Academia.eduAcademia.edu
Alexandra Grund „Und das Volk ruhte am siebten Tag“ (Ex 16,30) – Sabbat, Gebot und Identität in der priesterlichen Komposition Einleitung 1 Wie bei vielen Begriffen, so ist es auch bei dem der Identität: Wie er gebraucht wird, was er bedeutet, hat mit seiner Etymologie nur wenig zu tun. Was die Identität einer Gruppe oder eines Menschen ausmacht, was als Unterscheidungsmerkmal von anderen hervorgehoben wird, ist vielfach nicht etwas, das sich von Anbeginn durchhält. Dass Menschen wie Gruppen ihre Identität gerne in einem von Anfang an bestehenden Wesen suchen, wie in einem nur zur Entfaltung kommenden Keim, ist so bekannt wie die faktische Veränderlichkeit und sogar Zerbrechlichkeit von Identitäten. 2 Ob der Ausdruck „Identität“, der eine stete Übereinstimmung mit einer Art „Wesenskern“ suggeriert, der Dynamik und dem Prozesscharakter von Selbstverständnissen gerecht wird, kann man durchaus fragen. Um zu beschreiben, wie sich jemand oder eine Gruppe im Verhältnis zu anderen, zur Welt, zu Gott, auch zu sich selbst in anderen Zeiten versteht, scheinen angrenzende Begriffe wie ‚Selbstkonzept‘ oder ‚Selbstverständnis‘ vielfach geeigneter. 1 Stil und interdisziplinäre Ausrichtung des Vortrags auf der Ebernburg sind im Aufsatz beibehalten. 2 So auch M. Grohmann, Identitätskonzepte im alttestamentlichen Israel, in: M. Öhler (Hg.), Religionsgemeinschaft und Identität. Prozesse jüdischer und christlicher Identitätsbildung im Rahmen der Antike, Neukirchen-Vluyn 2013, 17–41: 17. 52 Alexandra Grund Besonders komplex ist die Frage nach Identitäten von Gruppen oder Ethnien, die für eine Vielzahl von Personen in Geltung stehen sollen, so dass es fast notwendig unterschiedliche Meinungen über das für diese Gruppe und für die Zugehörigkeit zu ihr Wesentliche gibt. Eine Pluralität von Selbstverständnissen wird man synchron und diachron auch für das alte Israel 3 feststellen. Die historische Rekonstruktion dessen, was die Bevölkerung Israels / Palästinas zwischen vorstaatlicher und hellenistischer Zeit als kennzeichnend und prägend für sich wahrgenommen hat, fällt ausgesprochen schwer. 4 Leichter fällt es dagegen, zu beschreiben, was die später kanonisch gewordenen Texte ihren intendierten Leser/inne/n als Selbstverständnis Israels vor Augen führen, auch wenn wir über die damaligen Vermittlungsformen dieser Texte an die kaum lesekundige Bevölkerung gerne mehr wüssten. Wenn diese Texte die Begehung des Sabbats vorschreiben, intendieren sie immerhin einen konkreten Brückenschlag zur Lebenswirklichkeit. Nach einer langen Tradition der Kritik an „jüdischer Partikularität“ und der Geringschätzung der rituellen Gebote, von Reinheitsgeboten bis zu Sabbat und Beschneidung, ist ihr neuer Deutungsrahmen als identity marker, die das Selbstverständnis einer Gemeinschaft erhalten, weitgehend etabliert. Dass vor allem der Sabbat für das Selbstverständnis des frühnachexilischen Israel bzw. Judentums von großer Bedeutung war, ist weitgehend akzeptiert; so hat M. Köckert Sabbat und Beschneidung gar als „nota ecclesiae“ Israels bezeichnet. 5 3 Bereits als wissenschaftliche Fremdbeschreibung markiert die viel zu summarische Bezeichnung der Bevölkerung des antiken Israel / Palästina als „Israel“ bereits ein ganzes Ensemble von methodischen Problemen. 4 Für eine der schwierigen Aufgabe angemessene Annäherung an Identitätskonzepte im alten Israel s. Grohmann, Identitätskonzepte (Anm. 2). 5 M. Köckert, Ein Palast in der Zeit: Wandlungen im Verständnis des Sabbatgebotes, in: ders., Leben in Gottes Gegenwart. Studien zum 53 Sabbat, Gebot und Identität Nach einführenden Bemerkungen zu den Ursprüngen des Sabbats werde ich seine Bedeutung für das Selbstverständnis Israels nach der priesterlichen Komposition ins Zentrum meiner Überlegungen stellen. Denn diese war sowohl für die Endgestalt des Pentateuch als auch für die Theologie des Sabbats von prägender Bedeutung. I. Zur Entstehung des Sabbats Vor gut einem Jahrhundert entwickelte Johannes Meinhold die These, dass der israelitische ‫ ַשׁבָּ ת‬in vorexilischer Zeit ein Vollmondtag gewesen sei, entsprechend dem als šabattu 6 bekannten mesopotamischen Vollmondtag, mit der Begründung, dass in vorexilischen Texten entweder allein vom siebten Tag oder allein vom ‫ַשׁבָּ ת‬ die Rede sei, dass ‫ ַשׁבָּ ת‬und siebter Tag dort weder gemeinsam vorkommen, noch miteinander identifiziert werden und dass vom ‫ ַשׁבָּ ת‬dort meist zusammen mit dem Neumond die Rede ist. 7 Bei den Gegnern dieser These verspürt man seit jeher den Widerstand dagegen, dass ausgerechnet der für Israels „Identität“ so entscheidende Sabbat als Vollmondtag ursprünglich an einem naturzyklischen Rhythmus orientiert gewesen sein soll, während sich bei den Verfechtern dieser These das Interesse an der kleinen religionsgeschichtlichen ‚Sensation‘ nicht leugnen lässt, dass ausgerechnet Israels Sabbat ursprünglich ein an natürlichen Rhythmen orientierter Mondtag gewe6F Verständnis des Gesetzes im Alten Testament (FAT 43), Tübingen 2004, 109–151, 112. 6 Auch die Schreibweise šapattu ist bezeugt, ohne einen Bedeutungsunterschied. 