UWE SPÖRL
DIE CHRONOTOPOI DES KRIMINALROMANS
Dringlicher schien uns für diesmal die Aufgabe zu sein,
am Einzelwerk aufzuzeigen, daß der Raum in der
Dichtung nicht bloß eine faktische Gegebenheit, sondern
vor allem ein eigenständiges Gestaltungselement bildet,
das zusammen mit verschwisterten Elementen wie Zeit,
Erzählperspektive, Figur und Handlungsfolge den
intendierten Gehalt bekörpert und die Struktur des
Werkes bestimmt.
1
Herman Meyer
I
Es ist fast schon ein Topos der literarischen wie der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung
mit Detektiv- und Kriminalliteratur, darauf hinzuweisen, wie enorm wichtig die Einbeziehung
der Gestaltung des Raumes (und der Zeit) bei der Betrachtung dieses ebenfalls topisch als
unterschätzt geltenden Genres moderner Erzählliteratur sei. Den Anfang damit scheint –
zumindest im deutschsprachigen Raum – Walter Benjamin in einer seiner EinbahnstraßenSkizzen gemacht zu haben. Die „hochherrschaftlich möblierte Zimmerwohnung“ (so der Titel
dieser Skizze) scheint ihm einzig und allein „eine gewisse Art von Kriminalromanen“
angemessen darzustellen, nicht zuletzt deshalb, weil dieses Interieur des ausgehenden 19.
Jahrhunderts „adäquat allein der Leiche zur Behausung“ werde.2 Dem schließt sich ein anderer
krimilesender Schriftsteller an, Helmut Heißenbüttel nämlich, der in seinem Aufsatz über die
Spielregeln des Kriminalromans dessen „topographische Verankerung“ betont. Durch diese
könne das ‘schematisch-abstrakte’ und deshalb monotone Handlungsgerüst des Krimis immer
wieder neu „an reale Schauplätze und Milieus“3 angeglichen und so ständig variiert werden.
Doch auch literaturwissenschaftliche Untersuchungen zum Kriminalroman weisen immer
wieder auf die enorme Bedeutung des ‘settings’ hin, das den fiktionalen Text „in Raum und
Zeit“4 verankert. „Räume und Gegenstände im Detektivroman“ und „im Thriller“5 sind
1
Herman Meyer: Raumgestaltung und Raumsymbolik in der Erzählkunst (1957). Nachdruck in: H. M.:
Zarte Empirie. Studien zur Literaturgeschichte, Stuttgart 1963, S. 33-56, hier S. 56.
2
Walter Benjamin: Einbahnstraße (1928). In: W. B.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung v. Theodor
W. Adorno u. Gershom Sholem hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Bd. IV.1 Kleine Prosa.
Baudelaire-Übertragungen. Hg. v. Tillman Rexroth, Frankfurt am Main 1972, S. 83-148, hier S. 88 f.
3
Helmut Heißenbüttel: Spielregeln des Kriminalromans (erstmals in: Der Monat 181, 1963). In: H. H.:
Über Literatur, Stuttgart 1966, S. 104-120, hier S. 111 f.
4
Evelyne Keitel: Kriminalromane von Frauen für Frauen. Unterhaltungsliteratur aus Amerika, Darmstadt
1998, S. 82. Das Kapitel, dem diese Betonung und Definition des ‘setting’ entnommen ist, heißt passend „Raum,
Räume, Räumlichkeiten“ (S. 82) und bezieht sich vornehmlich auf die Produkte weiblicher US-amerikanischer
Autorinnen eines neuen ‘Golden Age’ der Kriminalliteratur.
1
dementsprechend zwei der zentralen Kapitel der deutschsprachigen Einführung zum
Kriminalroman von Peter Nusser überschrieben.
Die Aufmerksamkeit, die man dem Ort, Schauplatz oder ‘setting’ der Kriminalliteratur
widmet, ist natürlich zum Teil in ihrer Geschichte begründet, konstruierte man doch seit Poes
Murders in the Rue Morgue und insbesondere im ‘Golden Age’ des Genres zwischen den
beiden Weltkriegen das vom herbeigerufenen oder zufällig anwesenden Detektiv zu lösende
Rätsel des ‘Falls’ gerne um einen ‘geschlossenen Raum’ herum, einen Raum also, in dem
eigentlich gar kein Mord geschehen kann.
Ein weiteres Moment der Geschichte der Kriminalliteratur scheint ebenfalls ganz
wesentlich mit einer veränderten Konzeption von Raum und Zeit zu tun zu haben: Das
Auftauchen der sogenannten ‘hard-boiled novel’6, die den althergebrachten ‘britischen’ Typus
der Detektivliteratur ablösen möchte, ihn lange Zeit als Gegenstück ergänzt und heute – als
‘Thriller’ – längst verdrängt hat, ist zur entscheidenden Herausforderung entweder für eine
systematisch kohärente Beschreibung des Genres oder für dessen Einheit geworden. Der neue
Genretyp und sein Erfolg sind, so scheint es, wohl nicht allein durch seinen neuartigen und in
seiner ‘Härte’ und Schnoddrigkeit so faszinierenden Helden, seinen lakonisch-alltäglichen
Sprach- und Erzählstil, seine ‘moderneren’ Sujets, neue Publikationsformen oder durch
unterschiedliche Autorentypen, -generationen oder -nationalitäten zu erklären. Der
‘hartgesottene Kriminalroman’ ist bekanntlich seit seiner Einführung mit dem Anspruch auf
(ein höheres Maß an) ‘Realismus’ und Wahrhaftigkeit befrachtet worden, den der ‘klassische’
Typ des ‘Whodunit’ niemals einlösen konnte. 1944 hat Raymond Chandler, der zweite
Protagonist der ‘hard-boiled novel’, diese Formel in seinem Essay The Simple Art of Murder
vorgegeben, wo er den britischen Krimi-AutorInnen einen Mangel an der ‘Kunst’ der
‘Ehrlichkeit’ vowirft: Die Raffinesse eines Mordes und seiner Aufklärung allein würden
weder die (echte) Polizei beeindrucken noch aus einem derlei zur Darstellung bringenden Text
ein Roman-Kunstwerk machen.7 Der bloßen Raffinesse stellt er Dashiell Hammett, den ersten
Protagonisten der neuen ‘amerikanischen Schule’ des Kriminalromans entgegen, da dieser
(wie er selbst) „realistische Kriminalromane schrieb oder doch zu schreiben versuchte.“8
Weitere einschlägige Untersuchungen sind etwa Jens-Peter Becker: „locus horridus“ und Mayhem Parva.
Typische Schauplätze des Detektivromans. In: J.-P. B.: Sherlock Holmes & Co. Essays zur englischen und
amerikanischen Detektivliteratur, München 1975, S. 60-81; Michael Kümmel: Der Held und seine Stadt.
Anmerkungen zur Topographie in einigen modernen Kriminalromanen. In: Die Horen 32.4 (1987), S. 31-41; und
Dietrich Schwanitz: Die undurchschaubare Lösungstechnik des Detektivs. Zehn Thesen zum Abstraktionsstil und
zur Temporalstruktur des Kriminalromans. In: arcadia 17 (1982), S. 37-60.
5
Peter Nusser: Der Kriminalroman, Stuttgart / Weimar 21992, S. 48 u. 68.
6
Dies belegt nicht nur die Zweizahl von Nussers (Anm. 5) Kapiteln zum Raum. Fast alle Untersuchungen
zur Kriminalliteratur, die einen Überblick anstreben, trennen mehr oder minder deutlich (und meist geordnet als
historisches Nacheinander) die traditionelle Detektivliteratur der Doyle, Carr, Stout, Christie usw. von den ‘hardboiled novels’ der Hammett, Chandler und ihrer Nachfolger, so z. B. auch die bereits erwähnten Becker (Anm.
4), Keitel (Anm. 4, in ihrem Einleitungskapitel), Schwanitz (Anm. 4) und Heißenbüttel (Anm. 3) sowie Ulrich
Suerbaum: Krimi. Eine Analyse der Gattung, Stuttgart 1984.
7
Vgl. Raymond Chandler: Die simple Kunst des Mordes. Ein Essay. In: R. C.: Die simple Kunst des
Mordes. Briefe, Essays, Notizen, eine Geschichte und ein Romanfragment. Hg. v. Dorothy Gardiner u. Kathrine
Sorley. Neu übersetzt v. Hans Wollschläger, Zürich 1975, S. 318-342, hier S. 332 f.
8
Ebd., S. 335. Im selben Essay weist Chandler einem der ‘Klassiker’ des ‘Golden Age’, Alan A. Milnes
Red House Story diverse Unschlüssigkeiten und Fehler nach (vgl. S. 324 ff.). Dieser Nachweis trennt die
Spezifika des hochartifiziellen Romanplots aus dem Handlungszusammenhang und testet ihren Gehalt, indem er
sie einem fingierten ‘echten’ Ermittlungsverfahren aussetzt, was schnell zu anderen Schlußfolgerungen führt als
den im Roman vollzogenen.
2
II
Angesichts des eben skizzierten Problemkomplexes um die (möglicherweise in verschiedenen
Typen unterschiedlich gehandhabte) Gestaltung von Raum und Zeit, deren zentrale Bedeutung
für das Genre Kriminalliteratur allgemein anerkannt wird und die möglicherweise
Auswirkungen auf den Grad von Authentizität und ‘Realismus’ hat, ist es fast schon
erstaunlich, daß bisher – soweit ich sehe – kein Versuch unternommen worden ist, Bachtins
Konzept des Chronotopos hier zu Analysezwecken einzusetzen und damit über die
verschiedenen Versuche hinauszugehen, den Kriminalroman an einzelne ältere Genres
(historisch) anknüpfen zu lassen.9
Dies ist um so erstaunlicher, als – unabhängig von den einschlägigen Schlüsselbegriffen
‘Raum’ und ‘Zeit’ und unabhängig von der Tatsache, daß der Chronotopos für Bachtin
ohnehin „ein obligates Element epischer Gestaltung“10 darstellt – dieses Konzept des
sowjetischen Literaturtheoretikers einige Eigenheiten aufweist, die es für einige wesentliche
Problemfelder der Kriminalliteratur, darunter das eben angedeutete, besonders praktikabel
erscheinen lassen. Bachtins Chronotopos-Begriff sieht explizit davon ab, eine rein formale
Beschreibungs- und Analysekategorie zu sein. Als „Form-Inhalt-Kategorie“11 aber ist der
Chronotopos sicherlich besonders gut geeignet, ein Genre zu erfassen, das – zumindest
vordergründig – vornehmlich von seinen Inhalten bestimmt wird und aus diesen seine enorme
Popularität bezieht.
