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UWE SPÖRL DIE CHRONOTOPOI DES KRIMINALROMANS Dringlicher schien uns für diesmal die Aufgabe zu sein, am Einzelwerk aufzuzeigen, daß der Raum in der Dichtung nicht bloß eine faktische Gegebenheit, sondern vor allem ein eigenständiges Gestaltungselement bildet, das zusammen mit verschwisterten Elementen wie Zeit, Erzählperspektive, Figur und Handlungsfolge den intendierten Gehalt bekörpert und die Struktur des Werkes bestimmt. 1 Herman Meyer I Es ist fast schon ein Topos der literarischen wie der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Detektiv- und Kriminalliteratur, darauf hinzuweisen, wie enorm wichtig die Einbeziehung der Gestaltung des Raumes (und der Zeit) bei der Betrachtung dieses ebenfalls topisch als unterschätzt geltenden Genres moderner Erzählliteratur sei. Den Anfang damit scheint – zumindest im deutschsprachigen Raum – Walter Benjamin in einer seiner EinbahnstraßenSkizzen gemacht zu haben. Die „hochherrschaftlich möblierte Zimmerwohnung“ (so der Titel dieser Skizze) scheint ihm einzig und allein „eine gewisse Art von Kriminalromanen“ angemessen darzustellen, nicht zuletzt deshalb, weil dieses Interieur des ausgehenden 19. Jahrhunderts „adäquat allein der Leiche zur Behausung“ werde.2 Dem schließt sich ein anderer krimilesender Schriftsteller an, Helmut Heißenbüttel nämlich, der in seinem Aufsatz über die Spielregeln des Kriminalromans dessen „topographische Verankerung“ betont. Durch diese könne das ‘schematisch-abstrakte’ und deshalb monotone Handlungsgerüst des Krimis immer wieder neu „an reale Schauplätze und Milieus“3 angeglichen und so ständig variiert werden. Doch auch literaturwissenschaftliche Untersuchungen zum Kriminalroman weisen immer wieder auf die enorme Bedeutung des ‘settings’ hin, das den fiktionalen Text „in Raum und Zeit“4 verankert. „Räume und Gegenstände im Detektivroman“ und „im Thriller“5 sind 1 Herman Meyer: Raumgestaltung und Raumsymbolik in der Erzählkunst (1957). Nachdruck in: H. M.: Zarte Empirie. Studien zur Literaturgeschichte, Stuttgart 1963, S. 33-56, hier S. 56. 2 Walter Benjamin: Einbahnstraße (1928). In: W. B.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung v. Theodor W. Adorno u. Gershom Sholem hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Bd. IV.1 Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen. Hg. v. Tillman Rexroth, Frankfurt am Main 1972, S. 83-148, hier S. 88 f. 3 Helmut Heißenbüttel: Spielregeln des Kriminalromans (erstmals in: Der Monat 181, 1963). In: H. H.: Über Literatur, Stuttgart 1966, S. 104-120, hier S. 111 f. 4 Evelyne Keitel: Kriminalromane von Frauen für Frauen. Unterhaltungsliteratur aus Amerika, Darmstadt 1998, S. 82. Das Kapitel, dem diese Betonung und Definition des ‘setting’ entnommen ist, heißt passend „Raum, Räume, Räumlichkeiten“ (S. 82) und bezieht sich vornehmlich auf die Produkte weiblicher US-amerikanischer Autorinnen eines neuen ‘Golden Age’ der Kriminalliteratur. 1 dementsprechend zwei der zentralen Kapitel der deutschsprachigen Einführung zum Kriminalroman von Peter Nusser überschrieben. Die Aufmerksamkeit, die man dem Ort, Schauplatz oder ‘setting’ der Kriminalliteratur widmet, ist natürlich zum Teil in ihrer Geschichte begründet, konstruierte man doch seit Poes Murders in the Rue Morgue und insbesondere im ‘Golden Age’ des Genres zwischen den beiden Weltkriegen das vom herbeigerufenen oder zufällig anwesenden Detektiv zu lösende Rätsel des ‘Falls’ gerne um einen ‘geschlossenen Raum’ herum, einen Raum also, in dem eigentlich gar kein Mord geschehen kann. Ein weiteres Moment der Geschichte der Kriminalliteratur scheint ebenfalls ganz wesentlich mit einer veränderten Konzeption von Raum und Zeit zu tun zu haben: Das Auftauchen der sogenannten ‘hard-boiled novel’6, die den althergebrachten ‘britischen’ Typus der Detektivliteratur ablösen möchte, ihn lange Zeit als Gegenstück ergänzt und heute – als ‘Thriller’ – längst verdrängt hat, ist zur entscheidenden Herausforderung entweder für eine systematisch kohärente Beschreibung des Genres oder für dessen Einheit geworden. Der neue Genretyp und sein Erfolg sind, so scheint es, wohl nicht allein durch seinen neuartigen und in seiner ‘Härte’ und Schnoddrigkeit so faszinierenden Helden, seinen lakonisch-alltäglichen Sprach- und Erzählstil, seine ‘moderneren’ Sujets, neue Publikationsformen oder durch unterschiedliche Autorentypen, -generationen oder -nationalitäten zu erklären. Der ‘hartgesottene Kriminalroman’ ist bekanntlich seit seiner Einführung mit dem Anspruch auf (ein höheres Maß an) ‘Realismus’ und Wahrhaftigkeit befrachtet worden, den der ‘klassische’ Typ des ‘Whodunit’ niemals einlösen konnte. 1944 hat Raymond Chandler, der zweite Protagonist der ‘hard-boiled novel’, diese Formel in seinem Essay The Simple Art of Murder vorgegeben, wo er den britischen Krimi-AutorInnen einen Mangel an der ‘Kunst’ der ‘Ehrlichkeit’ vowirft: Die Raffinesse eines Mordes und seiner Aufklärung allein würden weder die (echte) Polizei beeindrucken noch aus einem derlei zur Darstellung bringenden Text ein Roman-Kunstwerk machen.7 Der bloßen Raffinesse stellt er Dashiell Hammett, den ersten Protagonisten der neuen ‘amerikanischen Schule’ des Kriminalromans entgegen, da dieser (wie er selbst) „realistische Kriminalromane schrieb oder doch zu schreiben versuchte.“8 Weitere einschlägige Untersuchungen sind etwa Jens-Peter Becker: „locus horridus“ und Mayhem Parva. Typische Schauplätze des Detektivromans. In: J.-P. B.: Sherlock Holmes & Co. Essays zur englischen und amerikanischen Detektivliteratur, München 1975, S. 60-81; Michael Kümmel: Der Held und seine Stadt. Anmerkungen zur Topographie in einigen modernen Kriminalromanen. In: Die Horen 32.4 (1987), S. 31-41; und Dietrich Schwanitz: Die undurchschaubare Lösungstechnik des Detektivs. Zehn Thesen zum Abstraktionsstil und zur Temporalstruktur des Kriminalromans. In: arcadia 17 (1982), S. 37-60. 5 Peter Nusser: Der Kriminalroman, Stuttgart / Weimar 21992, S. 48 u. 68. 6 Dies belegt nicht nur die Zweizahl von Nussers (Anm. 5) Kapiteln zum Raum. Fast alle Untersuchungen zur Kriminalliteratur, die einen Überblick anstreben, trennen mehr oder minder deutlich (und meist geordnet als historisches Nacheinander) die traditionelle Detektivliteratur der Doyle, Carr, Stout, Christie usw. von den ‘hardboiled novels’ der Hammett, Chandler und ihrer Nachfolger, so z. B. auch die bereits erwähnten Becker (Anm. 4), Keitel (Anm. 4, in ihrem Einleitungskapitel), Schwanitz (Anm. 4) und Heißenbüttel (Anm. 3) sowie Ulrich Suerbaum: Krimi. Eine Analyse der Gattung, Stuttgart 1984. 7 Vgl. Raymond Chandler: Die simple Kunst des Mordes. Ein Essay. In: R. C.: Die simple Kunst des Mordes. Briefe, Essays, Notizen, eine Geschichte und ein Romanfragment. Hg. v. Dorothy Gardiner u. Kathrine Sorley. Neu übersetzt v. Hans Wollschläger, Zürich 1975, S. 318-342, hier S. 332 f. 8 Ebd., S. 335. Im selben Essay weist Chandler einem der ‘Klassiker’ des ‘Golden Age’, Alan A. Milnes Red House Story diverse Unschlüssigkeiten und Fehler nach (vgl. S. 324 ff.). Dieser Nachweis trennt die Spezifika des hochartifiziellen Romanplots aus dem Handlungszusammenhang und testet ihren Gehalt, indem er sie einem fingierten ‘echten’ Ermittlungsverfahren aussetzt, was schnell zu anderen Schlußfolgerungen führt als den im Roman vollzogenen. 