7 Dargelegt u.a. in J. Meinhold, Sabbat und Woche im Alten Testament. Eine Untersuchung (FRLANT 5), Göttingen 1905. Die seitdem immer wieder anhebende Diskussion zu dieser These soll hier nicht dargestellt werden. Für einen weiteren Forschungsüberblick s. A. Grund, Die Entstehung des Sabbats. Seine Bedeutung für Israels Zeitkonzept und Erinnerungskultur (Forschungen zum Alten Testament 75), Tübingen 2011, 2–9 (Lit.). 54 Alexandra Grund sen sein soll. Beide leitenden Interessen führen aber allenfalls zu Verzerrungen bei der Wahrnehmung des Befundes. Sabbat Neumond/e + Sabbat/e Siebter Tag als Ruhetag Sabbat als siebter Tag Am 6,3; 2Kön 16,18 (?); Thr 2,6; KAI 200 vorexilisch – exilisch 2Kön 4,23, Hos 2,13; Am 8,5; Jes 1,13 [vgl. Jes 66,23]; Ez 45,17 vorexilisch – exilisch Ex 23,12; 34,21 8 vorexilisch Ex 16,23.25.26.29; 20,8.10.11; 31,13.14.15.16; 35,2.3; Lev 19,3.30; 23,3.11.15.16.38 u.a.; Num 15,32; 28,8.10; Dtn 5,12.14.15; u.v.m. in 1–2 Chr u. Neh exilisch – nachexilisch Tab. 1: Vorkommen von Sabbat und siebtem Tag nach Beleggruppen Alle Indizien sprechen tatsächlich dafür, dass das Wort ‫ ַשׁבָּ ת‬in vorexilischen Texten den mit Wallfahrt zum Tempel und mit Opfer begangenen Vollmondtag bezeichnete, dass ‫ ַשׁבָּ ת‬ein womöglich unter neuassyrischem Kultureinfluss eingewandertes akkadisches Lehnwort ist und sich vom Lexem šabattu für den 15. Tag des Monats herleitet. Dagegen war der siebte Tag aus Ex 23,12 und Ex 34,21 ein unkultischer Ruhetag, an dem man lediglich mit der Arbeit auf dem Acker aufhörte, der aber mit Wallfahrt und Festen beim Tempel nichts zu tun hatte. Der Tag, den beispielsweise Thr 2,6 als ‫ ַשׁבָּ ת‬kennt und im Rückblick schmerzlich vermisst, scheint ohne einen Tempel nicht feierbar gewesen zu sein: Und er hat wie dem Garten seiner Hütte Gewalt angetan, verwüstet hat er seinen Versammlungsort, vergessen gemacht hat JHWH in Zion Festzeit und ‫שׁבָּ ת‬ ַ , und er verwarf in seinem grimmigen Zorn König und Priester. 8 Ex 34,21a übernimmt wörtlich den vorexilischen Text aus Ex 23,12. Sabbat, Gebot und Identität 55 Der vorexilische Ruhetag von Ex 23,12 (vgl. 34,21) kann wie der Sabbat des Dekalog hingegen gut ohne Tempel, zu Hause und nur unter Arbeitsruhe begangen werden, doch erst in den Dekalogsabbatgeboten trägt dieser Ruhetag den Namen ‫שׁבָּ ת‬. ַ Die oft zu lesende Folgerung, der uns bekannte Sabbat sei ursprünglich ein Vollmondtag gewesen, erweist sich dennoch als ein Fehlschluss. Denn Form, Struktur und Gehalt des Wochensabbats haben ihre Wurzeln eindeutig im siebten Tag des in 34,21 übernommenen vorexilischen Ruhetagsgebots Ex 23,12, lediglich der Name ‫ ַשׁבָּ ת‬stammt vom vorexilischen Vollmondtag. Das wird bereits deutlich an der weitgehend wörtlichen Übernahme der vorexilischen Ruhetagsgebote in die Sabbatgebote des Dekalogs. Es wird meist angenommen, dass die Arbeitsenthaltung am siebten Tag in der Exilszeit eine Bedeutungssteigerung erfuhr. Mit Tempelzerstörung und Exilierung der Oberschicht waren Umstände eingetreten, die eine Transformation der Festpraxis notwendig machten. Die Begehung der Feste und herausgehobenen Tage am Tempel und damit die gemeinschaftliche Erfahrung von Gottesnähe waren entscheidend gestört, schon weil die Festlegung von Festdaten durch astronomische Berechnung und ihre Bekanntmachung kaum mehr durchführbar war. Da lag es nahe, dass der siebte Tag eine herausgehobene Bedeutung erhielt, denn der „Siebentagerhythmus ... ist durch einfaches Zählen allezeit eindeutig bestimmbar“ 9. Dass der siebte Tag zuvor bereits bekannt war, sich durch eine relativ hohe Frequenz auszeichnete und als ‚Ruhetag‘ in den Umweltkulturen ohne Parallele war – all das machte ihn als Unterscheidungsmerkmal zur Bewahrung von Israels Identität, ja der Größe „Israel“ selbst besonders geeignet. Als Bezeichnung für diese Institution bot sich der Festterminus ‫ ַשׁ בָּ ת‬an, der mit dem Verb ‫שׁבת‬ ‚aufhören‘ von Ex 23,12 zwar etymologisch nichts zu 9 I. Willi-Plein, Am Anfang einer Geschichte der Zeit, ThZ 53 (1997) 151, 152–164. 56 Alexandra Grund tun hat, aber durch die Ähnlichkeit des Klanges mit dem ‚Aufhören‘ am siebten Tag in geheimnisvoller Verbindung zu stehen schien. Es waren vermutlich priesterliche Tradentenkreise, die den Ausdruck ‫ ַשׁבָּ ת‬mit der Arbeitsenthaltung am siebten Tag und auch mit dem Verb ‫ שׁבת‬assoziierten. Daher ist deren Vorstellung, was der Sabbat für Israels Selbstverständnis bedeutet, von besonderem Interesse. II. Der Sabbat im Erzählbogen Gen 1 – Ex 16 Die priesterliche Komposition erzählt in weiten Teilen identitätsrelevante „fundierende Geschichte“, sie ist geradezu dazu geschaffen, Israel vor Augen zu führen, woher es kommt, was seine Bestimmung ist, wer Israel ist: im Verhältnis zu Gott und, wenn auch eher implizit, im Verhältnis zur Völkerwelt. Doch beginnt P nicht mit der Entstehung Israels, sondern mit einer Kosmogonie und der Entstehung der Menschheit. Israel als Volk betritt erst nach der Erzelternzeit die Bühne. Die Kontinuität des Volks in seiner Geschichte ist somit weder einheitlich noch selbstverständlich. Sie ist stark periodisiert und, wie V. Fritz und E. Blum zutreffend beschrieben haben, durch eigenartige Setzungen und Neuanfänge gekennzeichnet. 