Des weiteren korrespondiert Bachtins Konzeption des Chronotopos, den er als
„grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfaßten
Zeit-und-Raum-Beziehungen“ definiert12, der oben angesprochenen zentralen Bedeutung der
Gestaltung von Raum (und Zeit) für den Kriminalroman. Denn offensichtlich meint
‘Chronotopos’ eine nur holistisch, also ganzheitlich zu denkende ‘Raumzeit’. Raum und Zeit
sind darin (ontologisch oder epistemologisch) untrennbar und wechselseitig aufeinander
bezogen13, vor allem aber ist das Ganze dieser ‘Raumzeit’ jeder literarischen oder
erzählerischen Gestaltung von in Raum und Zeit sich abspielenden Geschehnissen gleichsam
eingeschrieben und insofern auf eine wie auch immer geartete Ausgestaltung angewiesen.14
In seinen Beiläufigen Anmerkungen zum Kriminalroman von 1949 (ebd., S. 72-83) fordert Chandler
dementsprechend vom Krimi nicht nur glaubwürdige Motivationen und methodisch-technische Fehlerlosigkeit,
sondern auch ‘Realismus’ „im Hinblick auf Gestalten, Schauplatz und Atmosphäre“ (S. 73). Und in einem Brief
vom 27.6.1940 (an Harmon Coxe) schildert er, daß ihn die Lektüre von Christies Ten Little Niggers zu dem
Schluß gebracht habe, daß es „nicht möglich“ sei, „einen strikt ehrlichen Kriminalroman vom klassischen Typus
zu schreiben“ (ebd., S. 50).
9
Einen ähnlich gelagerten Versuch, eine externe Theorie zur Analyse von Kriminalliteratur heranzuziehen,
hat Schwanitz (Anm. 4) unternommen, der sich von einigen Positionen der Systemtheorie Luhmanns aus dem
Phänomen Krimi annähert. Seine Ergebnisse habe ich zum Teil im folgenden verwenden können.
10
Michael Wegner: Die Zeit im Raum. Zur Chronotopostheorie Michail Bachtins. In: Weimarer Beiträge
35.8 (1989), S. 1357-1367, hier S. 1363.
11
Michail M. Bachtin: Formen der Zeit. Untersuchungen zur historischen Poetik (1975). Hg. v. Edward
Kowalski u. Michael Wegner. Aus dem Russ. v. Michael Dewey, Frankfurt am Main 1989, S. 7.
12
Ebd., S. 7; vgl. Wegner (Anm. 10), S. 1360 u. 1363.
13
Vgl. Wegner (Anm. 10), S. 1361.
14
Vgl. Wegner (Anm. 10), S. 1360 und Gary Saul Morson / Caryl Emerson: Mikhail Bakhtin. Creation of a
Prosaics, Stanford (CA) 1990, S. 367 ff.
3
Hinzu kommt, daß das Konzept des Chronotopos theoretisch wie praktisch darauf abzielt,
„verschiedene Genrevarianten des [...] Romans“15 historisch und typologisch zu
unterscheiden: Möglicherweise kann es also zur Klärung der angesprochenen
gattungstheoretischen Probleme der Kriminalliteratur beitragen, sollte das Auftreten der
‘Genrevariante’ ‘hard-boiled novel’ bzw. Thriller als Einführung einer neuen Organisation
von Raum und Zeit im Kriminalroman beschrieben werden können.16
III
Die typischen Kriminalromane der älteren ‘britischen’ Genrevariante, die durch den
Amerikaner Edgar Allan Poe mit seinen Detektivgeschichten vorgeprägt worden ist, sind
darauf angelegt – so Heißenbüttel – „durch eine Mischung aus Faktenermittlung und
kombinatorischer Rätselraterei das zunächst Verworrene und Undurchschaubare in plausible
Zusammenhänge“17 zu bringen. Der Mord – so gut wie immer ist es dieses Verbrechen – ist
häufig schon geschehen, wenn der Detektiv und mit ihm Erzähler und Leser18 den Ort des
Geschehens betreten. Die nur schwer zu deutenden ‘Spuren’ des Verbrechens, das sich als zu
lösendes ‘Rätsel’ darstellt, existieren aber noch, wenn der (genretypische) AußenseiterDetektiv, eine zumeist äußerst exzentrische Figur, in Aktion tritt. Gleichzeitig mutieren auch
die erzählten Geschehnisse vor dem Mord, die der Detektiv durch eine ‘verfrühte’
Anwesenheit bemerken kann, ebenfalls zu potentiellen ‘Spuren’.
Durch diese häufig variierte, aber selten völlig aufgegebene Ausgangssituation und durch
die Zielsetzung der Aufklärung ergeben sich einige weitere charakteristische oder typische
Eigenheiten des ‘klassischen’ Detektivromans, die seine ‘Raumzeit’ betreffen:
1. Der Ort des Mordgeschehens ist ein ‘Tatort’19, sein Zeitpunkt ist eine ‘Gelegenheit’. Die
Meine vage Formulierung „eingeschrieben“ korrespondiert dabei der schlechten Faßbarkeit des heuristischen und
epistemologischen Status des Begriffs ‘Chronotopos’, der – quasi transzendental – zwar jeder Auffassung bzw.
Gestaltung von Geschehen zugrundeliegt, der aber gleichwohl auch inhaltlich gefüllt ist und den Bachtin auch für
die Realität selbst, unabhängig von Auffassungen und Gestaltungen derselben, verwendet.
15
Bachtin (Anm. 11), S. 9.
16
Zwei weitere Momente, die eine fruchtbringende Verwendung des Bachtinschen ‘Chronotopos’ für die
Untersuchung von moderner Kriminalliteratur vermuten lassen, werde ich nicht explizit untersuchen. Beide
hängen mit der Rezeption des Genres zusammen, dessen Beliebtheit immer noch eines seiner großen ‘Mysterien’
für die Literaturwissenschaft ist. Das erste Moment ist verknüpft mit der inhaltlichen Erfülltheit des Chronotopos.
Denn der je spezifische Chronotopos trägt nach Bachtin wesentlich zum in Literatur jeweils transportierten
Menschenbild bei und schließt immer (emotionale) ‘Wertmomente’ mit ein. Das andere, damit wiederum in
Zusammenhang stehende Moment betrifft Bachtins vor allem in den 1973 nachgetragenen „Schlußbemerkungen“
zum Chronotopos-Buch vollzogene Ausweitung des Begriffs auf die Produktions- und Rezeptionsbedingungen
literarischer Werke (vgl. Bachtin, Anm. 11, S. 202 ff.). Beides könnte – bezogen auf den Krimi – eine Anregung
an die krimibezogene Rezeptionsforschung darstellen.
17
Heißenbüttel (Anm. 3), S. 104.
18
Erzähler und Detektiv sind im ‘klassischen’ Detektivroman selten identisch. Entweder verfolgt ein ErErzähler den Detektiv bei seinen Ermittlungen, oder ein Ich-Erzähler (namens „Watson“) berichtet vom Gang der
Untersuchungen seines Freundes, des Detektivs, den er begleitet. In beiden Fällen dokumentiert der Erzähler die
Nachforschungen fast zeitgleich mit ihrem Verlauf, geht möglichst nie über den Erkenntnisstand des Detektivs
hinaus, ohne aber ausschließen zu können oder zu wollen, daß der Detektiv schon weiter ist. Vgl. zur
Erzählertypologie der Kriminalliteratur insbes. Beatrix Finke: Erzählsituationen und Figurenperspektiven im
Detektivroman, Amsterdam 1983.
19
Vgl. Heißenbüttel (Anm. 3), S. 112 f.
4
topographischen Verhältnisse dieses Ortes sind demnach im Verbund mit den (in der Zeit
möglicherweise) wechselnden Aufenthaltsorten der verdächtigen Personen ebenso wie alle am
Ort befindlichen Gegenstände potentielle Indizien für die Verbrechensaufklärung. Vor der
endgültigen ‘Lösung des Falls’ (die nach den Konventionen des Genres natürlich ebenfalls zu
erwarten ist, und zwar möglichst weit gegen Ende des Textes) bleibt demzufolge unklar,
welche Einzelheiten tatsächliche Indizien sind und welche belanglos oder ‘falsche Spuren’
(‘red herrings’).20 Der Ort als Tatort verwandelt demzufolge den Schauplatz und alle dort
befindlichen Gegenstände in potentielle Zeichen, die als solche freilich erst innerhalb des
Kontextes, in den sie gehören, (als solche) gedeutet werden können. Der Zeitpunkt des
Mordgeschehens wird hingegen, ist er erst einmal (vorläufig) ermittelt, häufig aus seiner
gewohnten Zeit- und Geschehnisreihe herausgelöst und zum Überprüfungskriterium für die
Aufenthaltsorte der Verdächtigen, ihre ‘Alibis’.21 Die Aufgabe des Detektivs ist es also, dafür
zu sorgen, daß die durch die Mordtat ‘zersetzte’ und ‘aufgelöste’, ehemals „vertraute“ raumzeitliche „Alltagswelt [...] durch die Lösung wieder reorganisiert wird.“22
2. Das eigentliche Romangeschehen der Ermittlung durch den Detektiv, der den Tatort und
mögliche Abfolgen der Geschehnisse und Aufenthaltsorte der verdächtigen Personen
untersucht, die Verdächtigen befragt und den ‘Spuren’ nachgeht, stellt sich als ein
‘analytisches’ Aufklärungsgeschehen dar. Es schließt sich an die Mordtat zeitlich an,
untersucht diese jedoch und ihre (zeitlich weiter zurückliegenden) Gründe und Hintergründe.