2 II Angesichts des eben skizzierten Problemkomplexes um die (möglicherweise in verschiedenen Typen unterschiedlich gehandhabte) Gestaltung von Raum und Zeit, deren zentrale Bedeutung für das Genre Kriminalliteratur allgemein anerkannt wird und die möglicherweise Auswirkungen auf den Grad von Authentizität und ‘Realismus’ hat, ist es fast schon erstaunlich, daß bisher – soweit ich sehe – kein Versuch unternommen worden ist, Bachtins Konzept des Chronotopos hier zu Analysezwecken einzusetzen und damit über die verschiedenen Versuche hinauszugehen, den Kriminalroman an einzelne ältere Genres (historisch) anknüpfen zu lassen.9 Dies ist um so erstaunlicher, als – unabhängig von den einschlägigen Schlüsselbegriffen ‘Raum’ und ‘Zeit’ und unabhängig von der Tatsache, daß der Chronotopos für Bachtin ohnehin „ein obligates Element epischer Gestaltung“10 darstellt – dieses Konzept des sowjetischen Literaturtheoretikers einige Eigenheiten aufweist, die es für einige wesentliche Problemfelder der Kriminalliteratur, darunter das eben angedeutete, besonders praktikabel erscheinen lassen. Bachtins Chronotopos-Begriff sieht explizit davon ab, eine rein formale Beschreibungs- und Analysekategorie zu sein. Als „Form-Inhalt-Kategorie“11 aber ist der Chronotopos sicherlich besonders gut geeignet, ein Genre zu erfassen, das – zumindest vordergründig – vornehmlich von seinen Inhalten bestimmt wird und aus diesen seine enorme Popularität bezieht. Des weiteren korrespondiert Bachtins Konzeption des Chronotopos, den er als „grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfaßten Zeit-und-Raum-Beziehungen“ definiert12, der oben angesprochenen zentralen Bedeutung der Gestaltung von Raum (und Zeit) für den Kriminalroman. Denn offensichtlich meint ‘Chronotopos’ eine nur holistisch, also ganzheitlich zu denkende ‘Raumzeit’. Raum und Zeit sind darin (ontologisch oder epistemologisch) untrennbar und wechselseitig aufeinander bezogen13, vor allem aber ist das Ganze dieser ‘Raumzeit’ jeder literarischen oder erzählerischen Gestaltung von in Raum und Zeit sich abspielenden Geschehnissen gleichsam eingeschrieben und insofern auf eine wie auch immer geartete Ausgestaltung angewiesen.14 In seinen Beiläufigen Anmerkungen zum Kriminalroman von 1949 (ebd., S. 72-83) fordert Chandler dementsprechend vom Krimi nicht nur glaubwürdige Motivationen und methodisch-technische Fehlerlosigkeit, sondern auch ‘Realismus’ „im Hinblick auf Gestalten, Schauplatz und Atmosphäre“ (S. 73). Und in einem Brief vom 27.6.1940 (an Harmon Coxe) schildert er, daß ihn die Lektüre von Christies Ten Little Niggers zu dem Schluß gebracht habe, daß es „nicht möglich“ sei, „einen strikt ehrlichen Kriminalroman vom klassischen Typus zu schreiben“ (ebd., S. 50). 9 Einen ähnlich gelagerten Versuch, eine externe Theorie zur Analyse von Kriminalliteratur heranzuziehen, hat Schwanitz (Anm. 4) unternommen, der sich von einigen Positionen der Systemtheorie Luhmanns aus dem Phänomen Krimi annähert. Seine Ergebnisse habe ich zum Teil im folgenden verwenden können. 10 Michael Wegner: Die Zeit im Raum. Zur Chronotopostheorie Michail Bachtins. In: Weimarer Beiträge 35.8 (1989), S. 1357-1367, hier S. 1363. 11 Michail M. Bachtin: Formen der Zeit. Untersuchungen zur historischen Poetik (1975). Hg. v. Edward Kowalski u. Michael Wegner. Aus dem Russ. v. Michael Dewey, Frankfurt am Main 1989, S. 7. 12 Ebd., S. 7; vgl. Wegner (Anm. 10), S. 1360 u. 1363. 13 Vgl. Wegner (Anm. 10), S. 1361. 14 Vgl. Wegner (Anm. 10), S. 1360 und Gary Saul Morson / Caryl Emerson: Mikhail Bakhtin. Creation of a Prosaics, Stanford (CA) 1990, S. 367 ff. 3 Hinzu kommt, daß das Konzept des Chronotopos theoretisch wie praktisch darauf abzielt, „verschiedene Genrevarianten des [...] Romans“15 historisch und typologisch zu unterscheiden: Möglicherweise kann es also zur Klärung der angesprochenen gattungstheoretischen Probleme der Kriminalliteratur beitragen, sollte das Auftreten der ‘Genrevariante’ ‘hard-boiled novel’ bzw. Thriller als Einführung einer neuen Organisation von Raum und Zeit im Kriminalroman beschrieben werden können.16 III Die typischen Kriminalromane der älteren ‘britischen’ Genrevariante, die durch den Amerikaner Edgar Allan Poe mit seinen Detektivgeschichten vorgeprägt worden ist, sind darauf angelegt – so Heißenbüttel – „durch eine Mischung aus Faktenermittlung und kombinatorischer Rätselraterei das zunächst Verworrene und Undurchschaubare in plausible Zusammenhänge“17 zu bringen. Der Mord – so gut wie immer ist es dieses Verbrechen – ist häufig schon geschehen, wenn der Detektiv und mit ihm Erzähler und Leser18 den Ort des Geschehens betreten. Die nur schwer zu deutenden ‘Spuren’ des Verbrechens, das sich als zu lösendes ‘Rätsel’ darstellt, existieren aber noch, wenn der (genretypische) AußenseiterDetektiv, eine zumeist äußerst exzentrische Figur, in Aktion tritt. Gleichzeitig mutieren auch die erzählten Geschehnisse vor dem Mord, die der Detektiv durch eine ‘verfrühte’ Anwesenheit bemerken kann, ebenfalls zu potentiellen ‘Spuren’. Durch diese häufig variierte, aber selten völlig aufgegebene Ausgangssituation und durch die Zielsetzung der Aufklärung ergeben sich einige weitere charakteristische oder typische Eigenheiten des ‘klassischen’ Detektivromans, die seine ‘Raumzeit’ betreffen: 1. Der Ort des Mordgeschehens ist ein ‘Tatort’19, sein Zeitpunkt ist eine ‘Gelegenheit’. Die Meine vage Formulierung „eingeschrieben“ korrespondiert dabei der schlechten Faßbarkeit des heuristischen und epistemologischen Status des Begriffs ‘Chronotopos’, der – quasi transzendental – zwar jeder Auffassung bzw. Gestaltung von Geschehen zugrundeliegt, der aber gleichwohl auch inhaltlich gefüllt ist und den Bachtin auch für die Realität selbst, unabhängig von Auffassungen und Gestaltungen derselben, verwendet. 15 Bachtin (Anm. 11), S. 9. 16 Zwei weitere Momente, die eine fruchtbringende Verwendung des Bachtinschen ‘Chronotopos’ für die Untersuchung von moderner Kriminalliteratur vermuten lassen, werde ich nicht explizit untersuchen. Beide hängen mit der Rezeption des Genres zusammen, dessen Beliebtheit immer noch eines seiner großen ‘Mysterien’ für die Literaturwissenschaft ist. Das erste Moment ist verknüpft mit der inhaltlichen Erfülltheit des Chronotopos. Denn der je spezifische Chronotopos trägt nach Bachtin wesentlich zum in Literatur jeweils transportierten Menschenbild bei und schließt immer (emotionale) ‘Wertmomente’ mit ein. Das andere, damit wiederum in Zusammenhang stehende Moment betrifft Bachtins vor allem in den 1973 nachgetragenen „Schlußbemerkungen“ zum Chronotopos-Buch vollzogene Ausweitung des Begriffs auf die Produktions- und Rezeptionsbedingungen literarischer Werke (vgl. Bachtin, Anm. 11, S. 202 ff.). Beides könnte – bezogen auf den Krimi – eine Anregung an die krimibezogene Rezeptionsforschung darstellen. 17 Heißenbüttel (Anm. 3), S. 104. 18 Erzähler und Detektiv sind im ‘klassischen’ Detektivroman selten identisch. Entweder verfolgt ein ErErzähler den Detektiv bei seinen Ermittlungen, oder ein Ich-Erzähler (namens „Watson“) berichtet vom Gang der Untersuchungen seines Freundes, des Detektivs, den er begleitet. In beiden Fällen dokumentiert der Erzähler die Nachforschungen fast zeitgleich mit ihrem Verlauf, geht möglichst nie über den Erkenntnisstand des Detektivs hinaus, ohne aber ausschließen zu können oder zu wollen, daß der Detektiv schon weiter ist. Vgl. zur Erzählertypologie der Kriminalliteratur insbes. Beatrix Finke: Erzählsituationen und Figurenperspektiven im Detektivroman, Amsterdam 1983. 19 Vgl. Heißenbüttel (Anm. 3), S. 112 f. 4 topographischen Verhältnisse dieses Ortes sind demnach im Verbund mit den (in der Zeit möglicherweise) wechselnden Aufenthaltsorten der verdächtigen Personen ebenso wie alle am Ort befindlichen Gegenstände potentielle Indizien für die Verbrechensaufklärung. Vor der endgültigen ‘Lösung des Falls’ (die nach den Konventionen des Genres natürlich ebenfalls zu erwarten ist, und zwar möglichst weit gegen Ende des Textes) bleibt demzufolge unklar, welche Einzelheiten tatsächliche Indizien sind und welche belanglos oder ‘falsche Spuren’ (‘red herrings’).20 Der Ort als Tatort verwandelt demzufolge den Schauplatz und alle dort befindlichen Gegenstände in potentielle Zeichen, die als solche freilich erst innerhalb des Kontextes, in den sie gehören, (als solche) gedeutet werden können. Der Zeitpunkt des Mordgeschehens wird hingegen, ist er erst einmal (vorläufig) ermittelt, häufig aus seiner gewohnten Zeit- und Geschehnisreihe herausgelöst und zum Überprüfungskriterium für die Aufenthaltsorte der Verdächtigen, ihre ‘Alibis’.21 Die Aufgabe des Detektivs ist es also, dafür zu sorgen, daß die durch die Mordtat ‘zersetzte’ und ‘aufgelöste’, ehemals „vertraute“ raumzeitliche „Alltagswelt [...] durch die Lösung wieder reorganisiert wird.