigen Villen und Palästen, unheimlich steigen ihre Gewinne an. Die Arbeiter
haben den Kampf aufgenommen. Und nun geht es hart auf hart. Die Solidarität der
internationalen Arbeiterschaft tritt in Aktion. Ausspeisungsstellen der IAH (Internationalen Arbeiterhilfe) werden eröffnet und die Ausgesperrten und besonders die
Kinder werden mit Lebensmitteln versorgt. In allen Betrieben Deutschlands, in den
Betrieben Rußlands, aber auch in Schweden, Norwegen, Frankreich, England und
selbst in Amerika machen die Sammellisten der IAH in den Betrieben die Runde.
›Solidarität hilft die Welt befreien!‹ In mächtiger Schrift steht die Losung auf dem
Hause der IAH. Zu packenden und technisch ausgezeichnet gelungenen Bildern
kann man diesen Kampf der 100.000 Ruhrarbeiter und die Hilfsaktion der IAH in
dem Film ›100.000 im Kampfe‹ sehen.« (RF 12.7.1929, S. 8)
Vorführungen stießen immer wieder auf behördliche Behinderungen. Eine
Vorführung von HUNDERTTAUSEND IM KAMPF, die zwei Tage später von der KPÖBezirksorganisation Leopoldstadt aus demselben Anlass angesetzt worden war,
wurde vom Magistrat unter Berufung auf eine Verordnung, die Nachtvorstellungen
untersagte, verboten. »Unter Berufung auf den ›Schutz der Arbeitskräfte‹ wird auch
hier ein Ausnahmszustand gegen die Kommunistische Partei eingeführt. Da außer
dem Operateur alle Arbeitskräfte von der Partei gestellt werden, ist auch diese
Begründung eine viel zu scheinheilige, als daß nicht für jeden Arbeiter sichtbar
wäre, daß der Magistrat auch hier nur die Methode fortsetzt, die Schober auf anderen Gebieten gegen die Kommunisten anwendet.« (RF 13.7.1929, S. 3) Die
Bezirksorganisation Leopoldstadt hatte sich ab der ersten Hälfte 1928 als filmisch
besonders aktive Sektion der KPÖ hervorgetan: Gemeinsam mit MUTTER (MATJ,
UdSSR 1926, Wsewolod Pudowkin, P: Meshrabpom-Rus)131 führte sie IM FLUG ÜBER
131 Österr. Zensurlänge: 2370 Meter, Einreicher: Newa.
262 | Peter Grabher
(EIN FLUG VON MOSKAU NACH TIFLIS) (UdSSR 1927?, P: Sowkino) or (RF 17.2.1928, S. 2), der zusammen mit SOWJET-GRUSIEN (UdSSR 1927?,
P: Sowkino)133, einem kurzen Dokumentarfilm über Georgien, von der KPÖ zur
Zensur eingereicht worden war.
Die Filme wurden von der Parteileitung an ihre Ortsgruppen und Organisationen
wie den »Kommunistischen Jugendverband« (KJV) verliehen: »Den Bürgerlichen
und den Sozialdemokraten stehen für ihre Propaganda Theater, Kino, Radio134 usw.
zur Verfügung. Unsere Partei hat nur ganz geringe Möglichkeiten durch Aufführung
russischer Filme die Propaganda ihrer Ideen zu verbreiten.« (RF 15.3.1930, S. 4)
Oft wurde ein großer sowjetischer Spielfilm mit kürzeren Dokumentarfilmen kombiniert. Im Unterschied zu den sozialdemokratischen Filmveranstaltungen wurden
mit Vorliebe Filme gezeigt, in deren Mittelpunkt die Rote Armee, die Institutionen
und Leistungen des aktuellen Sowjetstaates und dessen wirtschaftlicher Aufbau
standen. Die genaue Anzahl der Filmveranstaltungen im kommunistischen Umfeld
ist anhand der Quellen schwer zu eruieren. Nicht alle wurden in der Roten Fahne
angekündigt. Es ist außerdem wahrscheinlich, dass bestimmte Filme nicht öffentlich, sondern nur in parteiinternem Rahmen aufgeführt wurden.
Die »Arbeiterhilfe« zeigte russische Spielfilme, die bereits in Wien gelaufen
waren, etwa MASCHINIST UCHTOMSKI (UdSSR 1926, P: Krasnaja Swezda)135 im
Thalia Kino136, LIEBE ZU DRITT/BETT UND SOFA (TRETJA MESCHTSCHANSKAJA, Abram
Room, P: Sowkino)137 in Kombination mit CHARLIE CHAPLIN IM SCHÜTZENGRABEN
(SHOULDER ARMS, USA 1918) im Flieger-Kino138, DIE BUCHT DES TODES (BUCHTA
SMERTI, UdSSR 1925, Abram Room, P: Goskino)139 in Inzersdorf, in Hietzing
und Traisen.140 Eine »revolutionäre Kinoveranstaltung« der ÖAH im Elite-Kino141
präsentierte den Münzenberg-Film VON DER WOLGA BIS GASTONIA (D 1929/30,
P: Weltfilm)142, DIE STREIKENDE SCHRAUBE143 und Viktor Turins großen DokumentarDAS ROTE RUSSLAND
132
132 Österr. Zensurlänge: 367 Meter.
133 Österr. Zensurlänge: 502 Meter.
134 Ab Mitte 1929 versuchte die KPÖ verstärkt, das Radio als Agitationsmittel einzusetzen. Die
Rote Fahne brachte in der wöchentlichen Rubrik »Arbeiterradio« Berichte über politische
Auseinandersetzungen im Arbeiterradiobund, Bauanleitungen, »proletarische Radiokritik« v. a.
an den RAVAG-Programmen und druckte die Programme der sowjetischen Sender (»Hört
Moskau!«).
135 Österr. Zensurlänge: 1720 Meter (Jugendverbot), Einreicher: Newa.
136 RF 28.3.1930, S. 4.
137 Österr. Zensurlänge: 2100 Meter, Einreicher: Newa.
138 RF 28.3.1930, S. 4.
139 Österr. Zensurlänge: 2265 Meter, Einreicher: Newa.
140 RF 18.5.1930, S. 10.
141 RF 18.7.1930, S. 8.
142 Österr. Zensurlänge: 2080 Meter, Einreicher: Österr. Rote Hilfe.
143 Österr. Zensurlänge: 110 Meter, Einreicher: Österr. Arbeiterhilfe.
Sowjet-Projektionen | 263
film TURKSIB (UdSSR 1929, P: Wostokkino)144 über den Bau der Eisenbahnlinie
Turkestan–Sibirien.
Aus der ersten Jahreshälfte 1930 datieren die einzigen Laufbilder österreichischer
Kameraleute von KPÖ-Aktivitäten, die heute erhalten sind.145 Zwei kurze Beiträge
der POLIZEIJAHRESSCHAU 1930146 (A 1930, P: Bundespolizeidirektion Wien) zeigen
Bilder von KPÖ-Aufmärschen: Kameraleute der Wiener Polizei filmten am 1. MAI
1930 – DIE MAIFEIER DER KOMMUNISTISCHEN PARTEI AUF DEM FREIHEITSPLATZ UND ZUG ÜBER
DIE RINGSTRASSE (11. Beitrag, 45 Sek.) in acht Einstellungen: 1. Eine wartende Menge
von DemonstrantInnen auf dem Freiheitsplatz147; man erkennt verschiedene Schriftzüge auf Transparenten: »Gegen Kulturreaktion«, »Lenin weist uns den Weg«,
»Arbeit und Brot – dem Faschismus den Tod«, »Mit der Roten Hilfe gegen den
Heimwehrfaschismus«; eine Frau mit Transparent geht im Vordergrund an der
Kamera vorbei; 2. der Polizeikameramann schwenkt über die Polizeikette auf der
Treppe der Votivkirche zur Menge auf dem Platz; 3. ein wartendes Pferdegespann
mit dekoriertem Wagen, darauf Frauen, Jugendliche und Kinder; eine Tafel: »Rot
Front siegt – Hinein in die Arbeiter-Wehr«; 4. an der Ecke des Universitätsgebäudes
am Ring kreuzen einander Passanten, Polizisten und Demonstranten; 5. Zug über
die Ringstraße, auf der Höhe des Rathausplatzes im Vordergrund Polizei; 6. fixe
Einstellung mit dem Burgtheater im Hintergrund; KP-Jugendorganisationen ziehen
im Demonstrationszug an der Kamera vorbei: »Hinein in den Kommunistischen
Jugendverband«, »Für die revolutionären Forderungen der Arbeiterjugend«; 7. dieselbe Einstellung, weitere Gruppen mit Transparenten: »Sammelt u. spendet für die
Opfer der Klassenjustiz – Tretet bei der Roten Hilfe«, ZuschauerInnen vor dem Burgtheater; 8. dieselbe Einstellung: Kinder, ein Transparent: »Werdet Jungpioniere«.
Die einige Wochen früher aufgenommen Bilder von einer kommunistischen Kundgebung machen sichtbar, was in dem Filmbericht über den 1. Mai 1930 nur aus der
massiven Polizeipräsenz und den angespannten Physiognomien zu erahnen ist: die
144 Österr. Zensurlänge: 200[?] Meter, Einreicher: Gesellschaft zur Förderung der geistigen und
wirtschaftlichen Beziehungen mit der U.S.S.R.
145 Auskunft von Christian Dewald. Von sowjetischen Aufnahmen wird im Folgenden noch die
Rede sein.
146 Vgl. Barbara Zuber, Die »Polizeijahresschauen« 1928–1938. Eine filmische Quelle zur Wiener
Polizeigeschichte der Zwischenkriegszeit. Dissertation, Universität Wien 1996.
147 Der heutige Roosevelt-Platz bei der Wiener Votivkirche. Die Namenswechsel dieses Platzes
spiegeln österreichische Geschichte wider: Der Maximilianplatz wurde 1920 in Freiheitsplatz
umbenannt. 1934 wurde er zum Dollfußplatz, zwischen 1938 und 1945 Hermann-GöringPlatz. In der Nachkriegszeit erhielt er seinen aktuellen Namen nach dem Schöpfer des New
Deal, dem US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt.
1. MAI 1930
264 | Peter Grabher
– DIE MAIFEIER DER KOMMUNISTISCHEN PARTEI AUF DEM FREIHEITSPLATZ UND ZUG ÜBER DIE RINGSTRASSE, A 1930
Sowjet-Projektionen | 265
Verschärfung des öffentlichen Klimas, in dem die KP-Aufmärsche stattfanden. Der
fünfte Beitrag der POLIZEIJAHRESSCHAU 1930 mit dem Titel INTERNATIONALER KOMMUNISTISCHER DEMONSTRATIONSTAG AM 6. MÄRZ 1930. DIE WIENER KUNDGEBUNG (1 Min.
25 Sek.) zeigt in vier Einstellungen »Die Versammlung auf dem Freiheitsplatz« und
nicht weiter ausgewiesene »Zwischenfälle vor der Universität« in vierzehn Einstellungen: eine Menschenmenge auf der großen Freitreppe vor der Universität,
wütende Demonstranten, die von einer Polizeikette zurückgehalten werden; Polizisten, die mit Gummiknütteln gegen Demonstranten vorgehen; laufende Polizisten
und Demonstranten, die Straßenbahn fährt auf die Kamera zu.
Der Sinn des Geschehens erschließt sich heutigen Betrachtern aus dem Filmbericht
nicht. Ein Blick in die zeitgenössische Berichterstattung der Roten Fahne hilft, die
Bilder zu entziffern: Die KPÖ hatte zu einem »Hungeraufmarsch der Arbeitslosen«
im Rahmen des »Weltkampftages für Arbeit und Brot« aufgerufen. Nach Demonstrationen vor Arbeitsvermittlungsstellen in verschiedenen Bezirken war der Zug
vom Schwarzenbergplatz Richtung Universität marschiert. Dort »wurde er von einigen hundert faschistischen Studenten, die auf der Rampe Aufstellung genommen
hatten, mit dem Deutschlandlied, mit Heilrufen und höhnischen Zurufen empfangen. Einige dieser faschistischen Rotzbuben, die sich hinter der dichten Polizeikette
sicher fühlten, ›begrüßten‹ den Zug des Elends mit dem faschistischen Gruß, mit
ausgestrecktem Arm. […] Da waren die Arbeitslosen begreiflicherweise nicht mehr
zu halten …« Nachdem einige Demonstranten die Uni-Rampe zu stürmen versuchten,
griff die Polizei massiv ein, und »es begann eine wilde Gummiknütteljagd« (RF
7.3.1930, S. 3)148. Die Filmaufnahmen spiegeln auch die wachsende Aufmerksamkeit der Staatsmacht: Die AktivistInnen der KPÖ waren zunehmend mit Razzien,
Beschlagnahmungen von Flugblättern, ihre Publikationen mit Konfiskation und
deren Redakteure mit Geldstrafen und Haussuchungen konfrontiert.
INTERNATIONALER KOMMUNISTISCHER DEMONSTRATIONSTAG AM 6. MÄRZ 1930. DIE WIENER KUNDGEBUNG,
Im Juni 1930 zeigte die »Rote Hilfe« erstmals einen Film, in dem es um ihre Anliegen im engeren Sinne ging. Albrecht Viktor Blums SPRENGT DIE KETTEN! (D 1929/30,
P: Weltfilm)149 wirbt für die »Internationale Rote Hilfe« als Hilfsorganisation für
politische Häftlinge. Der Film illustrierte die Geschichte der »Roten Hilfe« und gab
148 Was man im Filmdokument ebenfalls nicht sieht: Bei der anschließenden Abschlusskundgebung vor der Votivkirche sprach auch Wilhelm Reich im Namen der »Revolutionären Sozialdemokraten«: Er »erklärte im Namen dieser Gruppe, sich mit dem Kampf der Arbeitslosen zu
solidarisieren. Die ehrlichen sozialdemokratischen Arbeiter verurteilen und bekämpfen die
Verräterpolitik der sozialdemokratischen Führer. Sozialdemokratische und kommunistische
Arbeiter müssen eine einheitliche Kampffront bilden (Stürmischer Beifall und Hochrufe).« (RF
7.3.1930, S. 3)
149 Österr. Zensurlänge: 690 Meter, erstaunlicherweise auch für Jugendliche zugelassen. Der Film
gilt heute als verloren.
266 | Peter Grabher
A 1930
praktische Hinweise, wie man etwa Gefangenen in Lebensmitteln Kassiber zusteckt150. Ein Zwischentitel sprach die Aufforderung aus, »sich an der Roten Hilfe
zu betätigen und damit der Revolution zu dienen«, und endete mit einem Blick in
die Zukunft: »Wenn in allen Ländern die Revolution gesiegt hat, wird es keine
Zuchthäuser mehr geben.« Während der Film in Deutschland den Reichsinnenminister beschäftigte, enthielt der Film in Wien auch jene in Deutschland geschnittenen Sequenzen, »in denen die Polizei oder Militär im Kampf mit der Arbeiterschaft
150 Nach einer Aktennotiz über den Film für den deutschen Reichsinnenminister, zitiert nach
Kühn/Tümmler/Wimmer 21978, Bd. 2, 53 f.
Sowjet-Projektionen | 267
gezeigt werden«.151 Die ÖRH hatte den Film beim Magistrat eingereicht und führte
ihn daraufhin im Volksbildungsheim in der Stöbergasse erstmals auf (RF 15.6.1930,
S. 6). Einige Tage vor der öffentlichen Premiere hatte Die Rote Fahne eine Vorführung »für Funktionäre« annonciert, zu der »jeder Bezirk […] 2–3 Genossen zu
entsenden« habe. (RF 18.5.1930, S. 10) Thomas Tode: »Solche Filme dienten gleichermaßen der Leistungsschau wie auch der Mitgliederwerbung, denn Vereinigungen wie die IAH oder die Rote Hilfe finanzierten sich aus Mitgliedsbeiträgen.«152
In Österreich zählte die »Rote Hilfe« zu diesem Zeitpunkt etwa 9000 Mitglieder,
in den ersten neun Monaten des Jahres verzeichnete sie »ein starkes Ansteigen der
politischen Prozesse gegen Links auf 502 mit 24,5 Jahren verhängten Gefängnisstrafen«.153
Trotz der Tatsache, dass auch die Sozialdemokratie zunehmend mit Gewaltakten
von rechts konfrontiert war,154 hielt die KP-Presse an ihrer sektiererischen Politik
fest: Die große Arbeiterpartei sei die wichtigste Stütze der Bourgeoisie und stehe im
Pakt mit dem Faschismus, auch in kulturellen Dingen: »Die kulturellen Einschläferungsaktionen bilden das hervorragendste Mittel, die Massen für den revolutionären Klassenkampf abzustumpfen. […] Kommen aber russische Filme, dann werden
sie sabotiert, zumindest aber in den wesentlichen Teilen zusammengestutzt. Und
eben die Sozialfaschisten sind es wieder, die amerikanischen Kitsch lieber vorsetzen
als russische Kunst, die russischen Filmen ihre Kinos verweigern, und andere Lokale
den betreffenden Veranstaltern abtreiben. Denn wehe, wenn die Massen aus ihren
Illusionen erwachen!« (RF 14.9.1930, S. 8–9)155
151 Nach Kühn/Tümmler/Wimmer 21978, Bd. 2, 54.
152 Tode 2005, S. 538. Kurt Landau – ehemaliger KPÖ-Proletkult-Leiter und mittlerweile Aktivist
der kommunistischen Linksopposition – kritisierte die Werbearbeit der KP-nahen Organisationen als: »Unter Massenarbeit versteht die österreichische Stalinbürokratie letzten Endes
nichts anderes als das Schüren der Reklametrommel […] zum Eintritt in die KP, RH, IAH,
Arbeiterwehr und die RGO [die »Revolutionäre Gewerkschaftsopposition«, P. G.].« (Der neue
Mahnruf, Nr. 20, 1931, S. 2.)