Man kann also mit Schwanitz von einer eigenwilligen „Umkehrung der Zeitperspektive“23 im
klassischen Detektivroman sprechen. Das Aufklärungsgeschehen zwischen Mordtat und
Aufklärung, das die eigentliche Gegenwart des Detektivromans ausmacht, ist
dementsprechend ein fundamentaler Ausnahmezustand der ‘Krise’, der zu einer Entscheidung
drängt.24
3. Der klassische Detektivroman vermeidet vordergründige Lösungen des Verbrechens, ja
für gewöhnlich setzt der Autor (bzw. die Autorin) alles daran, möglichst komplexe und somit
schwer zu durchschauende Motivationen, Mittel und Tathergänge für den Mord zu
konstruieren. Der Detektiv wiederum ist – im Gegensatz zu der stereotyp überforderten
Polizei – als einziger dazu in der Lage, das Rätsel zu lösen. Er ist also nicht nur durch seine
exzentrische Persönlichkeit, sondern auch durch seine besonderen Kenntnisse und
Geistesgaben, insbesondere sein Beobachtungsvermögen und seinen analytischkombinatorischen Verstand, gegenüber den anderen Figuren des Romans in der Position eines
Außenstehenden, eines Außenseiters. Die anderen stellen ja auch – mit Ausnahme des
möglichen ‘Watson’ und der Leiche natürlich – allesamt Verdächtige dar. Um das analytischkombinatorische Potential des Detektivs zum Einsatz kommen zu lassen und so das Rätsel des
Mordes aufschlüsselbar zu halten, muß der Kreis der Verdächtigen begrenzt sein. Der
Ermittler steht zu Beginn seiner Nachforschungen einer ungeordneten, aber notwendigerweise
20
Vgl. Richard Alewyn: Anatomie des Detektivromans (1968). Erweitert in: Jochen Vogt (Hg.): Der
Kriminalroman. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung, München 1971, Bd. II, S. 372-404. Hier (S. 390 ff.)
entwickelt Alewyn eine kleine Theorie der ‘sekundären Geheimnisse’, die vom ‘primären’, zur Auflösung des
Mordfalls beitragenden Geheimniskomplex lange nicht zu unterscheiden sind.
21
Vgl. Schwanitz (Anm. 4), S. 49 f.
22
Ebd., S. 49.
23
Ebd., S. 43.
24
Schwanitz (Anm. 4) spricht in diesem Zusammenhang von einem „eigenartigen Spannungs- und
Schwebezustand“ (S. 50).
5
abgeschlossenen Menge von Einzelheiten, die sich allesamt als deutbare Zeichen entpuppen
können, gegenüber. Demnach kann nur eine überschaubare Menge von Personen zum Kreis
der Verdächtigen gehören, die idealerweise dem ermittelnden Detektiv nach der Tat für
Befragungen zur Verfügung stehen. Aus diesem Grund sind die Schauplätze der traditionellen
Kriminalliteratur für gewöhnlich extrem begrenzt. Besonders gut eignen sich – wie es scheint
– Bahnwaggons, Kreuzfahrtschiffe, vor allem aber Landsitze, kleine Dorfgemeinschaften,
Colleges, Theaterensembles und andere bzgl. räumlicher Ausdehnung und Personeninventar
abgeschlossene Räume.25
All diese Charakteristika und Spezifika dieser Genrevariante wären an einer Unzahl von
Beispielen zu belegen, deshalb scheint mir ein Text, der sich ihrer Konventionen bewußt ist
und offen mit ihnen spielt, ganz besonders geeignet zu sein, das Gesagte zu veranschaulichen,
zumal die jüngeren Krimiautoren sich aus guten Gründen kaum mehr vollkommen ernsthaft
auf die klassische Bauform des Detektivromans einlassen. In Walter Satterthwaits Escapade
von 1995, in dessen Zentrum ein ‘locked room puzzle’ steht, nimmt der Experte für
geschlossene Räume und Tricks aller Art, der es zudem an Charakter-Exzentrizität leicht mit
Holmes, Poirot & Co. aufnehmen kann, die Ermittlungen auf: „der große Meister“26 – wie ihn
sein Ich-erzählender Assistent, ein eigens zu seinem Schutz engagierter Pinkerton-Agent
namens Phil Beaumont gerne nennt – und legendäre Entfesselungskünstler Harry Houdini.27
Schutz benötigt er aber wohl gar nicht. Denn erstens kann er sich selbst ganz gut vor seinem
zweitklassigen und deshalb eifersüchtigen Konkurrenten, dem Verwandlungskünstler mit
ungeklärter Identität Chin Soo schützen. Und zweitens geschieht der Mord innerhalb der
illustren Wochenendgesellschaft und des hochherrschaftlichen Anwesens Maplewhite von
Lord „Bob“ Robert Purleigh, der sich als überzeugter Marxist gerne bei seinem Vornamen
nennen läßt und plant, sein Anwesen zu einem Arbeiter-Golfclub zu machen. Auf Schloß
Maplewhite, das als „veritables Spukschloß“28 in Devon nicht nur über verschiedene
Geheimgänge, sondern auch über ein zum Exhibitionismus neigendes Gespenst Lord
Reginalds verfügt, trifft sich Harry, 1921 zum ersten Mal in England, mit seinem alten Freund
Arthur Conan Doyle und einer kleinen Gruppe geladener Gäste anläßlich einer Séance des
Mediums Mme. Sosostris. Doyle, der dem Spiritismus und Mystizismus verfallen ist,
bewundert sie, der sehr viel skeptischere Houdini will das Medium jedoch auf seine
Qualitäten hin testen. Mit Unterstützung seines Begleiters, der als professioneller
amerikanischer Privatdetektiv durchaus auch in diesem Milieu von Nutzen ist, und einer
ebenso talentierten wie liebreizenden jungen Dame, Jane Turner, die als Gesellschafterin eines
älteren weiblichen ‘Schlachtrosses’ die Gesellschaft vervollständigt und mit ihren
25
Vgl. etwa Becker (Anm. 4), Keitel (Anm. 4), S. 87, Kümmel (Anm. 4), S. 31, Nusser (Anm. 5), S. 50 f.,
und Gerd Eggloff: Detektivroman und englisches Bürgertum. Konstruktionsschema und Gesellschaftsbild bei
Agatha Christie, Düsseldorf 1974, S. 37 (Eggloff spricht vom „umgrenzten Raum“).
26
Walter Satterthwait: Eskapaden. Roman. Aus dem Amerikan. v. Ursula-Maria Mössner, Zürich 1997, S.
11.
Ich zitiere – wenn auch mit schlechtem Gewissen – diesen und weitere Primärtexte in der deutschen Übersetzung,
wenn eine originalsprachliche Ausgabe nur schwer zugänglich ist. Denn im Fall von Kriminalliteratur ist man
meist immer noch ausschließlich auf den Buchhandel angewiesen.
27
Satterthwait ist – neben George Baxt – einer der Protagonisten der seit einiger Zeit unter zeitgenössischen
Krimiautoren grassierenden Mode, reale Personen (insbesondere aus dem ‘Golden Age’) als fiktive in ihren
Krimis agieren zu lassen, darunter so prominente Gestalten wie Oscar Wilde, Humphrey Bogart und Alfred
Hitchcock.
28
Satterthwait (Anm. 26), S. 9.
6
eingeschobenen Briefen den Ich-Erzähler Phil ‘Watson’ Beaumont um eine zweite
Perspektive ergänzt, löst Houdini den Fall um die Leiche des ebenso gebrechlichen wie
sexuell aktiven Lordvaters natürlich. Es gelingt ihm trotz des abgeschlossenen Raums, in dem
die Leiche gefunden wird, trotz der Geheimgänge, der vertauschten Waffen, der ungeklärten
Finanz- und Erbschaftsverhältnisse, trotz der diversen falschen Identitäten, die sich einige der
Verdächtigen zugelegt haben, ja trotz der ‘falschen’ Polizisten usw. oder gerade wegen all
dem. Wie seine (z.T. vom ‘echten’ Doyle erfundenen) Vorgänger erkennt der große
Meisterdetektiv Harry Houdini die Zeichen als solche und versteht sie zu deuten. Neben
seinem analytischen Verstand und seiner Beobachtungsgabe kann er sich dabei natürlich
seiner ‘einmaligen’ Kenntnisse bedienen, wie man sich aus einem verschlossenen Raum
entfernen kann, ohne daß es bemerkt wird, und wie man die Vorannahmen anderer zu deren
Täuschung nutzt. In Rekordzeit – er muß spätestens ‘zum Tee’ weg – klärt er den
komplizierten Fall von Maplewhite, das „‘eine einzige präparierte Requisite’“29 zu sein
scheint, auf, und tatsächlich – obwohl augenscheinlich einiges dagegen spricht – ist dieser Fall
nur aus den Interna der kleinen Gruppe heraus zu enträtseln.30
IV
Der oben umrissene Chronotopos des klassischen ‘Whodunit’, der als krisenhafte Gegenwart
mit ‘umgekehrter Zeitperspektive’ und einer ‘aufgelösten’, wiederherzustellenden Ordnung
eines abgeschlossenen Lebensraums aufzufassen ist, steht als ‘Ausnahmezustand’ in einem
spezifischen Verhältnis zu seiner chronotopischen ‘Umgebung’, die ihn – zeitlich – umgibt.
Im Roman selbst ist sie freilich nur ex negativo präsent. Es handelt sich um eine räumlich und
personell weitgehend abgeschlossene, sich selbst genügende, auf gegenseitiger
Verwandtschaft und/oder Vertrautheit der Personen beruhende, mit klaren Ordnungen und
Regeln ausgestattete Welt, die in ihrem Alltag aufgeht und häufig in immer wiederkehrenden
zeitlichen Takten organisiert ist. Das Leben auf dem (englischen) Landsitz etwa umfaßt einen
engen und durch Verwandt- oder Freundschaft aneinander gebundenen Personenkreis, der
einem mehr oder minder festen und immer wiederkehrenden Tagesprogramm mit den
entsprechenden Konventionen huldigt. Ähnliches gilt für kleine Dorfgemeinschaften,
Colleges, Firmen oder Abteilungen, Theaterensembles und Reisegruppen. Hinzu kommen –
für den Detektivroman ebenso prägende – selbst (potentiell) zyklisch wiederkehrende
Gruppenbildungen wie Wochenendgesellschaften, Klassentreffen, Familienfeste und
dergleichen mehr. Daß die beteiligten Personen solcher Gruppen zumeist in weitgehend
sicheren finanziellen Verhältnissen leben und häufig genug einen gehobenen
gesellschaftlichen Status innehaben, stellt eine der inhaltlichen Konventionen des ‘britischen’
Kriminalromantyps dar und ergänzt diesen Befund.