“22 2. Das eigentliche Romangeschehen der Ermittlung durch den Detektiv, der den Tatort und mögliche Abfolgen der Geschehnisse und Aufenthaltsorte der verdächtigen Personen untersucht, die Verdächtigen befragt und den ‘Spuren’ nachgeht, stellt sich als ein ‘analytisches’ Aufklärungsgeschehen dar. Es schließt sich an die Mordtat zeitlich an, untersucht diese jedoch und ihre (zeitlich weiter zurückliegenden) Gründe und Hintergründe. Man kann also mit Schwanitz von einer eigenwilligen „Umkehrung der Zeitperspektive“23 im klassischen Detektivroman sprechen. Das Aufklärungsgeschehen zwischen Mordtat und Aufklärung, das die eigentliche Gegenwart des Detektivromans ausmacht, ist dementsprechend ein fundamentaler Ausnahmezustand der ‘Krise’, der zu einer Entscheidung drängt.24 3. Der klassische Detektivroman vermeidet vordergründige Lösungen des Verbrechens, ja für gewöhnlich setzt der Autor (bzw. die Autorin) alles daran, möglichst komplexe und somit schwer zu durchschauende Motivationen, Mittel und Tathergänge für den Mord zu konstruieren. Der Detektiv wiederum ist – im Gegensatz zu der stereotyp überforderten Polizei – als einziger dazu in der Lage, das Rätsel zu lösen. Er ist also nicht nur durch seine exzentrische Persönlichkeit, sondern auch durch seine besonderen Kenntnisse und Geistesgaben, insbesondere sein Beobachtungsvermögen und seinen analytischkombinatorischen Verstand, gegenüber den anderen Figuren des Romans in der Position eines Außenstehenden, eines Außenseiters. Die anderen stellen ja auch – mit Ausnahme des möglichen ‘Watson’ und der Leiche natürlich – allesamt Verdächtige dar. Um das analytischkombinatorische Potential des Detektivs zum Einsatz kommen zu lassen und so das Rätsel des Mordes aufschlüsselbar zu halten, muß der Kreis der Verdächtigen begrenzt sein. Der Ermittler steht zu Beginn seiner Nachforschungen einer ungeordneten, aber notwendigerweise 20 Vgl. Richard Alewyn: Anatomie des Detektivromans (1968). Erweitert in: Jochen Vogt (Hg.): Der Kriminalroman. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung, München 1971, Bd. II, S. 372-404. Hier (S. 390 ff.) entwickelt Alewyn eine kleine Theorie der ‘sekundären Geheimnisse’, die vom ‘primären’, zur Auflösung des Mordfalls beitragenden Geheimniskomplex lange nicht zu unterscheiden sind. 21 Vgl. Schwanitz (Anm. 4), S. 49 f. 22 Ebd., S. 49. 23 Ebd., S. 43. 24 Schwanitz (Anm. 4) spricht in diesem Zusammenhang von einem „eigenartigen Spannungs- und Schwebezustand“ (S. 50). 5 abgeschlossenen Menge von Einzelheiten, die sich allesamt als deutbare Zeichen entpuppen können, gegenüber. Demnach kann nur eine überschaubare Menge von Personen zum Kreis der Verdächtigen gehören, die idealerweise dem ermittelnden Detektiv nach der Tat für Befragungen zur Verfügung stehen. Aus diesem Grund sind die Schauplätze der traditionellen Kriminalliteratur für gewöhnlich extrem begrenzt. Besonders gut eignen sich – wie es scheint – Bahnwaggons, Kreuzfahrtschiffe, vor allem aber Landsitze, kleine Dorfgemeinschaften, Colleges, Theaterensembles und andere bzgl. räumlicher Ausdehnung und Personeninventar abgeschlossene Räume.25 All diese Charakteristika und Spezifika dieser Genrevariante wären an einer Unzahl von Beispielen zu belegen, deshalb scheint mir ein Text, der sich ihrer Konventionen bewußt ist und offen mit ihnen spielt, ganz besonders geeignet zu sein, das Gesagte zu veranschaulichen, zumal die jüngeren Krimiautoren sich aus guten Gründen kaum mehr vollkommen ernsthaft auf die klassische Bauform des Detektivromans einlassen. In Walter Satterthwaits Escapade von 1995, in dessen Zentrum ein ‘locked room puzzle’ steht, nimmt der Experte für geschlossene Räume und Tricks aller Art, der es zudem an Charakter-Exzentrizität leicht mit Holmes, Poirot & Co. aufnehmen kann, die Ermittlungen auf: „der große Meister“26 – wie ihn sein Ich-erzählender Assistent, ein eigens zu seinem Schutz engagierter Pinkerton-Agent namens Phil Beaumont gerne nennt – und legendäre Entfesselungskünstler Harry Houdini.27 Schutz benötigt er aber wohl gar nicht. Denn erstens kann er sich selbst ganz gut vor seinem zweitklassigen und deshalb eifersüchtigen Konkurrenten, dem Verwandlungskünstler mit ungeklärter Identität Chin Soo schützen. Und zweitens geschieht der Mord innerhalb der illustren Wochenendgesellschaft und des hochherrschaftlichen Anwesens Maplewhite von Lord „Bob“ Robert Purleigh, der sich als überzeugter Marxist gerne bei seinem Vornamen nennen läßt und plant, sein Anwesen zu einem Arbeiter-Golfclub zu machen. Auf Schloß Maplewhite, das als „veritables Spukschloß“28 in Devon nicht nur über verschiedene Geheimgänge, sondern auch über ein zum Exhibitionismus neigendes Gespenst Lord Reginalds verfügt, trifft sich Harry, 1921 zum ersten Mal in England, mit seinem alten Freund Arthur Conan Doyle und einer kleinen Gruppe geladener Gäste anläßlich einer Séance des Mediums Mme. Sosostris. Doyle, der dem Spiritismus und Mystizismus verfallen ist, bewundert sie, der sehr viel skeptischere Houdini will das Medium jedoch auf seine Qualitäten hin testen. Mit Unterstützung seines Begleiters, der als professioneller amerikanischer Privatdetektiv durchaus auch in diesem Milieu von Nutzen ist, und einer ebenso talentierten wie liebreizenden jungen Dame, Jane Turner, die als Gesellschafterin eines älteren weiblichen ‘Schlachtrosses’ die Gesellschaft vervollständigt und mit ihren 25 Vgl. etwa Becker (Anm. 4), Keitel (Anm. 4), S. 87, Kümmel (Anm. 4), S. 31, Nusser (Anm. 5), S. 50 f., und Gerd Eggloff: Detektivroman und englisches Bürgertum. Konstruktionsschema und Gesellschaftsbild bei Agatha Christie, Düsseldorf 1974, S. 37 (Eggloff spricht vom „umgrenzten Raum“). 26 Walter Satterthwait: Eskapaden. Roman. Aus dem Amerikan. v. Ursula-Maria Mössner, Zürich 1997, S. 11. Ich zitiere – wenn auch mit schlechtem Gewissen – diesen und weitere Primärtexte in der deutschen Übersetzung, wenn eine originalsprachliche Ausgabe nur schwer zugänglich ist. Denn im Fall von Kriminalliteratur ist man meist immer noch ausschließlich auf den Buchhandel angewiesen. 27 Satterthwait ist – neben George Baxt – einer der Protagonisten der seit einiger Zeit unter zeitgenössischen Krimiautoren grassierenden Mode, reale Personen (insbesondere aus dem ‘Golden Age’) als fiktive in ihren Krimis agieren zu lassen, darunter so prominente Gestalten wie Oscar Wilde, Humphrey Bogart und Alfred Hitchcock. 28 Satterthwait (Anm. 26), S. 9. 6 eingeschobenen Briefen den Ich-Erzähler Phil ‘Watson’ Beaumont um eine zweite Perspektive ergänzt, löst Houdini den Fall um die Leiche des ebenso gebrechlichen wie sexuell aktiven Lordvaters natürlich. Es gelingt ihm trotz des abgeschlossenen Raums, in dem die Leiche gefunden wird, trotz der Geheimgänge, der vertauschten Waffen, der ungeklärten Finanz- und Erbschaftsverhältnisse, trotz der diversen falschen Identitäten, die sich einige der Verdächtigen zugelegt haben, ja trotz der ‘falschen’ Polizisten usw. oder gerade wegen all dem. Wie seine (z.T. vom ‘echten’ Doyle erfundenen) Vorgänger erkennt der große Meisterdetektiv Harry Houdini die Zeichen als solche und versteht sie zu deuten. Neben seinem analytischen Verstand und seiner Beobachtungsgabe kann er sich dabei natürlich seiner ‘einmaligen’ Kenntnisse bedienen, wie man sich aus einem verschlossenen Raum entfernen kann, ohne daß es bemerkt wird, und wie man die Vorannahmen anderer zu deren Täuschung nutzt. In Rekordzeit – er muß spätestens ‘zum Tee’ weg – klärt er den komplizierten Fall von Maplewhite, das „‘eine einzige präparierte Requisite’“29 zu sein scheint, auf, und tatsächlich – obwohl augenscheinlich einiges dagegen spricht – ist dieser Fall nur aus den Interna der kleinen Gruppe heraus zu enträtseln.30 IV Der oben umrissene Chronotopos des klassischen ‘Whodunit’, der als krisenhafte Gegenwart mit ‘umgekehrter Zeitperspektive’ und einer ‘aufgelösten’, wiederherzustellenden Ordnung eines abgeschlossenen Lebensraums aufzufassen ist, steht als ‘Ausnahmezustand’ in einem spezifischen Verhältnis zu seiner chronotopischen ‘Umgebung’, die ihn – zeitlich – umgibt. Im Roman selbst ist sie freilich nur ex negativo präsent. Es handelt sich um eine räumlich und personell weitgehend abgeschlossene, sich selbst genügende, auf gegenseitiger Verwandtschaft und/oder Vertrautheit der Personen beruhende, mit klaren Ordnungen und Regeln ausgestattete Welt, die in ihrem Alltag aufgeht und häufig in immer wiederkehrenden zeitlichen Takten organisiert ist. Das Leben auf dem (englischen) Landsitz etwa umfaßt einen engen und durch Verwandt- oder Freundschaft aneinander gebundenen Personenkreis, der einem mehr oder minder festen und immer wiederkehrenden Tagesprogramm mit den entsprechenden Konventionen huldigt. Ähnliches gilt für kleine Dorfgemeinschaften, Colleges, Firmen oder Abteilungen, Theaterensembles und Reisegruppen. Hinzu kommen – für den Detektivroman ebenso prägende – selbst (potentiell) zyklisch wiederkehrende Gruppenbildungen wie Wochenendgesellschaften, Klassentreffen, Familienfeste und dergleichen mehr. Daß die beteiligten Personen solcher Gruppen zumeist in weitgehend sicheren finanziellen Verhältnissen leben und häufig genug einen gehobenen gesellschaftlichen Status innehaben, stellt eine der inhaltlichen Konventionen des ‘britischen’ Kriminalromantyps dar und ergänzt diesen Befund. Dieser Umgebungs-Chronotopos kann nun – aufgrund der genannten Eigenheiten – mit einer spezifischen ‘Raumzeit’ in Verbindung gebracht werden, die Bachtin selbst in seinem Abriß der Chronotopoi des europäischen Romans expliziert. Es handelt sich offensichtlich um 29 Ebd., S. 370. 