153 Nach Arnold Reisberg, Parteichronik der KPÖ, Jahresmappe 1930.
154 In St. Lorenzen bei Graz etwa hatten am 18.8.1930 bewaffnete Heimwehreinheiten ein Fest
der Sozialdemokraten überfallen: Drei Tote und ein Schwerverletzter waren die Folge.
155 Tatsächlich liefen 1930 nur noch vier lange »Russenfilme«, inklusive der Tonfassung des
PANZERKREUZER POTEMKIN. Die Rote Fahne titelte diesbezüglich hysterisch »PANZERKREUZER
POTEMKIN von der Gemeinde Wien verboten«, nachdem das Magistrat eine Jugendfreigabe des
Filmes abgelehnt hatte, während gleichzeitig der Film KAISER FRANZ JOSEPH ALS REGENT UND
MENSCH ohne Alterseinschränkung freigegeben wurde: »Alle Dunkelmänner und Reaktionäre
haben die Gelegenheit, den alten Hosentrompeter von Schönbrunn, den senilen Greis in voller Lebensgröße wieder zu sehen. […] Es wird da [im bürgerlichen Weltblatt] geschrieben,
dass bei der Aufführung des Franz Joseph-Films kommunistische Demonstrationen befürchtet werden. Gemach, die Herren! Nicht nur die Kommunisten, sondern die gesamte Arbeiterschaft wird dem Herren des Habsburgerkerkers den verdienten Empfang bereiten.« (RF 15.8.
1930, S. 3)
268 | Peter Grabher
Ein Wahlfilm der SP zu den letzten Nationalratswahlen der Ersten Republik am
9.11.1930 wurde von der Roten Fahne mit bitterer Kritik quittiert: DAS NOTIZBUCH
DES MR. PIM (A 1930, Frank Ward Rossak)156 (RF 6.11.1930, S. 8) sei ein »sozialfaschistischer Verschleierungsfilm«157: »Die Wahlfilme der SP., die dazu dienen sollen,
die Arbeiterhirne zu benebeln und ihnen statt der fürchterlichen Not der werktätigen
Bevölkerung demagogische ›Witze‹ und Fassaden von Häusern, die für Arbeitlose
nicht in Betracht kommen, vor Augen zu führen, können ihren Zweck auf Arbeiter,
die ihre Not kennen, kaum erfüllen.« Das im Film dargestellte »Rote Wien« sei nur
ein Potemkinsches Dorf: »Daß es in Wien allein 84.000 Arbeitslose gibt, denen die
›sozialistische‹ Gemeinde nicht einmal Gas- und Elektrizitätspreisermäßigung gewährt, die ausgesteuerten Arbeitslosen, die Heimarbeiter und Hausgehilfinnen, die
von jeder Unterstützung ausgeschlossen sind, die Obdachlosen, die Selbstmord
begehen, was von dem Mieterschutz übrig geblieben ist – das alles hat der Film
wohlweislich zu zeigen vergessen. Die Arbeiter aber übersehen die Tatsachen nicht,
sie verwerfen die Methoden dieser pseudosozialistischen Partei. Am 3. November
werden sie die einzige sozialistische Partei, die Kommunistische Partei wählen.«
Diese Hoffnung erfüllte sich nicht, die KPÖ erreichte nur 0,6% der Stimmen – die
Nationalsozialisten legten von 27.000 auf über 110.000 Stimmen zu.
Um die Jahreswende 1930/31 entzündete ein Film das politische Leben, der ins Herz
des historischen Traumas traf, aus dem die Erste Republik und ihre inneren Bruchlinien hervorgegangen waren: IM WESTEN NICHTS NEUES (ALL QUIET ON THE WESTERN
FRONT, USA 1930, Carl Laemmle, P: Universal).158 Eine breite Front von rechten
Organisationen von den Nationalsozialisten über die Heimwehr bis zu den Turnern
verteufelte die Verfilmung von Erich Maria Remarques Weltkriegsroman und erreichte schließlich durch organisierten Protest und Terror das Verbot des Filmes in
Österreich.159 Die KPÖ sah darin einen »pazifistischen Film, der nur das Grauen des
Krieges ohne revolutionäre Schlussfolgerung zeigt« (RF 16.12.1930, S. 2), konzedierte jedoch, er sei »eine Gefahr für die Nationalisten und Kriegshetzer, weil er der
jungen Generation die Schrecken und Greuel des Krieges zeigt und den Alten im
Felde Gewesenen, und auch der Hinterlandsbevölkerung die sogenannte eiserne
Zeit wieder in Erinnerung bringt«. (RF 21.12.1930, S. 3) In ihrer ausführlichen
156 Vgl. dazu im vorliegenden Band, S. ???.
157 Auf derselben Seite wurde eine Broschüre mit dem Titel »Was ist Sozialfaschismus?« beworben.
158 Österr. Zensurlänge: 2919 Meter, Einreicher: Universal.
159 Vgl. dazu Büttner/Dewald, Das tägliche Brennen, S. 245–249, sowie Alfred Pfoser, »Skandal
um ein Buch und einen Film: ›Im Westen nichts Neues‹«, in: Archiv 1985, Jahrbuch des Vereins
für Geschichte der Arbeiterbewegung, Wien 1985.
Sowjet-Projektionen | 269
Berichterstattung über die Ereignisse kritisierte Die Rote Fahne die Rolle der Polizei
und der SDAP, etwa dass bei den Naziaufmärschen mit »ausgesprochen antisemitische[m] Charakter […] der sozialdemokratische Schutzbund […] sich weder innerhalb noch außerhalb des Kinos bemerkbar gemacht« habe. Sie forderte »an Ort und
Stelle Gegendemonstrationen der Arbeiter«. (RF 6.1.1931, S. 1–2)160
Nach dem Verbot des Filmes per Notverordnung durch Innenminister Winkler
am 9.1.1931 warf das KPÖ-Organ den Sozialdemokraten vor, 1929 der Verfassungsänderung zugestimmt zu haben, auf deren legistischer Basis der Film nun aus dem
Verkehr gezogen wurde.161 Die Wiener Landesregierung habe diesen »kleinen Ausnahmezustand« mit herbeigeführt, indem sie darüber hinaus der Regierung »Tips
[…] für das Verbot« gegeben habe. (RF 9.1.1931, S. 2 f.) Dieser Vorwurf war nicht
ganz von der Hand zu weisen, denn in einer Stellungnahme vom 5.1.1930 hatte die
Wiener Landesregierung das Verbot vorweggenommen: »Ein Einschreiten gegen die
Aufführung des Films wäre nur nach dem Uebergangsgesetz der Bundesverfassung
aus Gründen der Ruhe und Ordnung möglich. […] In diesem Zusammenhang und
gestützt auf diese gesetzlichen Bestimmungen könnte schließlich auch eine Weisung
des Bundeskanzleramtes an den Landeshauptmann ergehen, die ein Verbot der Aufführung aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verfügt.« (ebd.)
Die Sozialdemokratie drohte zwar mit einer Verfassungsbeschwerde, ging aber
einer Konfrontation aus dem Weg. Julius Braunthal antwortete auf einen empörten
Leserbrief von Salzburger Arbeitern im Kleinen Blatt, in dem diese fragten, ob die
»Straßen Wiens« nun »halbwüchsigen Nazibuben« gehörten: »Wenn Sie beklagen,
daß die sozialdemokratische Partei sich das hat gefallen lassen, so müssen Sie doch
bedenken, daß die Partei die Arbeiter und den Schutzbund nicht wegen eines Films
zu Straßenschlachten aufrufen kann, denn dazu wäre es doch gekommen, wenn der
160 Solche Versuche wurden von der Polizei behindert. Am 8.1. notierte Die Rote Fahne: »Während es so den Faschisten möglich war, sich vor den Augen der Behörde zu sammeln, wurde
aber das Arbeiterheim in der Blumauergasse von einem Riesenaufgebot an Wache besetzt,
damit sich hier keine kommunistischen Arbeiter oder Arbeiterwehrler zu Gegenkundgebungen
gegen die Hakenkreuzler zusammenfinden könnten.«
161 Das Verbot wurde unter Berufung auf § 4 des BVG betr. Übergangsbestimmungen der 2. BVGNovelle ausgesprochen, der den »Behörden auf dem Gebiet der allgemeinen Sicherheitspolizei
[…] zum Schutz der gefährdeten körperlichen Sicherheit von Menschen oder des Eigentums
innerhalb des Wirkungsbereiches bis zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Anordnungen
treffen und deren Nichtbefolgung als Verwaltungsübertretung erklären können.« (RF 9.1.
1931, S. 1–3) Im amtlichen Text des Verbotes hieß es: »Dadurch, daß die Aufführung dieses
Films im Apollo-Theater und im Schweden-Kino in Wien am 3., 7. und 8. Jänner d. J. eindringliche Proteste und Straßenkundgebungen hervorgerufen hat, die ungeachtet der umfassendsten Sicherheitsvorkehrungen zu schweren Ausschreitungen, zu Verletzungen von
Personen und größeren Sachschäden führten, sind nunmehr äußere Umstände eingetreten, die
im Interesse der verfassungsgesetzlich in die Zuständigkeit des Bundes fallenden Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit vorbeugende Maßnahmen erforderlich machen.« (RF 10.1.1931, S. 2)
270 | Peter Grabher
Remarque-Rummel
Wenn im Westen auch nichts Neues
Sieht man hier bei Frei-Entree
Das ›Dritte Reich‹ und sein lichtscheues
Gesindel am Franz-Josefs-Kai
Und haut die Wache mit dem Knüttel
Wie in die Arbeitslosen drein
In die Buben mit dem braunen Kittel
Das müsst ein reiner Zufall sein.
Rufe aus dem Publikum:
Und was sagt die SP zu dieser Schande im ›roten‹ Wien,
was tut der Schutzbund?
SP-Arbeiter: (naiv)
Dass der sich net rührt?
Antwort:
Er ist in ›Bereitschaft‹ verbarrikadiert
Und darf sich jetzt nicht rühren
Sonst hiess das provozieren.
Anfrage d. SP a. d. Regierung:
Wie? Ihr wollt den Film verbieten,
Der für den Frieden wirbt so sanft
Wollt Ihr nicht den Lämmle hüten,
Der im Film den Krieg zerstampft? …
Antwort:
Der Winkler hat’s verboten.
Rufe:
Und Seitz hat nichts gehört!
Daraufhin hat man im Kino
Zu spielen aufgehört.
[…]
(Eine Eisenbahn fährt vor) Auszug der Remarquexisten:
Ja, da fohrn mir halt nach Pressburg raus
Und machen uns nix draus
Wos mir net kennen z’Haus
Die Hitler-Buam mit Applaus
Zu fotzen aus dem roten Wean hinaus.
Quelle: Zentrales
Parteiarchiv der
KPÖ, C/1, K1, Ma
26, zitiert nach
Kanzler 1997,
S. 179.
Sowjet-Projektionen | 271
Film aufgeführt worden wäre.« Für den Autor der Roten Fahne war dies »nichts als
ein Freibrief für die Faschisten, auch in Zukunft mit einigen hundert ihrer Anhänger
die Arbeiter Wiens zu terrorisieren«. (RF 15.2.1931, S. 5) Im Rahmen einer politischen Faschingsfeier der »Arbeiterhilfe« in Bachlechners Saal in Wien-Ottakring gab
die KPÖ-Theatergruppe »Alarm« ihr Debüt mit einer von Hugo Rosenberg verfassten satirischen Szene über den »Remarque-Rummel«, welche die halbherzige
Politik der SP ins Lächerliche zog: Diese setzte dem Verbot wenig entgegen und
organisierte stattdessen Busfahrten nach Pressburg, wo der Film ungestört zu sehen
war (s. Textkasten).162
4. »Der Film im Dienste der Agitation!« – Kommunistische Filmarbeit vor dem
Verbot der Partei (1931–1933)
Aus dem Jahr 1931 datieren die beiden einzigen Filme, die im kommunistischen
Umfeld während der Ersten Republik produziert wurden. Es handelt sich um zwei
kurze auf 16 mm gedrehte Aufmarschfilme, die heute beide als verloren gelten.
ARBEITSLOSENAUFMARSCH – DER 25. FEBRUAR IN WIEN / DER HUNGERMARSCH AM 25. FEBRUAR IN WIEN (A 1931, P: Österreichische Arbeiterhilfe) war eine kurze Aktualität
mit einer Länge von 184 Metern (ca. 15 Min.),163 die den Wiener Aufmarsch zum
international ausgerufenen »Weltkampftag gegen die Arbeitslosigkeit« dokumentierte. Im Kontext der Verschärfung der Weltwirtschaftskrise versuchten die KP-nahen
Organisationen – wie ein zeitgenössischer Polizeibericht es ausdrückte – »die Arbeitslosenbewegung in das bolschewistische Fahrwasser zu leiten«.164 Auf den Transparenten stand »Für Arbeit und Brot!«, »Siebenstundentag und voller Lohn, wie in
der Sowjetunion!«, »Otto Bauers Theorie hilft den Arbeitslosen nie!«. Während die
Polizei von 2500 TeilnehmerInnen sprach, erging sich Die Rote Fahne in triumphalistischer Berichterstattung: »Der lange Elendszug auf der Ringstraße, der ungleich
162 Auch Kurt Landaus Filmbesprechung mündete in geharnischte Kritik an der Sozialdemokratie:
»Wiener Schutzbündler [müssen] nach der Tschechoslowakei fahren; Proletarier aus dem
Rheinland nach Frankreich, um das Gespenst des Krieges, um die Wahrheit über den Krieg zu
erfahren. […] Aber wenn sie die Greueltaten des Krieges sehen werden, sollen sie, dürfen sie
nicht vergessen, daß an diesem größten Verbrechen der Weltgeschichte auch die Sozialdemokratie mitverantwortlich ist. Und wenn sie die Lehren aus dem Film ziehen, müssen sie im
Auge behalten: Die Voraussetzung der Beseitigung des Krieges ist die Beseitigung des Kapitalismus und die Voraussetzung dieser Beseitigung des Kapitalismus ist die Beseitigung der blutbefleckten Sozialdemokratie aus der Arbeiterbewegung.« (Der neue Mahnruf, 1931, Nr. 1,
S. 8)
163 Die ÖAH reichte den Film gemeinsam mit dem sowjetischen Spielfilm DIE HAUPTMANNSTOCHTER
(UdSSR 1928) im März 1931 zur Zensur ein.
164 Polizeibericht über die »Kommunistische Bewegung in Oesterreich im ersten Halbjahre 1931«
vom 22.10.1931, ÖStA/AdR/BKA/Polizeidirektion Wien, Berichte 1931 (Karton 18), S. 8 f.
272 | Peter Grabher
Plakat der Österreichischen Arbeiterhilfe »Achtung! ›Proletarischer Film‹«, Helios-Kino, 18.4.1931
stärker als alle vorangegangenen Demonstrationszüge der Arbeitslosen der letzten
Jahre ist, zeigt besonders deutlich die starke Teilnahme der sozialdemokratischen
und parteilosen Arbeiter. […] Wenn ein Redner die Sowjetunion erwähnt, ertönen
Hochrufe auf das Land der proletarischen Diktatur, das keine Arbeitslosigkeit
kennt.« (RF 26.2.1931, S. 2) Die »Arbeiterhilfe«, die den Film produziert hatte,
führte ihn zwei Monate nach den gefilmten Ereignissen im Perchtoldsdorfer Kino
auf.165 Wer den Film gedreht und montiert hat, ist unbekannt, ebenso, ob der Film
auch Aufnahmen von der Menge enthielt, die vor der Geschäftsstelle der Unabhängigen Gewerkschaften in »Pfui-Rufe« und »lärmende Demonstrationen« ausbrach
und daraufhin von der Polizei »abgedrängt« wurde.166
Im Zusammenhang mit der 1.-Mai-Kundgebung desselben Jahres entstand ein
weiterer Schmalfilm mit dem Titel KAMPF-MAI 1931/DER 1. MAI IN WIEN (A 1931, P:
Filmkollektiv der KPÖ). Im Juni 1931 wurde dieser »Propagandafilm in 1 Akt« von
165 Gemeinsam mit den sowjetischen Filmen DIE BUCHT DES TODES und VON DER WOLGA BIS GASTONIA.
166 Polizeibericht 1931, S. 9 f.
Sowjet-Projektionen | 273
83 Metern Länge (ca. 8 Min.) dem Magistrat zur Begutachtung vorgelegt. Das
Parteiorgan der KP schrieb unter dem übertreibenden Aufmacher »Zehntausende
unter dem Sowjetbanner« über den Aufmarsch:167 Die »sozialdemokratischen Züge
muteten wie Trauerzüge an, während die kommunistischen Aufmärsche von Jugend
und Leben erfüllt und begeisterte, revolutionäre Kampfdemonstrationen waren.