Dieser Umgebungs-Chronotopos kann nun – aufgrund der genannten Eigenheiten – mit
einer spezifischen ‘Raumzeit’ in Verbindung gebracht werden, die Bachtin selbst in seinem
Abriß der Chronotopoi des europäischen Romans expliziert. Es handelt sich offensichtlich um
29
Ebd., S. 370.
30
Houdini muß am Ende mühsam – und letztlich erfolglos – von dem amerikanischen Privatdetektiv auf den
‘wahren’ Charakter des ‘Falles’ hingewiesen werden: „‘Harry’, sagte ich, ‘es geht hier um Menschen.’ ‘Wie
bitte?’ ‘Das war nicht bloß ein Rätsel, Harry, damit Sie kommen und es lösen konnten. Hier geht es um
Menschen.’“ (Ebd., S. 395).
7
den idyllischen Chronotopos. Diesen charakterisiert Bachtin freilich nicht nur durch
Abgeschlossenheit, Vertrautheit der Personen, eine allgemein anerkannte und als alltägliches
Leben selbstverständlich gewordene Ordnung sowie durch einen zyklischen Zeitverlauf,
sondern auch durch eine enge Verquickung von menschlichem und natürlichem Leben (etwa
als ‘organische’ Verbindung von Familie und Ort über Generationen hinweg).31 Somit wird
der idyllische Chronotopos Bachtins letztendlich durch sein enges „Verhältnis zur
durchgängigen Einheit der Folklorezeit“ bestimmt, deren „Wiederherstellung“32 er leistet. Für
den Roman und seine Entwicklung spielt der idyllische Chronotopos, so Bachtin, aber nicht so
sehr durch eine umfassende Realisierung im Roman, sondern eher durch ‘Einflußnahmen’ auf
den Roman eine entscheidende Rolle, die auf unterschiedliche Weisen die Entwicklungen
verschiedener Romangenres im 18. und 19. Jahrhundert vorantreiben.33 Die interessanteste
dieser Einflußsphären ist sicherlich diejenige, in der im Roman, vor allem um und nach 1800,
mit unterschiedlichen Wertmaßstäben und Zielsetzungen die Idylle (oder eine historisch
entwickelte Version von ihr) der modernen, arbeitsteiligen Wirklichkeit gegenübergestellt und
so in ihrer „Zerstörung“34 gezeigt wird.
Dieser Befund Bachtins, der auf Romane Goethes, Balzacs oder Jean Pauls abzielt, trifft
auch – unabhängig von der unterschiedlichen künstlerischen Qualität der Texte – den
klassischen ‘britischen’ Kriminalroman. Denn auch hier wird die selten gewordene und nur
noch rudimentäre Alltagsidylle des inzwischen angebrochenen 20. Jahrhunderts in drei
Hinsichten radikal ‘zerstört’ und aufgelöst: Sie wird erstens durch den Mordfall und die
anschließenden Ermittlungen des Detektivs, der angesichts des Mordes nicht in eine
funktionierende Gemeinschaft eintritt, sondern einer zu objektivierenden Ansammlung von
Sachverhalten und Indizien gegenübertritt, jäh unterbrochen und ausgehebelt. Sie ist zweitens,
da das Romangeschehen vornehmlich die Aufklärung umfaßt, im Roman selbst nur noch ex
negativo präsent. Und sie ist drittens – durch den Mord und seine Aufklärung – auch für die
vorangegangene Zeit ihrer vermeintlichen Gültigkeit als bloß scheinbar intakte, tatsächlich
jedoch verlogene Pseudo-Idylle entlarvt. Denn die Motive und Hintergründe für den Mord
stehen in einem krassen Widerspruch zu der ‘heilen Welt’, in der man sich vermeintlich
befand. Ein Wiedereintritt in die vor dem Mordereignis (vermeintlich) vorhandene idyllische
Lebensform wird so zumindest problematisch. Der Detektivroman selbst interessiert sich nicht
dafür und schließt mit der Auflösung des Falls. Der Detektiv reist ab und wendet sich – aber
erst im nächsten Roman – einem neuen ‘Fall’ zu.
Die ‘aufgelöste’ bzw. ‘zerstörte Idylle’ des Kriminalromans klassischer Prägung ist jedoch
keineswegs als (kritische) Aussage des Genres, der Texte oder seiner Autoren über die
31
Vgl. Bachtin (Anm. 11), S. 171 f.
„Diese räumliche Mikrowelt ist begrenzt und genügt sich selbst“ (171); von ihr ist „dieses Leben [der idyllischen
Gemeinschaft] mit all seinen Ereignissen nicht zu trennen“ (171), so daß eine „Abschwächung aller Zeitgrenzen“
(172) zu verzeichnen ist, die zum „für die Idylle charakteristischen zyklischen Zeitrhythmus“ (172) beiträgt.
Somit ist die Idylle „auf einige wenige grundlegende Realitäten des Lebens beschränkt“ (172), in ihr koinzidieren
„Alltag“ und „das Allerwesentlichste des Lebens“ (172) ebenso wie das menschliche Leben „mit dem Leben der
Natur“ (172).
32
Ebd., S. 170 f.
33
Vgl. ebd., S. 175 ff.
Bachtin unterscheidet fünf ‘Einflußfelder’ der Idylle: den Heimatroman, den sentimentalischen Roman, den
Familienroman, den Roman um ‘den Menschen aus dem Volke’ und schließlich den Roman, der – vor allem um
1800 – die „Zerstörung der Idylle (im weitesten Sinne)“ (S. 180) thematisiert.
34
Ebd., S. 180.
8
zeitgenössische Wirklichkeit mißzuverstehen, deren prosaischer Charakter, materialistische
Grundausrichtung und moralische Indifferenz, die durch den fiktiven Mordfall eher belegt als
erkannt werden, vom Detektiv ebenso wie vom Autor und vom Leser längst als
Selbstverständlichkeiten angenommen werden. Im Gegensatz zu den von Bachtin
angesprochenen Romanen des 18. und vor allem 19. Jahrhunderts, welche die ‘Zerstörung der
Idylle’ behandeln, indem sie diese der zeitgenössischen gesellschaftlichen Wirklichkeit
gegenüberstellen und so entweder ihr utopisch-erzieherisches Potential einklagen oder ihre
Unzeitgemäßheit beklagen35, ist der ‘britische’ Kriminalroman des frühen 20. Jahrhunderts
nicht wesentlich auf die Wirklichkeit seines Autors oder Lesers bezogen. Aufgrund seiner
Konzentration auf ein komplexes Rätsel und dessen Auflösung, auf das alle Elemente des
Textes und des Roman- bzw. Ermittlungsgeschehens als potentielle Indizien ausgerichtet sind,
kann er es auch gar nicht sein. Im Rahmen des logisch Denkbaren und des physikalisch oder
psychologisch Möglichen, der nicht gesprengt, aber bis zu den Grenzen des jeweils
Wahrscheinlichen oder Erwartbaren hin ausgedehnt wird, entwirrt der Detektiv den
mörderischen Rätselknoten allein durch Rückgriff auf die beim Nachforschen ermittelten, nun
zu deutenden Tatsachen oder (Zeugen-)Aussagen. Er tut dies, indem er diese isolierten
Sachverhalte miteinander vergleicht und aneinander abgleicht. So kann er Widersprüche und
Lügen der Beteiligten ebenso identifizieren wie eigene (voreilige) Vorannahmen und ist nun
in der Lage, – in einer überraschenden Wendung, die oft durch Elimination einer solchen
‘Vorannahme’ oder durch Beachtung einer bisher unbeachtet gebliebenen Tatsache besteht –
das Wer, Wie und Warum des Mordes zu rekonstruieren. Der Schauplatz der ‘aufgelösten
Idylle’ etwa, der ‘Tatort’ also, dient somit einzig und allein als Spuren- und
Indizienreservoir.36 Er wird gleichsam ‘unter die Lupe genommen’ und vom Erzähler –
zumindest passagenweise – sehr präzise und detailreich beschrieben, gleichsam
„herauspräpariert“37, freilich nicht im Hinblick auf eine mögliche Signifikanz für die
außerliterarische Wirklichkeit und deren Deutung, sondern einzig und allein im Hinblick auf
seine innerliterarische, Spannung erzeugende Funktion des Ver- und Enträtselns38.
In Satterthwaits Eskapaden etwa, wo die Wochenendgesellschaft das erste Romandrittel
damit zugebracht hat, sich – auf zum Teil recht abenteuerliche Weisen – miteinander bekannt
und mit den Örtlichkeiten vertraut zu machen, und wo eine scheinbar von außen kommende
Bedrohung den Leser auf eine falsche Fährte gelockt hat, sieht die Beschreibung des Tatorts
im wortwörtlich engen Sinne wie folgt aus: Das Zimmer, aus dem ein Schuß zu hören war und
in dem der Lordvater zu vermuten ist, das geschlossen war und nun zu
Untersuchungszwecken aufgebrochen worden ist, wird von Doyle, Houdini, ‘Lord Bob’, zwei
Bediensteten und dem Erzähler Beaumont betreten:
In der stickigen, muffigen Luft hing der Geruch von Pulverdampf. In dem riesigen steinernen
Kamin brannte ein Feuer, und alle Fenster waren geschlossen. Das Zimmer war groß, aber
einfach, ähnlich wie das Empfangszimmer – rechts eine grobe Eichenkommode, links ein
grober Eichenschrank, daneben ein grober eichener Bücherschrank. In der Mitte der
gegenüberliegenden Wand stand ein riesiges Bett mit einem hohen geschnitzten eichenen
Kopfbrett. Links neben dem Bett stand ein Rollstuhl aus Stahl und Leder, der kleiner und
zierlicher war als der vom Madame Sosostris. Auf dem Bett, und bis zur Brust zugedeckt, lag
35
36
37
38
Vgl. Bachtin (Anm. 11), S. 180-182.