30 Houdini muß am Ende mühsam – und letztlich erfolglos – von dem amerikanischen Privatdetektiv auf den ‘wahren’ Charakter des ‘Falles’ hingewiesen werden: „‘Harry’, sagte ich, ‘es geht hier um Menschen.’ ‘Wie bitte?’ ‘Das war nicht bloß ein Rätsel, Harry, damit Sie kommen und es lösen konnten. Hier geht es um Menschen.’“ (Ebd., S. 395). 7 den idyllischen Chronotopos. Diesen charakterisiert Bachtin freilich nicht nur durch Abgeschlossenheit, Vertrautheit der Personen, eine allgemein anerkannte und als alltägliches Leben selbstverständlich gewordene Ordnung sowie durch einen zyklischen Zeitverlauf, sondern auch durch eine enge Verquickung von menschlichem und natürlichem Leben (etwa als ‘organische’ Verbindung von Familie und Ort über Generationen hinweg).31 Somit wird der idyllische Chronotopos Bachtins letztendlich durch sein enges „Verhältnis zur durchgängigen Einheit der Folklorezeit“ bestimmt, deren „Wiederherstellung“32 er leistet. Für den Roman und seine Entwicklung spielt der idyllische Chronotopos, so Bachtin, aber nicht so sehr durch eine umfassende Realisierung im Roman, sondern eher durch ‘Einflußnahmen’ auf den Roman eine entscheidende Rolle, die auf unterschiedliche Weisen die Entwicklungen verschiedener Romangenres im 18. und 19. Jahrhundert vorantreiben.33 Die interessanteste dieser Einflußsphären ist sicherlich diejenige, in der im Roman, vor allem um und nach 1800, mit unterschiedlichen Wertmaßstäben und Zielsetzungen die Idylle (oder eine historisch entwickelte Version von ihr) der modernen, arbeitsteiligen Wirklichkeit gegenübergestellt und so in ihrer „Zerstörung“34 gezeigt wird. Dieser Befund Bachtins, der auf Romane Goethes, Balzacs oder Jean Pauls abzielt, trifft auch – unabhängig von der unterschiedlichen künstlerischen Qualität der Texte – den klassischen ‘britischen’ Kriminalroman. Denn auch hier wird die selten gewordene und nur noch rudimentäre Alltagsidylle des inzwischen angebrochenen 20. Jahrhunderts in drei Hinsichten radikal ‘zerstört’ und aufgelöst: Sie wird erstens durch den Mordfall und die anschließenden Ermittlungen des Detektivs, der angesichts des Mordes nicht in eine funktionierende Gemeinschaft eintritt, sondern einer zu objektivierenden Ansammlung von Sachverhalten und Indizien gegenübertritt, jäh unterbrochen und ausgehebelt. Sie ist zweitens, da das Romangeschehen vornehmlich die Aufklärung umfaßt, im Roman selbst nur noch ex negativo präsent. Und sie ist drittens – durch den Mord und seine Aufklärung – auch für die vorangegangene Zeit ihrer vermeintlichen Gültigkeit als bloß scheinbar intakte, tatsächlich jedoch verlogene Pseudo-Idylle entlarvt. Denn die Motive und Hintergründe für den Mord stehen in einem krassen Widerspruch zu der ‘heilen Welt’, in der man sich vermeintlich befand. Ein Wiedereintritt in die vor dem Mordereignis (vermeintlich) vorhandene idyllische Lebensform wird so zumindest problematisch. Der Detektivroman selbst interessiert sich nicht dafür und schließt mit der Auflösung des Falls. Der Detektiv reist ab und wendet sich – aber erst im nächsten Roman – einem neuen ‘Fall’ zu. Die ‘aufgelöste’ bzw. ‘zerstörte Idylle’ des Kriminalromans klassischer Prägung ist jedoch keineswegs als (kritische) Aussage des Genres, der Texte oder seiner Autoren über die 31 Vgl. Bachtin (Anm. 11), S. 171 f. „Diese räumliche Mikrowelt ist begrenzt und genügt sich selbst“ (171); von ihr ist „dieses Leben [der idyllischen Gemeinschaft] mit all seinen Ereignissen nicht zu trennen“ (171), so daß eine „Abschwächung aller Zeitgrenzen“ (172) zu verzeichnen ist, die zum „für die Idylle charakteristischen zyklischen Zeitrhythmus“ (172) beiträgt. Somit ist die Idylle „auf einige wenige grundlegende Realitäten des Lebens beschränkt“ (172), in ihr koinzidieren „Alltag“ und „das Allerwesentlichste des Lebens“ (172) ebenso wie das menschliche Leben „mit dem Leben der Natur“ (172). 32 Ebd., S. 170 f. 33 Vgl. ebd., S. 175 ff. Bachtin unterscheidet fünf ‘Einflußfelder’ der Idylle: den Heimatroman, den sentimentalischen Roman, den Familienroman, den Roman um ‘den Menschen aus dem Volke’ und schließlich den Roman, der – vor allem um 1800 – die „Zerstörung der Idylle (im weitesten Sinne)“ (S. 180) thematisiert. 34 Ebd., S. 180. 8 zeitgenössische Wirklichkeit mißzuverstehen, deren prosaischer Charakter, materialistische Grundausrichtung und moralische Indifferenz, die durch den fiktiven Mordfall eher belegt als erkannt werden, vom Detektiv ebenso wie vom Autor und vom Leser längst als Selbstverständlichkeiten angenommen werden. Im Gegensatz zu den von Bachtin angesprochenen Romanen des 18. und vor allem 19. Jahrhunderts, welche die ‘Zerstörung der Idylle’ behandeln, indem sie diese der zeitgenössischen gesellschaftlichen Wirklichkeit gegenüberstellen und so entweder ihr utopisch-erzieherisches Potential einklagen oder ihre Unzeitgemäßheit beklagen35, ist der ‘britische’ Kriminalroman des frühen 20. Jahrhunderts nicht wesentlich auf die Wirklichkeit seines Autors oder Lesers bezogen. Aufgrund seiner Konzentration auf ein komplexes Rätsel und dessen Auflösung, auf das alle Elemente des Textes und des Roman- bzw. Ermittlungsgeschehens als potentielle Indizien ausgerichtet sind, kann er es auch gar nicht sein. Im Rahmen des logisch Denkbaren und des physikalisch oder psychologisch Möglichen, der nicht gesprengt, aber bis zu den Grenzen des jeweils Wahrscheinlichen oder Erwartbaren hin ausgedehnt wird, entwirrt der Detektiv den mörderischen Rätselknoten allein durch Rückgriff auf die beim Nachforschen ermittelten, nun zu deutenden Tatsachen oder (Zeugen-)Aussagen. Er tut dies, indem er diese isolierten Sachverhalte miteinander vergleicht und aneinander abgleicht. So kann er Widersprüche und Lügen der Beteiligten ebenso identifizieren wie eigene (voreilige) Vorannahmen und ist nun in der Lage, – in einer überraschenden Wendung, die oft durch Elimination einer solchen ‘Vorannahme’ oder durch Beachtung einer bisher unbeachtet gebliebenen Tatsache besteht – das Wer, Wie und Warum des Mordes zu rekonstruieren. Der Schauplatz der ‘aufgelösten Idylle’ etwa, der ‘Tatort’ also, dient somit einzig und allein als Spuren- und Indizienreservoir.36 Er wird gleichsam ‘unter die Lupe genommen’ und vom Erzähler – zumindest passagenweise – sehr präzise und detailreich beschrieben, gleichsam „herauspräpariert“37, freilich nicht im Hinblick auf eine mögliche Signifikanz für die außerliterarische Wirklichkeit und deren Deutung, sondern einzig und allein im Hinblick auf seine innerliterarische, Spannung erzeugende Funktion des Ver- und Enträtselns38. In Satterthwaits Eskapaden etwa, wo die Wochenendgesellschaft das erste Romandrittel damit zugebracht hat, sich – auf zum Teil recht abenteuerliche Weisen – miteinander bekannt und mit den Örtlichkeiten vertraut zu machen, und wo eine scheinbar von außen kommende Bedrohung den Leser auf eine falsche Fährte gelockt hat, sieht die Beschreibung des Tatorts im wortwörtlich engen Sinne wie folgt aus: Das Zimmer, aus dem ein Schuß zu hören war und in dem der Lordvater zu vermuten ist, das geschlossen war und nun zu Untersuchungszwecken aufgebrochen worden ist, wird von Doyle, Houdini, ‘Lord Bob’, zwei Bediensteten und dem Erzähler Beaumont betreten: In der stickigen, muffigen Luft hing der Geruch von Pulverdampf. In dem riesigen steinernen Kamin brannte ein Feuer, und alle Fenster waren geschlossen. Das Zimmer war groß, aber einfach, ähnlich wie das Empfangszimmer – rechts eine grobe Eichenkommode, links ein grober Eichenschrank, daneben ein grober eichener Bücherschrank. In der Mitte der gegenüberliegenden Wand stand ein riesiges Bett mit einem hohen geschnitzten eichenen Kopfbrett. Links neben dem Bett stand ein Rollstuhl aus Stahl und Leder, der kleiner und zierlicher war als der vom Madame Sosostris. Auf dem Bett, und bis zur Brust zugedeckt, lag 35 36 37 38 Vgl. Bachtin (Anm. 11), S. 180-182. Vgl. etwa Heißenbüttel (Anm. 3), S. 112 f. und Schwanitz (Anm. 4), S. 48 f. Eggloff (Anm. 25), S. 37. Vgl. etwa Nusser (Anm. 5), S. 37. 