10 Bemerkenswert ist ferner, dass der Schöpfer der Welt und der Menschheit Elohim, der Gott der Erzeltern El Schaddaj und der Gott Israels JHWH zwar ein und derselbe ist, dass er aber in den verschiedenen Perioden der Geschichte unterschiedliche Namen trägt und sich in Ex 6 erst ausdrücklich als ein und derselbe zu erkennen geben muss. Wie Israel sich aus Sicht von P verstehen soll und wie sich das in der Arbeitsruhe am siebten Tag zeigen soll, wird zunächst im Erzählbogen von Gen 1 bis Ex 16 vor Augen geführt. 10 S. hierzu u.a. E. Blum, Studien zur Komposition des Pentateuch (BZAW 189), Berlin 1990, 260; V. Fritz, Das Geschichtsverständnis der Priesterschrift, ZThK 84 (1987) 426–439, 428ff. Sabbat, Gebot und Identität 57 1. Gen 1,1–2,3: Der siebte Tag als Ziel der Schöpfung Aus der gesamten Kulturgeschichte ist kein weiterer kosmogonischer Mythos bekannt, der wie Gen 1,1–2,3 die Form eines Sechstagewerks hätte. Hinter dieser auffälligen Form steht offenbar als besonderes Anliegen der priesterlichen Verfasser die Heraushebung des siebten Tages. I 1,1 Anfang der Schöpfung ‫הָ אָ ֶרץ‬/ ‫הַ ָשּׁ ַמיִם‬/ ‫ֵראשׁית‬ 1,2 Vorweltschilderung 1,3–5 Zeit: anfängliche Rhythmisierung I–IV II 1,6–8 Raum: Himmel (Luft) LebensIII 1,9–13 Raum: – Erde, Meer bereiche – Pflanzen tragende Erde IV 1,14–19 Zeit: fortwährende Ordnung Regierung über die Zeit .................................................... V 1,20–23 Wasser- / Himmels-Tiere Segen V–VI VI 1,24–31 Landtiere LebeMensch Segen wesen Herrschaft über die Lebewesen (‚dominium terrae‘) -----------------------------------------VII 2,1–3 Vollendung der Schöpfung Segen + Heiligung ‫ כלה‬pi./ ‫הָ אָ ֶרץ‬/ ‫הַ ָשּׁ ַמיִם‬ Tab. 2: Gliederung von Gen 1,1–2,3 Vermutlich ist es sogar auf diese Sieben-Tage-Struktur zurückzuführen, dass die Einteilung in Tage überhaupt zur umfassenden Ordnungskategorie des Schöpfungswerks geworden ist. 11 Der siebte Tag ist somit für den 11 Diese Einschätzung beinhaltet, dass Gen 1,1–2,3 im Wesentlichen einheitlich ist, wie es nach Stecks einschlägiger Studie bis heute nahezu Konsens ist, vgl. O.H. Steck, Der Schöpfungsbericht der Priesterschrift (FRLANT 115), Göttingen 1975. Das wurde in jüngerer Zeit zwar verschiedentlich wieder bestritten, u.a. durch Chr. Levin, Tatbericht und Wortbericht in der priesterschriftlichen Schöpfungserzählung, ZThK 91 (1994) 115–133. Doch ist es m.E. nicht vorstellbar, dass die Verbindung von Schöpfung in sieben Tagen und Sabbat nicht 58 Alexandra Grund weiteren Erzählverlauf der priesterlichen Komposition von besonderer Bewandtnis, ohne dass hier bereits aufgelöst wird, worin diese genau besteht. Sie wird aber im weiteren Verlauf der priesterlichen Komposition erst viel später entschlüsselt, und zwar im erweiterten Umfeld des Sinai im Zusammenhang der Entdeckung des Sabbats in Ex 16. 2. Die Entdeckung des Sabbats in der Wüste: Ex 16 Die erste Erzählung im priesterlichen Textkorpus, die nach der Schöpfung wieder vom siebten Tag handelt, ist Ex 16*. Dass Ex 16 eine in weiten Teilen priesterliche Erzählung ist, ist aus guten Gründen exegetischer Konsens 12, lediglich V.4f.27f gehen vermutlich auf eine deuteronomistischen Texten nahestehende Bearbeitung zurück. Von mehreren wird zwar Ex 16,16ff 13, Ex 16,13ff 14 oder Ex 16 insgesamt 15 nicht zur frühesten priesterlichen Schicht gezählt. Der Aufbau entspricht aber durchaus der von Westermann, Ruprecht und Schart 16 herausgearbeiteursprünglich schon in ‚P‘ angelegt ist; s. hierzu im Einzelnen Grund, Entstehung (Anm. 7) 202f. 12 Der von Elliger formulierte ältere ‚Konsens‘ zu Pg umfasst in Ex 16 V.1–3.6f.9–13a.14bα.16bγ–20.22–26.31a.35b; siehe K. Elliger, Sinn und Ursprung der priesterlichen Geschichtserzählung, in: ders., Kleine Schriften zum Alten Testament (TB 32), München 1966, 174–198, 174f. 13 P. Maiberger, Das Manna. Eine literarische, etymologische und naturkundliche Untersuchung (2 Bde.) (ÄAT 6), Wiesbaden 1983, 142ff; U. Struppe, Die Herrlichkeit Jahwes in der Priesterschrift. Eine semantische Studie zum kebôd YHWH (ÖBS 9), Klosterneuburg 1988, 119ff. 14 P. Weimar, Struktur und Komposition der priesterschriftlichen Geschichtsdarstellung, BN 23 (1984) 81–134, 85, Anm. 18. 15 Th. Pola, Die ursprüngliche Priesterschrift. Beobachtungen zur Literarkritik und Traditionsgeschichte von Pg (WMANT 70), Neukirchen-Vluyn 1995, 136ff. 16 C. Westermann, Die Herrlichkeit Gottes in der Priesterschrift, in: ders., Forschung am Alten Testament (GSt II), München 1974, 115– 137; E. Ruprecht, Stellung und Botschaft der Erzählung vom Mannawunder (Ex 16), ZAW 86 (1974) 269–306; A. Schart, Mose und Israel Sabbat, Gebot und Identität 59 ten Grundstruktur der priesterlichen Murrgeschichten, bei denen jeweils die folgenden Elemente in gleicher Abfolge auftreten: 1. Wegenotiz 2. Mangelsituation 3. Murren der Israeliten 4. Reaktion Moses (und Aarons) 5. Erscheinen (‫ ראה‬ni.) des ‫( כְּ בוֹד יהוה‬Herrlichkeit JHWHs) 6. JHWH-Rede: Ankündigung der Beseitigung des Mangels 7. Durchführung des Angekündigten 17 Der letzte Teil dieses Schemas der priesterlichen Murrgeschichten, das Handeln JHWHs und Israels Erkenntnis dieses Handelns in V.13–30, ist dabei lediglich etwas komplexer als andernorts geschildert, was aber auf die besondere Intention dieser Murrgeschichte zurückzuführen ist. Würde man V.16ff nicht zum Grundbestand des priesterlichen Textcorpus zählen, wäre der Sabbat an keiner Stelle eingeführt, was nach dem Gewicht des siebten Tages in Gen 1,1–2,3 kaum vorstellbar ist. Ex 16* kann folgendermaßen gegliedert werden. 