[…] Transparente mit revolutionären Losungen, originelle Propagandaautos, große
Wagen mit Kindern, viele Jugendliche und Frauen fallen in unseren Zügen auf.«
Slogans waren »Im Roten Wien Hunger und Not, in der Sowjetunion Arbeit und
Brot!« sowie »Wollt ihr nicht krepieren, müßt ihr mitmarschieren!«. (RF 3.5.1931,
S. 1) »Wir sehen in diesem Film den Aufmarsch der revolutionären Jugend, die
Arbeiterwehr, wie sie trotz Verbot in Uniform aufmarschiert, die revolutionären
Sportler und die Opposition in der Sozialistischen Arbeiterjugend. Wir sehen die
Führer des revolutionären Proletariats als Redner bei der großen Kundgebung am
Freiheitsplatz.« (RF 12.7.1931, S. 8) Im Film, der »die Maidemonstration der Wiener Kommunisten in Wort und Bild an den Zuschauern vorüberziehen ließ« (RF
5.7.1931, S. 2), waren vermutlich auch das Auto mit Fünfjahresplandekoration und
der Wagen der IAH mit der Spieltruppe »Alarm« zu sehen, deren Fotos Die Rote
Fahne druckte.168
Im Juni 1931 wurde der Maiaufmarschfilm beim 11. und letzten legalen Parteitag
der KPÖ vorgeführt und als »eine neue Waffe in unserer Agitation« angepriesen (RF
30.6.1931, S. 2): »Erstmalig Schmalfilm: DER 1. MAI 1931« (RF 25.6.1931, S. 1).
»Zum ersten Male in der Geschichte der Partei konnten unsere Genossen das Produkt unserer eigenen Filmarbeit sehen und daß es gefallen hat, steht außer Zweifel.
[…] Die Beifallsstürme unserer Genossen zeigten, daß dieser erste Film trotz aller
kleinen Mängel bei den Zuschauern eine ungeahnte Wirkung auslöst, und daß mit
solchen Filmberichten die Lügen der sozialdemokratischen und bürgerlichen
Zeitungen über die Zahl der Teilnehmer an kommunistischen Demonstrationen auf
eine ganz besondere Art zerrissen werden können.« (RF 5.7.1931, S. 2) Tatsächlich
schwieg sich die SP-Presse konsequent über KPÖ-Aktivitäten aus. »Wir müssen bei
unserer Agitation alle Methoden ausnützen. Besonders der Film wird bei uns in der
nächsten Zeit im Zusammenhang mit der Politik der Gemeinde Wien ganz besondere Bedeutung finden.« (RF 12.7.1931, S. 8)
Der 11. Parteitag folgte Georgi Dimitroff, der nach dem Misserfolg der Wahlen
von 1930 die sektiererische Politik der KPÖ kritisiert hatte, und propagierte den
»Durchbruch zu den Massen«. Ein »Programm zur sozialen und nationalen Befreiung des österreichischen Volkes« wandte sich an ein breites Zielpublikum, vor
167 Laut Polizeibericht (S. 5) nahmen 2800 Menschen am Aufmarsch teil, in Graz 300, in Linz 50.
168 RF 10.5.1931, S. 12.
274 | Peter Grabher
allem an Bauern und Arbeitslose, auch an potenzielle WählerInnen rechter Parteien.169 Der 1.-Mai-Film wurde aus dieser Perspektive als neues Mittel der »Massenarbeit« gesehen: Er sei ein »große[r] Behelf für die Popularisierung der Losungen
und Ziele der Partei.« Die Rote Fahne informierte darüber, dass der Mai-Film »von
unseren Organisationen in Wien und in der Provinz zur Aufführung im Parteisekretariat angefordert werden« könne (RF 5.7.1931, S. 2). »Die Leichtigkeit des Transportes der ganzen Anlage,170 die zur Vorführung benötigt wird, und die Möglichkeit,
in jedem Raum zu spielen, ergibt ungeahnte Möglichkeiten für die Partei. Bis in das
fernste Gebirgsdorf können wir so mit unserer Agitation dringen und die Lügen
über das ›Rote Wien‹ zerreißen, wenn dieses Ressort ausgebaut wird.« (ebd.) Offenbar wurde der Film jedoch »trotz der Ankündigung […] sehr wenig angefordert«.
(RF 12.7.1931, S. 8)
Aus den erhaltenen Quellen ist nicht ersichtlich, welche AktivistInnen dieses »neue
Ressort« bildeten, das im Parteiorgan »unsere Filmagitpropabteilung« (RF 12.7.
1931, S. 8) und in den Zensurlisten »Filmkollektiv der KPÖ« genannt wurde. Die
Bezugnahme auf die Idee einer »kollektivistischen« Produktion sticht jedenfalls hervor. Die Hoffnung, durch die Aufführung der beiden Kurzfilme könne auch erreicht
werden, »daß neue Mittel aufgebracht werden, um die Filmkollektive auszubauen
und um neue Filme herzustellen und damit ein neuer Zweig unserer Agitation eingesetzt werden kann« (RF 12.7.1931, S. 8), sollte sich nicht mehr erfüllen.
Die mit chronischem Geldmangel kämpfenden Organisationen konzentrierten sich
weiter auf Filmvorführungen, die nun ganz im Zeichen des industriellen Aufbaus in
der Sowjetunion standen. Ein Polizeibericht urteilte etwa über die Situation der
»Arbeiterhilfe«: »Auch die Lage der […] sich als überparteilich bezeichnenden
›Oesterreichischen Arbeiterhilfe‹ ist keine günstige. Dieser Verein veranstaltete […]
mehrere Lichtbilder- und Filmvorführungen, um sich auf diese Weise Einnahmen zu
verschaffen. Die Veranstaltungen waren aber schlecht besucht (Höchstzahl 40 Besucher).«171 Schenkt man der Roten Fahne Glauben, traf jedenfalls Esfir Schubs Fünfjahresplanfilm KANONEN ODER TRAKTOREN (K.SCH.E. KOMSOMOL – SCHEF ELEKTRIFIKAZII,
169 Die Hauptpunkte dieses Programms waren die Sozialisierung von Banken, Industrie, Großhandel und Transport; Siebenstundentag und Arbeitsbeschaffungsprogramme; Streichung der
Schulden von Kleinbauern und »werktätiger Mittelbauern«; Enteignung der Großgrundbesitzer und der Kirchengüter und ihre Verteilung unter die landarmen Bauern und Landarbeiter;
»Annullierung der Raubverträge von St. Germain und Genf«; längerfristig Vereinigung mit
einem zukünftigen »Sowjetdeutschland«.
170 »Gleichzeitig wurde ein neuer Lichtbildapparat angeschafft, der in allen Sälen verwendet werden kann und die Bilder mit ganz besonderer Schärfe zeigt. Außerdem stehen noch einige andere Apparate zur Verfügung. In der letzten Zeit sind auch einige neue Lichtbildervorträge
zusammengestellt worden, so DER 1. MAI 1931.« (RF 12.7.1931, S. 8)
171 Polizeibericht 1931, S. 11.
Sowjet-Projektionen | 275
UdSSR 1930, P: Sowkino)172 über die
INDUSTRIELLE ENTWICKLUNG IN SOWJET-
– wie der Film im Untertitel hieß –
bei seiner österreichische Uraufführung auf »begeisterte Aufnahme«. (RF
17.5.1931, S. 8) Die »Arbeiterhilfe« hatte auch diesen Film aus Münzenbergs Verleih »Film-Kartell Weltfilm«173 bezogen und in Wien zur Zensur eingereicht. Die
kommunistische Agitation stützte sich auf die manichäische Vorstellung zweier
Welten, die seit der Weltwirtschaftskrise Ende 1929 immer weiter auseinanderdrifteten: Elend, Depression und Arbeitslosigkeit hier, Aufbau des Sozialismus im
Rahmen des ersten Fünfjahresplanes im kommunistischen »Sechstel der Erde«. KANONEN UND TRAKTOREN bebilderte diese Perspektive: »In der Welt des Kapitalismus
Bau von Kanonen; in der des Sozialismus Bau von Traktoren. In der einen Aufmarsch der bewaffneten Reaktion, der Ausdruck der bürgerlichen Demokratie; in
der anderen Aufmarsch der bewaffneten Arbeiterschaft, der Ausdruck der Diktatur
des Proletariats.« (ebd.) Die jeweiligen Bilder wurden vom Publikum im Wiener
Kosmos-Kino mit Beifall bzw. Pfuirufen quittiert.
Von den Filmaktivitäten im KPÖ-Umfeld existieren keinerlei Fotos, allein die
gezeichnete Darstellung einer Filmveranstaltung der »Roten Hilfe« am 14.11.1931
ist erhalten: Der junge Maler und Grafiker Wilhelm Traeger (1907–1980) skizzierte
1932 mit feinem Strich das Interieur des Wiener Lehner Kinos, wo Grigori Roschals
SCHLOSS SKOTIN (GOSPODA SKOTININY, UdSSR 1926, G. Roschal, P: Sowkino)174 in
einer Nachtvorstellung ab 23 Uhr vor spärlichem Publikum aufgeführt wird. Im
Kinosaal in der Mariahilfer Straße 196 hängen Transparente: »SCHLOSS SKOTIN.
Nachtvorstellung der Intern. Roten Hilfe« und »Tretet bei!«. Der angekündigte
Film, Roschals175 erster Spielfilm nach einem satirischen Stück des russischen Aufklärers Denis Fonwisin über die moralische Verkommenheit des Landadels, hat
noch nicht begonnen. Vor der Leinwand ist die gestikulierende Figur eines Redners
RUSSLAND IM VERGLEICH ZU ANDEREN LÄNDERN
172 Österr. Zensurlänge: 2105 Meter.
173 Vgl. dazu Babette Gross, Willi Münzenberg. Eine politische Biographie, Stuttgart 1967, S.
188: »Für den Filmverleih an Arbeiterorganisationen hatte Münzenberg 1928 eine weitere
Gesellschaft, die ›Weltfilm‹, gegründet. Ihrem ersten Leiter, einem von der Tuberkulose
gezeichneten jungen Arbeiterfunktionär aus Berlin-Moabit, Erich Heintze, gelang es innerhalb
kurzer Zeit, den Filmverleih an alle Arbeiterorganisationen, Kultur- und Sportverbände
zusammenzufassen. Münzenberg sicherte der ›Weltfilm‹ durch einen Vertrag mit Moskauer
Filmproduzenten das Monopol einer damals erfundenen technischen Neuerung, die es ermöglichte, Normalfilme auf Schmalfilme umzukopieren. Erst mit dieser Erfindung konnten Filme
auch in den kleinsten Dörfern vorgeführt werden. Später übernahm Emil Unfried die
›Weltfilm‹. In Münzenbergs Auftrag gründete er ›Weltfilm‹-Filialen in den meisten europäischen Ländern, in denen die IAH Organisationen besaß.« In Österreich wurde erst nach dem
wirtschaftlichen Ende der »Weltfilm« versucht, eine solche aufzubauen (s. weiter unten). Der
große Organisator Willi Münzenberg war bei Veranstaltungen der ÖAH fallweise durch
Schallplattenvorträge präsent, etwa bei einem »Solidaritätstag« am 14.6.1931.
174 Österr. Zensurlänge: 2250 Meter, Einreicher: Newa.
276 | Peter Grabher
Zeichnung »Nachtvorstellung der IRH«, Wilhelm Traeger, 1932
175 Roschal drehte 1928 einen Film mit Österreich-Bezug: DER SALAMANDER (SALAMANDRA, P:
Meshrabpom) nach der Lebensgeschichte des österreichischen Biologen Paul Kammerer.
Anatoli Lunatscharski hatte diese Produktion persönlich unterstützt, am Drehbuch mitgeschrieben und auch eine Rolle übernommen. Paul Kammerer hatte als Biologe Aufsehen erregt,
weil er behauptete, die Vererbung von erworbenen Eigenschaften nachgewiesen zu haben. Die
New York Times bezeichnete ihn als »nächsten Darwin«, und die Moskauer Akademie der
Wissenschaften betraute ihn 1926 mit dem Aufbau eines Instituts für Experimentalbiologie.
Im selben Jahr beging Kammerer Selbstmord, nachdem ihm die Fälschung seiner Ergebnisse
vorgeworfen worden war. Vgl. dazu auch Arthur Koestler, Der Krötenküsser. Der Fall des
Biologen Paul Kammerer, Wien/München/Zürich 1972 (Originalausgabe 1971: The Case of
the Midwife Toad). In Deutschland wurde der von der »Prometheus« vertriebene Film verboten, in Österreich wurde er nie gezeigt.
Sowjet-Projektionen | 277
zu erkennen. Traegers gezeichnete Momentaufnahme ist völlig frei vom Triumphalismus, den Berichte in KP-Medien über eigene Veranstaltungen oft prägten. Er
sympathisierte vermutlich mit den Zielen der »Roten Hilfe«, war jedoch nicht
Mitglied der KPÖ. Während seines Studiums an der Wiener Akademie der bildenden
Künste und der Technischen Hochschule fertigte Wilhelm Traeger zahlreiche sensible Skizzen vom ArbeiterInnenalltag in Zeiten der Wirtschaftskrise, die ihn als einen
der wichtigsten grafischen Dokumentaristen der Ersten Republik ausweisen.
Ein Artikel der Aktivistenzeitung Der Oe.-A.-H.-Funktionär vom Jänner 1932 wirft
Licht auf organisatorische und finanzielle Probleme von Filmvorführungen im KPUmfeld (S. 7): »Diese müssen besser und gründlicher organisiert werden. Durch
eine flüchtige Organisierung, ohne entsprechende Kontrolle zeitigen sie ein Defizit,
anstatt eines Reingewinns, den wir für unsere Propagandaarbeit dringend brauchen.
Wo sollen wir das Geld für Porto, Richtlinien und all das Propagandamaterial hernehmen, wenn die Ortsgruppen nicht gute, finanziell ergebnisreiche Veranstaltungen
organisieren. Daher, mehr Gründlichkeit bei Organisierung der Kinoveranstaltungen und Berücksichtigung der diesbezüglichen Ratschläge der Zentrale. Die Ausgaben
der Zentrale müssen bei Kinoveranstaltungen unbedingt gedeckt werden. Die Zentrale ist sonst nicht imstande, Filme zu besorgen, die sie bezahlen muß. Defizite
müssen bei den nächsten, besser gemachten Veranstaltungen hereingebracht werden
und dürfen nicht auf die Zentrale abgewälzt werden. Wo soll die Zentrale das Geld
hernehmen, um die Defizite sämtlicher Ortsgruppen zu decken? Die Kinoabrechnungen müssen auch sofort erfolgen. Die Zentrale muß Druckkosten und Filmleihgebühr zahlen können. Daher, im eigenen Interesse, um wieder Veranstaltungen
machen zu können, nicht mahnen lassen, sondern sofort abrechnen!«
Auch die Filmarbeit des 1928 gegründeten »Bundes der Freunde der Sowjetunion«
stand ganz im Zeichen der Fünfjahresplan-Propaganda. Der »Bund« gab die Zeitschrift Der Sowjetfreund heraus und organisierte der Sowjetunion gewidmete Vorträge, Kongresse, Ausstellungen176, Filmvorführungen sowie im Jahr 1931 auch eine
Delegation ins »Arbeiterparadies«. Die Arbeiter-Zeitung bezeichnet den Bund als
»Neuauflage der bekannten Klubs der Harmlosen«, die »unter falscher Flagge«177 die
Parteigeschäfte der Kommunisten betrieben und verbot ihren ParteigenossInnen ab
1931 die Mitgliedschaft beim »Bund«. Dessen Vereinsstatuten nannten als Vereinzweck Maßnahmen »gegen imperialistischen Krieg« (gegen die UdSSR) und »Solida-
176 1931 wurden zwei Ausstellungen organisiert: »Kunst und Alltag in der Sowjetunion« in der
Neuen Galerie (RF 30.5.1931, S. 5) und eine Fotoausstellung über »Das Land des sozialistischen
Aufbaues«. (RF 25.7.1931, S. 2)
177 Zitiert nach Reisberg, Parteichronik der KPÖ, Jahresmappe 1929.
278 | Peter Grabher
rität mit dem wirtschaftlichen und kulturellen Aufbau der Sowjetunion«. Dieser
sollte u. a. durch »Propaganda in öffentlichen Versammlungen, vermittels Lichtbild- und Filmvorträge[n]« erreicht werden.178 Vorsitzende des »Bundes der Freunde
der Sowjetunion« waren Marie Frischauf, die auch von Beginn an in der österreichischen Sektion der »Arbeiterhilfe« leitend tätig war, sowie Gisela Beer-Angerer.
Weitere Vorstandsmitglieder waren Johannes Wertheim, Julius Farkas, Martha
Nathanson, Josef Weidenauer, Isidor Fassler, Eduard Fliegel u. a. Bis zu seinem Verbot 1933 führte der »Bund« zahlreiche Filmvorführungen durch.179 Zentral für
die Filmarbeit der »Sowjet-Freunde« war der Kulturfilm ERBAUER DES SOZIALISMUS
(P: Intorgkino Moskau),180 den Ing. Julius Reis im Juli 1931 beim Magistrat eingereicht hatte.