9 ein sehr alter Mann. Er war glattrasiert und beinahe kahl. Sein dünner rechter Arm, der in einem weißen Flanellärmel steckte, lag auf der Bettdecke und war seitwärts ausgestreckt. Die ausgemergelte rechte Hand hing über dem Boden, die Handfläche nach oben, die langen gelben Finger zur Decke gebogen. Unter der Hand, auf dem Boden, lag ein Revolver. In der Schläfe des alten Mannes war ein kleines schwarzes Loch. „Großer Gott“, sagte Lord Bob.39 Die detaillierte Wiedergabe alles dessen, was der Erzähler hier im Moment des Betretens (der Ausruf des Lords!) beobachtet, ist sicherlich fast schon am Rande zur parodistischen Übererfüllung der Genrekonventionen anzusiedeln. Gerade deshalb ist die hier vorliegende lakonische Auflistung der verschiedenen zu beobachtenden, vorläufig völlig gleichrangigen Details durchaus als genretypisch anzusehen. Sie wird durch gezieltere Nachforschung in der Folge natürlich noch erheblich verlängert. Ähnlich detailversessen geht natürlich auch Houdini vor, wenn er als Antwort auf eine diesbezügliche Frage erklärt, wie es zu dem ‘Rätsel des geschlossenen Raumes’ gekommen sein könnte: „Es ist ganz einfach.“ Er wandte sich an Doyle. „Das Schloß ist sehr alt, und das Gehäuse mit der Zuhaltung sitzt genau zwischen den beiden Schloßblechen, einem auf der Innenseite des Zimmers und einem auf der Außenseite. Der Gehäusegang führt geradewegs hindurch, von Zimmer zu Zimmer. Nehmen wir, rein theoretisch, einmal an, daß ich im Schlafzimmer bin und daß die Tür von innen abgeschlossen ist, als Carson [einer der Diener] sie zu öffnen versucht. Was ja tatsächlich der Fall war ...“ [Hier schweift der Erzähler Beaumont kurz zu eigenen Beobachtungen ab] „... was das Querholz betrifft“, sagt der Große Meister gerade, „so würde ich lediglich ein starkes Stück Draht benötigen, etwa einen Kleiderbügel’“ usw.40 Die Detailverliebtheit Houdinis langweilt seinen Assistenten und Erzähler, der hier Passagen des Monologs einfach wegläßt und sich lieber der Frage nach der Waffe zuwendet. Das ist auch kein Problem, denn Houdini kann schnell klarmachen, daß es sich nicht so abgespielt hat wie es sich, seinen Erläuterungen nach, abgespielt haben könnte. Woher er das weiß, fragen Leser und ‘Lord Bob’: Es hätte verschiedene Spuren geben müssen, die es aber nicht gibt: „Auf dem Schlüssel beispielsweise“, sagte der Große Meister. „Der Schlüssel ist aus Kupfer, einem weichen Metall. Wenn jemand einen Dietrich benutzt hätte, so hätte er dabei Spuren auf dem Schlüsselbart hinterlassen.“41 Hier werden erstmals die Fakten miteinander verglichen und aufeinander abgeglichen – und schon entstehen die ersten Interpretationen, Implikationen und Schlußfolgerungen, die letztlich dazu führen werden, daß hier ebenso wie in anderen Romanen dieses Genretyps am Ende zweifelsfrei feststeht, wer den Mord zu welchem Zeitpunkt mit welchen Mitteln auf welche Art und Weise und aus welchen Motiven begangen hat. Die außerliterarische Wirklichkeit von Autor und Leser ist somit – wie in Satterthwaits Eskapaden – im klassischen Kriminalroman weder Gegenstand einer (wie auch immer gearteten) Repräsentation noch ist sie (bzw. das Wissen darüber) ein mögliches Kriterium für die Lösung seines ‘Rätsels’, das allein nach ‘internen’ Kriterien gelöst wird: als logischkombinatorische Rekonstruktion einer abgeschlossenen Mikrowelt aus den Einzelbestandteilen einer ‘aufgelösten Idylle’. In diesem doppelten Sinn von Repräsentation und Kriterium mangelt es dem klassischen Kriminalroman tatsächlich – wie von Chandler kritisiert – an ‘Realismus’ und Authentizität. Ebensowenig wie der Idylle Bachtins übrigens42 39 40 41 42 Satterthwait (Anm. 26), S. 168 f. Ebd., S. 179 f. Ebd., S. 181. Nach Bachtin (Anm. 11) werden in der Idylle die „Realitäten des Lebens“, des Alltags „nicht auf nackt 10 kommt es diesem Genretyp offensichtlich – so auch Heißenbüttel, weniger vorwurfsvoll als Chandler – „gerade auf das nicht“ an, „auf was es dem Roman der sogenannten seriösen Literatur ankommt: auf Menschendarstellung“43. V Die Forschung hat, soweit sie sich mit der Frage beschäftigt hat, Chandlers oben erwähntem Vorwurf an den eben charakterisierten Typ des Genres und seinem Hinweis, Hammett und er selbst hätten dessen Mangel an Authentizität und Realismus aufgehoben (oder es zumindest versucht), zumeist zugestimmt – und zwar besonders im Hinblick auf die jüngeren und höheren Zweige und Triebe dieses allgemeiner Ansicht nach von beiden begründeten zweiten der „beiden Stammbäume“44 des Genres Kriminalliteratur. Becker etwa hält den in der modernen Großstadt angesiedelten Detektiv- bzw. Polizeiroman von Hammett über Chandler bis Sjöwall/Wahlöö für „realistischer, ehrlicher, aber auch beunruhigender“45 als sein traditionelles Pendant. Diese andere, möglichst noch zu präzisierende Grundausrichtung des ‘hartgesottenen’ Krimis, Thrillers, Polizeiromans usw. ist meiner Ansicht nach auf dessen gegenüber dem ‘Whodunit’ radikal veränderten Chronotopos zurückzuführen. Diesen möchte ich im folgenden – möglichst abstrakt – umreißen: 1. Die Schauplätze der ‘hard-boiled novels’ und Thriller sind zumeist bestimmte Regionen, die regelmäßig ein (meist identifizierbares) realweltliches Pendant46 haben und zwar mit allen seinen topographischen und kulturellen Eigenheiten und Besonderheiten. Diese Regionen sind im allgemeinem nicht mehr überschaubar, insbesondere was ihre Bewohner betrifft, sie sind aber auch nicht beliebig groß. Vor allem in der Anfangszeit der Genrevariante handelt es sich dabei bevorzugt um Großstädte oder Ballungsräume. Prinzipiell sind aber auch ländliche Regionen als Thriller-Schauplätze möglich, wovon gerade in jüngerer Zeit von Krimi-Autoren und -Autorinnen Gebrauch gemacht wird.47 Der Detektiv oder die ermittelnde Einheit der Polizei sind mit dieser Region zumeist eng verwachsen – im Fall von Romanserien meist über realistische Weise dargeboten [...], sondern in gemilderter und bis zu einem gewissen Grade sublimierter Form.“ (S. 172) Bachtins Realismus-Begriff ist mit dem oben angedeuteten freilich kaum zu vergleichen. Insbesondere durch seine Anbindung an das ästhetisch-kulturhistorische Konzept von (spätmittelalterlicher) ‘Volkskultur’ oder ‘Folklore’ und deren Eingang in die europäische Romanliteratur ist er vielmehr selbst ein problematisches Interpretandum (vgl. etwa: „Der Realismus der Folklore erweist sich daher auch für die gesamte Buchliteratur (einschließlich des Romans) als ein unversiegbarer Quell des Realismus“, S. 84; „die Phantastik der Folklore“ ist „eine realistische Phantastik“, S. 83). 43 Heißenbüttel (Anm. 3), S. 107. 44 Ebd., S. 106. 45 Becker (Anm. 4), S. 78. 46 Diese etwas umständliche Formulierung zielt darauf ab, fiktionstheoretische Problem hier außen vor zu lassen. Das ‘realweltliche Pendant’ ist meist durch den Namen zu erkennen, den er mit der Region des Romans teilt. Chandlers Detektive haben ihr ‘Revier’ bekanntermaßen im Großraum Los Angeles der 30er und 40er Jahre, das bei Maj Sjöwalls und Per Wahlöös Polizeiromanen im Zentrum stehende Polizeiteam um Kommisar Beck ist in Stockholm angesiedelt usw. In selteneren Fällen ist das Pendant aber auch nur durch die ‘topographischen und kulturellen Eigenheiten’ zu identifizieren, etwa in Ed McBains Polizeiromanen ‘aus dem 87. Polizeirevier’, die in einer deutlich als New York erkennbaren Megalopole namens „Isola“ angesiedelt sind. Selten sind hingegen nicht identifizierbare Schauplätze. 