1 2f 6f 9f 11f Wegenotiz Murren der Israeliten angesichts der Wüste Ankündigung des ‫ כְּ בוֹד יהוה‬durch Mose und Aaron Erscheinen (‫ ראה‬ni.) des ‫כְּ בוֹד יהוה‬ JHWH-Rede an Mose: Ankündigung von Versorgung und JHWH-Erkenntnis 13–30 Erfüllung des Angekündigten 13–15 Versorgung mit Wachteln und Manna 16–18 Jeder sammelt, so viel er braucht 19–21 Das Manna soll nicht aufbewahrt werden 23–24 Vorbereitung auf den Sabbat 25f.29f Der erste Sabbat 31 Benennung des Manna 32f.35 Die weitere Geschichte des Manna im Konflikt. Eine redaktionsgeschichtliche Studie zu den Wüstenerzählungen (OBO 98), Fribourg / Göttingen 1990, 136ff. 17 Die von Westermann, Herrlichkeit (Anm. 16) 129, vorgefundenen Strukturelemente sind hier um die von Schart, Mose (Anm. 16) 136– 139, herausgearbeiteten weiteren Erzählelemente ergänzt. 60 Alexandra Grund Der Abschnitt V.13–30 entfaltet somit schrittweise die Erfüllung der Ankündigung JHWHs. Insgesamt ist dabei eine wiederkehrende Struktur erkennbar: A (Deutung u.) Anweisung des Mose V.16 / V.19 / V.23 / V.25f.29 B Ausführung durch die Israeliten: V.17 / V.21 / V.24a / V.30 C Überraschende Entdeckung und erstauntes Fragen der Israeliten: V.18 / V.22 / V.24b Diese kettenartige Struktur ist inhaltlich von Interesse. Denn dass durch die Gaben immer neue Fragen provoziert werden und ihre Bedeutung stufenweise enthüllt wird, zeigt eine eigentümliche Didaktik JHWHs, die den Israeliten Schritt für Schritt zu der Erkenntnis verhilft, dass er in der Tat ihr Gott ist, der sie in der Wüste versorgt und ihnen darüber hinaus noch den ‫ ַשׁבָּ ת‬gibt. In der sich steigernd wunderhaften Versorgung schraubt sich dabei das fortschreitende Verstehen und Befolgen der von JHWH gegebenen Ordnungen empor bis zur Klimax im letzten Erkenntnisschritt, nämlich der Gabe des Sabbats. Die priesterliche Komposition verfolgt damit ein weiteres wichtiges Ziel, die Entdeckung des Sabbats noch vor der Sinaioffenbarung. Einen Monat und einen Tag nach der Herausführung aus Ägypten hatte Israel in der ersten Konfrontation mit der Wüste schon wieder vergessen, wer es aus Ägypten geführt hat. Diese beiden Notlagen, der Mangel der Wüstensituation und die fehlende JHWH-Erkenntnis, werden im Verlauf der Erzählung sukzessive behoben. Die Rede JHWHs V.11f, der (ausgerechnet!) aus der furchterregenden Wüste rettend erscheint und der Israels Versorgung und Gotteserkenntnis ankündigt, reagiert auf beide Notlagen. Die Ankündigung erfüllt sich in V.13ff Schritt für Schritt, entsprechend der ‚Symboldidaktik‘ JHWHs, die des Mose als Interpreten bedarf. JHWH hat für Israel gewissermaßen ein ‚entdeckendes Lernen‘ vorbereitet, und Mose gibt die entscheidenden Hilfestellungen zur Sabbat, Gebot und Identität 61 ‚Ergebnissicherung‘. Zugleich entschlüsselt Mose auf diese Weise auch das Geheimnis, das seit Gen 1,1–2,3 mit dem siebten Tag verbunden war: Der siebte Tag ist ‫ ַשׁבָּ תוֹן ַשׁבַּ ת־קֹ ֶדשׁ לַ יהוה‬, eine ganz besonders heilige Ruhezeit für JHWH, die hier nun auch mit einem eigenen Terminus bezeichnet wird (V.26). Was es damit auf sich hat, wird für Israel wiederum im entdeckenden Lernen deutlich an den Eigentümlichkeiten, die der Tag mit sich bringt: Eine doppelte Ration Manna am sechsten Tag, die das Sammeln am siebten Tag unnötig macht. Die Erstrezipient/inn/en sollen und können sich mit dem Israel dieser Erzählung identifizieren, sofern sie sich in dessen Nachfolge verstehen. Sie verstehen die Sorge um das tägliche Brot in der ersten Begegnung mit der Wüste und können das Murren für gerechtfertigt halten oder auch verurteilen. Durch die wunderhafte Versorgung Israels durch Manna und Wachteln wird eine Haltung nahegelegt, wonach man sich sogar in Wüstenzeiten auf JHWHs Ankündigungen, die er durch Mose kundtut, und auf JHWHs Versorgung verlassen kann. Die Erzählung begegnet der Neigung, über das ‚tägliche Brot‘ hinaus vorsorgen zu wollen, und will von vorneherein die Sorge vor wirtschaftlichen Einbußen durch Halten des Sabbats nehmen. Bei einzelnen Erzählelementen wie in V.20 und V.27 wird Rezipientinnen die Vergeblichkeit eigenmächtigen Handelns vor Augen geführt und demonstriert, dass es ‚gut‘ und zielführend ist, den Anweisungen des Mose bzw. JHWHs zu folgen. Wer sich zu Israel zählen möchte, dem empfiehlt Ex 16, auch in der je eigenen Situation dem guten Beispiel zu entsprechen, das in den Anfängen Israels gegeben wurde – und den Sabbat zu halten. Noch bevor der Sabbat geboten wird, erlernt Israel ihn als einen Rhythmus, der vorgegeben ist, und den zu missachten sich nachweislich nicht lohnt. Der Sinn der Sabbatpraxis besteht nicht zuletzt darin, dass Israel als Volk JHWHs am siebten Tag den von ‫�הים‬ ִ ֱ‫( א‬Gott) anfänglich vorgegebenen Rhythmus nachvollzieht und wie er sabbatlich ruht. Der Bezug zwischen 62 Alexandra Grund Gottes Ruhe in Gen 2,2 und Israels Ruhe in Ex 16,30 wird am siebten Tag durch denselben Wortlaut