Am 14.11.1931 organisierte der »Bund« im Weltbild-Kino die »Allein- und Uraufführung« dieses »neuesten grandiosen Sowjetrussischen 5-aktigen Großfilms«
über das »Fünfjahrplan-Land ohne Arbeitslose«.181
Wenige Tage nach dieser Aufführung erlebte Wien den Besuch des sowjetischen
Volkskommissars für das Bildungswesen, Anatoli Lunatscharski. Nach einem Vortrag
am 26.11.1931, den er auf Einladung der »Gesellschaft zur Förderung der geistigen
178 WStLA/M.Abt. 119: A32, Gelöschte Vereine/1920–1974 – 983/1929: Bund der Freunde der
Sowjetunion.
179 Plakate in der Plakatsammlung der ÖNB belegen dessen Filmaktivität, z. B.: Bund der Freunde
der Sowjetunion, Zahlstelle Wien II am 25.2.1933 im Helios-Kino (»DIE ANDERE SEITE. Ein
100prozentiger Tonfilm mit Konrad Veidt. Ein Anti-Kriegsfilm voll wuchtiger dramatischer
Stärke, den jeder sehen soll.«), am 18.3.1933 im Helios-Kino (»DIE WEBER. Der große soziale
Meisterfilm nach Gerhart Hauptmanns weltberühmtem Drama, den auch Sie unbedingt sehen
sollen.«) sowie Bund der Freunde der Sowjetunion, Zahlstelle Wien XX am 13.5.1933 im
Friedensbrückenkino (»Zwei Filme in einer Vorstellung. […] Sie sehen die zwei bedeutendsten
Filme, die je gezeigt wurden: POTEMKIN und TURKSIB.«); Anmelder war jeweils Johannes Wertheim.
180 Österr. Zensurlänge: 1993 Meter.
181 Plakat in der Plakatsammlung der Österreichischen Nationalbibliothek. Beim 3. Kongress des
»Bundes« im Juni 1932 wurde als eines von zahlreichen Zielen der Organisation die »zwanzigmalige Aufführung unseres Filmes ERBAUER DES SOZIALISMUS, bzw. eine je dreißigmalige neueintreffender Filme« beschlossen. Die Fünfjahresplan-Filme illustrierten, was die Schlussresolution des Kongresses auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise festhielt: »In Österreich
wurde der letzte Hochofen ausgeblasen, in der Sowjetunion soeben der hundertste angeblasen.«
Resolution des 3. Kongresses des »Bundes der Freunde der Sowjetunion« vom 22.6.1932 (ÖStA/
AdR/BKA, Signaturenreihe, GZ 15-Wien/182.670/32, Karton 2409).
182 Die »Gesellschaft zur Förderung der geistigen und wirtschaftlichen Beziehungen mit der
U.S.S.R.« war 1925 gegründet worden und kooperierte mit der russischen »Gesellschaft für
kulturelle Verbindung der Sowjetunion mit dem Auslande«. Sie war im Vergleich zum »Bund«
weniger KP-nahe ausgerichtet. Vorstandsmitglieder waren 1929 u. a. Josef Marx (Obmann),
Walter Schiff, Moritz Schlick, »Frau Dr. Alfred Adler« und der Rechtsanwalt Armand Eisler, ein
Onkel der kommunistischen Geschwister Hanns, Gerhart und Elfriede Eisler. Neben der Organisation von Vorträgen und der Einladung russischer Künstler und Wissenschaftler gehörten
auch Filmveranstaltungen und der Verleih russischer Kulturfilme zur Tätigkeit der »Gesellschaft«: 1930 reichte sie Viktor Turins TURKSIB (UdSSR 1929) und 1931 Lidija Stepanowas
GIGANT (SOWCHOSE GIGANT, UdSSR 1929) beim Magistrat zur Begutachtung ein.
Sowjet-Projektionen | 279
und wirtschaftlichen Beziehungen mit der U.S.S.R.«182 im Wiener Musikvereinssaal
hielt183, sprach er am darauf folgenden Abend auf Einladung des »Bundes der Freunde der Sowjetunion« in den Sophiensälen über »Kunst und Kultur in der Sowjetunion«184. Die persönliche Anwesenheit des legendären Kulturkommissars scheint
den Effekt mancher »Russenfilme« noch übertroffen zu haben: »Man muß diesen
Saal mit den begeisterten Menschen gesehen haben, diese hoffnungsvollen Augen,
die sich an den Mund des Redners hefteten, um eine Ahnung von jener tiefen Umschichtung zu bekommen, jener Umschichtung, die sich heute in den Herzen und
Gehirnen der breiten Massen vollzieht.« (RF 28.11.1931, S. 4) Unter dem Titel
»Wir schmieden den neuen Menschen« druckte Die Rote Fahne Auszüge aus dem
Vortrag ab. Lunatscharski unterschied den »streitenden« Sozialismus von einem
kommenden »triumphierenden«: »Wir sind der Ansicht, daß der Sozialismus in der
Hauptsache und im wesentlichen in unserem Lande wirtschaftlich, und nicht nur
politisch, bereits gesiegt hat. […] Aber der absolute Abschluß des Sozialismus, der
zum Absterben des Staates, des Heeres führen wird, ist gewiß nur in internationalem Maßstabe möglich.« Auch in künstlerischen Dingen müsse die zukünftige
»größte individuelle Freiheit« einstweilen aufgeschoben werden: »Gegenwärtig arbeitet bei uns für die Ewigkeit nicht jener Künstler, der bestrebt ist, etwas formell
Schönes oder raffiniert Individuelles zu schaffen, sondern derjenige, der es versteht,
sein Talent und seine Technik durch die großen Gedanken und Leidenschaften des
Tages zu beleben und zu erhöhen.« (RF 29.11.1931, S. 5) Lunatscharski präsentierte hier Stalins Doktrin, derzufolge mit dem 1. Fünfjahresplan das Fundament für
die klassenlose Gesellschaft bereits gelegt war. Auf dem Weg zum »sozialistischen
Realismus« wurden alle avantgardistischen und operativen Konzeptionen einer
»proletarischen Klassenkunst« zurückgedrängt.185
Zur selben Zeit brachte die sozialdemokratische »Kiba« den als ersten sowjetischen
Tonfilm beworbenen Film DER WEG INS LEBEN (PUTJOWKA W SHISN, UdSSR 1931,
Nikolai Ekk, P: Meshrabpom)186 in die Kinos – einen Film, der die Möglichkeit, den
»neuen« sozialistischen Menschen zu formen, an einer Gruppe verwahrloster
Jugendlicher – sogenannter »Besprisornys« – zu illustrieren suchte. Am 29.11.1931
kam es im Wiener Sascha-Kino-Palast zu einer Aufsehen erregenden Diskussion
über den Film. Das Podium war brisant besetzt: Neben Anatoli Lunatscharski nahmen Vertreter katholischer und sozialdemokratischer Erziehungs- und Fürsorgeorganisationen sowie der Leiter der Bundeserziehungsanstalt in Kaiser-Ebersdorf, Arthur
Seyß-Inquart, teil, der bereits 1931 enge Kontakte zur NSDAP unterhielt und im
März 1938 erster Kanzler einer österreichischen nationalsozialistischen Regierung
wurde. DER WEG INS LEBEN, der größte kommerzielle Erfolg der »Meshrabpom«, war
der einzige »Russenfilm«, den die sozialdemokratische »Kiba« selbst zur Zensur
eingereicht und vertrieben hat.187
Die Rote Fahne hatte wiederholt beklagt, dass in den Kinos der »Kiba« keine
sowjetischen Filme, sondern zahlreiche reaktionäre Ufa-Filme gezeigt würden. Die
Parole lautete: »Heraus mit den Russenfilmen!« (RF 26.7.1931, S. 8)188 Die Rote
Fahne kritisierte, dass die »Scala« ausgerechnet mit dem »Schmarren« DER KONGRESS
TANZT (D 1931, Eric Charell, P: Ufa) eröffnet wurde und nahm Fritz Rosenfeld ins
Visier: »Herr Rosenfeld, der Filmkritiker der Arbeiter-Zeitung, kann gar nicht genug Filme der Ufa verreißen, allerdings wenn sie nicht in Kibakinos gespielt werden,
wohl, um nicht das Parteiunternehmen finanziell zu schädigen. […] Das sind die Kulturtaten der SP., damit will sie die Arbeiter im sozialistischen Sinn erziehen. Daraus
kann man am besten die Verspießerung dieser Arbeiterpartei erkennen. Wir revolutionären Arbeiter müssen uns dagegen zur Wehr setzen und von den Kinos verlangen, daß sie dem Arbeiterpublikum Russenfilme vorführen!« (RF 6.10.1931,
S. 7) Schließlich, »nachdem wir wochenlang getrommelt haben«, habe »sich endlich die ›Kiba‹ entschließen müssen, das Kunstwerk des Sowjettonfilms, den WEG INS
LEBEN, im Sascha-Palast aufzuführen«. (RF 10.11.1931, S. 5) Die KP-Zeitung ätzte
jedoch, dass als Vorfilm eine Wochenschau gezeigt wurde, in der u. a. Ausschnitte
aus einer Rede Mussolinis zu sehen waren: »Es scheint sehr nahe liegend, daß man
›des Ausgleichs halber‹ die schlimmsten reaktionären Geister damit ›beruhigen‹ will.
183 Vgl. dazu RF 26.11.1931, S. 3.
184 Der Roten Fahne zufolge fand der Vortrag »vor einem wesentlich anderen Publikum als der
erste statt. Wohl waren Parkett und Galerien – wenn dies möglich war – noch dichter gefüllt als
im Musikvereinssaal. Aber die Zuhörer waren in ihrer überwiegenden Mehrheit Arbeiter und
werktätige Intellektuelle, die die Ausweglosigkeit bürgerlicher und sozialdemokratischer Plauderer
am eigenen Leib erfahren haben. Demgemäß war die Stimmung. Als der Genosse Lunatscharski
den Saal betrat, wurde er mit brausenden Rot-Front-Grüßen empfangen. Die Begeisterung legte
sich während des ganzen Vortrages nicht, sondern sie wich höchstens einer atemlosen Spannung,
die sich am Schluß in nicht endenwollenden Beifallsstürmen für den Verkünder des grandiosen
Geschehens auf einem Sechstel der Erde auflöste.« (RF 28.11.1931, S. 4)
185 Vgl. Kanzler 1997, S. 197.
186 Österr. Zensurlänge: 2900 Meter.
187 Seit 1931 war dem Unternehmen ein Verleih angeschlossen.
188 In dem Artikel heißt es weiter: »In Deutschland laufen eine ganze Reihe hochklassiger russischer Filmwerke, wie z. B. ERDE, FEUERTRANSPORT u. a., die uns Proleten weit mehr interessieren als etwa TANZHUSAR oder DIE GROSSE ATTRAKTION und ähnliches. Genossen, in vielen deutschen Städten haben die Arbeiter durch Delegationen zu den Kinobesitzern und offene Proteste
bei Schundveranstaltungen erwirkt, daß tatsächlich russische Filme in entsprechender Folge
aufgeführt werden. Dieses Beispiel unserer deutschen Genossen müssen auch wir anwenden
und mit aller Beharrlichkeit gegen all den bürgerlichen Gehirnkleister auf der Leinwand protestieren. Genossen, verlangt von den Kinobesitzern in den proletarischen Bezirken, daß sie
Russenfilme spielen. Ihr habt ein Recht, für euer Geld auch wirkliche proletarische Kunst zu
fordern. Heraus mit den Sowjetfilmen!«
280 | Peter Grabher
Sowjet-Projektionen | 281
Die ›Kiba‹ will damit beweisen, daß sie durchaus nicht bolschewistisch angehaucht
ist. […] Nach gut ›demokratischer‹ Art natürlich, ganz so wie es Sozialdemokraten
tun, die es sich mit niemandem verderben wollen. […] So gab es auch am Sonntag
bei der letzten Vorstellung lebhafte Demonstrationskundgebungen gegen die faschistische Propaganda. Die ›Kiba‹ wird gut daran tun, wenn sie den Arbeitermörder
Mussolini kassiert, falls sie auf den Besuch von Proleten Wert legt.« (ebd.)
Empörte sich Die Rote Fahne über die »Kiba«, gestand sie damit indirekt ein,
dass es im kommunistischen Umfeld keinerlei Strukturen gab, die in der Lage gewesen wären, »Russenfilme« in den Verleih zu nehmen und großflächig zu distribuieren. Selbst der in Berlin gegründete linke »Volksfilmverband« wandte sich eher
an die sozialdemokratische »Zentralstelle für das Bildungswesen«, um seine Produktionen in Wien zu präsentieren.189 Auch für Willi Münzenbergs »Prometheus«
war die Wiener »Kiba« kommerziell interessanter: Mit der »Arbeiterbank« verhandelte er 1931 einen Vertrag, der sie zum »Verleih und Vertrieb russischer Filme für
Österreich, Jugoslawien und die Balkanstaaten berechtigt(e)«190. Dass die »Kiba«
allerdings kaum solche Filme ins Kino brachte, hatte einerseits mit der kommerziellen Ausrichtung der Firmenleitung zu tun, andererseits mit dem Bankrott von
Münzenbergs Unternehmen im Jänner 1932. Ein weiteres Problem war die im Verhältnis zum Westen verzögerte Umstellung der sowjetischen Filmproduktion auf
den Tonfilm. Aus diesem Grund bestand ein Mangel an kommerziell interessanten
Filmen aus der Sowjetunion für die gerade auf Ton umgerüsteten Kinos.191
189 Vgl. etwa RF 19.5.1929, S. 8: Unter dem Titel »Filmkritik und Arbeiterpresse. Zwei proletarische Filme« beschwerte sich der Filmredakteur der Roten Fahne darüber, dass er zu einer von
der »Bildungszentrale« organisierten Vorführung von Phil Jutzis HUNGER IN WALDENBURG (D
1928/29) und Albrecht Viktor Blums und Leo Lanias IM SCHATTEN DER MASCHINE (D 1928)
nicht eingeladen worden war. Die sozialdemokratische »Bildungszentrale« betrieb einen der
größten linken Filmverleihe europaweit. Seit 1930 setzte sie verstärkt auf das praktische 16mm-Schmalfilmformat. Die Filmverleihungen gingen jährlich in die Tausende. Nach 1927
schwand jedoch der Anteil von politischen »Propagandafilmen« zugunsten von »Unterhaltungsfilmen« und »populärwissenschaftlichen Filmen« kontinuierlich: 1931 etwa waren es bei
den Normalfilmen nur noch 8,8% aller 2097 Filmvermittlungen, bei den 4737 verliehenen 16mm-Filmen nur noch 18,6% (Josef Weidenholzer, Bildungs- und Kulturarbeit der österreichischen Sozialdemokratie in der ersten Republik, Wien 1977, S. 319). Die weitaus größere Dimension der sozialdemokratischen Filmvermittlungsaktivitäten wird daraus jedoch ganz deutlich. Die Verleihungen fanden überwiegend im Netzwerk sozialdemokratischer Organisationen
statt, während in den »Kiba«-eigenen Kinos kaum mehr nach politischen Kriterien programmiert wurde.
190 Dagmar Helmreich, Film- und Kinopolitik der sozialdemokratischen Bewegung in Österreich
in der 1. Republik, Diplomarbeit, Universität Wien 1992, S. 73.
191 1931 waren von den insgesamt 96 in der UdSSR produzierten Langfilmen erstmals einige vertont (11). 1932 waren von 74 Filmen 18 Tonfilme. 1933 sank die sowjetische Filmproduktion
auf einen historischen Tiefstand: Von nur mehr 29 produzierten Filmen waren 13 Tonfilme.
Nach Bernard Eisenschitz (Hg.), Lignes d’ombre. Une autre histoire du cinéma soviétique
(1926–1968), Mailand 2000, S. 197 f.
282 | Peter Grabher
Trotz des Vertrags zwischen »Kiba« und »Prometheus« war es die »Österreichische
Arbeiterhilfe«, die Phil Jutzis »Prometheus«-Produktion MUTTER KRAUSENS FAHRT
INS GLÜCK (D 1929)192 in den Verleih nahm. Sehr spät, Anfang 1932, fand er in
Österreich kaum mehr die Öffentlichkeit, die dieser Film – einer der wenigen »proletarischen« Spielfilme aus Deutschland – verdient hätte. Die Rote Fahne kündigte
ihn nur in einem kleinen Artikel an: »Dieser Film spielt im roten Wedding in Berlin,
dem Schaffensgebiet des Meisters Zille.« Er »zeigt in bisher nie gewagter Offenheit
das Proletarierelend: Wohnungsnot, Vergewaltigung durch Bettgeher, Trunksucht,
Kneipenleben und Verbrechertum. Ausweg der einen: Flucht aus dem Leben, der
anderen: in einheitlicher Front Kampf gegen die Ursache des Elends, den
Kapitalismus.« (RF 22.1.1932, S. 7) Seine österreichische Uraufführung erlebte der
Film am 23.1.1932 um 23 Uhr im Wiener Kosmos Kino in der Siebensterngasse
ohne größeres Presseecho. Es war dies der letzte Film, den die »Österreichische
Arbeiterhilfe« vor ihrer polizeilichen Auflösung im Juni 1932 zur Zensur einreichte.193 Bereits seit der zweiten Jahreshälfte 1931 waren die kommunistischen Organisationen mit verstärkter behördlicher Repression konfrontiert. Seit September
1931 galt für sie praktisch ein Demonstrationsverbot, am 23.9.1931 war der kommunistische »Verband der Proletarierjugend Österreichs« verboten worden.