Vgl. etwa Heißenbüttel (Anm. 3), S. 112 f. und Schwanitz (Anm. 4), S. 48 f.
Eggloff (Anm. 25), S. 37.
Vgl. etwa Nusser (Anm. 5), S. 37.
9
ein sehr alter Mann. Er war glattrasiert und beinahe kahl. Sein dünner rechter Arm, der in
einem weißen Flanellärmel steckte, lag auf der Bettdecke und war seitwärts ausgestreckt. Die
ausgemergelte rechte Hand hing über dem Boden, die Handfläche nach oben, die langen gelben
Finger zur Decke gebogen. Unter der Hand, auf dem Boden, lag ein Revolver. In der Schläfe
des alten Mannes war ein kleines schwarzes Loch. „Großer Gott“, sagte Lord Bob.39
Die detaillierte Wiedergabe alles dessen, was der Erzähler hier im Moment des Betretens (der
Ausruf des Lords!) beobachtet, ist sicherlich fast schon am Rande zur parodistischen
Übererfüllung der Genrekonventionen anzusiedeln. Gerade deshalb ist die hier vorliegende
lakonische Auflistung der verschiedenen zu beobachtenden, vorläufig völlig gleichrangigen
Details durchaus als genretypisch anzusehen. Sie wird durch gezieltere Nachforschung in der
Folge natürlich noch erheblich verlängert.
Ähnlich detailversessen geht natürlich auch Houdini vor, wenn er als Antwort auf eine
diesbezügliche Frage erklärt, wie es zu dem ‘Rätsel des geschlossenen Raumes’ gekommen
sein könnte:
„Es ist ganz einfach.“ Er wandte sich an Doyle. „Das Schloß ist sehr alt, und das Gehäuse mit
der Zuhaltung sitzt genau zwischen den beiden Schloßblechen, einem auf der Innenseite des
Zimmers und einem auf der Außenseite. Der Gehäusegang führt geradewegs hindurch, von
Zimmer zu Zimmer. Nehmen wir, rein theoretisch, einmal an, daß ich im Schlafzimmer bin und
daß die Tür von innen abgeschlossen ist, als Carson [einer der Diener] sie zu öffnen versucht.
Was ja tatsächlich der Fall war ...“ [Hier schweift der Erzähler Beaumont kurz zu eigenen
Beobachtungen ab] „... was das Querholz betrifft“, sagt der Große Meister gerade, „so würde
ich lediglich ein starkes Stück Draht benötigen, etwa einen Kleiderbügel’“ usw.40
Die Detailverliebtheit Houdinis langweilt seinen Assistenten und Erzähler, der hier Passagen
des Monologs einfach wegläßt und sich lieber der Frage nach der Waffe zuwendet. Das ist
auch kein Problem, denn Houdini kann schnell klarmachen, daß es sich nicht so abgespielt hat
wie es sich, seinen Erläuterungen nach, abgespielt haben könnte. Woher er das weiß, fragen
Leser und ‘Lord Bob’: Es hätte verschiedene Spuren geben müssen, die es aber nicht gibt:
„Auf dem Schlüssel beispielsweise“, sagte der Große Meister. „Der Schlüssel ist aus Kupfer,
einem weichen Metall. Wenn jemand einen Dietrich benutzt hätte, so hätte er dabei Spuren auf
dem Schlüsselbart hinterlassen.“41
Hier werden erstmals die Fakten miteinander verglichen und aufeinander abgeglichen –
und schon entstehen die ersten Interpretationen, Implikationen und Schlußfolgerungen, die
letztlich dazu führen werden, daß hier ebenso wie in anderen Romanen dieses Genretyps am
Ende zweifelsfrei feststeht, wer den Mord zu welchem Zeitpunkt mit welchen Mitteln auf
welche Art und Weise und aus welchen Motiven begangen hat.
Die außerliterarische Wirklichkeit von Autor und Leser ist somit – wie in Satterthwaits
Eskapaden – im klassischen Kriminalroman weder Gegenstand einer (wie auch immer
gearteten) Repräsentation noch ist sie (bzw. das Wissen darüber) ein mögliches Kriterium für
die Lösung seines ‘Rätsels’, das allein nach ‘internen’ Kriterien gelöst wird: als logischkombinatorische
Rekonstruktion
einer
abgeschlossenen
Mikrowelt
aus
den
Einzelbestandteilen einer ‘aufgelösten Idylle’. In diesem doppelten Sinn von Repräsentation
und Kriterium mangelt es dem klassischen Kriminalroman tatsächlich – wie von Chandler
kritisiert – an ‘Realismus’ und Authentizität. Ebensowenig wie der Idylle Bachtins übrigens42
39
40
41
42
Satterthwait (Anm. 26), S. 168 f.
Ebd., S. 179 f.
Ebd., S. 181.
Nach Bachtin (Anm. 11) werden in der Idylle die „Realitäten des Lebens“, des Alltags „nicht auf nackt
10
kommt es diesem Genretyp offensichtlich – so auch Heißenbüttel, weniger vorwurfsvoll als
Chandler – „gerade auf das nicht“ an, „auf was es dem Roman der sogenannten seriösen
Literatur ankommt: auf Menschendarstellung“43.
V
Die Forschung hat, soweit sie sich mit der Frage beschäftigt hat, Chandlers oben erwähntem
Vorwurf an den eben charakterisierten Typ des Genres und seinem Hinweis, Hammett und er
selbst hätten dessen Mangel an Authentizität und Realismus aufgehoben (oder es zumindest
versucht), zumeist zugestimmt – und zwar besonders im Hinblick auf die jüngeren und
höheren Zweige und Triebe dieses allgemeiner Ansicht nach von beiden begründeten zweiten
der „beiden Stammbäume“44 des Genres Kriminalliteratur. Becker etwa hält den in der
modernen Großstadt angesiedelten Detektiv- bzw. Polizeiroman von Hammett über Chandler
bis Sjöwall/Wahlöö für „realistischer, ehrlicher, aber auch beunruhigender“45 als sein
traditionelles Pendant. Diese andere, möglichst noch zu präzisierende Grundausrichtung des
‘hartgesottenen’ Krimis, Thrillers, Polizeiromans usw. ist meiner Ansicht nach auf dessen
gegenüber dem ‘Whodunit’ radikal veränderten Chronotopos zurückzuführen. Diesen möchte
ich im folgenden – möglichst abstrakt – umreißen:
1. Die Schauplätze der ‘hard-boiled novels’ und Thriller sind zumeist bestimmte Regionen,
die regelmäßig ein (meist identifizierbares) realweltliches Pendant46 haben und zwar mit allen
seinen topographischen und kulturellen Eigenheiten und Besonderheiten. Diese Regionen sind
im allgemeinem nicht mehr überschaubar, insbesondere was ihre Bewohner betrifft, sie sind
aber auch nicht beliebig groß. Vor allem in der Anfangszeit der Genrevariante handelt es sich
dabei bevorzugt um Großstädte oder Ballungsräume. Prinzipiell sind aber auch ländliche
Regionen als Thriller-Schauplätze möglich, wovon gerade in jüngerer Zeit von Krimi-Autoren
und -Autorinnen Gebrauch gemacht wird.47 Der Detektiv oder die ermittelnde Einheit der
Polizei sind mit dieser Region zumeist eng verwachsen – im Fall von Romanserien meist über
realistische Weise dargeboten [...], sondern in gemilderter und bis zu einem gewissen Grade sublimierter Form.“
(S. 172) Bachtins Realismus-Begriff ist mit dem oben angedeuteten freilich kaum zu vergleichen. Insbesondere
durch seine Anbindung an das ästhetisch-kulturhistorische Konzept von (spätmittelalterlicher) ‘Volkskultur’ oder
‘Folklore’ und deren Eingang in die europäische Romanliteratur ist er vielmehr selbst ein problematisches
Interpretandum (vgl. etwa: „Der Realismus der Folklore erweist sich daher auch für die gesamte Buchliteratur
(einschließlich des Romans) als ein unversiegbarer Quell des Realismus“, S. 84; „die Phantastik der Folklore“ ist
„eine realistische Phantastik“, S. 83).
43
Heißenbüttel (Anm. 3), S. 107.
44
Ebd., S. 106.
45
Becker (Anm. 4), S. 78.
46
Diese etwas umständliche Formulierung zielt darauf ab, fiktionstheoretische Problem hier außen vor zu
lassen. Das ‘realweltliche Pendant’ ist meist durch den Namen zu erkennen, den er mit der Region des Romans
teilt. Chandlers Detektive haben ihr ‘Revier’ bekanntermaßen im Großraum Los Angeles der 30er und 40er
Jahre, das bei Maj Sjöwalls und Per Wahlöös Polizeiromanen im Zentrum stehende Polizeiteam um Kommisar
Beck ist in Stockholm angesiedelt usw. In selteneren Fällen ist das Pendant aber auch nur durch die
‘topographischen und kulturellen Eigenheiten’ zu identifizieren, etwa in Ed McBains Polizeiromanen ‘aus dem
87. Polizeirevier’, die in einer deutlich als New York erkennbaren Megalopole namens „Isola“ angesiedelt sind.
Selten sind hingegen nicht identifizierbare Schauplätze.
47
Ein Musterbeispiel für eine extrem ländliche, rückständige und dünnbesiedelte Region liefern die Thriller
Tony Hillermanns, deren Schauplätze über die Navajo-Reservation und angrenzende Gebiete im Südwesten der
USA verteilt sind.