markiert: Und er [Gott] ruhte am siebten Tag von seinem ganzen Werk. Gen 2,2 Und das Volk ruhte am siebten Tag. Ex 16,30 Das Israel der Erzählung entspricht dem in Gen 1,1–2,3 gegebenen Vorbild. In diesem Vers wird zum ersten Mal im priesterlichen Textzusammenhang Israel als ‫ﬠַ ם‬, als Volk bezeichnet. Damit zeigt sich an dieser Stelle auch zum ersten Mal explizit die Erfüllung der Ankündigung aus Ex 6,7: Dass Israel JHWHs Volk sein soll, und JHWH Israels Gott sein will, hatte JHWH in seiner Rede an Mose ausdrücklich als Ziel des Exodus angekündigt. Indem Israel als zum Bund mit JHWH ausgesondertes Volk das Ruhen des Schöpfers imitiert, wird es als Volk JHWHs kenntlich. Diese Bedeutung des siebten Tages wird lediglich Israel erschlossen, und über Israel hinaus lernt kein anderes Volk den siebten Tag, der in die Schöpfung eingestiftet ist, kennen und wahren. Insofern unterscheidet sich Israel von den anderen Völkern – auf ähnliche Weise, wie nach der gestuften Offenbarungstheologie von P auch nur Israel weiß, dass der Gott der ganzen Welt und ganzen Menschheit Elohim sich als El schaddaj den Erzeltern und als JHWH Mose offenbart hat und Israels Gott sein will. Die universal begonnene priesterliche Erzählung läuft auf Israel zu. Es unterscheidet sich von den anderen Völkern dadurch, dass es den Schöpfer der Welt beim Namen kennt und dass es den in die Welt eingeschriebenen Rhythmus von ihm selbst erlernt; dadurch wird es hier förmlich zu dessen Volk. Dieser Unterschied wird allerdings nicht eigens reflektiert, und Israels Erkenntnisvorsprung ist weit davon entfernt, eine Art Heilsexklusivismus zu begründen. Bemerkenswert ist im Blick auf die identitätsstiftende Absicht P’s der durchaus selbstkritische Blick auf sich 63 Sabbat, Gebot und Identität selbst. Es wird hier wie in den anderen Murrgeschichten und vielen weiteren Pentateucherzählungen gerade kein ideales Bild des frühen Israel gezeichnet. Das entspricht dem durchaus paränetischen Charakter der Texte: Das wenig rühmliche Murren der Altvorderen soll motivieren, den je eigenen Versuchungen besser zu widerstehen. Die nötige Hilfe und die rettende Erkenntnis kommen von JHWH, der zwar selbst unter verschiedenen Namen angeredet wird, der aber für die Kontinuität in Israels „Biographie“ sorgt und auch ein murrendes Israel wie angekündigt zu seinem Volk macht. Bei der nächsten Erwähnung des Sabbats im kanonischen Erzählverlauf ergeht ein allgemeines Sabbatgebot. III. Die Sabbatgebote in Ex 20 und Dtn 5 Das erste Sabbatgebot wird mit dem Dekalog am Sinai in Ex 20,8–11 gegeben und hat wiederum ein priesterliches Gepräge. Die Entsprechungen zwischen den in sich einheitlich wirkenden Sabbatgeboten Ex 20,8–11 bzw. Dtn 5,12–15 und Gen 2,2f sind bemerkenswert. Gen 2,2f 2a Arbeit / tun 2b Arbeit / tun 2a.b (= 2x) am siebten Tag 3 segnen + am siebten Tag 3 heiligen + ruhen (‫)שׁבת‬ Ex 20,8–11 (/ Dtn 5,12–15) Ex 20,9 / Dtn 5,13 Arbeit / tun Ex 20,10 / Dtn 5,14 Arbeit / tun Ex 20,10 / Dtn 5,14 siebter Tag Ex 20,11 segnen + am siebten Tag Ex 20,11 heiligen + ruhen (‫)נוח‬ Tab 3: Entsprechungen von Gen 2,2f mit Ex 20,8–11 und Dtn 5,12–15 Das Sabbatgebot sowohl in der Fassung von Ex 20,8–11 als auch in der von Dtn 5,12–15 beziehen sich terminologisch auf Gen 1,1–2,3 zurück, wenn auch Ex 20,11 noch weitere Bezüge bereithält. Da auch die dtn. Fassung in nicht redaktionellen Teilen priesterliche Formulierungen enthält, liegt es literargeschichtlich nahe, dass das Sabbatgebot auch in seinem Kern von priesterlicher Hand in eine vermutlich bereits in der Sinaiperikope befindliche 64 Alexandra Grund Dekalogversion eingefügt wurde. 18 Man kann also auch in diachroner Lesart in der priesterlichen Komposition das Konzept erkennen, dass das entdeckende Lernen von Ex 16 der Gabe des Gebotes vorausgeht. Dieses ergeht nun prinzipiell, nicht nur als Enthaltung vom Einsammeln des Manna, sondern von jeglicher Arbeit. Der Sabbat erhält damit zugleich einen bedeutenden Rang, wenn er, anstelle anderer Feste – denkbar wäre ja auch das Pessachfest gewesen – Eingang in die so gedrängte Zusammenfassung zentraler Gebote findet. So gilt fortan der Wochensabbat als Feiertag kat exochen. In der Welt der Erzählung wird Israel in Ex 20 zum ersten Mal explizit deutlich gemacht, dass es sechs Tage arbeitet und am siebten ruht, weil JHWH, der hier mit Elohim identifiziert ist, dies bei der Schöpfung genauso gemacht hat. Dadurch dass Israel es dem Schöpfer gleichtut, zeigt es an, dass es auf seine Seite gehört. Damit es dieses Selbstverständnis kontinuierlich zum Ausdruck bringt, wird die Begehung des Sabbats geboten. Wenn die Deuteronomiker dem Dekalog ein Fest eingestiftet hätten, so wäre dies aller Wahrscheinlichkeit nach das Pessachfest gewesen. Aber wenn der Sabbat dem Dtn auch ansonsten unbekannt ist, so wird er in Dtn 5,12–15 doch für charakteristisch dtn. Zwecke eingespannt, nämlich für das Exodusgedenken. Vorrangiger Sinn der Arbeitsunterbrechung ist die Vergegenwärtigung der ehemaligen Sklavenexistenz und die Herausführung aus Ägypten durch JHWH. Der Sabbat wird im Dtn-Dekalog zu einem kleinen, wöchentlichen Pessachfest. Die Erin18 Der Dekalog enthält je nach Zählweise ohnehin bis zu 13 