Der Einsatz von Wahlfilmen im Kontext der letzten Wahlen der Ersten Republik,
der Landtags- und Gemeinderatswahlen im April 1932, wurde erneut von Polemiken begleitet: In der Rubrik der Roten Fahne »Proleten schreiben …« kritisierte
ein »Arbeiterkorrespondent« DIE VOM 17ER HAUS (A 1932, Artur Berger, P: Allianz)194 als »Wahl(schwindel)film der SP«: »Wir sind gewohnt, daß Filme mit der
Wirklichkeit nichts zu tun haben. Auch dieser Wahlfilm zeigt nicht das wirkliche
Leben mit seiner Not, seinem Elend. Kein Bild von den Proleten der Wanko-Mistgstetten, nichts von den 4000 Obdachlosen von der Gänsbachergasse. Wie man auf
den Fürsorgeämtern die Armen statt mit Unterstützungen mit dem Gummiknüppel
der Gemeindewache abspeist. Nichts von Barackenlagern, Wassersuppen, Zinswucher,
192 Österr. Zensurlänge: 3297 Meter (= OL).
193 Die ÖAH organisierte jedoch weiter Filmveranstaltungen, auch in den Bundesländern. Vorgeführt wurden in Nachtvorstellungen etwa GIGANT, »der in prächtigen Bildern die Fortschritte des Sozialismus auch in der Landwirtschaft zeigt« (Kosmos Kino), DER LEBENDE LEICHNAM (Kalvarienberg-Kino) und im Michelbeuren-Kino den »große(n) Fünfjahresplan-Film KANONEN ODER TRAKTOREN, der sich der größten Popularität erfreut«, »nachdem die ursprünglich
angesetzte Vorstellung von der Gemeinde in Durchführung des Winkler-Erlasses verboten worden war«. (RF 3.9.1931, S. 5) Im Helios-Kino zeigte die ÖAH MENSCHEN AM SONNTAG und AUF
DEN HUND GEKOMMEN (RF 25.10.1931, S. 9). DER LEBENDE LEICHNAM wurde auch im Welser
Kino Patri aufgeführt (RF 11.9.1931, S. 7), GIGANT in Traisen (RF 27.9.1931, S. 11).
194 Österr. Zensurlänge: 1850 Meter. Zu DIE VOM 17ER HAUS siehe den Aufsatz von Vrääth Öhner
in diesem Band.
Sowjet-Projektionen | 283
Delogierungen usw. Nichts davon, dass die sozialdemokratischen Führer für die
Stützung der Credit-Anstalt gestimmt haben und so das furchtbare Elend über uns
gebracht haben. Der ganze Wahlfilm ist eine demagogische Ausnützung der Gemeindebauten. Es ist wahr, es gibt in Wien Gemeindebauten, aber die Wohnungsnot
ist nicht geringer geworden. Und rundum wie in den Gemeindebauten nisten
Hunger und Not wie noch nie. Wer das wirkliche Wien kennt, fällt auf diesen
Wahlschwindel nicht hinein und wählt kommunistisch. Denn nur der Kommunismus kann Wien zu einer wirklich sozialistischen roten Stadt machen.« (RF 9.4.
1932, S. 7) Am folgenden Tag brachte Die Rote Fahne unter dem Titel »Die Leut’
vom … Haus. Nichtgedrehte Bilder des sozialdemokratischen Wahlfilms« Berichte
über Wohnungselend in Ottakring, die mit Fotos von Familien in überfüllten Wohnungen illustriert waren. (RF 10.4.1932, S. 9)195
Der Filmeinsatz der KPÖ im Wahlkampf fiel dagegen bescheidener aus: Bei einem
Kongress der Roten Fahne in den Sophiensälen, zu dem Genosse Hexmann die
Parole »Nicht das Dritte Reich, die Dritte Internationale wird die Rettung sein!«
ausgab, wurde spätabends noch Friedrich Ermlers DER MANN, DER DAS GEDÄCHTNIS
VERLOR (OBLOMOK IMPERII, UdSSR 1929, P: Sowkino Leningrad)196 vor einigen hundert Zuschauern vorgeführt. Die »Proletarische Filmstelle der KPÖ« hatte den
stummen Schmalfilm zur Zensur eingereicht und an sein Ende einige Titel mit Losungen montiert, die dazu aufriefen, kommunistisch zu wählen. Der Film erzählt die
Geschichte eines Mannes, der im Weltkrieg das Gedächtnis verliert und es erst in
Zeiten des 1. Fünfjahresplanes wieder erlangt: »Und mit den Augen dieses Arbeiters, der die Bedingungen zaristischer Ausbeutung gewohnt ist, sehen wir dann […]
die gewaltige Veränderung, welche seit dem Jahre der Revolution vor sich gegangen
ist.« (RF 8.5.1932, S. 10) Diese Charakterisierung des Films, die Ermlers innovative
filmische Darstellung der Innenwelt seines Protagonisten auf politische Schablonen
reduzierte, war typisch für den Umgang mit Spielfilmen im KPÖ-Umfeld. Eine
Schmalfilmkopie wurde in der Folge von der Parteileitung verliehen: »Wir fordern
insbesondere die Provinzorganisationen auf, sich mit der Zentrale wegen dieses
Filmes in Verbindung zu setzen, da sie mit dessen Aufführung ein wichtiges Stück
revolutionäre Propaganda zu leisten imstande sind.« (ebd.)
195 In derselben Ausgabe wurde kritisiert, dass »der Staat die Wahlpropaganda der ›roten‹ Gemeinde (subventioniert)«. (S. 11) Der »Allianz«-Kulturfilm 1922–1932 war vom Gemeinderat
mit 21.000 Schilling unterstützt worden. Die Rote Fahne bezeichnete die Brüder Hamber als
»sozialdemokratische Profitmacher« und »Lieblinge der Parteibonzen« und stellte einen Korruptionsverdacht in den Raum: »Schon wiederholt wurden Mahnungen der Parteileitung zur
Kenntnis gebracht, Beschuldigungen über private Geschäfte auf dem Rücken der ›Kiba‹ wurden erhoben, sonderbare Zusammenhänge zwischen der Allianzfilm (der Privatfirma der
Hambers, Hersteller des Wahlfilms) und ›Kiba‹ aufgedeckt, Provisionsgeschäfte vorgeworfen,
ohne dass die Parteileitung sich darum gekümmert hätte.«
196 Österr. Zensurlänge: 899 Meter (16 mm).
284 | Peter Grabher
Aus der Wahl ging die KPÖ relativ gestärkt hervor. Sie verdoppelte ihre Stimmen
auf 40.000, obwohl sie aus organisatorischen Gründen vielerorts nicht kandidieren
konnte. Bereits Ende 1931 hatte ein Bericht der Bundespolizeidirektion an den Bundeskanzler vermerkt, dass die KPÖ »durch die gegenwärtige katastrophale wirtschaftliche Lage unterstützt […] in der letzten Zeit nicht zu unterschätzende Erfolge
erzielt und einen nicht unbedeutenden Mitgliederzuwachs zu verzeichnen« habe.197
Auffallendstes Ergebnis der Wahl war jedoch der Erfolg des österreichischen Zweigs
der NSDAP, die allein in Wien von 27.500 auf über 200.000 Stimmen zulegte und
mit einer starken Fraktion in den Wiener Gemeinderat einzog. Die Auseinandersetzungen mit den Nazis, die den öffentlichen Raum zunehmend durch Aufmärsche
und Filmpropaganda zu vereinnahmen versuchten, hatten seit 1931 an Härte zugenommen.
Die Losungen des KPÖ-Aufmarsches am 1. Mai 1932 waren denn auch vom Pathos
einer historischen Alternative zwischen »Dritter Internationale« und »Drittem Reich«
geprägt: Auf den Transparenten dominierten Solidaritätsaufrufe für die Sowjetunion
(»In Österreich – Hunger und Not. In Sowjetrußland – Arbeit und Brot«) und militante antifaschistische Slogans (»Gegen die braune Mordpest – Hinein in die Arbeiterwehr«). Trotz der Ankündigung der Roten Fahne, dass »die proletarische Filmstelle […] die Maifeier der Partei, Anmarsch der Kreise, das Massenmeeting und
den Marsch über die Ringstraße gefilmt« habe, finden sich in der Folge keinerlei
Spuren eines solchen Filmes, der dem KP-Zentralorgan zufolge »die wachsende
Bedeutung der Kommunistischen Partei und das lebendige Bild der Demonstration
wiedergeben« sollte. (RF 3.5.1932, S. 1) Es ist unklar, ob tatsächlich Filmaufnahmen
»in verschiedenen Parteiveranstaltungen zu sehen« waren. »Nähere Ankündigungen
des Films«, die »demnächst« (ebd.) erscheinen sollten, finden sich jedenfalls keine.
Umso interessanter ist, dass sich Aufnahmen des Aufmarsches in verschiedenen
Ausgaben sowjetischer Wochenschauen wiederfinden198: Zwei Ausgaben des SOJUSKINO JOURNAL (Zweiwöchentliches Journal Nr. 11, 60,9 Meter; Journal Nr. 10, 50,7
Meter) sowie eine Ausgabe des SOVKINO JOURNAL (Nr. 23/434, 49 Meter) desselben
Jahres enthalten Sequenzen von 2 bis 3 Minuten mit Bildern von der »Arbeiterdemonstration am 1. Mai in den Straßen Wiens«, die deutlich die zunehmende Militarisierung des politischen Lebens spiegeln: Neben Aufnahmen des Generalsekretärs
der KPÖ, Johann Koplenig, der ihm zuhörenden Menge, aufmarschierender Sektionen mit roten Fahnen, von Transparenten, dekorierten Wagen und Leninbildern
überrascht vor allem der starke Anteil uniformierter Mitglieder der paramilitärischen
197 Nach Reisberg, KPÖ-Parteichronik, Jahresmappe 1931.
198 Auch der »Hungermarsch der Arbeitslosen auf Wien« im Februar 1932 war Gegenstand eines
kurzen Berichts im SOJUSKINO JOURNAL gewesen (Journal Nr. 34/444, 45,4 Meter).
Sowjet-Projektionen | 285
»Arbeiterwehr«, die den Parolen »Das Weltproletariat ist bereit zur Verteidigung
der Sowjetunion« sowie »Kampf dem Faschismus« sichtbaren Ausdruck geben sollte.
Die Aufnahmen des großen Aufmarsches beweisen deutlich den relativen Mobilisierungserfolg der KPÖ in den vergangenen Monaten. Es muss offen bleiben, ob
sowjetische Kameraleute oder Filmaktivisten aus dem KPÖ-Umfeld diese Sequenzen
filmten. Redigiert und montiert wurden sie jedenfalls in der Sowjetunion.199
Wien, 1. Mai 1932, Johann
Koplenig (ZWEIWÖCHENTLICHES
JOURNAL NR. 11, UdSSR 1932)
Wien, 1. Mai 1932, Menge von
Demonstranten und Demonstrantinnen (ZWEIWÖCHENTLICHES
JOURNAL NR. 11, UdSSR 1932)
Seit Anfang 1932 brachte die KPÖ eine neue Wochenzeitung heraus, die Illustrierte
Rote Woche200 (in weiterer Folge: IRW), die durch verstärkte Bebilderung und einen
bunten Themenmix aus Politik, Kultur, Reise, Kinderseiten u. a. eine weitere Leserschaft außerhalb der Partei anzusprechen versuchte. Bis zu ihrem Verbot im Juli
1933 druckte sie zahlreiche Artikel zu Film und Kino. Gegen versteckte politische
Absichten des Mainstreamkinos – der »bürgerliche(n) Filmpropaganda« – wurde
etwa unter dem Titel »Kasernenhof, Sex appeal und Politik« gewettert. (IRW
28.2.1932, S. 13) Wiederholt brachte die Zeitung Berichte über aktive KinozuschauerInnen, die proletarische Filmkritik durch Unmutsäußerungen in die Kinosäle trugen (s. Textkasten »Die ›Tönende Wochenschau‹ […]«).201 Regelmäßig wurde
die Programmpolitik der »Kiba«-Kinos attackiert, wobei die unglückselige Vokabel
»sozialfaschistisch« in Richtung Sozialdemokratie inzwischen vermieden wurde:
»Seit sich die Kiba mit dem Lux-Film Koppelmann & Reiter in Oesterreich vermählt hat, setzt sie ja ihren besonderen Ehrgeiz darein, die abgeschmacktesten Kasernenhofgeschichten und die dümmsten Flirtabenteuer amerikanischer Millionengirls vorzuführen. Das Programm, das die Kiba ihren Besuchern bietet, ist ein Stück
der krassesten Kulturreaktion […].« (IRW 26.6.1932, S. 15)202
Auf dem Höhepunkt der Kinokrise im Juni 1932 polemisierten die KP-Zeitungen
gegen die Korruption im sozialdemokratischen Kinowesen. Unter dem Titel »Sozialdemokratischer Sumpf: Kiba – Koppelmann – Arbeiterbank« wurde über einen
Ehrenbeleidigungsprozess gegen den Journalisten Szecsi berichtet, den die Brüder
Hamber gegen dessen Vorwurf angestrengt hatten, sie hätten »Bestechungsgelder
Wien, 1. Mai 1932, Arbeiterwehr
»Gegen die braune Mordpest«
(SOJUSKINO JOURNAL NR. 10,
UdSSR 1932)
286 | Peter Grabher
199 Das ZWEIWÖCHENTLICHES JOURNAL NR. 11 wurde von einer Institution namens »Technische Propaganda und Volkskommissariat für Landwirtschaft« sowie der »Sojuschronik« produziert.
Der verantwortliche Redakteur hieß Kovanov, der Cutter Repnikov.
200 Sie erschien in einer Auflage von 15.000. Nach dem Verbot der KPÖ im Juni 1933 erschien
sie noch einen Monat unter Vorzensur. Wie in der Roten Fahne waren die allermeisten Artikel
nicht namentlich gezeichnet. Nur wenige Autoren filmbezogener Artikel sind fassbar: Paul
Brand, Herbert Roden, Hans Witt und Hermann Kraus.
201 Vgl. auch IRW 12.6.1932, S. 9.
202 Die Illustrierte Rote Woche polemisierte gegen die Aufführung der UFA-Produktion YORCK (D
1931, Gustav Ucicky) im sozialdemokratischen Stafa-Kino (IRW 21.2.1932, S. 15): »Sozialdemokratische Kinos als Agitatoren für Hugenberg und seine Nazis!« (IRW 28.2.1932, S. 15)
Sowjet-Projektionen | 287
Die »Tönende Wochenschau« hat uns entzweigebracht …
Wir freuen uns, daß wir auf unsere Aufforderung hin, proletarische Filmkritik zu
schaffen, diese Zuschrift erhielten. Allein wir halten es für einen verkehrten Weg,
die Hansi, Lizzy und Fritzi sich selbst und damit der Ausweglosigkeit zu überlassen. Die Hansi, Lizzy und Fritzi gehören zu uns, wir müssen ihnen klar machen,
daß die Filmproduzenten in ihren Filmen nichts anderes beabsichtigen, als die
Menschen mit trügerischen Träumen zu beruhigen und dabei zu verdienen.
»Otto, du hast mir schon so lange einen Kinobesuch versprochen; heute lass’ ich
mich nicht wieder mit dem üblichen Vorwand abspeisen, daß ja doch alles Kitsch
ist!«
Ich hülle mich ob dieser ultimativen Aufforderung in tiefes Schweigen und
vermeide auf unserem Spaziergange ängstlich Gassen, welche in die Nähe eines
Kinos führen.
Doch wer Hansi kennt, der weiß, daß jede List zuschanden wird, wenn sie sich
einmal etwas in den Kopf gesetzt hat. Und Hansi kennt meine schwache Seite:
»Weißt du, im Radetzky-Kino geben sie jetzt den Film: WER NIMMT DIE LIEBE
ERNST?, der seinerzeit auch in der Roten Fahne als sehenswert empfohlen war.«
Ein Redestrom ergeht über mich. »Wenn es nach dir ginge, kämen wir im Jahr
überhaupt nur einmal oder zweimal ins Kino, weil deiner Ansicht nach nur
russische Filme gut sind!«
Da kann ich allerdings nicht widersprechen. Ebenso zwecklos wäre aber auch
jedes weitere Sträuben gegen den von Hansi vorgeschlagenen Film gewesen; denn
während unserer Debatte hatte sie die Schritte unwillkürlich Richtung: RadetzkyKino zu leiten gewusst.
Vor dem Hauptfilm, das wißt ihr ja, gibt es immer eine »Tönende Wochenschau«. »Das Neueste, das Aktuellste, das Interessanteste aus aller Welt« verspricht
das Mikrophon – und zu sehen bekommt man: Segelregatten, Motorradrennen
und andere Vergnügungen der oberen Zehntausend oder Kriegschiffeinweihungen,
Militärparaden und Ministerausgelage. Als ob es wirklich nichts Wichtigeres in
der Welt zu sehen gäbe …
Diesmal sollte die Tönende Wochenschau mein Schicksal entscheiden. Ich ließ
ein Hundewettrennen in einer kalifornischen Kleinstadt (deren Namen nicht einmal ein Geographieprofessor kennt), eine Modenschau und eine Schönheitskonkurrenz noch ruhig an mir vorüberziehen. Als dann der norwegische Kronprinz
auf der Leinwand erschien, da »juckte« es mich schon ganz gewaltig, als aber gar
Mussolini, dieser Mörder und Henker Tausender aufrechter Klassenkämpfer, am
288 | Peter Grabher
Bild auftauchte und mit seiner breiten Schnauze eine Lobrede auf den Faschismus
hielt, da war mir die Sache doch zu bunt. Ich vergaß meine »gute Erziehung« in
mir und meine Hansi neben mir. »Gibt es denn wirklich nichts Interessanteres in
der Welt, das ihr uns um unser Geld zeigen könnt, als Monarchisten- und Faschistengesindel?« schrie ich in die Stille des Saales.