11
mehrere Romane hinweg. Sie ist ihre (Wahl-)Heimat, ihr ‘Revier’, und dementsprechend gut
sind sie mit den Eigenheiten dieser Region und ihrer Bevölkerung vertraut.48 Die Detektive
ermitteln innerhalb dieser Region an verschiedenen Orten. Die abgeschlossene Ortseinheit des
klassischen ‘Whodunit’ ist somit in zweierlei Hinsicht aufgelöst: Zum einen ist ein einzelner,
herausgehobener und ‘herauspräparierter’ Tatort kaum mehr zu identifizieren, da sich der
jeweils vorliegende Fall für gewöhnlich als komplexes Geschehen darstellt, das mehrere TeilFälle (nicht nur Mord) und damit auch mehrere ‘Tatorte’ und oft auch mehrere am Verbrechen
Beteiligte umfaßt. Der Fallkomplex selbst ist nicht von vorneherein gegeben, er ergibt sich
zumeist erst im Laufe der (möglicherweise fallextern angestoßenen) Ermittlungstätigkeit –
und oft genug wird die Frage, ob hier überhaupt so etwas wie ein ‘Fall’ vorliegt, nur vom
Detektiv bejaht.49 Er entsteht – wie Schwanitz zutreffend bemerkt – erst durch eine „höhere
Dichte“50 von nicht-mehr-kontingenten Relationen, die ihn als ‘Fall’ vom Hintergrund der rein
kontingenten Geschehnisse innerhalb der Region abheben. Zum anderen ist der Fallkomplex
üblicherweise nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit gestreut, so daß er selbst über eine
nennenswerte Erstreckung in der Zeit verfügt.
2. Die Geschichte des Fallkomplexes selbst ist wiederum eng mit dem
Ermittlungsverfahren verknüpft. Die Ermittlung ihrerseits ist ja durch die Notwendigkeit von
Ortswechseln zum Zwecke der Tatort-Untersuchung, Zeugenbefragung oder
Informationsbeschaffung ebenfalls in der Zeit gestreckt. Die Bewegung innerhalb der Region
wird so zur Selbstverständlichkeit für den Detektiv oder die Ermittlungsbeamten. Gegenüber
dem klassischen Detektivroman, in dem der Täter vor allem durch Verschleierung von
Tatsachen seine Entlarvung verhindern will, ist im Thriller aber vor allem die
Wechselwirkung zwischen den zeitlich parallel verlaufenden Geschehensketten von
Ermittlung und Verbrechen, die sich gegenseitig auslösen, forcieren, steigern und lenken
können, dominant. Hierin liegt auch der Vorrang der „‘action’-Elemente“ im Thriller
„gegenüber den ‘analysis’-Elementen“51 des klassischen ‘Whodunit’ begründet, denn hier sind
nun beide Seiten – die ermittelnde und erhellende ebenso wie die verbrecherische und
verdunkelnde – zu Aktion und Re-Aktion gezwungen.52 Die ‘Umkehrung der Zeitperspektive’
ist somit einer Gleichrichtung der Zeit gewichen und mit ihr die Trennung des zu
rekonstruierenden vorzeitigen Tathergangs
vom (im Roman) gegenwärtigen
Ermittlungsgeschehen. Die Abfolge der Verbrechenstaten und der Ermittlungstätigkeiten ist
nunmehr gleich gegenwärtig53, und als solche wird sie dem Leser auch – quasi synchron –
präsentiert.54 Ziel der Tätigkeit des Detektivs ist unter diesen veränderten Voraussetzungen
häufig genug auch nicht mehr die vollständige Klärung der W-Fragen eines rätselhaft
48
Die große Ausnahme bzgl. dieser regionalen Bindung stellen natürlich die sujetgemäß eher auf das
Gegenteil von räumlichen Bindungen ausgerichteten Spionageromane dar, die für gewöhnlich an mehr als einem
Ort angesiedelt sind.
49
Vgl. Schwanitz (Anm. 4), S. 53 f.
50
Ebd., S. 56.
51
Nusser (Anm. 5), S. 53.
52
Begrifflich sind ‘Aktion’/’Reaktion’ und ‘action’ natürlich nicht identisch, im Thriller koinzidieren sie
freilich auffallend häufig in genretypischen Aktionsmustern wie der Verfolgungsjagd, der Schießerei, der Rettung
aus höchster Not usw.
53
Vgl. Nusser (Anm. 5), S. 57.
54
Dies geschieht entweder durch den Ich-erzählenden Detektiv oder durch eine personale Erzählinstanz, die
die Perspektive und damit den Wissens- und Beobachtungshorizont eines oder mehrerer Beteiligter im Wechsel
einnimmt. Zu den Erzähltechnika vgl. wiederum Finke (Anm. 18).
12
scheinenden Falls, sondern die rechtzeitige, zukünftige Verbrechen verhindernde
Überwältigung oder Verhaftung der Verantwortlichen oder der wesentlichen ‘Drahtzieher’ des
Verbrechenskomplexes.
3. Durch die Überführung der absoluten und vorgegebenen Begrenztheit von Raum und
Figurenarsenal in eine vor allem durch Kontingenzen bestimmte und potentiell offene Region
einerseits und durch die gleichrangige Gegenwart von Tat- und Ermittlungsgeschehen
andererseits ändern sich auch die Struktur des am Gesamtgeschehen beteiligten Personals und
das Wesen der bzw. der Umgang mit möglichen Ermittlungsindizien. Letztere sind im Thriller
vor allem als ‘höhere Dichte’ von Kontingentem55 gegeben, an dessen Zufälligkeit nicht mehr
zu glauben ist. Demgegenüber tritt die Zeugenaussage oder das Deuten von direkt
zugänglichen Tatort-Indizien zurück. Darüber hinaus sind symptomatologische
Deutungsmuster sehr bezeichnend für den Thriller, in dem der Detektiv anhand von kaum en
detail identifizierbaren, für den erfahrenen Ermittler aber ‘spürbaren’ Symptomen den
Heckenschützen auf offener Straße ‘wittert’, hinter die ‘Fassade’ eines scheinbar bürgerlichen
Hauses blickt und den Schuldigen an seinem Fluchtversuch erkennt. Die an einem Thriller
beteiligten Personen wiederum lassen sich – oft auch am Ende – nicht mehr eindeutig als
Opfer, Täter, Verdächtige oder Unbeteiligte klassifizieren, zumal außerhalb des auftretenden
(d.h. vom Detektiv in die Überlegungen einbezogenen) Personenkreises potentiell weitere
Beteiligte und nicht beachtete Aspekte des Tatkomplexes oder andere Verbrechenskomplexe
verborgen sein können. Selbst (einer) der oder die Ermittler können zu Opfern, Tätern oder
Verdächtigen werden. Diese offene und unabschließbare Personalstruktur kann somit ohne
entscheidenden oder erkennbaren Einschnitt in die Bevölkerung der betreffenden (fiktiven)
Region bzw. Gesellschaft übergehen.56
So verhält es sich z.B. in einer der frühesten Realisationen des Genretyps, Chandlers
Erzählung Killer in the Rain, die 1935 im Januarheft des ‘pulp’-Magazins Black Mask
veröffentlicht wurde.57 In den hier auf etwa 50 Seiten präsentierten ‘Fall’ sind die
unterschiedlichsten Personen verwickelt. Sie sind dies aber nicht durch Anwesenheit an einem
Tatort, sondern durch eigene Interessen und Aktivitäten, die den ‘Fall’ betreffen. Worin der
‘Fall’ genau besteht, bleibt unklar, nur der Auftrag des (hier namenlosen) Privatdetektivs, der
das Romangeschehen aus seiner Erlebnisperspektive als Ich-Erzähler präsentiert, ist klar
umrissen, aber kaum zu realisieren: Der Mann, den sich der Detektiv ‘vorknöpfen’ soll, wird
nämlich erschossen. Dieser Mord im Beisein der geliebten Adoptivtochter des Auftraggebers
führt zu einem weiteren Todesfall, die beide nur durch ein Netzwerk verschiedener, großteils
verbrecherischer, oft auch emotionaler oder pathologischer Interessensphären und Aktivitäten
zu erklären sind, darunter: Pornographie, Erpressung, Schutzgeld, Diebstahl/Veruntreuung,
Liebe, Rachlust, Alkoholismus/Drogensucht und Wahnsinn. Im Laufe seiner
‘Ermittlungstätigkeit’, die oft auch darin besteht, die Interessen des Auftraggebers zu
55
Der typische Fall dafür stellt wohl die (verdächtige oder zumindest erklärungsbedürftige) Anwesenheit
einer bestimmten Person an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt dar.
56
Kümmel (Anm. 4) spricht deshalb mit Blick auf Chandlers Modifikation des Genres von der Ersetzung
der „‘befriedeten Welt’“ des klassischen Kriminalromans „durch eine, der das Verbrechen immanent ist“ (S. 32);
Kümmels Binnenzitat aus Ulrich Schulz-Buschhaus: Formen und Ideologien des Kriminalromans. Ein
gattungsgeschichtlicher Essay, Frankfurt am Main 1975, S. 129. Dort wird die Gesellschaft des „Rätselromans“
vom klassischen Typ übrigens im Gegensatz dazu als „eine essentiell befriedete Ordnung [...], am besten als eine
Idylle“ oder „‘heile Welt’“ (ebd.) charakterisiert.
57
Raymond Chandler: Mord im Regen (Killer in the Rain). In: R. C.: Mord im Regen. Frühe Stories. Mit
einem Vorwort v. Philip Durham. Neu übersetzt v. Hans Wollschläger, Zürich 1976, S. 14-65.