Gebote. Die gegenüber Ex 19–24* deutlich einheitlichere Erzählung vom Horebdekalog in Dtn 5 scheint die Gabe des Dekalogs, ggf. samt Sabbatgebot, aus der Sinaiperikope bereits zu kennen – ansonsten spielt der Sabbat im ganzen Dtn keine Rolle. Ex 20,2–17* ist ansonsten (!) gewiss älter. Eine nachträgliche Einschaltung des Sabbatgebots in den Ex-Dekalog hat aber einige Erklärungskraft, vgl. bereits R. Albertz, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit: Von den Anfängen bis zum Ende der Königszeit (GAT 8,2), Göttingen 1997, 334f mit Anm. 12. Sabbat, Gebot und Identität 65 nerung an den einstigen Sklavenstatus und an die Herausführung aus Ägypten wird hierdurch um ein Vielfaches intensiviert, sie wird in bislang ungeahnter hoher Frequenz ins kulturelle Gedächtnis Israels eingezeichnet. Nachdem außer Pessach (Ex 12,21–23; 12,11f) und Mazzot (Ex 23,15; 34,18; Dtn 16,1–8; Ex 12,17) auch das Wochenfest in Dtn 16,12 bereits mit dem Auszugsgedächtnis verbunden worden war, 19 war es nur konsequent, dass Dtn 5,12–15 auch den Sabbat mit dem Exodus verknüpfte. Das dtn. Sabbatgebot stellt Israels Identität als Volk des Exodus heraus. IV. Der Sabbat als Zeichen des Bundes: Ex 31,12–17 Ein weiteres, explizit identitätsrelevantes Sabbatgebot, das man ebenfalls einer priesterlichen Kompositionsschicht zuordnen kann, ist Ex 31,12–17, der mit dem weiteren Sabbattext Ex 35,1–3 im Zentrum der priesterlichen Sinaierzählung zusammen den innersten Rahmen der Heiligtumsbauperikope bildet, die sich um die Bundesbruch- und Bundeserneuerungsperikope Ex 32–34 legt. Ex 31,12–17 lautet: 12 Und JHWH sprach zu Mose: 13 Du aber rede zu den Israeliten: Nur haltet meine Sabbate! Denn ein Zeichen ist das zwischen mir und euch für eure Generationen, auf dass man erkennt, dass ich JHWH bin, der euch heiligt. 14 Und haltet den Sabbat, denn er ist für euch ein Heiligtum. Wer ihn entweiht, wird gewiss getötet werden, denn jeder, der an ihm Arbeit tut: herausgeschnitten wird die Person aus der Mitte ihrer Völker. 15 Sechs Tage verrichtet man Arbeit, 19 Vgl. zur Verbindung des Laubhüttenfestes mit der Herausführung aus Ägypten Lev 23,42f; zum Ganzen auch u.a. A. Berlejung, Heilige Zeiten. Ein Forschungsbericht, in: Das Fest. Jenseits des Alltags (JBTh 18), Neukirchen-Vluyn 2004, 3–61. 66 Alexandra Grund aber am siebten Tag ist ein Sabbat Sabbaton, heilig für JHWH. Jeder der am siebten Tag Arbeit tut, wird gewiss getötet. 16 Und die Israeliten sollen den Sabbat halten, indem sie den Sabbat tun, für ihre Generationen ist er ein ewiger Bund, 17 zwischen mir und den Israeliten ist er ein Zeichen in fernste Zeit, denn JHWH machte an sechs Tagen Himmel und Erde, aber am siebten Tag ruhte er und erholte sich. Zuweilen wird der Text als uneinheitlich angesehen. Allerdings lässt gerade sein eng gewebter anthologischer Charakter vermuten, dass jede zur vorliegenden Struktur führende Überarbeitung zu umfangreich gewesen sein müsste, um noch rekonstruierbare Vorstufen zu enthalten. A B C D E F G H F' E' D' C' B' A' G' 13 14 15 16 17 Zeichen zwischen mir und den Israeliten für eure Generationen heilig / zu erkennen den Sabbat halten heilig / wird gewiss getötet sechs Tage / aber am siebten Tag Jeder der am siebten Tag Arbeit tut, wird gewiss getötet. heilig / wird gewiss getötet den Sabbat halten heilig / zu erkennen für eure Generationen zwischen mir und den Israeliten Zeichen sechs Tage / aber am siebten Tag Besondere Akzente in der weitgehend konzentrischen Struktur 20 setzt bis zur Textmitte das Stichwort ‚heilig‘ (V.14 [2x]); in der zweite Texthälfte liegt der Akzent auf dem ‚Sechs Tage – am siebten Tag‘-Schema in V.15; V.17). Ex 31,12–17 führt wesentliche, in Ex 16* und 20,8–11 grundgelegte Aspekte weiter. Die Verankerung in der Schöpfung in V.17b, das mit Ex 20,11 in weiten Teilen 20 Vgl. N. Negretti, Il Settimo Giorno (AnBib 55), Rome 1972, 226f. Sabbat, Gebot und Identität 67 wörtlich übereinstimmt, entspricht spiegelbildlich der auf fernste Zeit angelegten Dauer dieses Bundes. Sprachlich und konzeptionell steht der als „SabbatKompendium“ 21 bezeichnete Abschnitt zugleich Texten des Ezechielbuchs (Ez 20,13.16.21.24; 22,8, 23,38; Thema: Entweihung der Sabbate) und des sogenannten Heiligkeitsgesetzes (Thema: Sabbat und Heiligtum) nahe und nimmt auf eine für spätere Texte typische, anthologische Weise Bezug auf Noah- und Abrahambund (Gen 9,16; 17,7.13.19). Die Passage gehört also vermutlich zu einer das ‚Heiligkeitsgesetz‘ integrierenden priesterlichen Schicht. 22 Mit Ex 31,12–17 ist nun auch in der Sinaiperikope von einem ‚ewigen Bund‘ die Rede, der wie der Abrahambund kollektiv unverbrüchlich ist und nur vom Einzelnen übertreten werden kann. 23 Der mit der Beschneidung verbundene Abrahambund wird um ein Erkenntniszeichen, nämlich den Sabbat, erweitert. Diese früher oft abgewertete, mittlerweile aber auch vielfach wertgeschätzte 24 Abschnitt ist reich an theologisch interessanten Aspekten. 