Viele aus dem Publikum gaben mir recht: ein paar fette Geschäftsleute nahmen
gegen mich Stellung, Hansi aber nahm mir meine Kritik sehr übel. Sie geht nicht
mehr mit mir ins Kino, sie geht überhaupt nicht mehr mit mir.
Ich bin darüber natürlich sehr traurig. Aber trotzdem werde ich fortfahren
(und alle Hansi, Lizzy und Fritzi der Welt können mich davon nicht abbringen),
meinen Unmut gegen derlei Entgleisungen, wie sie speziell in der Tönenden Wochenschau immer wieder vorkommen, zum Ausdruck zu bringen.
Zweck dieser Geschichte soll sein, daß auch ihr mir helft, teils durch Aufklärung
eurer Kollegen, teils durch Entfachen von Proteststürmen in den Kinos selbst, gegen
die faschistische Kriegspropaganda in der Tönenden Wochenschau Stellung zu nehmen. Auch auf die Gefahr hin, daß euch eure Hansi, Lizzy oder Fritzi den Abschied
gibt. Ihr werdet schon eine andere finden, die klassenbewußter ist und euch im
Kulturkampfe treu zur Seite steht. So wie auch ich sie inzwischen gefunden habe.
Ost., Illustrierte Rote Woche, 6.3.1932, S. 15
von mehreren tausend Dollar von der Filmverleihfirma Koppelmann erpreßt« und
deren Filme nur gegen solche Zahlungen in den »Kiba«-Kinos gespielt. (RF 5.6.
1932, S. 7) Mit dem Geld hätten die beiden eine Tanzbar namens »Moulin Rouge«
finanziert. (RF 22.9.1932, S. 6) Die Rote Fahne berichtete, dass die Brüder Hamber
ihre Funktionen schließlich zurücklegten, nachdem die Firma Koppelmann diese
Vorwürfe bestätigt hatte. (RF 18.9.1932, S. 4) Die KP-Zeitung nahm die Affäre zum
Anlass für eine pauschale Attacke gegen die sozialdemokratische Kinopolitik: Mit
der Gründung der »Kiba« aus Mitteln der gewerkschaftlichen »Arbeiterbank« seien
aus den »Streikgeldern der Arbeiter […] Bourgeoiskinos entstanden, von wo aus
dann in Einheitsfront mit den bürgerlichen Kinounternehmern der Sturm auf die Lustbarkeitssteuer unternommen wurde. […] Volksverdummung en gros, Unterdrückung der proletarischen Kritik, Ausbeutung und Korruption – das ist das Gesicht des
sozialdemokratischen Kinotrusts.« (ebd.)203
203 Siehe dazu auch: »Ein fetter Brocken für Herrn Hamber: Tonfilmkino und Varieté ›Plaza‹
Ottakring« (IRW 4.2.1933, S 11).
Sowjet-Projektionen | 289
Karikatur »Alle Mittel der Stimmungsmache sind losgelassen: Radio, Film und Sex appeal«
Illustrierte Rote Woche, 9.10.1932, S. 8
Fritz Rosenfeld, der Filmkritiker der Sozialdemokratie, wurde immer wieder zur
Zielscheibe der kommunistischen Filmrubriken. Die Geschäftsführung der »Kiba«
hatte bereits im April 1930 bei der Chefredaktion der Arbeiter-Zeitung durchgesetzt, dass Rosenfeld nicht mehr deren Kinoprogramm rezensierte.204 Rosenfelds
harsche Polemiken gegen die Programmierung der »Kiba«-Kinos waren ihr ein Dorn
im Auge gewesen, nun hatte er einen Maulkorb bekommen. Anlässlich der Premiere
von zwei kommerziellen Filmen im »Apollo« und in der »Scala« bemerkte die Illustrierte Rote Woche spitz, dass sich über dergleichen »ansonsten ein gewisser Herr
Fritz Rosenfeld aufzuregen [pflegte]«, jetzt aber »brav still« halte. (IRW 30.9.1932,
S. 14) Wenig später verbuchte es das KP-Wochenmagazin als Erfolg ihrer Kritik,
dass »Herr Rosenfeld […], der sonst für ›Kiba‹-Filme so nachsichtige Filmrezensent
[…], zum ersten Male gegen einen ›Kiba‹-Film Stellung genommen« habe (vermutlich EIN BLONDER TRAUM mit Lilian Harvey und Willy Fritsch). (IRW 16.10.1932,
S. 15) In einem weiteren Artikel wurden durch Inserate »gekaufte Filmkritiken« im
sozialdemokratischen Abend aufs Korn genommen und noch einmal Fritz Rosenfeld
heftig provoziert: »Noch immer hat er nicht den Mut gefunden, gegen die Herr-
204 Parteiarchiv der Sozialdemokratischen Partei Österreichs: Arbeiterbank, 9.4.1930; nach Dagmar
Helmreich, Film- und Kinopolitik der sozialdemokratischen Bewegung in Österreich in der
1. Republik, Diplomarbeit, Universität Wien 1992, S. 42.
290 | Peter Grabher
schaften, welche dem Wiener Kinopublikum das Programm diktieren, offen Stellung
zu nehmen. Wohl hat er einige Male in seinen Fünfzeilennotizen über die Tatsache,
daß sich kein Filmunternehmer in Wien fände, der die neuen Russenfilme oder den
deutschen proletarischen Film KUHLE WAMPE zur Aufführung bringe, bittere Tränen
vergossen. Niemals noch aber hat er die Herren von der ›Kiba‹, die in Wien die weitaus mächtigsten Filmherren sind, öffentlich gefragt, warum auch sie und gerade sie
diese Filme sabotieren. […] Wie kann ein Herr Rosenfeld, nicht mehr und nicht
weniger als ein gutbezahlter Tintenkuli der Arbeiterbank, gegen seine Geldherren
aussagen? Darauf zu warten, hieße vergeblich warten.« (IRW 11.2.1933, S. 11)205
KUHLE WAMPE ODER WEM GEHÖRT DIE WELT (D 1932, Slatan Dudow / Bertolt
Brecht, P: Präsens Film Berlin)206 war zur selben Zeit wie in Deutschland bereits im
März 1932 der Wiener Zensur vorgelegt worden und hatte diese anstandslos in
voller Länge (wenn auch mit der Einschränkung eines Jugendverbots) passiert. In
der österreichischen kommunistischen Presse erschienen Artikel über die geschnittene Freigabe von KUHLE WAMPE in Deutschland207 sowie über den Sowjetunionaufenthalt der Filmemacher.208 Der Titel des Films über ein »Arbeiter-Weekend in
der Berliner ›Lobau‹« wurde den LeserInnen sehr freihändig mit »Kalter Bauch«
übersetzt. (IRW 8.5.1932, S. 15) Einer der beiden Produktionsleiter des Films, der
Wiener Georg Michael Höllering,209 hatte den Film zur Zensur eingereicht, aber
offenbar fand sich tatsächlich kein Kinounternehmen, das ihn lanciert hätte. Angesichts der Seitenhiebe in Richtung Sozialdemokratie, die sich in KUHLE WAMPE
205 Vgl. auch »Ufa und Verdummungsmonopol der Kiba« (IRW 18.3.1933, S. 14). Im Bericht
über eine von Rosenfeld organisierte Vorführung von Avantgardefilmen im Volksbildungshaus
Stöbergasse hatte sich das generelle Misstrauen der Kommunisten der Kunst gegenüber artikuliert: »Herr Rosenfeld verstieg sich in seiner Rede zu der Behauptung, dass die Avantgardebewegung eine revolutionäre Bewegung sei, da sie mit den Mitteln einer ›wahren Kunst‹ gegen
das Filmkapital ankämpfe. Die Filme bewiesen das genaue Gegenteil.« Sie seien Ausdruck für
»den kleinbürgerlichen reaktionären Inhalt dieser Bewegung. […] Die Menschen leben, kämpfen. Hier aber sind sie lächelnde Schatten, leblose Dinge, wie irgend ein schaukelnder Schatten
eines sich im Winde bewegenden Schildes. Weiter nichts. Die Dinge werden in keinerlei Zusammenhang gebracht, es ergibt sich daraus jenes reaktionäre Weltbild, in dem eben alles ›nun
einmal so ist‹.« Solche »filmische Ziselierarbeiten« würden von »Kleinbürger[n], die sich Bohemiens nennen« gedreht (IRW 25.12.1932, S. 15). Vgl. weiters auch Hermann Kraus’ Kritik
an Rosenfelds Besprechung von EKSTASE (CZ/A 1933, Gustav Machaty) in IRW 25.2.1933, S. 11.
206 Österr. Zensurlänge: 2243 Meter.
207 IRW 8.5.1932, S. 15. Zum Zensurfall KUHLE WAMPE vgl. Bertolt Brecht, Kuhle Wampe.
Protokoll des Films und Materialien. Hg. v. Wolfgang Gersch und Werner Hecht, Frankfurt a.
M. 1973, S. 101–179.
208 IRW 5.6.1932, S. 15.
209 Georg Michael Höllering floh 1933 nach London, wo er als George Hoellering nach 1945 das
renommierte Academy Cinema leitete. Er arbeitete in den 50er-Jahren gemeinsam mit T. S. Eliot
an dem Film THE MURDER IN THE CATHEDRAL (UK 1952). Ob zwischen ihm, dem MünzenbergJournalisten Franz Höllering und Anna Höllering, die Anfang der 30-er Jahre in Berlin als
Filmcutterin arbeitete, verwandtschaftliche Beziehungen bestanden, bleibt noch zu eruieren.
Sowjet-Projektionen | 291
finden, ist es verständlich, dass sich auch die »Kiba« nicht des Filmes annahm. So
erreichte weder der erste Film der (damals noch österreichischen) »Prometheus« –
NAMENLOSE HELDEN (A 1924) – noch ihr letzter, der wichtigste deutschsprachige proletarische Spielfilm der Zwischenkriegszeit, das österreichische Kinopublikum.
Mit dem Regierungsantritt einer von der christlich-sozialen Partei, dem Landbund
und den Heimwehren gebildeten Regierung unter der Leitung des ehemaligen
Landwirtschaftsministers Dollfuß ging am 20.5.1932 der seit 1927 andauernde Faschisierungsprozess in seine letzte Etappe. In der KPÖ wurde nun endlich die
»Sozialfaschismus«-Theorie zugunsten einer Strategie der Einheitsfront mit den
sozialdemokratischen Arbeitern überwunden. Die Parteileitung der SDAP ließ freilich die KPÖ weiter links liegen, während in der SP-Basis die Sympathien für die
KommunistInnen wuchsen.210 Die Regierung Dollfuß erhöhte den behördlichen Druck
auf das kommunistische Umfeld. Am 25.6.1932 wurde die »Österreichische Arbeiterhilfe« polizeilich aufgelöst211 und damit die Tätigkeit einer der filmaktivsten KPnahen Organisationen beendet.212 Der österreichische Zweig von Willi Münzenbergs
»Internationaler Arbeiterhilfe« hatte im Rahmen ihrer politischen Aktivität seit
1925 zahlreiche Filmveranstaltungen organisiert, etwa zehn Filme selbst zur Zensur
eingereicht und verliehen und 1931 selbst einen kurzen Schmalfilm produziert.
Bereits am Tag nach Dollfuß’ Regierungsantritt war es rund um die Wiener
Aufführung von Dziga Vertovs erstem modernistischem Tonfilm ENTHUSIASMUS
(SIMFONIJA DONBASSA, UdSSR 1930, P: WUFKU – Allukrainische Foto- und Filmverwaltung),213 der in Wien unter dem Titel DAS LIED VOM AUFBAU gezeigt wurde, zu
einem politischen Eklat gekommen: Der KPÖ-Aktivist Josef Szende hatte den Film
an das Wiener Kreuz Kino verliehen. Nach der Pressevorführung am 19.5.1932 veröffentlichte die christlich-soziale Reichspost am 21.5.1932 einen Artikel, der »Gottlosenpropaganda in einem Wiener Kino« witterte und zu Protesten aufrief. Nachdem
es bei einer Aufführung am selben Tag zu Störungen durch Mitglieder der christlich-
210 Vgl. dazu Winfried Garscha in Historische Kommission beim ZK der KPÖ (Hg.), Die Kommunistische Partei Österreichs. Beiträge zu ihrer Geschichte und Politik, Wien 21989, S. 177 ff.
Die SP reagierte auf diese Entwicklung durch die Publikation von vier antikommunistischen
Broschüren: »Feind im Rücken. Bilder aus der Geschichte der KI«, »Proletarische Irrwege. Die
Entwicklung der KPÖ«, »Wien und Moskau«, »Zwei Revolutionen. Kommunisten und Sozialdemokraten 1918 und 1919« (ebd., S. 179).
211 RF 26.6.1932, S. 1. In Deutschland waren am 28.2.1932 Büros und Zeitungsredaktionen der
Münzenberg-Presse von Nazis verwüstet worden. Am 1.9.1932 besetzte die Polizei das Berliner Büro der IAH.
212 Am 29.7.1932 trat der »Bund proletarischer Solidarität« an die Stelle der aufgelösten ÖAH.
Dessen »Zahlstelle 2« zeigte am 21.1.1933 im Helios-Kino noch »Lenins Botschaft an die Welt
DER MAHNRUF« (Plakat in der ÖNB), s. auch RF 12.4.1933, S. 9.
213 Österr. Zensurlänge: 2178 Meter, Einreicher: Josef Szende, KPÖ.
292 | Peter Grabher
sozialen »Lueger-Jungfront« kam, wurde der Film von der Polizei beschlagnahmt
und gegen den Verleiher, Josef Szende, Geschäftsführer der »Weltfilm-Vereinigung«,
und die Kinobesitzerin Golda Landau, ein Verfahren wegen »Religionsstörung«
eröffnet. Die Behörden stießen sich an zwei Aufnahmen von einem antireligiösen
Umzug, in dem Priester karikiert werden. Josef Szende musste zwar die Arreststrafe,
zu der er verurteilt wurde, nie absitzen, sein gerade gegründeter Filmverleih erholte
sich jedoch nicht mehr von dem finanziellen Schaden durch die Beschlagnahmung
seines ersten großen Films (siehe Kasten am Artikelende zu Josef Szende, der »Weltfilm-Vereinigung« und dem Prozess um DAS LIED VOM AUFBAU).
Der Kampf gegen die zunehmende Präsenz faschistischer Filmpropaganda in den
Wiener Kinos bildete seit dem Sommer 1932 einen Schwerpunkt der KP-Filmpublizistik. Die Rote Fahne kritisierte etwa die Aufführung des Mussolini-Filmes
DAS NEUE ITALIEN (P: Istituto LUCE)214 und berichtete von »stürmischen Mißfallensäußerungen« im Kino (RF 28.8.1932, S. 10).215 Die Auseinandersetzungen mit der
»braunen Mordpest« hatten im Sommer 1932 einen Höhepunkt erreicht: Im Juni
und Juli kam es zu mehreren Nazimorden an Kommunisten in ganz Österreich.216
Regelmäßig fanden Naziüberfälle auf SP- und KP-Organisationen statt. Mitte Juli
startete die KPÖ die »Antifaschistische Aktion« (»Antifa Aktion«), alle Grundorganisationen wurden angewiesen, »Antifaschistische Komitees« zu gründen. Im
September des Jahres fanden rund um einen sogenannten »Goebbels-Tag« heftige
Auseinandersetzungen zwischen Nazis und KommunistInnen statt. Der spätere NSPropaganda- und -Film-Chef trat in der Wiener Engelmann-Arena vor 10.000 Anhängern auf. Ein Stafettenlauf der Nazis musste wegen des Massenandrangs zum
»Roten Bummel« der »Antifa-Aktion« abgebrochen werden. Mehrere verprügelte
Nazis wurden im Krankenhaus verarztet. Die Arbeiter-Zeitung kommentierte: »Da die
Kommunisten nicht verzichten wollten, wie gewöhnlich für die Nazis Reklame zu
machen, kam es bei der Veranstaltung wiederholt zu kleineren Zusammenstößen«. (AZ
19.9.1932) Wenige Wochen später wurde bei Zusammenstößen bereits geschossen.217
214
215
216
217
Österr. Zensurlänge: 2147 Meter, Einreicher: Efko.
Siehe auch RF 6.8.1932, S. 7; RF 25.8.1932, S. 8.
Das Folgende nach Reisberg, KPÖ-Parteichronik, Jahresmappe 1932.