13
schützen, Beweismaterial zu unterschlagen oder der Polizei Informationen vorzuenthalten,
besucht der Detektiv verschiedene Orte im Großraum Los Angeles, den er ständig mit
wechselnden Autos durchfährt. Er chauffiert betrunkene Mädchen nach Hause, beobachtet
Lieferungen mit pornographischem Material, gerät in eine beinahe gewalttätige und in eine
äußerst gewalttätige, zu zwei weiteren Toten führende Auseinandersetzung, überlebt all dies
und muß am Ende doch sein Scheitern eingestehen: Die einzelnen Teilverbrechen, zumindest
die größeren, sind zwar aller Wahrscheinlichkeit nach aufgeklärt, also zumindest ihren
(durchaus verschiedenen) Tätern zugeordnet, die Menge der Toten, darunter der Auftraggeber,
übersteigt aber doch das Maß dessen, was der ebenso gutmeinende wie hartgesottene Detektiv
noch zu akzeptieren bereit ist. Er schließt: „Wir fuhren weiter durch den stillen Abend zum
Berglund. Ich fühlte mich müde und alt und unnütz für alle Welt.“58
Von Anfang laufen die Aktivitäten des Detektivs und die der anderen beteiligten Personen
zeitlich parallel ab, ihre Wege kreuzen sich immer wieder. Als der Detektiv z.B., der zu
Beginn nur das Haus des ersten Todesopfers beobachten möchte, den Mord an ihm durch
Schüsse und Schreie zumindest akustisch mitverfolgt, den vermeintlichen Täter unerkannt
entkommen lassen muß und die völlig betrunkene Tochter des Auftraggebers im Zimmer mit
der Leiche findet, bringt er zuerst, nach einer oberflächlichen Untersuchung des Tatorts, das
Mädchen nach Hause. Als er nach einiger Zeit wiederkommt, um das eigenen Auto zu holen
und um genauere Untersuchungen anzustellen, vor allem aber um die Photoplatte
mutmaßlicher Nacktphotos des Mädchens zu holen, ist die Leiche ebenso verschwunden wie
die Platte.
Die ‘plot’-Struktur aus Killer in the Rain baut Chandler übrigens in dem ihm eigenen
Verfahren der ‘Kannibalisierung’59 zusammen mit der einer anderen frühen Erzählung (The
Curtain von 1936) und neuem Material in seinen ersten (prototypischen ‘hard-boiled’-)
Roman The Big Sleep um den hier erstmals eingesetzten Detektiv Philip Marlowe von 1939
ein. Dieser vereint mithin die verschiedenen Verflechtungen zweier Fallkomplexe und zweier
Ermittlungs-und Vertuschungshandlungen in sich.
VI
Die oben umrissene ‘Raumzeit’ des Thrillers, dessen Variationsbreite freilich kaum zu
unterschätzen sein dürfte, weist einige Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten mit einem
Chronotopos auf, den Bachtin in seinem historischen Aufriß der Chronotopoi der
Romangeschichte genauer beschreibt. Der als zweiter Typ des antiken Romans eingeführte
„abenteuerliche Alltagsroman“60, den Bachtin an den beiden einzigen aus der Antike noch
vorliegenden Texten dieses Typs exemplifiziert, nämlich an Apuleius’ Metamorphosen oder
Goldenem Esel (2. Jhdt. n. Chr.) und an Petrons Satyricon (um 100 n. Chr.), wird hinsichtlich
seines Chronotopos als ein Mischtyp beschrieben. Zum einen nämlich knüpft diese
58
Ebd., S. 65.
59
Zu Chandlers ‘cannibalizing’, also der ‘Zweitverwertung’ von plots aus den Stories in den Romanen, vgl.
Jerry Speir: Raymond Chandler, New York (NY) 1981, S. 85 ff. Zur Verarbeitung von Killer in the Rain und The
Curtain in The Big Sleep vgl. auch Philip Durham: Vorwort. In: Chandler: Mord im Regen (Anm. 57), S. 7-13,
hier S. 8-11.
60
Bachtin (Anm. 11), S. 38.
14
Genrevariante des (antiken) Romans an den zentralen Chronotopos der „Abenteuerzeit“61 an,
der den ersten antiken Romantyp, den „abenteuerlichen Prüfungsroman“62 ausmacht. Zum
anderen nimmt sie eines der wesentlichen Momente von dessen raum-zeitlicher Organisation
zurück, die Ansiedlung des Romangeschehens in „einer fremden Welt“63 nämlich, die
wesentlich exotisch, unbekannt und unbestimmt ist, und verknüpft sie stattdessen „mit der
Zeit des alltäglichen Lebens“64. So kann in diesem Romantyp nach Bachtin der konkrete
(private) Alltag in seiner natürlichen zeitlichen, also unumkehrbaren und von Erinnerungen
und Erfahrungen geprägten Abfolge dargestellt werden.65 Diese Darstellung geschieht anhand
herausragender Momente des Lebens des im Zentrum stehenden Helden. Der Lebensweg
selbst stellt sich so als ein von ständigen Ortswechseln und ‘zufälligen’ Begegnungen
geprägter Abenteuerweg dar, der private und öffentliche Anteile hat, die hier miteinander
verbunden sind. Dem entspricht, daß Bachtin, der im Essay über den Bildungsroman sein
Material zum Chronotopos im Hinblick auf diesen Gegenstand in einer anderen Aufbereitung
präsentiert66, die raum-zeitliche Organisation der ‘adventure novel of everyday life’ dem
Chronotopos der „Travel novel“67 zuordnet.68 Der ‘Roman der Reise’ wiederum ist bestimmt
durch einen Helden als „a point moving in space“, und so ist es dem Autor solcher Romane
möglich, „to develop and demonstrate the spatial and static social diversity of the world
(country, city, culture, nationality, various social groups and the specific conditions of their
lives).“69
Offensichtlich ist es möglich, aufgrund der oben skizzierten Eigenheiten den Chronotopos
der ‘hard-boiled novel’ bzw. des Thrillers als ausgeprägter konkretisierten Fall der ‘Raumzeit’
61
Ebd., S. 39.
62
Ebd., S. 10.
63
Ebd., S. 26.
64
Ebd., S. 39.
65
Vgl. ebd., S. 40-47.
Mit diesem Chronotopos verknüpft Bachtin auch einige strukturelle inhaltliche Momente, die ihm seine beiden
antiken Beispieltexte, vor allem der Goldene Esel liefern. Im Hinblick auf den Thriller muß ich jedoch diese
Festlegung des Lebenswegs als ein Verwandlungsgeschehen, das sich als finale „Reihe“ von „Schuld – Strafe –
Sühne – Glückseligkeit“ (S. 27) darstellt, außer Acht lassen.
66
Zur Entstehung und zum fragmentarischen Charakter dieses Essay vgl. Michael Holquist: Introduction. In:
Mikhail M. Bakhtin: Speech Genres and Other Late Essays. Translated by Vern W. McGee. Ed. by Caryl
Emerson and Michael Holquist, S. IX-XXIII, vgl. hier S. XIII f.
67
Mikhail M. Bakhtin: The Bildungsroman and Its Significance in the History of Realism (Toward a
Historical Typology of the Novel). In: Emerson / Holquist (Anm. 66), S. 10-59, hier S. 10.
68
Diese Zuordnung, die auch die Tradition des Pikaro-Roman betrifft, ist dokumentiert bei Morson /
Emerson (Anm. 14), S. 412; dort auch die englische Version der Bezeichnung für den Romantyp.
69
Bakhtin: Bildungsroman (Anm. 67), S. 10.
Eine ähnliche Betonung des Weges in diesem Zusammenhang findet sich übrigens auch in Bachtins 1973
angefügten „Schlußbemerkungen“ zu seinem Chronotopos-Buch: Hier wird der „Chronotopos des Weges“
(Bachtin, Anm. 11, S. 192), also vor allem die Straße, die Bachtin „immer durch das eigene Heimatland und
nicht durch eine exotische fremde Welt“ (S. 194) führen läßt, näher beschrieben als ein Ort der Begegnung
unterschiedlicher Menschen mit unterschiedlichen (Lebens-)Wegen und sozialen, kulturellen und persönlichen
Hintergründen: „Die Zeit ergießt sich hier gleichsam in den Raum und fließt durch ihn hindurch“ (S. 193), heißt
es dort über diese Organisationsform von Raum und Zeit.
Daß Bachtin, ebenfalls in den „Schlußbemerkungen“, im Anschluß an die Straße das Schloß der ‘gothic novel’
als quasi trans-historische Begegegnungsstätte thematisiert, die ‘gothic novel’ wiederum gerne als (historische)
Keimzelle für die Kriminalliteratur überhaupt veranschlagt wird (vgl. etwa Becker, Anm. 4), soll hier nur erwähnt
werden.
15
des ‘abenteuerlichen Alltagsromans’ aufzufassen, zumal Bachtins Begriffsarchitektur solche
Subsumtions- oder Interaktionsverhältnisse für Chronotopoi zuzulassen, ja vorzusehen
scheint. Diese Auffassung wird zudem unterstützt durch zwei inhaltliche Momente, die
Bachtin am ‘abenteuerlichen Alltagsroman’ für bezeichnend ansieht. Da ist zum einen der
Held als beobachtender, außenstehender, sozial niederer Dritter – oder im Hinblick auf spätere
Romanformen: als ‘Schelm’.70 Da ist zum anderen der Hinweis Bachtins, daß gerade
„kriminelle Handlungen“, die ein Operieren mit „gerichtlich-kriminologischen Kategorien“71
nach sich ziehen, in diesem Romantyp von besonderer Relevanz sind. Beide Momente sind
funktional darauf ausgerichtet, im Roman Verborgenes und Privates aus dem Alltag öffentlich
und zugänglich zu machen, also an die darstellbare Oberfläche zu bringen. Somit kann man –
wenn man geneigt ist – im Diener oder Schelm eine Vorstufe des Detektivs und Ermittlers
erblicken, und sollte man – mit Bachtin, der hier selbst „auf den abenteuerlichen
Detektivroman“72 verweist – die chronotopisch gestiftete Verwandtschaft von Thriller und
abenteuerlichem Alltagsroman anerkennen.
Durch die Möglichkeit, mit dem Chronotopos des ‘abenteuerlichen Alltagsromans’ den
privaten oder verborgenen konkreten Alltag bestimmter Personen oder Personenkreise zur
Darstellung kommen zu lassen, reiht sich dieser Romantyp in die Tradition potentiell
‘realistischer’ Romanliteratur ein, die Bachtin im Chronotopos-Buch insbesondere anhand des
mit dem Figurentyp des Schelmen oder Narren arbeitenden Romans der Neuzeit
exemplifiziert: „Der Schelmenroman arbeitet im wesentlichen mit dem Chronotopos des
abenteuerlichen Alltagsromans“, solche Romane wiederum „haben innerhalb der Geschichte
des Realismus eine immense Bedeutung“73. Wegen der Möglichkeit, die soziale Vielfalt der
Welt zu veranschaulichen, wird im Bildungsroman-Essay dieser „type of positioning the hero
and construction of the novel“ sogar ausdrücklich als „typical of classical naturalism“74
bezeichnet.