25 Aufgrund des Kontextes liegt die in der jüdischen Auslegungstradition geläufige und auch sonst vielfach vertretene Deutung des Abschnitts 21 M. Köckert, Leben in Gottes Gegenwart. Wandlungen des Gesetzes in der priesterlichen Komposition des Pentateuch, in: ders., Leben in Gottes Gegenwart. Studien zum Verständnis des Gesetzes im Alten Testament (FAT 43), Tübingen 2004, 99, Anm. 108; K. Grünwaldt, Exil und Identität. Beschneidung, Passa und Sabbat in der Priesterschrift (BBB 85), Frankfurt a.M. 1992, 178. 22 Vgl. zur Diskussion über eine (teilweise) Zuschreibung zu RP W. Groß, Rezeption in Ex 31,12–17 und Lev 26,39–45, in: R.-G. Kratz / Th. Krüger (Hgg.), Rezeption und Auslegung im Alten Testament und in seinem Umfeld (OBO 153), Fribourg / Göttingen 1997, 45–64, u.a. 23 So treffend Groß, Rezeption (Anm. 22) 54f. 24 Vgl. etwa F. Hartenstein, Der Sabbat als Zeichen und heilige Zeit. Zur Theologie des Ruhetages im Alten Testament, in: Das Fest. Jenseits des Alltags (JBTh 18) Neukirchen-Vluyn 2004, 103–131, 126; C. Dohmen, Exodus 19–40 (HThK), Freiburg i.Br. / Basel / Wien 2004, 280f. 25 Ex 31,16f wird im Übrigen auch in der jüdischen Schabbat-Liturgie im Maarivgebet am Freitagabend zitiert. 68 Alexandra Grund auf eine Einschärfung des Sabbats gerade für die Zeit der Arbeit am Heiligtum 26 nahe: „Israels Arbeit am Heiligtum soll dem Sabbatrhythmus der Schöpfung entsprechen.“ 27 Mit der Heiligung Israels wird das Verständnis des Sabbats als eines ‚Heiligtums‘ 28 für Israel verbunden. Die Kehrseite der Heiligkeit des Sabbats ist allerdings die Gefahr seiner Profanierung, die auch sonst unter Sanktionen gestellt wird. Wenn das Beachten des Sabbats das Zugehörigkeitszeichen par excellence ist, dann erscheint der Ausschluss aus der Gemeinde bei Nicht-Beachtung des Sabbats nur konsequent. Ob der Einzelne ihn hält oder nicht, wird zum Kennzeichen dafür, ob er sich innerhalb oder außerhalb Israels befindet. Allerdings bereitet die Todesandrohung in V.14* hermeneutisch durchaus Schwierigkeiten. Dabei ist zumindest zu berücksichtigen, dass die Todesandrohung (vgl. Num 15,32–36) nicht mit einer von Israels Gerichtswesen verhängten ‚Todesstrafe‘ gleichzusetzen ist. Die ‫מוֹת יוּ ָמת‬Sätze, die früher meist als Todesrechtssätze bezeichnet und verstanden wurden, tabuisieren in priesterlichen Texten präventiv vor allem kultische Ordnungen; sie sind keine vor Gericht anwendbaren oder angewendeten Rechtssätze. 29 28F Deshalb ist es auch nicht erstaunlich, wenn im Selbstbericht Nehemias über seine Maßnahmen zur Heiligung des Sabbats Neh 13,15–22 die 26 Vgl. B. Jacob, Das Buch Exodus (hg. v. Sh. Mayer unter Mitw. von J. Hahn und A. Jürgensen), Stuttgart 1997, 841. 27 Blum, Pentateuch (Anm. 10) 307. 28 Der Gebrauch des Substantivs ‫ קֹ ֶדשׁ‬ist hier tatsächlich auffällig. An ihm hat Jacob den Gedanken der Unterordnung des räumlichen vor dem zeitlichen Heiligtum festgemacht: „Der Sabbat ist das höhere Heiligtum“; Jacob, Exodus (Anm. 26) 844; vgl. auch Heschels Deutung des Sabbats als „Heiligtum in der Zeit“: A.J. Heschel, Sabbat. Seine Bedeutung für den heutigen Menschen (Information Judentum 10), Neukirchen-Vluyn 1990, 2ff. 29 Vgl. hierzu Hieke, der die ‫יוּמת‬ ָ ‫מוֹת‬-Sätze ‚paradigmatisch-paränetisch‘ versteht: Th. Hieke, Das AT und die Todesstrafe, Biblica 85 (2004) 349–374, 373ff. Vgl. die aaO. 369 mit Anm. 72 genannten Beispiele von Verstößen gegen sie, die gänzlich ungeahndet bleiben. Sabbat, Gebot und Identität 69 Anwendung der Todesstrafe als Option nicht vorkommt. Sie zieht lediglich Ermahnungen nach sich. Achenbach hat zwar versucht, aus dem Fehlen des Vollzugs der Todesstrafe für Sabbatschändung in Neh 13,15–22 eine Datierung von Ex 31,12–17 (und Num 15,32–36) in nachnehemianische Zeit abzuleiten. Doch kennt das Alte Testament genügend Beispiele dafür, dass mit ‫מוֹת יוּ ָמת‬-Sätzen sanktionierte Handlungen in Erzählungen nicht annähernd mit dem Tode bestraft werden. M. Köckert hat Ex 31,12–17 so gedeutet, dass nur durch „des Gesetzes gehorsame Erfüllung“, nämlich durch das Halten des Sabbats, das Verhältnis zwischen JHWH und den Israeliten begründet werde. 30 Es ist jedoch in Ex 31,12–17 nicht anders als in Gen 9,9–12 und 17,4.7f: Der ‚ewige Bund‘ ist hier wie dort eine voraussetzungslose zugesagte Setzung Gottes. Der Sabbat wird geboten, weil er Zeichen des Bundes ist. Das Halten des Sabbats (V.13.17) gilt als Erkenntniszeichen, dass JHWH Israel heiligt. Die Erkenntnisformel, die bei Ezechiel für sich steht und in P-Texten eher mit der Herausführungsformel verbunden ist, wird hier – wie es eher für das Heiligkeitsgesetz typisch ist – mit der Heiligung Israels kombiniert. Der Sabbat soll als Erkenntniszeichen der Heiligung Israels dienen, doch zu wessen Erkenntnis? Das wird unterschiedlich beantwortet. Grünwaldt hält es für unplausibel, dass nur Israel der Adressat sei und verweist auf Ez 37,28, wo explizit die Völkerwelt die Heiligung Israels erkennen soll. 31 In Texten der priesterlichen Komposition ist es jedoch immer Israel, das seine Heiligung durch JHWH begreifen soll. 32 Und auch wenn die Völkerwelt als Adressat mitgedacht sein mag, so richtet sich dieser Text doch ausdrücklich an Israel. Die Heiligung durch JHWH konstituiert die Unterscheidung Israels von der Völkerwelt. Die Selbstunterscheidung Israels von den 30 Köckert, Leben (Anm. 21) 110. Grünwaldt, Exil (Anm. 21) 179f u.a. Anders u.a. S. van den Eynde, Keeping God’s Sabbath: ‫ אוֹת‬and ‫( ְבּ ִרית‬Exod 31,12–17), in: M. Vervenne (Hg.), Studies in the Book of Exodus. Redaction – Reception – Interpretation (BEThL 126), Leuven 1996, 501–511, 507. 