47 Ein Musterbeispiel für eine extrem ländliche, rückständige und dünnbesiedelte Region liefern die Thriller Tony Hillermanns, deren Schauplätze über die Navajo-Reservation und angrenzende Gebiete im Südwesten der USA verteilt sind. 11 mehrere Romane hinweg. Sie ist ihre (Wahl-)Heimat, ihr ‘Revier’, und dementsprechend gut sind sie mit den Eigenheiten dieser Region und ihrer Bevölkerung vertraut.48 Die Detektive ermitteln innerhalb dieser Region an verschiedenen Orten. Die abgeschlossene Ortseinheit des klassischen ‘Whodunit’ ist somit in zweierlei Hinsicht aufgelöst: Zum einen ist ein einzelner, herausgehobener und ‘herauspräparierter’ Tatort kaum mehr zu identifizieren, da sich der jeweils vorliegende Fall für gewöhnlich als komplexes Geschehen darstellt, das mehrere TeilFälle (nicht nur Mord) und damit auch mehrere ‘Tatorte’ und oft auch mehrere am Verbrechen Beteiligte umfaßt. Der Fallkomplex selbst ist nicht von vorneherein gegeben, er ergibt sich zumeist erst im Laufe der (möglicherweise fallextern angestoßenen) Ermittlungstätigkeit – und oft genug wird die Frage, ob hier überhaupt so etwas wie ein ‘Fall’ vorliegt, nur vom Detektiv bejaht.49 Er entsteht – wie Schwanitz zutreffend bemerkt – erst durch eine „höhere Dichte“50 von nicht-mehr-kontingenten Relationen, die ihn als ‘Fall’ vom Hintergrund der rein kontingenten Geschehnisse innerhalb der Region abheben. Zum anderen ist der Fallkomplex üblicherweise nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit gestreut, so daß er selbst über eine nennenswerte Erstreckung in der Zeit verfügt. 2. Die Geschichte des Fallkomplexes selbst ist wiederum eng mit dem Ermittlungsverfahren verknüpft. Die Ermittlung ihrerseits ist ja durch die Notwendigkeit von Ortswechseln zum Zwecke der Tatort-Untersuchung, Zeugenbefragung oder Informationsbeschaffung ebenfalls in der Zeit gestreckt. Die Bewegung innerhalb der Region wird so zur Selbstverständlichkeit für den Detektiv oder die Ermittlungsbeamten. Gegenüber dem klassischen Detektivroman, in dem der Täter vor allem durch Verschleierung von Tatsachen seine Entlarvung verhindern will, ist im Thriller aber vor allem die Wechselwirkung zwischen den zeitlich parallel verlaufenden Geschehensketten von Ermittlung und Verbrechen, die sich gegenseitig auslösen, forcieren, steigern und lenken können, dominant. Hierin liegt auch der Vorrang der „‘action’-Elemente“ im Thriller „gegenüber den ‘analysis’-Elementen“51 des klassischen ‘Whodunit’ begründet, denn hier sind nun beide Seiten – die ermittelnde und erhellende ebenso wie die verbrecherische und verdunkelnde – zu Aktion und Re-Aktion gezwungen.52 Die ‘Umkehrung der Zeitperspektive’ ist somit einer Gleichrichtung der Zeit gewichen und mit ihr die Trennung des zu rekonstruierenden vorzeitigen Tathergangs vom (im Roman) gegenwärtigen Ermittlungsgeschehen. Die Abfolge der Verbrechenstaten und der Ermittlungstätigkeiten ist nunmehr gleich gegenwärtig53, und als solche wird sie dem Leser auch – quasi synchron – präsentiert.54 Ziel der Tätigkeit des Detektivs ist unter diesen veränderten Voraussetzungen häufig genug auch nicht mehr die vollständige Klärung der W-Fragen eines rätselhaft 48 Die große Ausnahme bzgl. dieser regionalen Bindung stellen natürlich die sujetgemäß eher auf das Gegenteil von räumlichen Bindungen ausgerichteten Spionageromane dar, die für gewöhnlich an mehr als einem Ort angesiedelt sind. 49 Vgl. Schwanitz (Anm. 4), S. 53 f. 50 Ebd., S. 56. 51 Nusser (Anm. 5), S. 53. 52 Begrifflich sind ‘Aktion’/’Reaktion’ und ‘action’ natürlich nicht identisch, im Thriller koinzidieren sie freilich auffallend häufig in genretypischen Aktionsmustern wie der Verfolgungsjagd, der Schießerei, der Rettung aus höchster Not usw. 53 Vgl. Nusser (Anm. 5), S. 57. 54 Dies geschieht entweder durch den Ich-erzählenden Detektiv oder durch eine personale Erzählinstanz, die die Perspektive und damit den Wissens- und Beobachtungshorizont eines oder mehrerer Beteiligter im Wechsel einnimmt. Zu den Erzähltechnika vgl. wiederum Finke (Anm. 18). 12 scheinenden Falls, sondern die rechtzeitige, zukünftige Verbrechen verhindernde Überwältigung oder Verhaftung der Verantwortlichen oder der wesentlichen ‘Drahtzieher’ des Verbrechenskomplexes. 3. Durch die Überführung der absoluten und vorgegebenen Begrenztheit von Raum und Figurenarsenal in eine vor allem durch Kontingenzen bestimmte und potentiell offene Region einerseits und durch die gleichrangige Gegenwart von Tat- und Ermittlungsgeschehen andererseits ändern sich auch die Struktur des am Gesamtgeschehen beteiligten Personals und das Wesen der bzw. der Umgang mit möglichen Ermittlungsindizien. Letztere sind im Thriller vor allem als ‘höhere Dichte’ von Kontingentem55 gegeben, an dessen Zufälligkeit nicht mehr zu glauben ist. Demgegenüber tritt die Zeugenaussage oder das Deuten von direkt zugänglichen Tatort-Indizien zurück. Darüber hinaus sind symptomatologische Deutungsmuster sehr bezeichnend für den Thriller, in dem der Detektiv anhand von kaum en detail identifizierbaren, für den erfahrenen Ermittler aber ‘spürbaren’ Symptomen den Heckenschützen auf offener Straße ‘wittert’, hinter die ‘Fassade’ eines scheinbar bürgerlichen Hauses blickt und den Schuldigen an seinem Fluchtversuch erkennt. Die an einem Thriller beteiligten Personen wiederum lassen sich – oft auch am Ende – nicht mehr eindeutig als Opfer, Täter, Verdächtige oder Unbeteiligte klassifizieren, zumal außerhalb des auftretenden (d.h. vom Detektiv in die Überlegungen einbezogenen) Personenkreises potentiell weitere Beteiligte und nicht beachtete Aspekte des Tatkomplexes oder andere Verbrechenskomplexe verborgen sein können. Selbst (einer) der oder die Ermittler können zu Opfern, Tätern oder Verdächtigen werden. Diese offene und unabschließbare Personalstruktur kann somit ohne entscheidenden oder erkennbaren Einschnitt in die Bevölkerung der betreffenden (fiktiven) Region bzw. Gesellschaft übergehen.56 So verhält es sich z.B. in einer der frühesten Realisationen des Genretyps, Chandlers Erzählung Killer in the Rain, die 1935 im Januarheft des ‘pulp’-Magazins Black Mask veröffentlicht wurde.57 In den hier auf etwa 50 Seiten präsentierten ‘Fall’ sind die unterschiedlichsten Personen verwickelt. Sie sind dies aber nicht durch Anwesenheit an einem Tatort, sondern durch eigene Interessen und Aktivitäten, die den ‘Fall’ betreffen. Worin der ‘Fall’ genau besteht, bleibt unklar, nur der Auftrag des (hier namenlosen) Privatdetektivs, der das Romangeschehen aus seiner Erlebnisperspektive als Ich-Erzähler präsentiert, ist klar umrissen, aber kaum zu realisieren: Der Mann, den sich der Detektiv ‘vorknöpfen’ soll, wird nämlich erschossen. Dieser Mord im Beisein der geliebten Adoptivtochter des Auftraggebers führt zu einem weiteren Todesfall, die beide nur durch ein Netzwerk verschiedener, großteils verbrecherischer, oft auch emotionaler oder pathologischer Interessensphären und Aktivitäten zu erklären sind, darunter: Pornographie, Erpressung, Schutzgeld, Diebstahl/Veruntreuung, Liebe, Rachlust, Alkoholismus/Drogensucht und Wahnsinn. Im Laufe seiner ‘Ermittlungstätigkeit’, die oft auch darin besteht, die Interessen des Auftraggebers zu 55 Der typische Fall dafür stellt wohl die (verdächtige oder zumindest erklärungsbedürftige) Anwesenheit einer bestimmten Person an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt dar. 56 Kümmel (Anm. 4) spricht deshalb mit Blick auf Chandlers Modifikation des Genres von der Ersetzung der „‘befriedeten Welt’“ des klassischen Kriminalromans „durch eine, der das Verbrechen immanent ist“ (S. 32); Kümmels Binnenzitat aus Ulrich Schulz-Buschhaus: Formen und Ideologien des Kriminalromans. Ein gattungsgeschichtlicher Essay, Frankfurt am Main 1975, S. 129. Dort wird die Gesellschaft des „Rätselromans“ vom klassischen Typ übrigens im Gegensatz dazu als „eine essentiell befriedete Ordnung [...], am besten als eine Idylle“ oder „‘heile Welt’“ (ebd.) charakterisiert. 57 Raymond Chandler: Mord im Regen (Killer in the Rain). In: R. C.: Mord im Regen. Frühe Stories. Mit einem Vorwort v. Philip Durham. Neu übersetzt v. Hans Wollschläger, Zürich 1976, S. 14-65. 13 schützen, Beweismaterial zu unterschlagen oder der Polizei Informationen vorzuenthalten, besucht der Detektiv verschiedene Orte im Großraum Los Angeles, den er ständig mit wechselnden Autos durchfährt. Er chauffiert betrunkene Mädchen nach Hause, beobachtet Lieferungen mit pornographischem Material, gerät in eine beinahe gewalttätige und in eine äußerst gewalttätige, zu zwei weiteren Toten führende Auseinandersetzung, überlebt all dies und muß am Ende doch sein Scheitern eingestehen: Die einzelnen Teilverbrechen, zumindest die größeren, sind zwar aller Wahrscheinlichkeit nach aufgeklärt, also zumindest ihren (durchaus verschiedenen) Tätern zugeordnet, die Menge der Toten, darunter der Auftraggeber, übersteigt aber doch das Maß dessen, was der ebenso gutmeinende wie hartgesottene Detektiv noch zu akzeptieren bereit ist. Er schließt: „Wir fuhren weiter durch den stillen Abend zum Berglund. Ich fühlte mich müde und alt und unnütz für alle Welt.