Im Wiener Gemeinderat gingen die Naziabgeordneten mit Gummiknüppeln, Stahlruten und
Schlagringen auf die Sozialdemokraten los. Am 2.10. überfielen Nazis nach einer Kundgebung
auf dem Heldenplatz mit Göring, Ley, Streicher und Frank das kommunistische Arbeiterheim
und jüdische Religionsfeiern in Wien Leopoldstadt. Der Schutzbund wurde von seiner Leitung
kaserniert. Bilanz: 131 Verletzte, davon 97 Nazis (16 schwer), sowie 17 SPler und KPler, ferner 17 Wachebeamte (2 schwer). Verhaftet wurden 192 SPler, 19 KPler, 13 Parteilose, 64 Nazi.
Am 16.10. kam es anlässlich des ersten »Bezirkstags« der NSDAP in Wiener Arbeitervierteln
zu blutigen Zwischenfällen in Simmering. Schutzbündler verteidigten das Simmeringer Arbeiterheim. Bilanz: 5 Tote, 18 verwundete Nazis, 24 Polizisten, 30 Zivile. Die Wiener Polizeidirektion beantragte beim Bundeskanzleramt die Auflösung des Schutzbundes. Am 17.10. wurde
Sowjet-Projektionen | 293
Der Winter 1932/33 markierte den Höhepunkt der Wirtschaftskrise in Österreich:
Die Produktion war seit 1929 um 39% gefallen, das Außenhandelsvolumen um
47%, die Arbeitslosigkeit hatte sich im selben Zeitraum fast verdoppelt: Im Jänner
1933 waren offiziell mehr als 25% der unselbständig Erwerbstätigen arbeitslos,
»real war es wohl ein Drittel«.218 Aus den kommunistischen Zeitungen sprach ab
dem Jänner 1933 das Entsetzen über die Entwicklungen in Deutschland. Als einen
»Aufruf zu neuem Krieg« bezeichnete die Illustrierte Rote Woche am 28.1.1933
Luis Trenkers antinapoleonisches Historiendrama DER REBELL (D 1932, P: Ufa)
(IRW 28.1.1933, S. 11). Wenige Tage zuvor war die SA am 23.1.1933 ohne Gegenwehr vor der KPD-Zentrale, dem Karl-Liebknecht-Haus in Berlin, aufmarschiert.
Die Münzenberg-Biografin Babette Gross dazu: »Die Leitung der Partei hatte am
20. Januar ein Telegramm aus Moskau erhalten, worin das deutsche Politbüro dafür
verantwortlich gemacht wurde, daß es bei dieser Kundgebung nicht zu Zusammenstößen zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten kam.«219 Das Zurückweichen der KPD, der stärksten kommunistischen Partei außerhalb der Sowjetunion,
vor dieser Provokation wurde von manchen als Moment der definitiven Niederlage
der Arbeiterbewegung vor dem Nationalsozialismus wahrgenommen.220
Weiter wurde gegen »Hakenkreuz, Ufa und Massenmord« angeschrieben. (IRW
11.2.1933, S. 6) Anlässlich des Wiener Kinostarts von MORGENROT (D 1933, P:
Ufa)221, einem das deutsche Soldatentum verherrlichenden U-Boot-Film des Österreichers Gustav Ucicky, berichtete die Illustrierte Rote Woche, dass in Amsterdam
nach der Aufführung des Films ein Kino angezündet worden und bis auf die Fundamente abgebrannt war. Auch in Wien wurde gegen die (jugendfreie) »deutschnationale Greuelpropaganda« im Kino fallweise handgreiflicher Widerstand geleistet:
»Auch im Simmeringer Volkskino in Wien kam es bei der Aufführung von MORGENROT zu Protestkundgebungen. Die Kinobesucher riefen immer wieder ›Nieder mit
dem imperialistischen Krieg!‹. Zahlreiche Schaukästen mit Filmbildern wurden von
den Demonstranten zertrümmert, und schließlich wurde sogar, um eine Weitervorführung des Filmes zu verhindern, die Projektionsleinwand zerrissen.« (IRW 8.4.
1933, S. 14) Vor allem die »Wochenschauen, die in den Wiener Lichtspieltheatern
gezeigt werden, entwickeln sich zu einer wahren faschistischen Landplage […]. Es
scheint fast so, also ob die Wiener Kinos zu faschistischen Propagandastätten um-
218
219
220
221
294 | Peter Grabher
der Heimwehrführer Fey Staatssekretär für das Sicherheitswesen. Seine erste Maßnahme war
die Verordnung eines Kundgebungs-, Aufmarsch- und Versammlungsverbots (unter freiem
Himmel) in Wien für die SDAP, die KPÖ und die NSDAP »als an den Vorfällen in Simmering
beteiligt gewesenen Parteien«. Nach Reisberg, KPÖ-Parteichronik, Jahresmappe 1932.
Garscha 1989, S. 169.
Gross 1967, S. 244.
Vgl. etwa Sperber 1979, S. 210 ff.
Österr. Zensurlänge: 2338 Meter, Einreicher: Ufa.
gestaltet werden sollen […]. Ein Boykott dieser Kinos wäre zu wenig.« (IRW 15.4.
1933, S. 15)
Die Ereignisse in Österreich und Deutschland sind im Zusammenhang zu sehen:
Wenige Tage nach dem Reichstagsbrand am 27.2.1933 und der anschließenden
Radikalisierung des Naziregimes bereitete die »antimarxistische« Regierung Dollfuß
mit der Ausschaltung des Parlamentes am 15.3.1933 auch in Österreich der parlamentarischen Demokratie ein Ende. Zwei Tage nach den Reichstagswahlen in
Deutschland, die trotz Terror und Verhaftungen noch 4,8 Mio. Stimmen für die
KPD und 7,2 Mio. Stimmen für die SPD ergeben hatten, begann Dollfuß im Rahmen einer Notverordnungsdiktatur autoritär zu regieren. Die Rote Fahne wurde in
der Folge unter Vorzensur gestellt, wenig später auch die Arbeiter-Zeitung und das
Kleine Blatt. Die Regierung nahm zudem wahr, dass intensive Organisierungsanstrengungen der KPÖ unter Arbeitslosen durchaus erfolgreich waren. Im Ministerrat berichtete 1933 der Staatssekretär für öffentliche Sicherheit, der Heimwehrführer Emil Fey, der systematisch auf ein Verbot der KPÖ hinarbeitete, dass angesichts der steigenden Erregung unter den über 170.000 Arbeitslosen Wiens »die Zahl
der extrem-radikalen Elemente stark im Zunehmen begriffen sei und insbesonders
die kommunistische Partei durch das Abschwenken eines Großteils der organisierten Arbeiterschaft«, darunter zahlreicher Schutzbündler und Jugendlicher, ständig
an Boden gewinne. Es »bestehe die große Gefahr, daß die Kommunisten eine zufällige, vielleicht aus einem ganz nichtigen Anlaß ausgebrochene Bewegung für ihre
politischen Zwecke mißbrauchen und ein großes Unglück anrichten können«.222
Im Frühling 1933 sahen sich die kommunistischen Organisationen permanent mit
Verhaftungen, Beschlagnahmen, Razzien und Hausdurchsuchungen in ganz Österreich konfrontiert. Trotzdem fanden vor diesem Hintergrund noch einige Filmveranstaltungen statt. Vor allem die »Österreichische Rote Hilfe« lancierte noch
einmal bundesweit Blums SPRENGT DIE KETTEN (D 1929/30) als »neuen Filmstreifen
der R. H.«. In Graz wurde während einer Aufführung des Films der Vorführapparat
samt Zubehör beschlagnahmt, der Vortragende namens John verhaftet. Es war der
222 ÖStA/AVA/Ministerrats-Protokoll Nr. 839 (1933), zitiert nach Reisberg, KPÖ-Parteichronik,
Jahresmappe 1933. Bundeskanzler Dollfuß meinte am 24.2.1933, die Verschärfung der politischen Verhältnisse in Österreich sei »ideal für die Machinationen der Komintern«. Er warnte
in einer Rede vor dem Auswärtigen Amt des Bundesrates eindringlich vor den Gefahren der
bolschewistischen Propaganda. Der Bolschewismus sei der größte Nutznießer der ungünstigen
politischen Verhältnisse. Die 3. Internationale arbeite auf dieser Basis unermüdlich und
stelle große finanzielle Mittel dafür zur Verfügung. Der Westen habe die Gefahr, die von der
Komintern ausgehe, noch immer nicht voll und ganz erkannt. Zitiert nach Edgard Haider, Die
österreichisch-sowjetischen Beziehungen 1918–1938, Dissertation, Universität Wien 1975,
S. 357 f.
Sowjet-Projektionen | 295
Tag nach dem Berliner Reichstagsbrand,223 als Die Rote Fahne unter der Überschrift
»Staatsgefährliche Lichtbilderapparate!« darüber berichtete (RF 28.2.1933, S. 4):
»Der als aufreizend bezeichnete Lichtbildstreifen wird seit etwa 4 Monaten in Oesterreich in den verschiedensten Orten vorgeführt und schildert die Tätigkeit der internationalen Roten Hilfe in den 10 Jahren ihres Bestehens.« Die Version, die in Österreich gezeigt wurde, war, wie bereits erwähnt, länger als die deutsche und enthielt
auch Bilder von »schießendem Militär, […] deutscher Reichswehr, englischer Polizei,
[…] Polizeistuben mit Beamten in Uniformen verschiedener Länder, mit amerikanischen Gefängnisgebäuden, […] Gefängnisszenen« und Aufnahmen einer »Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl«, die in Deutschland herausgeschnitten wurden.224
Bis zuletzt organisierte die »Rote Hilfe« Filmveranstaltungen, vor allem Nachtvorstellungen:225 Im Helios-Kino etwa zeigte die Zahlstelle Leopoldstadt am 1.4.1933
den auf einem Plakat226 fälschlicherweise als »Meisterfilm von Egon Erwin Kisch«227
apostrophierten Spielfilm GALGENTONI (TONKA SIBENICE, CZ 1930, Karl Anton,
P: Anton Film Prag).228 Dabei handelte es sich um die Verfilmung eines Theaterstücks von Kisch über das Leben einer Prostituierten.229 Als Beiprogramm wurde
wiederum SPRENGT DIE KETTEN vorgeführt, »ein Film vom Kampf gegen Terror und
Freistellen!
223 Ein Flugblatt der »Roten Hilfe« »gegen die Reichstagsbrandstifter« wurde wenige Tage später
beschlagnahmt.
224 Stenographischer Bericht des Reichstages, 143. Sitzung, 15.3.1930, S. 4499; zitiert nach
CineGraph-Lexikon Lieferung 29, »Albrecht Viktor Blum«, B 7.
225 Plakate in der Österreichischen Nationalbibliothek belegen weitere Filmveranstaltungen: ÖRH
am 7.1.1933 im Helios-Kino: »der preisgekrönte Tonfilm NIEMANDSLAND nach einem Entwurf
von Leonhard Frank«; ÖRH Zahlstelle 12 am 4.2.1933 im Haydn-Park-Kino: »Sonder-NachtVorstellung […]: der preisgekrönte Tonfilm NIEMANDSLAND nach einem Entwurf von Leonhard
Frank, ferner: 1. MAI IN MOSKAU«; ÖRH Zahlstelle 5 am 11.3.1933 im Haydn-Park-Kino:
»Tonfilm gegen § 144 CYANKALI nach dem berühmten Bühnenstück von Dr. Wolf, mit Grete
Moosheim, Hermann Vallentin, Margarete Kupfer, ferner der von der Zensur jetzt freigegebene
1. MAI IN MOSKAU 1932«.
226 Plakat in der Plakatsammlung der Österreichischen Nationalbibliothek. Anmelder: Othmar
Strobl, Schlossergeselle.
227 Kisch, der sich 1918 an der Besetzung der Redaktionsräume der Neuen Freien Presse beteiligt
hatte, war 1925 von der KPÖ zur KPD gewechselt. Er arbeitete eng mit Willi Münzenberg zusammen, für den er Babette Gross zufolge Verbindungen zu Schriftstellern und Journalisten
herstellte (Gross 1967, S. 233 f.). Intensives Engagement für die »Rote Hilfe« und die »IAH«;
enge Freundschaft mit Otto Katz (alias André Simone), der ab 1933 Münzenbergs rechte
Hand war und in den 30er-Jahren zeitweise als Leiter des Auslandsbüros der »Meshrabpom«
fungierte. (Marcus G. Patka, Egon Erwin Kisch. Stationen im Leben eines streitbaren Autors,
Wien/Köln/Weimar 1997, S. 107 ff.) Patka berichtet auch von Zeitungsgerüchten, denen zufolge Kisch in der Periode von Katz’ Tätigkeit bei der »Meshrabpom« gemeinsam mit russischen
Regisseuren wie Vertov und Kuleschow Filmprojekte geplant habe. Außerdem habe er an einer
deutschen Fassung von Vertovs DER MANN MIT DER KAMERA gearbeitet. (Patka 1997, S. 124)
228 Österr. Zensurlänge: 2630 Meter, Einreicher: Philipp & Co.
229 Zum Theaterskandal um Die Himmelfahrt der Galgentoni vgl. Patka, S. 81–91; zeitgenössische
Filmkritiken sind auf S. 519 aufgelistet.
»Das ist er, der neue Filmstreifen der R. H.«, Rote Hilfe Österreich, Nr. 3, März 1932
296 | Peter Grabher
Sowjet-Projektionen | 297
Faschismus«. Den Reinertrag der Veranstaltung widmete die »Rote Hilfe«, die ihre
Aktivitäten seit Jänner 1933 auf die Hilfe für Deutschlandemigranten konzentriert
hatte, »den eingekerkerten 50.000 Antifaschisten Deutschlands«.
Auf das von der Regierung Dollfuß verhängte Demonstrationsverbot für den
1. Mai 1933 reagierte eine der letzten öffentlichen Filmveranstaltungen der »Roten
Hilfe«: Am 29.4.1933 zeigte sie im Odeon Kino in Wien Ottakring DER 1. MAI 1932
IN MOSKAU (UdSSR 1932, P: Sowkino),230 den letzten Film, den Josef Szendes »Weltfilm
Vereinigung« in den Verleih nahm. Die Rote Fahne stellte in ihrer Ankündigung die
Aufführung in den politischen Kontext: »Zum ersten Male seit 43 Jahren wird heuer
der 1. Mai in Wien nicht unter den alten Bedingungen stattfinden. In fast allen kapitalistischen Ländern steht der internationale Kampftag unter schwerem Terror. An diesem 1. Mai sehen alle Arbeiter mit Stolz auf die Sowjetunion, wo das siegreiche Proletariat im Sturmschritt des zweiten Fünfjahrplanes den Aufbau des Sozialismus vollendet. Die Rote Hilfe gibt in einer Sondervorführung der Tonfilmreportage 1. MAI IM
ROTEN MOSKAU Gelegenheit, den Aufmarsch des siegreichen Moskauer Proletariats mit
zu sehen und zu hören und mit besonderer Deutlichkeit den Gegensatz der zwei Welten
festzustellen. […] Das Reinerträgnis fließt der Roten Hilfe zur Unterstützung der politischen Gefangenen, Flüchtlingen und ihrer Angehörigen zu.« (RF 29.4.1933, S. 7)
Wenig später, am 20.5.1933, wurde die »Rote Hilfe« verboten, ihr Büro in der
Wiener Kaiserstraße versiegelt, das Inventar beschlagnahmt und ihr PostsparkassenKonto gesperrt. Die »Rote Hilfe« setzte ihre Tätigkeit – jedoch nicht mehr durch
Einsatz von Filmen – illegal fort.231 Auch in den letzten Tagen vor ihrem Verbot organisierten Grundorganisationen der KPÖ Filmveranstaltungen.232 Auch der »Bund
der Freunde der Sowjetunion«233 und weitere KP-nahe Organisationen, die teilweise erst kurz vor dem Verbot gegründet worden waren, setzten noch Filme im Rahmen
ihrer politischen Arbeit ein: etwa die von Arnold Reisberg geleitete »Marxistische
Arbeiterschule« (MASCH)234 oder die »Österreichische Gesellschaft zur Förderung
230 Österr. Zensurtitel: MOSKAU AM 1. MAI 1932, ROTER PLATZ, Zensurlänge: 152 Meter, Einreicher:
Weltfilm Vereinigung.
231 Nach RF 21.5.1933 sowie Reisberg, KPÖ-Parteichronik, Jahresmappe 1933.
232 Plakate in der Österreichischen Nationalbibliothek belegen einige Vorführungen, die in der
Roten Fahne nicht angekündigt wurden: KPÖ Brigittenau am 21.1.1933 im Vindobona-TonKino: »der grandiose Anti-Kriegsfilm WESTFRONT 1918 nebst reichhaltigem Programm«; KPÖ
Hernals am 1.4.1933 im Gloria Tonkino: »Aufführung des ersten russischen Tonfilms DER WEG
INS LEBEN, der das Problem der verwahrlosten Jugend behandelt«.