32 Vgl. Ex 6,7; 7,5; 14,4.18; 16,6.12; 29,46. 31 70 Alexandra Grund Völkern durch den Sabbat ist eine Folge der durch JHWH gemachten Unterscheidung zwischen Israel und den Völkern. Das von JHWH geheiligte Israel gehört nach Ex 31,12– 17 auf die Seite des heiligen Gottes, genauso wie der von JHWH geheiligte Sabbat. Die besondere Zugehörigkeit zu JHWH beinhaltet die Aufgabe, den von JHWH geheiligten Sabbat entsprechend heilig zu halten. Dies ist wiederum Zeichen der Zugehörigkeit zum geheiligten Volk Israel. Der Sabbat wird mit Ex 31,12–17 explizit zu einem der wichtigsten identity marker Israels. Durch Israels Nachahmung von Gottes Ruhen am siebten Tag wird sogar der gesamte Lebensrhythmus Israels zu einer Repräsentation des göttlichen Arbeitens und Ruhens in uranfänglicher Zeit, eine kontinuierliche Schöpfungserinnerung. Es ist wohl kein Zufall, dass diese Art der Repräsentation in einer Zeit an Bedeutung zunahm, in der andere Formen der Repräsentation JHWHs auf dem Hintergrund der zunehmenden Bedeutung des Bilderverbots ausfielen. V. Ausblick Aufbauend auf die priesterliche Sabbatkonzeption, hat der Sabbat als identity marker in nachexilischer Zeit noch um einiges an Bedeutung gewonnen. 33 Welche Praxis sich in außeralttestamentlichen Zeugnissen erkennen lässt, ist u.a. angesichts unterschiedlicher Bewertung des Sabbats in den Elephantinetexten umstritten. 34 Als boundary marker Israels dient er aber nicht nur als Exklusionsmerkmal. So spielt er in den Jes 56–66 programmatisch rahmenden 35 Texten Jes 56,1–7 36 und Jes 66,15–24 33 Vgl. hierzu L. Doering, Schabbat. Sabbathalacha und -praxis im antiken Judentum und Urchristentum (TSAJ 78), Tübingen 1999. 34 Vgl. hierzu einstweilen Doering, Schabbat (Anm. 33) 23–42. 35 S. hierzu etwa U. Berges, Das Buch Jesaja. Komposition und Endgestalt (HBS 16), Freiburg i. Br. / Basel / Wien 1998, 529f, u.a. Sabbat, Gebot und Identität 71 erstaunlicherweise eine wichtige Rolle bei der Einbeziehung von ethnisch Fremden. Jes 56,2–7 lautet: 2 3 4 5 6 7 Glücklich der Mensch, der dies tut, und das Menschenkind, das daran festhält: das den Sabbat bewahrt und ihn nicht entweiht, und seine Hand davor bewahrt, irgendetwas Böses zu tun! Und das Kind des Fremden, das sich JHWH angeschlossen hat, sage nicht: JHWH wird mich sicher von seinem Volk scheiden. Und der Eunuch sage nicht: Siehe, ich bin ein vertrockneter Baum! Denn so spricht JHWH: Den Eunuchen, die meine Sabbate bewahren und das erwählen, woran ich Gefallen habe, und festhalten an meinem Bund, denen gebe ich in meinem Haus und in meinen Mauern ein Denkmal und einen Namen, besser als Söhne und Töchter. Einen ewigen Namen gebe ich ihnen, der nicht ausgelöscht wird. Und die Fremden, die sich JHWH angeschlossen haben, um ihm zu dienen und den Namen JHWHs zu lieben, ihm Knechte zu sein, jeden, der den Sabbat bewahrt und ihn nicht entweiht, und die an meinem Bund festhalten: die werde ich zu meinem heiligen Berg bringen und werde sie erfreuen im Haus des Gebets zu mir. Ihre Brandopfer und ihre Schlachtopfer sollen ein Wohlgefallen sein auf meinem Altar. Denn mein Haus wird ein Bethaus genannt werden für alle Völker. Nach Jes 56,2–7 scheidet JHWH auch ausländische Menschen, die den Sabbat achten, nicht von seinem Volk – sie gelten als zu Israel gehörig, und ihre Gebete und ihre Opfer werden von JHWH angenommen. Den Sabbat zu heiligen wird als religiöser boundary marker so sehr aufgewertet, dass die ethnische Zugehörigkeit zu Israel demgegenüber erstaunlich weit in den Hintergrund tritt. Zumindest dieses Konzept läuft insofern der Auffassung 36 Zu Jes 56,1–7 s. etwa L. Ruszkowski, Der Sabbat bei Tritojesaja, in: B. Huwyler u.a. (Hgg.), Prophetie und Psalmen, FS K. Seybold (AOAT 280), Münster 2001, 61–74, 71–73. 72 Alexandra Grund entgegen, wonach das antike Judentum weniger als Religion mit Bindung an eine bestimmte Ethnie denn „als Ethnie mit einer bestimmten Kultur bzw. Religion“ 37 verstanden worden sei. Noch weiter geht die Vision der Teilnahme der ganzen Völkerwelt an der sabbatlichen Anbetung JHWHs in Jes 66,15–24. Dort heißt es in Jes 66,23: Und es wird geschehen: Neumond für Neumond und Sabbat für Sabbat wird alles Fleisch kommen, um vor mir anzubeten, spricht JHWH. Sabbate und Neumonde rhythmisieren nach dieser Vision die gottesdienstliche Zeit Israels gleichwie der Völker. Das Konzept des Sabbats als Pforte für die Völkerwelt hat sich im antiken Judentum zwar letztendlich nicht übergreifend durchgesetzt, doch kann man heute, selbst in Deutschland wieder, an vielen Orten sabbatliche Gastfreundschaft erleben. Bis heute entstehen durch die Begehung des Sabbats im Judentum Kontinuität mit und Zugehörigkeit zu früheren und kommenden Generationen Israels, bis heute bringt der Sabbat das gemeinsame Selbstverständnis der besonderen Beziehung des Schöpfers der Welt zu seinem Volk Israel zum Ausdruck. 37 W. Stegemann, Religion als Teil von ethnischer Identität. Zur aktuellen Debatte um die Kategorisierung des antiken Judentums (KuI 25), 2010, 47–59, 53.