“58 Von Anfang laufen die Aktivitäten des Detektivs und die der anderen beteiligten Personen zeitlich parallel ab, ihre Wege kreuzen sich immer wieder. Als der Detektiv z.B., der zu Beginn nur das Haus des ersten Todesopfers beobachten möchte, den Mord an ihm durch Schüsse und Schreie zumindest akustisch mitverfolgt, den vermeintlichen Täter unerkannt entkommen lassen muß und die völlig betrunkene Tochter des Auftraggebers im Zimmer mit der Leiche findet, bringt er zuerst, nach einer oberflächlichen Untersuchung des Tatorts, das Mädchen nach Hause. Als er nach einiger Zeit wiederkommt, um das eigenen Auto zu holen und um genauere Untersuchungen anzustellen, vor allem aber um die Photoplatte mutmaßlicher Nacktphotos des Mädchens zu holen, ist die Leiche ebenso verschwunden wie die Platte. Die ‘plot’-Struktur aus Killer in the Rain baut Chandler übrigens in dem ihm eigenen Verfahren der ‘Kannibalisierung’59 zusammen mit der einer anderen frühen Erzählung (The Curtain von 1936) und neuem Material in seinen ersten (prototypischen ‘hard-boiled’-) Roman The Big Sleep um den hier erstmals eingesetzten Detektiv Philip Marlowe von 1939 ein. Dieser vereint mithin die verschiedenen Verflechtungen zweier Fallkomplexe und zweier Ermittlungs-und Vertuschungshandlungen in sich. VI Die oben umrissene ‘Raumzeit’ des Thrillers, dessen Variationsbreite freilich kaum zu unterschätzen sein dürfte, weist einige Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten mit einem Chronotopos auf, den Bachtin in seinem historischen Aufriß der Chronotopoi der Romangeschichte genauer beschreibt. Der als zweiter Typ des antiken Romans eingeführte „abenteuerliche Alltagsroman“60, den Bachtin an den beiden einzigen aus der Antike noch vorliegenden Texten dieses Typs exemplifiziert, nämlich an Apuleius’ Metamorphosen oder Goldenem Esel (2. Jhdt. n. Chr.) und an Petrons Satyricon (um 100 n. Chr.), wird hinsichtlich seines Chronotopos als ein Mischtyp beschrieben. Zum einen nämlich knüpft diese 58 Ebd., S. 65. 59 Zu Chandlers ‘cannibalizing’, also der ‘Zweitverwertung’ von plots aus den Stories in den Romanen, vgl. Jerry Speir: Raymond Chandler, New York (NY) 1981, S. 85 ff. Zur Verarbeitung von Killer in the Rain und The Curtain in The Big Sleep vgl. auch Philip Durham: Vorwort. In: Chandler: Mord im Regen (Anm. 57), S. 7-13, hier S. 8-11. 60 Bachtin (Anm. 11), S. 38. 14 Genrevariante des (antiken) Romans an den zentralen Chronotopos der „Abenteuerzeit“61 an, der den ersten antiken Romantyp, den „abenteuerlichen Prüfungsroman“62 ausmacht. Zum anderen nimmt sie eines der wesentlichen Momente von dessen raum-zeitlicher Organisation zurück, die Ansiedlung des Romangeschehens in „einer fremden Welt“63 nämlich, die wesentlich exotisch, unbekannt und unbestimmt ist, und verknüpft sie stattdessen „mit der Zeit des alltäglichen Lebens“64. So kann in diesem Romantyp nach Bachtin der konkrete (private) Alltag in seiner natürlichen zeitlichen, also unumkehrbaren und von Erinnerungen und Erfahrungen geprägten Abfolge dargestellt werden.65 Diese Darstellung geschieht anhand herausragender Momente des Lebens des im Zentrum stehenden Helden. Der Lebensweg selbst stellt sich so als ein von ständigen Ortswechseln und ‘zufälligen’ Begegnungen geprägter Abenteuerweg dar, der private und öffentliche Anteile hat, die hier miteinander verbunden sind. Dem entspricht, daß Bachtin, der im Essay über den Bildungsroman sein Material zum Chronotopos im Hinblick auf diesen Gegenstand in einer anderen Aufbereitung präsentiert66, die raum-zeitliche Organisation der ‘adventure novel of everyday life’ dem Chronotopos der „Travel novel“67 zuordnet.68 Der ‘Roman der Reise’ wiederum ist bestimmt durch einen Helden als „a point moving in space“, und so ist es dem Autor solcher Romane möglich, „to develop and demonstrate the spatial and static social diversity of the world (country, city, culture, nationality, various social groups and the specific conditions of their lives).“69 Offensichtlich ist es möglich, aufgrund der oben skizzierten Eigenheiten den Chronotopos der ‘hard-boiled novel’ bzw. des Thrillers als ausgeprägter konkretisierten Fall der ‘Raumzeit’ 61 Ebd., S. 39. 62 Ebd., S. 10. 63 Ebd., S. 26. 64 Ebd., S. 39. 65 Vgl. ebd., S. 40-47. Mit diesem Chronotopos verknüpft Bachtin auch einige strukturelle inhaltliche Momente, die ihm seine beiden antiken Beispieltexte, vor allem der Goldene Esel liefern. Im Hinblick auf den Thriller muß ich jedoch diese Festlegung des Lebenswegs als ein Verwandlungsgeschehen, das sich als finale „Reihe“ von „Schuld – Strafe – Sühne – Glückseligkeit“ (S. 27) darstellt, außer Acht lassen. 66 Zur Entstehung und zum fragmentarischen Charakter dieses Essay vgl. Michael Holquist: Introduction. In: Mikhail M. Bakhtin: Speech Genres and Other Late Essays. Translated by Vern W. McGee. Ed. by Caryl Emerson and Michael Holquist, S. IX-XXIII, vgl. hier S. XIII f. 67 Mikhail M. Bakhtin: The Bildungsroman and Its Significance in the History of Realism (Toward a Historical Typology of the Novel). In: Emerson / Holquist (Anm. 66), S. 10-59, hier S. 10. 68 Diese Zuordnung, die auch die Tradition des Pikaro-Roman betrifft, ist dokumentiert bei Morson / Emerson (Anm. 14), S. 412; dort auch die englische Version der Bezeichnung für den Romantyp. 69 Bakhtin: Bildungsroman (Anm. 67), S. 10. Eine ähnliche Betonung des Weges in diesem Zusammenhang findet sich übrigens auch in Bachtins 1973 angefügten „Schlußbemerkungen“ zu seinem Chronotopos-Buch: Hier wird der „Chronotopos des Weges“ (Bachtin, Anm. 11, S. 192), also vor allem die Straße, die Bachtin „immer durch das eigene Heimatland und nicht durch eine exotische fremde Welt“ (S. 194) führen läßt, näher beschrieben als ein Ort der Begegnung unterschiedlicher Menschen mit unterschiedlichen (Lebens-)Wegen und sozialen, kulturellen und persönlichen Hintergründen: „Die Zeit ergießt sich hier gleichsam in den Raum und fließt durch ihn hindurch“ (S. 193), heißt es dort über diese Organisationsform von Raum und Zeit. Daß Bachtin, ebenfalls in den „Schlußbemerkungen“, im Anschluß an die Straße das Schloß der ‘gothic novel’ als quasi trans-historische Begegegnungsstätte thematisiert, die ‘gothic novel’ wiederum gerne als (historische) Keimzelle für die Kriminalliteratur überhaupt veranschlagt wird (vgl. etwa Becker, Anm. 4), soll hier nur erwähnt werden. 15 des ‘abenteuerlichen Alltagsromans’ aufzufassen, zumal Bachtins Begriffsarchitektur solche Subsumtions- oder Interaktionsverhältnisse für Chronotopoi zuzulassen, ja vorzusehen scheint. Diese Auffassung wird zudem unterstützt durch zwei inhaltliche Momente, die Bachtin am ‘abenteuerlichen Alltagsroman’ für bezeichnend ansieht. Da ist zum einen der Held als beobachtender, außenstehender, sozial niederer Dritter – oder im Hinblick auf spätere Romanformen: als ‘Schelm’.70 Da ist zum anderen der Hinweis Bachtins, daß gerade „kriminelle Handlungen“, die ein Operieren mit „gerichtlich-kriminologischen Kategorien“71 nach sich ziehen, in diesem Romantyp von besonderer Relevanz sind. Beide Momente sind funktional darauf ausgerichtet, im Roman Verborgenes und Privates aus dem Alltag öffentlich und zugänglich zu machen, also an die darstellbare Oberfläche zu bringen. Somit kann man – wenn man geneigt ist – im Diener oder Schelm eine Vorstufe des Detektivs und Ermittlers erblicken, und sollte man – mit Bachtin, der hier selbst „auf den abenteuerlichen Detektivroman“72 verweist – die chronotopisch gestiftete Verwandtschaft von Thriller und abenteuerlichem Alltagsroman anerkennen. Durch die Möglichkeit, mit dem Chronotopos des ‘abenteuerlichen Alltagsromans’ den privaten oder verborgenen konkreten Alltag bestimmter Personen oder Personenkreise zur Darstellung kommen zu lassen, reiht sich dieser Romantyp in die Tradition potentiell ‘realistischer’ Romanliteratur ein, die Bachtin im Chronotopos-Buch insbesondere anhand des mit dem Figurentyp des Schelmen oder Narren arbeitenden Romans der Neuzeit exemplifiziert: „Der Schelmenroman arbeitet im wesentlichen mit dem Chronotopos des abenteuerlichen Alltagsromans“, solche Romane wiederum „haben innerhalb der Geschichte des Realismus eine immense Bedeutung“73. Wegen der Möglichkeit, die soziale Vielfalt der Welt zu veranschaulichen, wird im Bildungsroman-Essay dieser „type of positioning the hero and construction of the novel“ sogar ausdrücklich als „typical of classical naturalism“74 bezeichnet. Diese spezifische Form von ‘Realismus’ oder Authentizität, die sich vor allem auf die Darstellung der (sozialen) Umwelt des eigentlichen ‘plots’ bezieht und die man – ausgehend von Bachtins Ausführungen – dem Thriller zuschreiben muß, ist tendenziell abgebildet in der bei Meyer dokumentierten „Unterscheidung von faktischem ‘Lokal’ und sinnbezogenem ‘Raum’“75. Der kriminalliterarische Traditionsstrang von ‘hard-boiled novel’, Thriller, Polizeiroman usw., der in seiner Absetzung vom klassischen ‘Whodunit’ also immer wieder neu einen Zuwachs an Authentizität, ein Plus an „Realistik der Verbrechensdarstellung“76, der Ermittlungsmethoden und der Figuren anstrebt oder in Anspruch nimmt77, zeichnet sich 70 Vgl. ebd., S. 54 f. 71 Ebd., S. 54. 