233 Vgl. etwa RF 26.5.1933, S. 5.
234 Am 28.1.1933 im Weltspiegel-Kino: »Gegen den § 144 Aufführung des erschütternden GroßTonfilms AUS DEM TAGEBUCH EINER FRAUENÄRZTIN. […] Ansprache des bekannten Sozialhygienikers Dr. Sigismund Peller«; am 27.5.1933 im Vindobona-Kino: »Nachtvorstellung […] ZEHN
TAGE, DIE DIE WELT ERSCHÜTTERTEN, der Film der russischen Revolution, DIE DREI DIEBE, ein russisches Lustspiel, eine köstliche Satire auf den Kapitalismus, ferner der 1. MAI IN MOSKAU, eine
Tonfilmreportage«. (Anmelderin: Dora Fassler)
298 | Peter Grabher
des jüdischen Siedlungswerkes in der UdSSR«235. Eine Woche nach dem Verbot der
»Roten Hilfe« wurde am 26.5.1933 auf Beschluss des Ministerrates die »Kommunistische Partei Österreichs« »wegen vielfach festgestellter staatsgefährlicher und
illegaler Tätigkeit« verboten.236 Die Rote Fahne konnte noch bis zum 22.7. ohne
ihren Untertitel »Zentralorgan der Kommunistischen Partei Österreichs (Sektion
der Kommunistischen Internationale)« erscheinen. Von der Zensurbehörde wurden ihr nur noch Angriffe gegen die Agitation der NSDAP erlaubt (die am
19.6.1933 ebenfalls verboten wurde).237 Nach dem Verbot der Roten Fahne wurden die Sicherheitsbehörden angewiesen, »davon auszugehen, dass der Kommunistischen Partei jedwede Betätigung durch Wort, Schrift und Tat in Österreich verboten wird«.238
Epilog
Angesichts der Mitgliederstärke und der Ressourcen der kommunistischen Organisationen beeindrucken der Umfang der vor allem ab 1926 kontinuierlich praktizierten Filmkritik und der Einsatz von Filmen im Rahmen der politischen
Propaganda. Diese Tätigkeit exakt zu quantifizieren ist nicht möglich. Die Anzahl
der Filmvorführungen während der Ersten Republik belief sich in ganz Österreich
gewiss auf mehrere hundert. Über die Organisation von Filmvorführungen und
eine kontinuierliche Filmpublizistik hinaus gelang es jedoch nicht annähernd, den
»Film zu erobern«, d. h., Kino-, Verleih- oder Produktionsstrukturen aufzubauen.
Vorsichtige Anfänge in diese Richtung in den Jahren 1931/32 scheiterten an
Ressourcenmangel und an behördlicher Repression. Die Anzahl der Filme, die von
KP-nahen Organisationen zur Zensur eingereicht wurden, war jedoch beachtlich.
Ab 1932 brachten vor allem diese Organisationen noch sowjetische Filme nach
235 Am 28.1.1933 im Helios-Kino: »Anklage gegen die imperialistischen Kriegstreiber, die einen
neuen Weltbrand entfachen wollen ist der große 100% deutsche Antikriegs-Tonfilm SERGEANT
GRISCHA (nach dem bekannten Roman von Arnold Zweig). Einmalige Sonder-Aufführung.«
236 Am selben Tag erlebte auch die KPD, die seit Februar rücksichtslos verfolgt wurde, ihr formelles Ende durch die Auflösung ihres Vermögens.
237 Vgl. etwa »Braune Barbaren drehen einen Film. SA.-Mordstürme sehen dich an« über die
Nazi-Produktion SA-MANN BRAND. (RF 15.7.1933, S. 11)
238 Zitiert nach Reisberg, KPÖ-Parteichronik, Jahresmappe 1933. Die Partei arbeitete in der
Illegalität weiter, auf die sie besser vorbereitet war als die Sozialdemokratie. Nach 1934 wurde
illegale kommunistische Tätigkeit schwer bestraft, viele KPÖ-AktivistInnen wurden in den ab
September 1934 geschaffenen Anhaltelagern interniert. Von den KommunistInnen, die ab 1934
in die Sowjetunion emigrierten oder sich dem Kampf für die spanische Republik anschlossen,
gerieten viele in die Mühlen der Stalin’schen Geheimpolizei.
Sowjet-Projektionen | 299
Österreich, konnten sie jedoch nur mehr im begrenzten Parteirahmen zur Vorführung bringen.239
Die kommunistische Filmpraxis blieb im Vergleich zur wesentlich profilierteren
Filmpolitik auf sozialdemokratischer Seite relativ marginal. Im Rahmen der »Österreichischen Roten Hilfe« und der »Österreichischen Arbeiterhilfe« nahmen jedoch
auch zahlreiche SozialdemokratInnen an der KP-nahen Kultur- und Filmarbeit teil.
Proletarisches Kino in Österreich ist, auch aus diesem Grund, ohne die Geschichte
kommunistischer Filmkultur als Erweiterung der bislang ausschließlich erforschten
sozialdemokratischen nicht zu verstehen. Bedingungslose Affirmation der Sowjetunion, das Festhalten an der Idee einer proletarischen Revolution in Österreich und
konsequenter Antifaschismus waren Charakteristika kommunistischer Filmarbeit.
Sie verstand sich in jedem Moment als ein Element der politischen Agitation und
reagierte immer wieder auf tagesaktuelle Politik. Deswegen ist es unumgänglich,
ihre Geschichte im zeitgeschichtlichen Kontext darzustellen, umso mehr, als die
Geschichte der KPÖ und ihrer Vorfeldorganisationen nicht als bekannt vorausgesetzt werden kann, ja oft genug noch nicht einmal geschrieben ist.
Im Zuge des parteiübergreifenden Phänomens der »Russenfilm-Welle« setzten die
kommunistischen Organisationen vor allem auf den Einsatz sowjetischer Filme. Der
ab 1931 propagierte »Durchbruch zu den Massen« gelang in der Filmpraxis nur ansatzweise. Der »selbstagitatorische Effekt«, den Christine Kanzler240 in Bezug auf
die Theaterarbeit des KPÖ-Proletkults diagnostizierte, war auch für kommunistische Filmveranstaltungen zentral.
Wie für das Theater galt, dass »in dem Maße, wie die Revolution an Aktualität
einbüßt«, diese im Film aktualisiert, »als fiktives Ereignis verfügbar« wurde.241 Noch
am 10.6.1933 wurden im Rahmen einer inoffiziellen kommunistischen Veranstaltung242 »auf vielseitiges Verlangen« im Friedensbrückenkino die zwei emblematischsten russischen Filme in einem »Doppel-Programm« gezeigt: »PANZERKREUZER
POTEMKIN, der unvergessliche Revolutionsfilm des Meisterregisseurs Eisenstein, und
239 Zwischen Mai 1933 und Februar 1934 kam gerade noch ein sowjetischer Film in die Wiener
Kinos, Andrei Winnitzkys DIE AFFEN VON SUCHUM (SUCHUMSKI PITOMNIK OBESJAN, UdSSR 1929),
ein populärwissenschaftlicher Kulturfilm über Experimente zur Untersuchung der Denkfähigkeit (Österr. Zensurlänge: 1364 Meter, Einreicher: IFUK).
240 Kanzler 1997, S. 84.
241 Joachim Paech, Das Theater der russischen Revolution. Theorie und Praxis des proletarischkulturrevolutionären Theaters in Rußland 1917–1924, Kronberg 1974, S. 135; nach Kanzler
1997, S. 132.
242 Ein in der Plakatsammlung der Österreichischen Nationalbibliothek vorhandenes Plakat weist
neben dem Ankündigungstext Wilhelm Prager als Anmelder der Veranstaltung aus. Obwohl
darauf keine veranstaltende Organisation mehr genannt wurde, ist die Wiener Adresse des
Café Post in der Blumauergasse 1, wo Eintrittskarten erhältlich waren, eindeutig als »kommunistische« Adresse zu identifizieren.
300 | Peter Grabher
ZEHN TAGE, DIE DIE WELT ERSCHÜTTERTEN,
der herrliche Film über die siegreiche russische Revolution«. Auch in Österreich hatte das Kinopublikum wahrgenommen,
dass diese Filme »eine Wand durchstoßen« und »zum ersten Male vielleicht eine
Wirklichkeit dargestellt« hatten, wie Siegfried Kracauer in seiner Besprechung des
POTEMKIN geschrieben hatte.243 »Er zeigt einen Augenblick der Revolution. Die Wand
ist durchlöchert, ein wahrer Gehalt tritt hervor.« Dass »von der Leinwand sich
Erregungen […] fortpflanzen [könnten], die unbequem sind« (ebd.) – darauf hatte
die Filmarbeit der kommunistischen Organisationen gesetzt.
Zentrales enthusiasmierendes Element der Sowjet-Projektionen waren die Bilder
von Massen. In seinen Erinnerungen bezog sich Manès Sperber – inzwischen Antikommunist – auf die Bedeutung solcher Aufnahmen: »Die Masse; die weltgeschichtliche Aufgabe der proletarischen Masse […] – welch starker Klang eignete diesen
Worten […]! Und es waren Massen […], die in Moskau und Leningrad Trotzki zujubelten, dann Bucharin und Tuchatschewski und sodann ihren Mördern. Und auch
diese Massen kannten wir gut, denn wir hatten sie in den Filmen Eisensteins und
Pudowkins gesehen und in den sowjetischen Wochenschauen bewundert.«244 Tatsächlich wurde die aufstachelnde Funktion der Filme bald von einem Täuschungseffekt überlagert: Ein projiziertes Bild der Sowjetunion schob sich vor die Realität
des Sowjetstaates, in Österreich wie in der Sowjetunion selbst, wo zwischen 1929
und 1933 ein Drittel der produzierten Filme verboten wurde.245 Babette Gross berichtet von einem Aufenthalt in der Sowjetunion mit Willi Münzenberg:246 »1930
243 Siegfried Kracauer, »Die Jupiterlampen brennen weiter. Zum POTEMKIN«, in: Frankfurter Zeitung
16.5.1926, wiederabgedruckt in Siegfried Kracauer, Kino, Frankfurt a. M. 1974, S. 73 ff.
244 Sperber 1979, S. 29 f.
245 Bernard Eisenschitz (Hg.), Lignes d’ombre. Une autre histoire du cinéma soviétique (1926–
1968), Mailand 2000, S. 196.
246 Der ehemalige Rote-Fahne-Filmkritiker und Proletkult-Aktivist Kurt Landau übte 1932 heftige
Kritik an Münzenberg und nannte ihn einen Opportunisten und »Apostel des Stalinismus«:
»Der deutsche Faschismus« sei »seit Jahren durch die Theorie vom Sozialfaschismus gestärkt.
[…] Münzenberg glaubt wahrscheinlich, daß die NSDAP die reformistischen Organisationen
nur zum Schein bekämpft, er hat nicht begriffen, daß der Faschismus nur auf dem Wege der
Vernichtung der Macht der SPD zum alleinigen Lakaien des Kapitals werden kann.« (Der neue
Mahnruf, 1932, Nr. 5 (März), S. 3). Münzenberg hatte zuvor »Trotzkis […] Vorschlag einer
Blockbildung der KPD mit der SPD« als »faschistisch« bezeichnet. (Roter Aufbau 15.2.1932)
Trotzki selbst attackierte Münzenberg im Juni 1932: »Lärmende Paraden« und »Potemkinsche Dörfer« seien dessen Spezialität, und »die Arbeit, die normalerweise vom MünzenbergDienst gemacht wird«, sei »Maskerade und Scharlatanerie« (zitiert nach Pierre Broué, »Lew
Dawidowitsch Trotzki und Willi Münzenberg«, in: Tania Schlie/Simone Roche (Hg.), Willi
Münzenberg (1889–1940). Ein deutscher Kommunist im Spannungsfeld zwischen Stalinismus
und Antifaschismus, Frankfurt a. M. 1995, S. 157). Trotzki schrieb kurzfristig für die in Wien
erscheinende Neue Weltbühne Ossietzkys. Willi Schlamm, Ex-KPÖ-Mitglied, hatte ihn eingeführt. Nach seinem Hinauswurf macht Trotzki die GPU verantwortlich und vermutete, dass
Münzenberg hinter den neuen Besitzern stehe. Sowohl Trotzki als auch Münzenberg wurden
1940 im Abstand von wenigen Tagen höchstwahrscheinlich von Agenten Stalins ermordet.
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war es bereits soweit gekommen, daß das Publikum im Kino aufstand und zu klatschen begann, sobald Stalins Bild auf der Leinwand erschien.«247 In der Begeisterung
über den sozialistischen Aufbau war die Wahrnehmung der gewaltsamen Zwangskollektivierung und der darauf folgenden Hungerkatastrophe von 1932/33 radikal
gelöscht – »seeing is believing«.248 Jede Filmvorführung war auf diese Weise von
einer Ambivalenz geprägt: Die virtuelle Präsenz der Sowjetunion im Kino spendete
Hoffnung und Kraft für den täglichen Kampf, war jedoch auch ein kalkulierter Akt
Stalin’scher Außenpolitik.
»Wir stapften schweigend durch den matschigen Schnee. Als wir in eine menschenleere Seitengasse einbogen, leuchtete in mattem Licht das Wort ›Tonkino‹ aus dem
nächtlichen Nebel.«249 An diesem Abend wurden im ehemaligen Arbeiterheim Floridsdorf keine Filme gezeigt. Am 7. März 1938, wenige Tage vor der Katastrophe,250
trafen einander mit Erlaubnis der Regierung Schuschnigg und der Polizei Mitglieder
der illegalen KPÖ und der illegalen sozialdemokratischen Gewerkschaften zu einer
Lagebesprechung. Bruno Frei, ein Wiener Journalist, berichtet in seinen Memoiren
von dieser Versammlung. Es war die erste Konferenz von Betriebsdelegierten seit
dem Februar 1934. Sie fand in einem Kinosaal der »Lichtspiele Floridsdorf« in der
Angerergasse 14 statt. Deren Konzessionär war seit 1935 der »Gewerkschaftsbund
der Österreichischen Arbeiter und Angestellten«. Vor dem Februar 1934 hatten im
»Arbeiterheim Floridsdorf« zahlreiche linke Filmveranstaltungen stattgefunden.
Das Gebäude war während der Februarkämpfe nach Angriffen der Regierungstruppen abgebrannt. 1935 war es mit 610 Plätzen neu gebaut worden.251 Der Saal
war am Abend der Versammlung zum Tanz mit Girlanden und Papierlampions
geschmückt, dreihundert Delegierte waren gekommen: »Die Rednertribüne war rot
drapiert. Wie lange hatte man das nicht gesehen?« Am 3. März 1938 hatten Vertrauensmänner aus den Wiener Großbetrieben mit Schuschnigg gesprochen: »Hitler
stand vor den Toren, niemand wußte es besser als dieser Kanzler, der ihm in Berchtesgaden Aug in Aug gegenübergestanden. Die Floridsdorfer Versammlung war
genehmigt worden, damit die Delegation über die Unterredung berichten konnte.«
Die Versammlung fand »ungefähr in der gleichen Zusammensetzung [statt], wie sie
vor vier Jahren auseinandergegangen war. […] Es war so feierlich, daß es einem den
Atem raubte.« Ein SP-Gewerkschaftler: »Drei Möglichkeiten gäbe es jetzt: vorbehaltlose Unterstützung der Diktatur, die Rolle uninteressierter Zuschauer oder bedingte Zusammenarbeit.« Otto Horn präsentierte die Losung der Kommunisten:
»Widerstand um jeden Preis. Wie der Tell. Das bedeutet aber, die legalen Möglichkeiten auszunützen.« Laut Frei schwankte die Atmosphäre »zwischen rückblickendem Ressentiment und vorausprellendem Aktivismus. Fast jeder Redner erntete
Beifall – das allein zeigte die Zwiespältigkeit der Gefühle.«
Wie war dieses Zusammentreffen zu bewerten? Die Meinungen gehen auseinander. Stimmt die retrospektive Einschätzung des SP-Gewerkschafters Karl Mantler,
zu diesem Zeitpunkt sei Widerstand nicht mehr möglich gewesen? Oder ist Bruno
Frei zuzustimmen, der betont, die Geschichte hätte, ausgehend von dem Floridsdorfer Kinosaal, »einen anderen Verlauf genommen, wäre der Aufruf zum Widerstand von der Versammlung ausgegangen«?
247 Gross 1967, 195 f.
248 Im November 1929 hatte Stalin die »Liquidation der Kulaken als Klasse« verkündet. Diese
gipfelte in einer gewaltigen Zwangsvertreibung: Bis 1931 waren 5 Millionen russischer Bauern
in die Verbannung und in Lager verschickt worden, wo viele von ihnen umkamen. Manès
Sperber erinnerte sich 1979 an den Moment, in dem er erfuhr »was die Dekulakisierung wirklich gewesen war. […] Wir kannten aus großen Reportagen und aus sowjetischen Filmen den
rücksichtslosen Kampf, den die Kulaken gegen die landarmen Bauern führten, welche in den
vom Staat mit allen Mitteln geförderten Kolchosen die endgültige Lösung all ihrer Probleme
sahen.« Sperber 1979, S. 145 f.
249 Frei, Der Papiersäbel, S. 207–215. Der österreichische Journalist Bruno Frei wurde 1931
Chefredakteur der neuen Münzenberg-Tageszeitung Berlin am Morgen. Er präsentierte sich als
»parteiloser Linker« und fand »rasch den richtigen Ton für die Berliner« (Gross 1967, S. 177).
250 Unter den aktiven WiderstandskämpferInnen, die dem NS-Terror zum Opfer fielen, war der
Anteil der KommunistInnen am größten: Mehr als 2000 wurden bis 1945 hingerichtet, darunter ein Drittel des Zentralkomitees der KPÖ. Viele von ihnen waren SozialdemokratInnen,
die erst nach den Februarkämpfen der KPÖ beigetreten waren.
251 Werner Michael Schwarz, Kino und Kinos in Wien. Eine Entwicklungsgeschichte bis 1934,
Wien 1992, S. 294.
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