Diese spezifische Form von ‘Realismus’ oder Authentizität, die sich vor allem auf die
Darstellung der (sozialen) Umwelt des eigentlichen ‘plots’ bezieht und die man – ausgehend
von Bachtins Ausführungen – dem Thriller zuschreiben muß, ist tendenziell abgebildet in der
bei Meyer dokumentierten „Unterscheidung von faktischem ‘Lokal’ und sinnbezogenem
‘Raum’“75. Der kriminalliterarische Traditionsstrang von ‘hard-boiled novel’, Thriller,
Polizeiroman usw., der in seiner Absetzung vom klassischen ‘Whodunit’ also immer wieder
neu einen Zuwachs an Authentizität, ein Plus an „Realistik der Verbrechensdarstellung“76, der
Ermittlungsmethoden und der Figuren anstrebt oder in Anspruch nimmt77, zeichnet sich
70
Vgl. ebd., S. 54 f.
71
Ebd., S. 54.
72
Ebd., S. 54.
73
Ebd., S. 99.
74
Bakhtin: Bildungsroman (Anm. 67), S. 10.
75
Meyer (Anm. 1), S. 35.
76
Nusser (Anm. 5), S. 53.
77
Suerbaum (Anm. 6) betont wohl völlig zurecht, daß der Thriller seit Chandler zwar generell einen
„Anspruch auf Wirklichkeitsnähe“ und „Glaubwürdigkeit“ (S. 160) erhebt, daß aber erst die Weiterentwicklung
des Polizeiromans diesen Anspruch umfassend einlöst. In dessen Zentrum stehen nun nicht mehr ein Verbrechen
bzw. ein Verbrechenskomplex und ein (Privat-)Detektiv, sondern – wie in modernen Gesellschaften allgemein
üblich – oft mehrere Verbrechenskomplexe, ein professioneller Polizeiapparat, der die Ermittlungen führt, sowie
des öfteren ein Justizapparat, der die Bemühungen der Polizei nicht immer nur unterstützt. Die Annahme eines
größeren Realismus (im Sinne von „Nähe zur empirischen Wirklichkeit“) der ‘hard-boiled novel’ im engeren
16
daneben wesentlich durch die – sicherlich nicht immer (in vollem Umfang) realisierte –
Möglichkeit aus, weitgehend authentische ‘Lokale’ samt ihrer soziokulturellen Eigenheiten
darzustellen.78
Evelyne Keitel kann diesen Befund für die neueren ‘Kriminalromane von Frauen für
Frauen’ (etwa der Amerikanerin Sharyn McCrumbs) bestätigen. Durch deren Anknüpfung an
die „Local Color-Literatur des 19.“ und den „New Realism des 20. Jahrhunderts“79 wird es
diesen Romanen ihren detailreichen und vielfach belegten Ausführungen nach möglich, die
„charakteristischen Gegebenheiten einer geographischen Region“80, an die der jeweilige
Roman bzw. die jeweilige Roman-Serie gebunden ist, detailliert nachzuzeichnen und so der
Leserschaft zu vermitteln.81 Diese Möglichkeiten sind natürlich nicht nur ‘Kriminalromanen
von Frauen für Frauen’ vorbehalten. Auch viele andere Texte aus dieser Variante der
Kriminalliteratur können dem Leser zusammen mit ihren Verbrechen und ihre Aufklärung
umkreisenden ‘plot’ die Charakteristika der unterschiedlichsten Lebensräume, Milieus,
Kulturen und Sub-Kulturen usw. zeigen. Diese ‘Lokale’ können dem Leser – je nach Herkunft
und Erfahrungshorizont – bekannt und vertraut oder unbekannt sein. Sie können ihm aber
auch wesentlich fremd sein, so etwa in einigen in historischen ‘Raumzeiten’ angesiedelten
Kriminalromane, die neben einer Kriminalgeschichte auch das Panorama einer vergangenen
Kultur entwerfen.
Eine indirekte Bestätigung und Fortführung der These zum potentiell ‘realistischen’
Chronotopos des Thrillers liefert – und damit komme ich zum Abschluß – schließlich das
allenthalben für einige neuere Varianten des ‘zweiten Stammbaums’, insbesondere des
Polizeiromans veranschlagte sozialkritische Potential.82 Sozialkritik ist ja auf eine Kultur,
Gesellschaft oder Lebenspraxis als Objekt ihrer Darstellung und Kritik notwendig
angewiesen.
Durch seine die Einheit des Genres garantierende, im Kern gleichbleibende, aber in
Sinne hält Suerbaum demzufolge zwar für weit verbreitet, aber für „nicht zutreffend“ und ausschließlich auf die
vergleichsweise niedrigen sozialen Milieus des ‘harten Krimis’ zurückzuführen (S. 129). In diesem Sinne spricht
auch Schulz-Buschhaus (Anm. 56) vom „Versuch eines realistischen Kriminalromans in der amerikanischen
‘hard-boiled school’“ bei Chandler und Hammett (S. 123).
78
Beide Annäherungen an die Realität, die der Authentizität und die des ‘Lokals’, gehen übrigens Hand in
Hand in den auf authentische Fälle rekurrierenden Tatsachenromanen, darunter Capotes In Cold Blood von 1965
und einige der Polizeiromane Joseph Wambaughs. Das Auftreten von Tatsachenromanen gerade in diesem
Genretyp dürfte nach dem oben Ausgeführten wohl nicht mehr als eine Zufälligkeit angesehen werden.
79
Keitel (Anm. 4), S. 95.
80
Ebd., S. 89.
81
Sharyn McCrumbs im Drei-Staaten-Grenzgebiet von North Carolina, Tennessee und Virginia angesiedelte
Romane etwa sind fest mit ihrem ‘Lokal’ oder ‘setting’ verbunden. Dies betrifft die Figuren, die ihrer Sprache,
ihrer Tradition, ihrer Familie und ihrem Selbstverständnis nach zumeist der Region angehören, es betrifft die
eigenwillige Landschaft der Blue Ridge Mountains, die kulturellen Eigen- und Besonderheiten der Gegend,
insbesondere in ihrer historischen Dimension, in der örtliche Legenden, alte Siedlerballaden und Indianermythen
eine nicht unerhebliche Rolle spielen.
82
Vgl. etwa Schulz-Buschhaus (Anm. 56), der am Beispiel der Romane Leonardo Sciascias vom
„realistischen Kriminalroman als Instrument von Sozialkritik“ (S. 196) spricht, oder Dieter Gutzen: Jakob Studer,
Katharina Ledermacher und Martin Beck. Themen und Tendenzen des modernen Detektivromans am Beispiel
der Werke Friedrich Glausers, Richard Heys sowie Maj Sjöwalls und Per Wahlöös. In: arcadia. Sonderheft 1978,
S. 66-79. Nach Gutzen „verfolgen“ die genannten Autoren von Kriminal- oder Polizeiromanen – und einige
wären zu ergänzen, etwa Taibo, Montalban, -ky, Hiaasen u.v.m. – „dasselbe Ziel; sie wollen
gesellschaftskritische Aufklärung betreiben und benutzen, das Unterhaltungsbedürfnis des Lesers
einkalkulierend, den Detektivroman als Vehikel“ (S. 78).
17
vielfacher Weise modifizierbare Verwendung eines ‘plots’, der ein Verbrechens- und ein
Aufklärungsgeschehen miteinander in Beziehung setzt, hat der Kriminalroman, wie
Heißenbüttel pointiert bemerkt, zwar „einen der wenigen in sich abgeschlossenen Bereiche
der neueren Literatur ausgebildet“, muß auf der anderen Seite aber „als eine der offensten
Formen der heutigen Literatur“83 angesehen werden. Diese ‘Offenheit’ hat das Genre nicht
zuletzt seiner erst durch Hammett und Chandler etablierten ‘zweiten Linie des
Kriminalromans’ und dessen ‘offener’ raumzeitlicher Organisationsform zu verdanken. Erst
sie befähigt ihn zu einer bestimmten Form von ‘Realismus’, zu Sozialkritik, ja sogar zur
‘Menschendarstellung’.
Alle drei Momente vereint z.B. der 1995 erschienene Roman Fence Jumpers84 des
ehemaligen NYPD-Beamten Bob Leuci. Anhand der vielfach durch Freundschaft,
Gegnerschaft und Schuld verknüpften (Lebens-)Wege dreier Männer aus Queens, New York –
zwei davon sind Polizisten, einer Mafia-Mitglied, alle drei sind Jugendfreunde – kommen
nicht nur die Lebensrealitäten New Yorks jenseits der Paläste von Manhattan, die mühsame
Ermittlungsarbeit der Polizei, die private Situation großstädtischer Polizeibeamter und die im
unaufhaltsamen Umbruch befindliche New Yorker Mafia zur Darstellung, sondern auch deren
jeweilige historische Entwicklung und Veränderung. Hier sind ‘gut’ und ‘böse’ längst nicht
mehr voneinander zu trennen, sondern in einem Maße miteinander verflochten, daß es das
Leben der ‘Helden’ und ihre Beziehungen untereinander und zu anderen wesentlich bestimmt
bzw. zerstört. Diese „Gemengelage aus Freundschaft, Loyalität, professionellen Sachzwängen
und der Unfähigkeit, wirklich miteinander zu reden“ – so der Krimi-Experte Thomas Wörtche
in einer Rezension – „legt Leuci Schicht für Schicht frei“.85
83
Heißenbüttel (Anm. 3), S. 119.
84
Bob Leuci: Abtrünnige. Roman. Aus dem Amerikanischen v. Jürgen Becker, Zürich 1998.
85
Thomas Wörtche: Rez. Bob Leuci, Abtrünnige. Zitiert nach: Thomas Wörtches Krimi-Kolumnen. „Cream
of Crime“ Nr. 8 (1998) (http://www.parkverbot.org/hammett/woertche.htm).
18