72 Ebd., S. 54. 73 Ebd., S. 99. 74 Bakhtin: Bildungsroman (Anm. 67), S. 10. 75 Meyer (Anm. 1), S. 35. 76 Nusser (Anm. 5), S. 53. 77 Suerbaum (Anm. 6) betont wohl völlig zurecht, daß der Thriller seit Chandler zwar generell einen „Anspruch auf Wirklichkeitsnähe“ und „Glaubwürdigkeit“ (S. 160) erhebt, daß aber erst die Weiterentwicklung des Polizeiromans diesen Anspruch umfassend einlöst. In dessen Zentrum stehen nun nicht mehr ein Verbrechen bzw. ein Verbrechenskomplex und ein (Privat-)Detektiv, sondern – wie in modernen Gesellschaften allgemein üblich – oft mehrere Verbrechenskomplexe, ein professioneller Polizeiapparat, der die Ermittlungen führt, sowie des öfteren ein Justizapparat, der die Bemühungen der Polizei nicht immer nur unterstützt. Die Annahme eines größeren Realismus (im Sinne von „Nähe zur empirischen Wirklichkeit“) der ‘hard-boiled novel’ im engeren 16 daneben wesentlich durch die – sicherlich nicht immer (in vollem Umfang) realisierte – Möglichkeit aus, weitgehend authentische ‘Lokale’ samt ihrer soziokulturellen Eigenheiten darzustellen.78 Evelyne Keitel kann diesen Befund für die neueren ‘Kriminalromane von Frauen für Frauen’ (etwa der Amerikanerin Sharyn McCrumbs) bestätigen. Durch deren Anknüpfung an die „Local Color-Literatur des 19.“ und den „New Realism des 20. Jahrhunderts“79 wird es diesen Romanen ihren detailreichen und vielfach belegten Ausführungen nach möglich, die „charakteristischen Gegebenheiten einer geographischen Region“80, an die der jeweilige Roman bzw. die jeweilige Roman-Serie gebunden ist, detailliert nachzuzeichnen und so der Leserschaft zu vermitteln.81 Diese Möglichkeiten sind natürlich nicht nur ‘Kriminalromanen von Frauen für Frauen’ vorbehalten. Auch viele andere Texte aus dieser Variante der Kriminalliteratur können dem Leser zusammen mit ihren Verbrechen und ihre Aufklärung umkreisenden ‘plot’ die Charakteristika der unterschiedlichsten Lebensräume, Milieus, Kulturen und Sub-Kulturen usw. zeigen. Diese ‘Lokale’ können dem Leser – je nach Herkunft und Erfahrungshorizont – bekannt und vertraut oder unbekannt sein. Sie können ihm aber auch wesentlich fremd sein, so etwa in einigen in historischen ‘Raumzeiten’ angesiedelten Kriminalromane, die neben einer Kriminalgeschichte auch das Panorama einer vergangenen Kultur entwerfen. Eine indirekte Bestätigung und Fortführung der These zum potentiell ‘realistischen’ Chronotopos des Thrillers liefert – und damit komme ich zum Abschluß – schließlich das allenthalben für einige neuere Varianten des ‘zweiten Stammbaums’, insbesondere des Polizeiromans veranschlagte sozialkritische Potential.82 Sozialkritik ist ja auf eine Kultur, Gesellschaft oder Lebenspraxis als Objekt ihrer Darstellung und Kritik notwendig angewiesen. Durch seine die Einheit des Genres garantierende, im Kern gleichbleibende, aber in Sinne hält Suerbaum demzufolge zwar für weit verbreitet, aber für „nicht zutreffend“ und ausschließlich auf die vergleichsweise niedrigen sozialen Milieus des ‘harten Krimis’ zurückzuführen (S. 129). In diesem Sinne spricht auch Schulz-Buschhaus (Anm. 56) vom „Versuch eines realistischen Kriminalromans in der amerikanischen ‘hard-boiled school’“ bei Chandler und Hammett (S. 123). 78 Beide Annäherungen an die Realität, die der Authentizität und die des ‘Lokals’, gehen übrigens Hand in Hand in den auf authentische Fälle rekurrierenden Tatsachenromanen, darunter Capotes In Cold Blood von 1965 und einige der Polizeiromane Joseph Wambaughs. Das Auftreten von Tatsachenromanen gerade in diesem Genretyp dürfte nach dem oben Ausgeführten wohl nicht mehr als eine Zufälligkeit angesehen werden. 79 Keitel (Anm. 4), S. 95. 80 Ebd., S. 89. 81 Sharyn McCrumbs im Drei-Staaten-Grenzgebiet von North Carolina, Tennessee und Virginia angesiedelte Romane etwa sind fest mit ihrem ‘Lokal’ oder ‘setting’ verbunden. Dies betrifft die Figuren, die ihrer Sprache, ihrer Tradition, ihrer Familie und ihrem Selbstverständnis nach zumeist der Region angehören, es betrifft die eigenwillige Landschaft der Blue Ridge Mountains, die kulturellen Eigen- und Besonderheiten der Gegend, insbesondere in ihrer historischen Dimension, in der örtliche Legenden, alte Siedlerballaden und Indianermythen eine nicht unerhebliche Rolle spielen. 82 Vgl. etwa Schulz-Buschhaus (Anm. 56), der am Beispiel der Romane Leonardo Sciascias vom „realistischen Kriminalroman als Instrument von Sozialkritik“ (S. 196) spricht, oder Dieter Gutzen: Jakob Studer, Katharina Ledermacher und Martin Beck. Themen und Tendenzen des modernen Detektivromans am Beispiel der Werke Friedrich Glausers, Richard Heys sowie Maj Sjöwalls und Per Wahlöös. In: arcadia. Sonderheft 1978, S. 66-79. Nach Gutzen „verfolgen“ die genannten Autoren von Kriminal- oder Polizeiromanen – und einige wären zu ergänzen, etwa Taibo, Montalban, -ky, Hiaasen u.v.m. – „dasselbe Ziel; sie wollen gesellschaftskritische Aufklärung betreiben und benutzen, das Unterhaltungsbedürfnis des Lesers einkalkulierend, den Detektivroman als Vehikel“ (S. 78). 17 vielfacher Weise modifizierbare Verwendung eines ‘plots’, der ein Verbrechens- und ein Aufklärungsgeschehen miteinander in Beziehung setzt, hat der Kriminalroman, wie Heißenbüttel pointiert bemerkt, zwar „einen der wenigen in sich abgeschlossenen Bereiche der neueren Literatur ausgebildet“, muß auf der anderen Seite aber „als eine der offensten Formen der heutigen Literatur“83 angesehen werden. Diese ‘Offenheit’ hat das Genre nicht zuletzt seiner erst durch Hammett und Chandler etablierten ‘zweiten Linie des Kriminalromans’ und dessen ‘offener’ raumzeitlicher Organisationsform zu verdanken. Erst sie befähigt ihn zu einer bestimmten Form von ‘Realismus’, zu Sozialkritik, ja sogar zur ‘Menschendarstellung’. Alle drei Momente vereint z.B. der 1995 erschienene Roman Fence Jumpers84 des ehemaligen NYPD-Beamten Bob Leuci. Anhand der vielfach durch Freundschaft, Gegnerschaft und Schuld verknüpften (Lebens-)Wege dreier Männer aus Queens, New York – zwei davon sind Polizisten, einer Mafia-Mitglied, alle drei sind Jugendfreunde – kommen nicht nur die Lebensrealitäten New Yorks jenseits der Paläste von Manhattan, die mühsame Ermittlungsarbeit der Polizei, die private Situation großstädtischer Polizeibeamter und die im unaufhaltsamen Umbruch befindliche New Yorker Mafia zur Darstellung, sondern auch deren jeweilige historische Entwicklung und Veränderung. Hier sind ‘gut’ und ‘böse’ längst nicht mehr voneinander zu trennen, sondern in einem Maße miteinander verflochten, daß es das Leben der ‘Helden’ und ihre Beziehungen untereinander und zu anderen wesentlich bestimmt bzw. zerstört. Diese „Gemengelage aus Freundschaft, Loyalität, professionellen Sachzwängen und der Unfähigkeit, wirklich miteinander zu reden“ – so der Krimi-Experte Thomas Wörtche in einer Rezension – „legt Leuci Schicht für Schicht frei“.85 83 Heißenbüttel (Anm. 3), S. 119. 84 Bob Leuci: Abtrünnige. Roman. Aus dem Amerikanischen v. Jürgen Becker, Zürich 1998. 85 Thomas Wörtche: Rez. Bob Leuci, Abtrünnige. Zitiert nach: Thomas Wörtches Krimi-Kolumnen. „Cream of Crime“ Nr. 8 (1998) (http://www.parkverbot.org/hammett/woertche.htm). 18